Heinrich Zschokke
Alamontade
Heinrich Zschokke

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10.

In einer tiefern Verwirrung war ich nie gewesen, als am folgenden Morgen. Ich war mir selbst unbegreiflich und schwankte zwischen Widersprüchen. Madame Bertollon schien mich zu lieben; heldenmütig hatte sie bisher wider eine Leidenschaft gestritten, welche den Adel ihrer Seele befleckte. Ich Elender war's, der, ohne sie zu lieben, auf die Seite ihrer Leidenschaft treten und eine unselige Flamme anfachen konnte, von der sie verzehrt, und ich, mehr als die Unglückliche, entehrt werden mußte.

Vergebens rief ich mir die Heiligkeit meiner Pflichten zurück; vergebens hielt ich mir den schändlichen Undank vor, welchen ich gegen Bertollons großmütige Freundschaft beging, vergebens gedachte ich Klementinens und meiner stillen Gelübde: Alles, was mir sonst reizend und ehrwürdig gewesen, hatte Macht und Einfluß verloren. Der Rausch meiner Sinne datierte unaufhörlich fort; vor meiner Einbildungskraft schwebte nur Bertollons liebenswürdige Gattin; ich fühlte noch auf meiner Lippe die Glut ihres Gegenkusses, und meine geschmeichelte Eitelkeit vernichtete mit trüglichen Schlüssen und Folgerungen die ernste Warnung des Gewissens. Und indem mir die heilige Vernunft ihr Gebot in die Feder diktierte, und ich der Tugend das erste schwere Opfer darbringen wollte, schrieb ich an Madame Bertollon die feierlichsten Schwüre meiner Liebe; log ich ihr vor, wie mich geheime Leidenschaft verzehre, und ich nur in ihrer Liebe meinen Himmel erblicke. Ich bat, ich beschwor sie, mich nicht sinken zu lassen, und rollte vor ihrer Phantasie ein begeisterndes Gemälde unserer Seligkeit aus.

Ich sprang auf. Ich las und las – zerriß den Brief, schrieb einen zweiten, schrieb alles vorige wieder, und las und zerriß es wieder. Wie eine unbekannte Gewalt schleppte es mich wider meinen Willen zum Verbrechen hin, vor dem meine Seele schauderte. Indem ich schwor, mit halblauter Stimme schwor, noch heute nach Nismes aufzubrechen, und nie die Mauern von Montpellier wieder zu sehen, schwor ich leise bei mir, das hold-unglückliche Weib nie zu verlassen, sondern an ihr zu hangen, und sollte ich aus ihren Küssen meinen unvermeidlichen Tod saugen.

Es war, als rängen zwei verschiedene Seelen in mir mit gleicher Kraft und Gewandtheit. Die Überlegung schwand; das Gefühl der Pflicht erstarb im Gefühl der alles verzehrenden Neigung. Ich beschloß, zu Madame Bertollon hinzueilen. Vielleicht daß auch sie sich wegen ihrer bewiesenen Schwäche mit Vorwürfen quälte; vielleicht daß auch sie mich und Montpellier zu fliehen willens sein konnte. Ich wollte sie zurückhalten. Ich wollte ihre Besorgnisse zerstreuen und ihr das Erlaubte unserer Liebe vorstellen.

Ich sprang auf und zur Thür hin. »Also doch freveln?« rief's wieder in mir. »Also doch nun den lange bewahrten innern Ruhm der Unschuld einbüßen?« Ich wankte und trat zurück.

»Sei rein wie Gott und bleib' es! Dieser Tag und dieser Sturm gehe vorüber, dann bist du gerettet!« sprach ich zu mir selbst. Dies religiöse Gefühl erhob mich. Der Gedanke: Sei rein wie Gott! drang durch das Gewühl meiner wilden Empfindungen immer hindurch, und hielt mich wenigstens für diesmal ab, sogleich zu Madame Bertollon zu eilen.

Da öffnete sich die Thür meines Zimmers. Herr Bertollon trat herein.

»Was machst Du, lieber Colas? Dir ist nicht wohl?« sagte er. Erst jetzt nahm ich wahr, daß ich mich aufs Bett geworfen hatte. Ich sprang auf. Er reichte mir die Hand, aber ich hatte nicht den Mut, ihm die meinige zu geben.

»Aber was fehlt Dir? Dein Blick ist so verstört, Colas! Du siehst blaß aus!« sagte er wieder. Ich aber konnte nicht antworten.

