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2. Die alte Starostei.

Ich fragte den Herrn Postmeister sehr höflich nach der Wohnung des Herrn Obersteuereinnehmers Burkhardt. Der Mann schien nicht gut zu hören; denn er gab keine Antwort. Da er sich aber bald darauf doch mit dem Briefträger unterhielt, so schloß ich aus seiner Stummheit, er wollte mich durch die weltbekannte Postgrobheit überzeugen, daß ich in der Tat nirgendwo anders, als an einem der wohleingerichtetsten Postbureaus sei. Nach der sechsten Anfrage fuhr er mich heftig an, was ich wolle. Ich fragte zum siebenten Male dasselbe und zwar mit der verbindlichsten Berliner oder Leipziger Artigkeit.

»In der alten Starostei!« schnauzte er mich an.

»Um Vergebung, wenn ich fragen darf, wollen Sie mir nicht gefälligst sagen, wo ich die alte Starostei finde?«

»Ich habe keine Zeit. Peter, führe ihn hin!«

Peter führte mich. Der Postmeister, der zum Antworten keine Zeit hatte, sah, die Pfeife rauchend, zum Fenster hinaus auf der Straße mir nach. Vermutlich Neugier. Bei aller mir angebornen Höflichkeit war ich doch im Herzen ergrimmt über die unanständige Behandlung. Ich ballte in meiner Rocktasche drohend die Faust und dachte. »Nur Geduld, Herr Postmeister, fällt er einmal der Justiz in die Klauen, deren wohlbestallter königlicher Kommissar ich zu sein die Ehre habe, so werde ich ihm seine Flegelhaftigkeit auf die allerzierlichste Weise einpfeffern! Der Herr Postmeister sollen zeitlebens meiner Rechtskniffe gedenken.«

Peter, ein zerlumpter Polack, der mich führte, verstand und sprach das Deutsche nur sehr gebrochen. Mein Gespräch mit ihm war daher so verworren und schauderhaft, daß ich es in meinem Leben nicht vergessen werde. Der Kerl sah dazu abscheulich aus mit seinem gelben, spitznasigen Gesicht und dem schwarzen, struppigen Haar, ungefähr wie es unsere nord- und süddeutschen Zierbengel zu tragen pflegten, wenn sie schöntun wollten. Statt des Tituskopfes zeigten sie uns gewöhnlich die Nachbildung eines struppigen Weichselzopfes.

»Lieber Freund,« sprach ich, während wir langsam im tiefen Kote wateten, »will Er mir doch wohl sagen, ob Er den Herrn Burkhardt kennt?«

»Die alte Starostei!« antwortete Peter.

»Ganz recht, bester Freund! Er weiß doch, daß ich zum Herrn Obereinnehmer will?«

»Die alte Starostei!«

»Gut! Was soll ich aber in Seiner alten Starostei?«

»Sterben!«

»Das hole der Teufel! Das kommt mir nicht in den Sinn.«

»Mausetot! Sterben!«

»Warum? Was habe ich verbrochen?«

»Preuße! Kein Polack!«

»Ich bin ein Preuße!«

»Weiß gut!«

»Warum denn sterben? Wie meint Er's?«

»So und so und so!« – Der Kerl stieß, als hätte er einen Dolch in der Faust. Dann zeigte er auf sein Herz, ächzte und verdrehte gräßlich die Augen. Mir ward bei der Unterredung ganz übel. Denn verrückt konnte Peter nicht sein, er sah mir ziemlich verständig aus, und Wahnsinnige hat man doch nicht leicht zu Handlangern auf der Post.

»Wir verstehen uns vielleicht nicht vollkommen, scharmanter Freund!« fing ich endlich wieder an. »Was will Er mit dem Sterben sagen?«

»Totmachen!« Dabei sah er mich wild von der Seite an.