»Entdecke ihm alles Vorgefallene!« rief's in mir. »Dem Ehemann entdecke alles, alles. so ist mit einem Male die ewige Scheidewand zwischen Dir und seiner Gattin gezogen, und Du bleibst rein, wirst nicht der Verführer eines Weibes, der Verräter Deines edlen Wohltäters und der Betrüger Deines Freundes!

»Bertollon, ich bin unglücklich, weil ich Deine Gattin liebe!« sagte ich schnell und aus Furcht, ich möchte das Bekenntnis nicht vollenden. Und kaum hatte ich die letzte Silbe vorgebracht, so überfiel mich die Reue, nun aber zu spät. Es war geschehen. Der Ehemann wußte alles. Ich aber war gerettet.

Bertollon entfärbte sich, und sprach: »Was redest Du, Colas?«

»Ich muß fort! Ich muß Montpellier, muß Dich, muß Deine Gattin fliehen, denn ich liebe sie!« antwortete ich.

»Du bist ein Narr, glaub' ich!« sagte er lächelnd und gewann wieder Farbe.

»O Bertollon, es ist mein Ernst! Ich darf hier nicht bleiben. Deine Gemahlin ist ein edles Weib. Aber ich fürchte, mein Umgang mit ihr wird ihr und mir verderblich.«

»Ein Heiliger, wie Du, Colas,« sagte Bertollon laut lachend, »der dem Ehemann selbst die Geheimnisse seines Herzens in frommer Andacht beichtet, ist keinem Ehemann gefährlich. Sei ruhig, Du bleibst bei uns. Wer wird auch so viel Wesen aus einer Liebschaft machen? Ich vertraue Dir und habe keinen Argwohn weder gegen Dich, noch gegen mein Weib. Dies sei Dir genug. Wenn Ihr Euch beide liebt, was kann ich gegen Eure Herzen? Und wenn Ihr zwischen Euch beide den ganzen Erdball wälztet: würdet Ihr Euch beide darum weniger lieben? Liebet Euch! Ich weiß, Ihr denket beide zu edel, als daß Ihr Euch vergessen solltet!«

Er sagte dies alles so unbefangen und heiter, und mit dem Tone so argloser Zuversicht, daß ich gerührt ihn an mein Herz schloß. Sein Edelmut stärkte meine Kraft zum Guten. Ich schämte mich der Niedrigkeit, und sogar deswegen, daß ich einen so schweren Kampf gekämpft.

»Nein,« sagte ich, lieber Bertollon, ich wäre ein Ungeheuer, wenn ich Dein Vertrauen täuschen und Deine Freundschaft so schändlich vergelten könnte. Du hast mich jetzt wieder zum Gefühl meines besseren Selbst gebracht. Ich bleibe, und die Erinnerung an Deine Zuversicht wird mich vor jedem entehrenden Gedanken bewahren. Ich bleibe und will Dir beweisen, daß ich Deiner wert bin. Ich werde meinen Umgang mit Deiner Gemahlin abbrechen. Ich will sie nie ohne Zeugen sehen. Ich will . . .«

»Wozu mir das sagen?« unterbrach mich Bertollon. »Genug, ich vertraue Dir! Denkst Du, daß ich's nicht längst bemerkt, daß meine Frau Dich liebt? Daß ihre Liebe die Farbe ihres heftigen ungestümen Charakters trägt? Daß ihre Leidenschaft um so gewaltiger ist, je tiefer sie solche verbirgt? Teile ihr Deine edlen Grundsätze mit, und heile sie, wenn Du willst, aber mit Vorsicht. Ich kenne sie, ihre Liebe könnte sich sehr bald in einen fürchterlichen Haß verwandeln, und dann wehe Dir!«

Er brach hiermit das Gespräch ab und lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen fremdartigen Gegenstand. Er duldete es nicht, daß ich wieder vom vorigen anfing. Je mehr ich Ursache hatte, die Größe seines Vertrauens zu bewundern, desto kühler wurde ich selbst, und desto entschlossener, mich allmählich von seiner Gattin zu trennen.

11.

Erst am Abend des folgenden Tages sah ich sie wieder. Sie saß einsam in ihrem Zimmer, das schöne Haupt schwermutsvoll auf ihren Arm gestützt. Sie stand auf, sobald sie mich gewahr ward; ihr Gesicht war voll lieblicher Verwirrung. Ich näherte mich ihr. Wir blieben beide lange sprachlos. Sie hatte die Augen niedergesenkt.