»Was? Tot?«

»Wenn Nacht ist!«

»Nacht? Die nächste Nacht? Er ist wohl nicht bei Trost?«

»Gar wohl Polack, aber Preuße nicht!« Ich schüttelte den Kopf und schwieg. Offenbar verstanden wir beide einander nicht! Und doch lag in den Reden des trotzigen Kerls etwas Fürchterliches. Denn der Haß der Polen gegen die Deutschen, oder was dasselbe sagen wollte, gegen die Preußen, war mir bekannt. Es hatte schon hin und wieder Unglück gegeben. Wie, wenn der Kerl mich warnen wollte? Oder wenn der dumme Tölpel durch seinen Übermut eine allen Preußen bevorstehende Mordnacht verraten hätte? – Ich ward nachdenkend und beschloß, meinem Freunde und Landsmann Burkhard! das Gespräch mitzuteilen, als wir vor der sogenannten Starostei ankamen. Es war ein altes, hohes, steinernes Haus in einer stillen, abgelegenen Straße. Schon ehe wir dahin kamen, bemerkte ich, daß die, welche vor dem Hause vorübergingen, scheue, verstohlene Blicke auf das grauschwarze Gebäude warfen. Ebenso tat mein Führer. Der sagte nun kein Wort mehr, sondern zeigte mit dem Finger auf die Haustür und machte sich ohne Gruß und Lebewohl davon.

Allerdings war mein Eintritt und Empfang in Brczwezmcisl nicht gar anmutig und einladend gewesen. Die ersten Personen, welche mich hier begrüßten, die unhöfliche Dame unter dem Tor, der grobe, neuostpreußische Postmeister und der kauderwelsche, verpreußte Polack hatten mir Lust und Liebe sowohl zu meinem neuen Aufenthaltsorte, als zu meinem Justizkommissariat verbittert. Ich pries mich glücklich, endlich zu einem Menschen zu gelangen, der wenigstens mit mir schon einmal dieselbe Luft geatmet. Zwar hatte Herr Burkhardt bei uns zulande nicht den besten Ruf genossen; allein was ändert sich nicht im Menschen mit dem Wechsel der Umstände? Ist die Gemütsart etwas anderes als das Werk der Umgebungen? Der Schwache wird in der Angst zum Riesen; der Feige in der Schlachtgefahr zum Helden; Herkules unter Weibern zum Flachsspinner. Und gesetzt, mein Obereinnehmer hätte bisher für seinen König alles eingenommen, für sich selbst aber keine besseren Grundsätze angenommen gehabt: noch besser immer ein gutmütiger Zecher, als das schwindsüchtige, nasenlose Gerippe mit der Zunge; besser ein leichtsinniger Spieler, als ein grober Postmeister; besser ein tapferer Raufer und Schläger, als ein mißvergnügter Polacke. Burkhardts letztgenannte Untugend gereichte ihm vielmehr in meinen Augen zum größten Verdienst; denn – unter uns gesagt – mein sanfter, bescheidener, schüchterner Charakter, den Mama oft hochgepriesen, konnte mir unter den Polen beim ersten Aufstande zum schmählichsten Verderben gereichen. Es gibt Tugenden, die an ihrem Orte zur Sünde, und Sünden, die zur Tugend werden können. Es ist nicht alles zu allen Zeiten das gleiche, ungeachtet es das gleiche geblieben.

Als ich durch die hohe Pforte in die sogenannte alte Starostei eintrat, geriet ich in Verlegenheit, wo mein alter, lieber Freund Burkhardt zu finden sei. Das Haus war groß. Das Kreischen der verrosteten Türangeln hallte im ganzen Gebäude wieder; doch veranlaßte das niemanden, nachzusehen, wer da sei. Ich stieg die breiten Steintreppen mutig hinauf.

Weil ich links eine Stubentür bemerkte, pochte ich fein höflich an. Kein Mensch entgegnete mit freundlichem »Herein!«. Ich pochte stärker. Alles stumm. Mein Klopfen weckte den Widerhall im zweiten und dritten Stocke des Hauses. Ich ward ungeduldig. Ich sehnte mich, endlich dem lieben Seelenfreunde Burkhardt ans Herz zu sinken, ihn in meine Arme zu schließen. Ich öffnete die Stubentür, trat hinein und sah mitten im Zimmer einen Sarg. Der Tote, der darin lag, konnte mir freilich kein freundliches Herein zurufen.