»Darf ich's noch wagen, vor Ihnen zu erscheinen?« sagte ich zitternd. »Ich komme nur, um mein Vergehen zu büßen.«

Sie schwieg.

»Ich habe Ihr Vertrauen gemißbraucht,« fuhr ich fort; »ich sollte nur Achtung gegen die Gattin meines einzigen Freundes hegen . . . ich habe gefehlt.«

»Und ich!« stammelte sie leise.

»Ach, Madame, ich fühl's, ich habe mich zu wenig in der Gewalt; und wer könnte es bei Ihnen? . . . Aber . . . und sollte es mir das Leben kosten, ich will Ihre Ruhe nicht stören. Mein Entschluß ist unwiderruflich gefaßt. Ich habe Ihrem Gemahl das Innere meines Herzens entdeckt.«

»Entdeckt?« rief sie erschrocken: »Und er?«

»Er entfärbte sich anfangs . . .«

»Er entfärbte sich?« stammelte sie.

»Aber mit Vertrauen auf Sie, Madame, und mit einem Vertrauen, größer als meine Tugend, wollte er mir den Vorsatz ausreden, mich von Montpellier zu entfernen.«

»War das Ihr Vorsatz, Alamontade?«

»Er ist's noch jetzt. Ich liebe Sie, Madame! Sie aber sind die Gattin Bertollons. Ich will die Ruhe einer Familie nicht stören, der ich tausend Wohlthaten verdanke.«

»Sie sind ein edler Mensch!« sagte sie, und Thränen rollten über ihre Wangen, »Sie wollen thun, was ich zu thun entschlossen war. Meine Sachen sind bereits gepackt. Ich darf, ich will es Ihnen nicht verhehlen, Alamontade, daß ich wünsche, Sie nie kennen gelernt zu haben! Unsere Freundschaft artete in Liebe aus. Ich belog mich vergebens. Ich rang zu spät gegen meine strafbaren Empfindungen.«

Sie schluchzte heftiger. »Ja!« rief sie. »So ist es besser! Wir müssen uns trennen. Aber nicht für immer und ewig. Nein, nur bis unsere Herzen ruhiger schlagen, bis wir uns mit Zurückhaltung begegnen können!«

Sie schwieg. Ich war tiefbewegt. Wir bekannten uns ewige Liebe, und gelobten und schworen, sie doch in unserer Brust zu töten.

Als wir von einander schieden, hatten wir verabredet, ich solle nicht weiter als eine Stunde von Montpellier reisen. Auf dem Landgute bei Castelnau sollte ich wohnen, und nur zuweilen zum Besuch in die Stadt kommen.

12.

Ohne Zögern führte ich meinen Vorsatz aus, so sehr auch Herr Bertollon dagegen war. Er mußte endlich meinen Bitten nachgeben. Ich reiste ab, ohne auch nur den Abschiedsbesuch bei Madame Bertollon zu wagen.

In der Stille der ländlichen Natur genas ich bald von dem Liebesrausche. Ich fühlte es, daß ich Madame Bertollon nie wahr und rein geliebt hatte, und verabscheute mich selbst, ihr Gefühle vorgeheuchelt zu haben, die mir nicht beiwohnten. Es war nichts, als ein betäubender Rausch gewesen, der erst durch die unglückliche Liebe entstanden war, welche die schöne Frau mir nicht verbergen konnte. Sie allein war zu beklagen, und meine Pflicht ward es, ihr den verlorenen Frieden wieder zu geben.

Es verstrichen vier Wochen. Bertollon allein besuchte mich. Er kam oft. »Denn ich kann nicht ohne Dich leben, und doch fesseln mich meine Geschäfte an die unselige Stadt!« sagte er.

Eines Morgens ward ich durch den Bedienten früh geweckt. »Herr Larette ist draußen, er will Sie schlechterdings sogleich sprechen!« sagte er, und Larette, einer von Bertollons Freunden, trat zu gleicher Zeit blaß und verstört herein.

»Stehen Sie auf,« rief er, »und kommen Sie sogleich nach Montpellier!«

»Was giebt's?« fragte ich erschrocken.

»Stehen Sie auf, kleiden Sie sich an! Sie haben keinen Augenblick zu säumen. Bertollon ist vergiftet und liegt auf den Tod danieder.«

»Vergiftet?« stammelte ich und sank fast ohnmächtig im Bette zurück.

»Nur hurtig! Er wünscht Sie noch zu sehen. Ich bin auf seinen Befehl hierher geeilt.«

Ich warf mir zitternd meine Kleider über. Kraftlos folgte ich ihm zur Thür. Ein kleiner Wagen stand bereit. Wir setzten uns hinein und flogen den Weg nach Montpellier hinaus.

»Vergiftet?« fragte ich wieder unterwegs.

»Freilich!« erwiderte Larette. »Doch schwebt über der Begebenheit ein unbegreifliches Dunkel. Ein Kerl, der das Gift aus dem Spezereiladen geholt, ist im Gefängnis. Auch Madame Bertollon wird in ihren Zimmern bewacht.«

»Madame Bertollon? Bewacht? Warum bewacht? Wer läßt sie bewachen?«

»Der Magistrat.«

»Der Magistrat? Bildet sich die Polizei von Montpellier solche Raserei ein? Glaubt der Magistrat, Madame Bertollon könne ihren Gatten vergiftet haben?«

»Er glaubt's, und jedermann . . . Der Kerl, Valentin, er . . .«

»Wie? Valentin, der alte, treue Hausknecht, die ehrlichste Haut unter der Sonne?«

»Nun, er hat ausgesagt, das Gift auf Befehl der Madame Bertollon vor ungefähr acht Tagen geholt zu haben. Und auf diese Aussage des Knechtes hat Madame Bertollon bei ihrer Vernehmung es ohne weitere Umstände eingestanden. Da haben Sie alles.«

»Eingestanden? Ich bin wie von Sinnen, denn ich verstehe Sie nicht. Was hat sie eingestanden?«

»Daß Valentin ihr das Gift habe holen müssen.«

»Entsetzlich! Und auch, daß sie es sei, die ihren eigenen Mann umgebracht, vergiftet hat?«

»Wer gesteht denn so was ein? Übrigens ist es leider der Fall. Bertollon fühlte gestern früh wieder seine gewöhnliche Unpäßlichkeit; Sie wissen, er ist zuweilen dem Schwindel unterworfen. Er hat seine Gemahlin ersucht, da sie in ihrem Zimmer eine kleine Hausapotheke besitzt, ihm die gewöhnlichen Magentropfen zu geben, eine sehr kostbare Essenz, die Madame Bertollon ihm in einem blauen, vergoldeten Glasfläschchen brachte. Sie selbst goß die Arznei in den Löffel, that Zucker hinzu, und reichte sie ihrem Mann. Nach einer Weile empfand er schon das heftigste Schneiden in den Eingeweiden. Der Arzt kam. Man erkannte die Wirkungen des Giftes. Man fand davon noch Spuren in der Essenz, die im Löffel geblieben. Der Arzt that sein Möglichstes, ihn zu retten. Er forderte die Essenz zur Untersuchung. Madame Bertollon ward empfindlich, und fragte, ob man glaube, sie sei eine Giftmischerin? Endlich, da sie nicht länger, ohne Verdacht zu erregen, die Auslieferung des Fläschchens verweigern konnte, übergab sie es. Unterdessen waren mehrere Ärzte, sowie auch ein Abgeordneter der Polizei, herbeigeeilt. Die Geschichte war ruchbar geworden. Der Spezereihändler erinnerte sich des an Valentin verkauften Giftes und zeigte es dem Polizeiamt an. Valentin ward auf der Stelle festgenommen. Er berief sich auf seine Gebieterin und deren Befehl. Madame Bertollon ward obrigkeitlich befragt. Sie sank ohnmächtig hin. Man forderte ihr die sämtlichen Schlüssel ab, untersuchte ihren Arzneischrank, und fand das vom Spezereihändler wieder erkannte Gift; nur fehlte davon ein Teil. Inzwischen war die Essenz im blauen Fläschchen geprüft, und Gift darin entdeckt worden. So stehen die Sachen. Denken Sie nun davon, was Sie wollen, mein Herr!«

Ich schauderte und sprach keine Silbe. Ich erblickte in dem Ganzen einen gräßlichen Zusammenhang, den weder Larette, noch ein fremder wahrnehmen konnte. Sie liebte mich mit einer fürchterlichen Stärke; unsere Trennung erhöhte ihre Leidenschaft, statt sie zu brechen. So verfiel sie auf den verruchten Plan, sich ihres Gemahls zu entledigen.

Wir kamen in Montpellier an. Ich wollte in das Zimmer meines teuern Wohltäters. »Lebt er noch?« rief ich schon unten an der Treppe. Man gebot mir flüsternd, mich still zu verhalten. Man wehrte mir den Eingang in sein Gemach. Er war in einen sanften Schlummer gesunken, der ihm wohlthun und ein beruhigendes Zeichen seiner Rettung sein sollte.