Ich bin von Natur gegen die Lebendigen sehr höflich, noch weit mehr gegen die Toten. So leise als möglich wollte ich mich zurückziehen, als ich plötzlich bemerkte, der Schläfer im Sarge sei kein anderer, denn der Obersteuereinnehmer Burkhardt, von welchem nun selbst der Tod die letzte Steuer eingezogen. Da lag er, unbekümmert um Weinglas und Karten, so ernst und feierlich, daß ich mich kaum unterstand, an seine Lieblingsfreuden zu denken. In seiner Miene lag etwas dem menschlichen Leben so Fremdes, als hätte er nie mit demselben zu schaffen gehabt. Ich glaube wohl, wenn eine unbekannte allmächtige Hand den Schleier des Jenseits lüpft, das äußere Auge bricht und das innere hellsehend wird, da mag das irdische Leben winzig genug erscheinen und alle Aufmerksamkeit nur dorthin streben.

Betroffen schlich ich aus der Totenstube in den finstern, einsamen Hausgang zurück. Jetzt erst überfiel mich ein solches Grausen vor dem Toten, daß ich kaum begreifen konnte, woher ich den Mut genommen, dem Leichnam so lange ins Antlitz zu schauen. Zu gleicher Zeit erschrak ich vor meiner eigenen Verlassenheit, in der ich nun lebte. Denn da stand ich hundert Meilen weit von meiner teuern Vaterstadt, vom mütterlichen Hause, in einer Stadt, deren Namen ich nie gehört hatte, bis ich ihr Justizkommissar werden sollte, um sie zu entpolacken. Mein einziger Bekannter und kaum erst von mir adoptierter Herzensfreund hatte sich im vollen Sinne des Wortes aus dem Staube gemacht und mich ohne Rat und Trost mir selbst überlassen. Die Frage war: Wohin soll ich mein Haupt legen? Wo hat mir der Tote die Wohnung bestellt?

Indem kreischten die rostigen Türangeln der Hauspforte so durchdringend, daß mir der Klang fast alle Nerven zerriß. Ein windiger, flüchtiger Kerl in Bedientenlivree sprang die Treppe herauf, gaffte mich verwundert an und richtete endlich das Wort an mich. Mir zitterten die Knie. Ich ließ den Kerl nach Herzenslust reden; aber der Schreck hatte mir in den ersten Minuten zum Antworten die Sprache genommen. Ohnehin hatte ich auch schon vorher die Sprache nicht gekonnt, die dieser Bursche redete; denn es war die polnische.

Als er mich ohne Zeichen der Erwiderung vor sich stehen sah und sich nun ins Deutsche übersetzte, welches er so geläufig wie ein Berliner sprach, gewann ich Kraft, nannte meinen Namen, Stand, Beruf und alle Abenteuer seit meinem Einzuge in die verwünschte Stadt, an deren Namen ich noch immer erstickte. Plötzlich ward er freundlich, zog den Hut ab und erzählte mir mit vielen Umständen, was hiernach in löblicher Kürze folgt:

Nämlich er, der Erzähler, heiße Lebrecht; sei des seligen Herrn Obersteuereinnehmers Dolmetsch und treuester Diener gewesen bis gestern nacht, da es dem Himmel gefallen, den vortrefflichen Herrn Obersteuereinnehmer aus dieser Zeitlichkeit in ein besseres Sein zu befördern. Die Beförderung wäre freilich ganz gegen die Neigung des Seligen gewesen, der lieber bei seinem Einnehmerposten geblieben wäre. Allein als er sich gestern mit einigen polnischen Edelleuten ins Spiel eingelassen und beim Glase Wein in ihm der preußische Stolz und in den Polen der sarmatische Patriotismus wach geworden, hätte es anfangs einen lebhaften Wort-, dann Ohrfeigenwechsel gesetzt, worauf einer der Sarmaten dem seligen Herrn drei bis vier Messerstiche ins Herz gegeben, ungeachtet schon einer derselben zum Tode hinreichend gewesen wäre. Um allen Verdrießlichkeiten der neuostpreußischen Justiz auszuweichen, hätten sich die Sieger noch in derselben Nacht, man wisse nicht wohin, entfernt. Der Selige habe noch kurz vor seinem Hintritt in die bessere Welt für den erwarteten Justizkommissar, nämlich für mich, einige Zimmer gemietet, eingerichtet, Hausrat aller Art gekauft, sogar eine wohlerfahrene deutsche Köchin gedungen, die jeden Augenblick in den Dienst eintreten könne, so daß ich wohl versorgt sei. Beiläufig bemerkte der Erzähler Lebrecht, daß die Polen geschworene Feinde der Preußen wären, und ich daher an Kleinigkeiten mich gewöhnen müsse, wie diejenige gewesen, welche mir die stumme Beredsamkeit der Dame unterm Tor ausgedrückt habe. Er erklärte zwar den Peter für einen albernen Tropf, der mir ohne Zweifel nur den Tod des Herrn Obersteuereinnehmers habe anzeigen wollen, wofür ihm ein hinlänglicher Vorrat an Worten gefehlt; daher möge ein beiderseitiges Mißverständnis entstanden sein: doch wolle er, der Erzähler, mir nichtsdestoweniger geraten haben, vorsichtig zu sein, weil die Polen in einer wahrhaft stillen Wut wären. Er selber, der Lebrecht, sei fest entschlossen, sich sogleich nach Beerdigung seines unglücklichen Herrn aus der Stadt zu entfernen.

Nach diesem Berichte führte er mich die breite steinerne Treppe hinab, um mir meine neue Wohnung anzuweisen. Durch eine Reihe großer, hoher, öder Zimmer brachte er mich in einen geräumigen Saal; darin stand ein aufgeschlagenes Bett, von gelben damastenen alten Umhängen beschattet; ein alter Tisch mit halbvergoldeten Füßen; ein halbes Dutzend staubiger Sessel. Ein ungeheurer, mit goldenem Schnörkelwerk umzogener, blinder Spiegel hing an der Wand, deren gewirkte, bunte Tapeten, auf welchen die schönsten Geschichten des Alten Testamentes prangten, halbvermodert, an manchen Stellen nur noch in Fetzen herabhingen. König Salomo auf dem Throne, um zu richten, hatte den Kopf verloren, und dem lüsternen Greise in Susannas Bade waren die verbrecherischen Hände abgefault.

Es schien mir in dieser Einöde durchaus nicht heimisch. Ich hätte lieber ein Wirtshaus zum Aufenthalt gewählt, und – hätte ich's nur getan! Aber teils aus Schüchternheit, teils um zu zeigen, daß ich mich vor der Nähe des Toten nicht fürchtete, schwieg ich. Denn ich zweifelte nicht daran, daß Lebrecht und wahrscheinlich auch die wohlerfahrene Köchin mir die Nacht Gesellschaft leisten würden. Lebrecht zündete behende zwei Kerzen an, die auf dem goldfüßigen Tische bereit standen; schon fing es an zu dunkeln. Dann empfahl er sich, um mir kalte Küche zum Nachtessen, Wein und andere Bedürfnisse herbeizuschaffen, meinen Koffer vom Posthause holen zu lassen und der wohlerfahrenen Köchin von meiner Ankunft und ihren Pflichten Anzeige zu machen. Der Koffer kam, das Nachtessen desgleichen. Lebrecht aber, sobald er sein ausgelegtes Geld von mir empfangen, wünschte mir gute Nacht und ging.

Ich verstand ihn erst, als er verschwunden war, so schnell machte sich der Kerl, nach eingestrichener Zahlung, davon. Ich sprang erschrocken auf, ihm nachzugehen, ihn zu bitten, mich nicht zu verlassen. Aber Scham hielt mich wieder zurück. Sollte ich den elenden Menschen zum Zeugen meiner Furchtsamkeit machen? Ich zweifelte nicht, daß er in irgendeinem Zimmer seines ermordeten Herrn übernachten werde. Aber da hörte ich die Angeln der Hauspforte kreischen. Es drang mir durch Mark und Bein. Ich eilte ans Fenster und sah den Burschen über die Gasse fliegen, als verfolgte ihn der Tod. Bald war er im Finstern verschwunden, ich mit dem Leichnam in der alten Starostei allein.


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