»Und wo ist Madame Bertollon?« frug ich.

Man antwortete mir, sie habe diesen Morgen in aller Frühe das Haus verlassen, und sei zu ihren Verwandten gezogen, wo sie, gegen gerichtliche Bürgschaft ihrer ganzen Familie, häusliche Haft erhalten habe.

13.

Ganz Montpellier ward durch diese außerordentliche Begebenheit erschüttert. Bertollons allmähliche Genesung durch die Kunst der Ärzte erregte in allen Häusern die lebhafteste Freude. Ich wich nicht mehr vom Krankenlager meines geliebten Freundes, den ich als meinen Bruder, als meinen Vater verehrte.

Unterdessen war der Prozeß gegen die Gattin Bertollon's anhängig gemacht worden, aber der berühmteste Advokat von Montpellier, Herr Menard, erbot sich gegen die Familie der Angeklagten aus freien Stücken, ihr gerichtlicher Verteidiger zu werden. Menard hatte noch keinen Rechtshandel verloren. Der Zauber seiner Beredsamkeit besiegte alles: wo er den Verstand nicht überzeugen konnte, wußte er ihn mit unauflöslichen Zweifeln zu umstricken, und dann alle Gefühle des Herzens wider ihn in Aufruhr zu bringen.

»Ich verlange nichts,« sagte Bertollon, »als daß man mich von der Giftmischerin auf ewig trenne. Ich dringe auf keine andere Bestrafung ihres mißlungenen Versuchs. Ihr eigenes Gewissen und die öffentliche Verachtung sind für sie Strafe genug. Menard ist, ich weiß es, mir persönlich abhold. Er war einmal mein Nebenbuhler. Ich sehe voraus, daß er durch seine Kunstgriffe Richter und Volk dermaßen verwirren und verblenden wird, daß meine schändliche Frau noch mit Triumph aus dem Handel geht.«

»Das wird er nicht!« rief ich mit Wärme. »Ich bitte Dich, Bertollon, obgleich ich ein Anfänger bin und nie vor Gerichten sprach, übergieb mir Deine Angelegenheit. Vertraue mir und der gerechten Sache! Es thut mir gar nicht weh', gegen eine Frau vor das Tribunal zu treten, die ich einst Freundin nannte, und die mich mit verbrecherischen Gefälligkeiten überhäufte. Du bist mein Bruder, mein Wohlthäter, Deine Sache ist eine heilige!«

Bertollon lächelte, aber er äußerte mir zugleich seine Besorgnis, daß ich der Gewandtheit meines Gegners nicht gewachsen sei. Er willigte endlich, nicht ohne anscheinende Besorgnis, in meinen Wunsch ein, daß sein Prozeß der erste Versuch meiner Kunst werden sollte.

Als man in Montpellier erfuhr, daß ich der Anwalt Bertollon's sei, hielt man schon im voraus meinen Gegner für den Sieger. Nachdem die Untersuchung und die Zeugenverhöre beendigt waren, wurden Menard und ich vor die Schranken gelassen. Der gewaltige Redner schien meiner zu spotten. Er verschmähte es, gegen einen jungen Menschen anzutreten, der noch vor kurzem sein Schüler gewesen, und jetzt eine Probearbeit liefern wollte. Er sprach und sprach mit solcher Macht, daß er mich selbst auf's innigste erschütterte und fast für die Sache der angeklagten Frau entflammte. Der Prozeß dauerte durch Menard's Kunst schon ein halbes Jahr, wahrend ich in einigen Wochen zu siegen gehofft hatte. Immer ward Menard vom Beifall des Volks aus dem Obergerichts-Palaste begleitet, und ich schien meine Kräfte nur darum an der Erschwerung seines Sieges zu vergeuden, um seine Lorbeeren zu vermehren. Je mehr inzwischen meine Sache sank, desto höher stieg mein Mut. Eine ungewöhnliche Kraft beseelte mich. Menard selbst fing an, mich zu achten, oder zu fürchten, je weiter ich ihn aus seinen ersten Eroberungen zurückdrängte. Seine Partei verminderte sich, je mehr er die Wahrheit der durch ihn zweideutig und unsicher gemachten Thatsachen anzuerkennen gezwungen war. Bald vernahm ich öffentliche Lobsprüche. Bald umgab mich eine kleine Zahl von Anhängern. Bald rauschte auch mir des Volkes Beifall zu, je mehr Madame Bertollon als Verbrecherin erschien, und ihre Schönheit und ihre Tugend durch die Erinnerung an jene schwarze That verdunkelt wurden.

So angenehm mir dieser Weihrauch war, entzückte er mich doch nicht so sehr, als Klementinens stummer Beifall. Madame Bertollon war eine Verwandte des Hauses de Sonnes. Als es bekannt ward, daß ich Bertollon's Sache verfechten würde, stand Klementine traurig am Fenster. Sie schüttelte den Kopf. Sie machte mir eine drohende Geberde. Ich glaubte sie zu verstehen und zuckte die Achseln, ließ mich jedoch nicht abschrecken, eine Pflicht zu erfüllen, die mir so heilig war. Während in Montpellier mein Name bekannter und gepriesener wurde, ward auch sie wieder freundlicher. Klementine schien über ihr Glück die Verwandtschaft mit Madame Bertollon zu vergessen. Ach, ich sah mich von dem Engel geliebt, den ich anbetete. Kein Sterblicher war seliger als ich. Jahre lang hatte schon unser Einverständnis gewährt.

Doch ich kehre zu dem unseligen Prozeß zurück, der jetzt für die Angeklagte die übelste Wendung nahm. Madame Bertollon konnte, indem alle Tatsachen und Zeugen wider sie waren, nichts mehr thun, als standhaft leugnen, daß sie ihren Gatten habe vergiften wollen, wenn gleich der Schein sie schuldig machte. Ich drang nun darauf, daß man sie strenger als bisher vernehme, warum sie, oder zu welchem Zweck sie acht Tage vor der That das Gift eingekauft hatte? Sie erteilte ausweichende Antworten, und verfiel während der Verhöre in Widersprüche. Man sah ohne Mühe ein, daß sie sich scheue, den Grund zu entdecken. Alle Bitten ihrer Verwandten, alle Drohungen ihres Anwalts vermochten nichts über sie. Dies vermehrte den Verdacht. Menard gab seinen Prozeß verloren. Da übernahm es Madame Bertollon, ihre Sache vor Gericht selbst zu verfechten, in der Herr Menard so unglücklich war. Ich sah darin nichts, als einen Kunstgriff Menard's, der nun die rührende Gewalt weiblicher Schönheit zu Hilfe rufen wollte, seine Beredsamkeit zu unterstützen.

Als sie in den Saal trat, entstand eine Todesstille. Nie war sie reizender gewesen als in diesem Augenblick. Ihr einfaches Gewand und die Blässe des tiefen Kummers riefen das Mitleid in alle Herzen, und Thränen in alle Augen. Jeder schwieg. Jetzt wandten sich alle Blicke von ihr hinweg auf mich. Ich sollte reden, aber ich konnte es nicht. Ich war in einer unaussprechlichen Verwirrung. Sie war das Bild der leidenden Unschuld. Alle die lieblichen Stunden, welche ich an ihrer Seite genossen, tauchten in meinem Gedächtnis auf, umringten wie weinende Engel meine Seele, baten für sie und flüsterten: Sie ist gewiß schuldlos! Endlich ermannte ich mich. Ich bezeugte, daß niemand entzückter sein würde, von der Unschuld der Angeklagten überzeugt zu sein als ihr eigener Gatte und dessen Fürsprecher, ich. Notwendig sei es daher, daß sie den schreienden Verdacht von sich abwende, daß sie anzeige, in welcher Absicht sie das Gift gekauft habe?

Madame Bertollon war sehr schwach. Sie lehnte sich an den Arm ihres Verteidigers. Sie sah mich mit einem schmerzlichen Blick an, aus welchem Liebe und Jammer sprachen. »O Alamontade!« sagte sie mit matter Stimme. »Und Sie müssen es sein, der darauf dringt, meine Absichten mit dem Gifte zu erfahren? Sie? Und hier?« Sie schwieg eine Weile; dann hob sie sich plötzlich empor, wandte das blasse Antlitz gegen die Richter, und mit einem schmerzlichen Tone, der die Verzweiflung ihrer Seele ausdrückte, sprach sie: »Richter, Ihr habt mich mit der Folter bedroht, um mein Geständnis zu erpressen! Es ist genug! Ich will den Prozeß enden! Ich bin schuldig! Ich hatte mit diesem Gifte einen Mord im Sinne. Mehr erfahret Ihr nicht von mir! Verdammet mich!«

Sie drehte sich um und verließ den Saal; Todesstille folgte ihr nach . . . ein tiefes Erstarren rings umher.

Zwei Tage nachher sprach das Tribunal das Wort: »Schuldig!« über die Elende aus.

14.

Herr Bertollon war schon längst genesen. Er war heiterer als sonst. Am Abend vor dem Gerichtstage, an welchem das Urteil über Madame Bertollon gefällt werden sollte, war ich bei ihm. Wir zechten fröhlich; um Mitternacht saßen wir noch hinter den Weingläsern und schworen uns im tollsten Rausche ewige Freundestreue bis in den Tod.

»Höre, Colas!« sagte er. »Kennst Du Klementine de Sonnes?«

Ich wurde rot. Wein und Freundschaft entrissen mir das heilige Geheimnis. Bertollon lachte ausgelassen und rief einmal über das andere: »Aber Närrchen, Du mit Deiner himmlischen Tugend wirst überall geprellt! Sei doch nur einmal vernünftig – Warum hast Du mir's nicht schon längst gesagt? Sie wäre jetzt schon Deine Verlobte! Nun, Du sollst sie haben! Da hast Du meine Hand! Mit Klugheit unterjochen wir die Welt, warum nicht ein Mädchen oder eine stolze Familie? Denn ich merke schon, daß Klementine Dir keinen Korb geben würde.«

Ich fiel entzückt meinem Freunde um den Hals. »O wenn Du das könntest, Bertollon, wenn Du das könntest! Du machtest mich glücklich, Du machtest mich zum Gott!«

»Desto besser! Denn ich bedarf noch eines göttlichen Beistandes zu einem Plänchen. Ein Mädchen, wie Deine Klementine, es hat eine auffallende Ähnlichkeit mit ihr, man sollte beide für Schwestern halten . . . ein solches Mädchen wohnt in Agde. Ihr Narren meinet, ich reise wegen der gesunden Luft, oder wegen Handelsspekulationen so fleißig nach Agde hinüber! Nein, ich liebe das Mädchen, unaussprechlich liebe ich's; so hat mich noch kein Weib gefesselt! Sobald ich meine Frau los bin, halte ich um die Venus von Agde an.«

»Wie, Bertollon?« rief ich erstaunt. »Du willst Dich wieder vermählen?«

»Wie anders? Siehst Du, ich meinte anfangs, Du würdest mit meiner Frau einen Roman in bester Form spielen; ich meinte, Du liebtest sie wirklich, und dann hätte ich sie Dir abgetreten, und wir würden uns darüber verständigt haben. Es wäre mir gerade lieb gewesen. So hätte es nachher nicht Teufels Lärmen vor Pontius und Pilatus gegeben, und mit dem Gifte hätte es mir fast übel gehen können!«

»Aber wie denn, Bertollon, ich verstehe Dich nicht?«

»Ich muß Dir nur sagen, Du Närrchen, als ich in Abwesenheit meiner Frau abends heimlich ihre Sachen durchstöberte – lach' nur, Du siehst, ich habe Dir mit Deiner Tugend damals nicht ganz getraut – da glaubte ich, Ihr würdet Liebesbriefe, klägliche und zärtliche, mit einander wechseln. Und der Blitzkerl, der lahme Jacques, kam gerade die Treppe herunter, und sah mich aus dem Zimmer meiner Frau schleichen, als ich ihr den tollen Streich gespielt hatte. Der dumme Maulwurf aber schoß vorbei und grüßte ehrerbietig.«

»Welchen Streich denn? Du schwatzest wunderlich durcheinander. Trink, Du sollst leben!«

»Und Du auch, Colas! Du hast Deine Sache gut gemacht. Bist ein goldner Bursche! Ich wette, Du hättest Deine Reden nicht halb so schön vor dem Tribunal gegen meine Frau gehalten, wenn Du gewußt hättest, daß ich selbst das Gift, freilich nur wenig, in die Essenz gethan.«

»Nein, wahrhaftig nicht, lieber Bertollon!«

»Nun, eben deswegen war's klug von mir, Dir vorher nichts zu sagen. Jetzt thut's keinen Schaden mehr. Aber was denkst Du denn, daß sie mit dem Zeuge gewollt haben mag?«

»Das ist eben das Rätsel!«

»Aber schlau war's! Nicht so, Colas? Denn nun stellte ich mich den andern Morgen krank am Schwindel, und ließ es meiner Frau sagen, die mir eigenhändig nach ihrer Weise die Essenz brachte. Der Arzt ward auch bestellt, und so konnte gleich dem Gift entgegengearbeitet werden. Ich hatte aber nur eine kleine Portion hinein gethan.«

»Aber, Bertollon, was redest Du da? So wäre ja Deine Frau ganz unschuldig?«

»Das ist gerade das Lustigste an der Sache, und Du hast Dir die Kehle für nichts und wieder nichts wund gemacht Aber trink nur, das heilt wieder! He, es war ein kecker Streich von mir? Meine Frau muß glauben, sie sei rein behext. Denn sie weiß nicht, daß ich zu allen ihren Schränken den besten Dietrich habe.«

»Aber« . . . sagte ich, und das Entsetzen machte mich plötzlich nüchtern.

»Daß davon keine Seele erfährt! Du, Colas, bist mein einziger Vertrauter, siehst Du, und es hätte noch übel ablaufen können! In der Eile stieß ich im Arzneischrank ein Fläschchen roten Liqueurs um, und vergaß, es aufzurichten. Kurzum, Colas, ich bin glücklich! Du sollst es auch sein! Ich schwöre Dir, an dem Tage, wo ich Julien heirate, feierst Du auch Deine Vermählung mit Klementinen. Aber was ist Dir? Du wirst, meiner Seele, ohnmächtig. Nimm da das Wasser! Der Champagner bekommt Dir doch nie!«

Er legte seinen Arm um mich, während er mir mit der andern Hand das Glas reichte. Ich drängte ihn schaudernd zurück. Ich war betäubt von dem, was ich gehört hatte.

»Geh' schlafen!« sagte er.

Ich verließ ihn. Er taumelte mir lachend nach.

15.

Mitternacht war schon längst vorüber; der Morgen nahe. In meine Augen drang kein Schlaf. Ich entkleidete mich nicht einmal, sondern lief in heftiger Bewegung mein Zimmer auf und ab. Welch eine Nacht! Was hatte ich erfahren müssen? Ich konnte noch nicht an ein so scheußliches Verbrechen glauben, wider das sich die Natur sträubt. Ein unschuldiges, tugendhaftes Weib, welches den Gatten nie beleidigt hatte, in Gefangenschaft und lebenslängliche Entehrung zu stürzen! Den Freund zu mißbrauchen, den höllischen Einfall zu verfechten, und die Unschuld mit Foltern grausamer als der Tod zu quälen! –

Der Morgen war angebrochen, und ich war noch immer unentschlossen. Gerettet mußte die Unschuld werden; aber ihre Rettung war der Untergang meines Wohlthäters, meines ersten, meines einzigen Freundes; nur ein Übermaß seiner Liebe zu mir und im Weinrausch hatte ihm das entsetzliche Geständnis entlockt – sollte ich hingehen, ihn zu verraten? Er war der Schöpfer meines Glückes; sollte die Hand, welche von ihm unzählige Almosen empfangen, ihn undankbar in den unermeßlichen Abgrund stürzen? Ach und den ich noch immer liebte, den Einzigen, sollte ich verlieren!

»Unselige Verkettung der Begebenheiten!« seufzte ich. »Warum mußte ich das Werkzeug werden, entweder die Unschuld in Fesseln zu schlagen, oder meinen Wohlthäter zu morden?«

Aber mein Gewissen rief: »Sei gerecht, ehe Du gütig sein willst! Welches auch immer die Folgen unserer Handlungen sein mögen, die wir pflichtmäßig üben – und müßten wir uns selbst zerstören – nichts darf uns zurückhalten, wenn es die Tugend gilt. Stürze immerhin in Deine Armut zurück und gehe einsam und freundlos durch die Welt, nur rette Deine Selbständigkeit und trage in Dir das stille Bewußtsein: Du handeltest, wie Du als ein Gerechter solltest! Es ist ein Gott, sei rein wie er!«

Ich schrieb an den Polizeibeamten des Stadtviertels, sich sogleich wegen höchst dringender Angelegenheit zu mir zu begeben. Er kam. Ich begab mich in Bertollons Zimmer und der Beamte blieb draußen vor der Thür.

Bertollon schlief noch. Ich zitterte. Liebe und Mitleid überwältigten mich. »Bertollon!« seufzte ich und küßte ihn.

Er erwachte. Ich ließ ihn unter gleichgültigen Gesprächen munter werden. »Sage mir,« sprach ich endlich, »ist Deine Frau wirklich unschuldig? Hattest Du wirklich selbst die Essenz vergiftet?«

Er sah mich mit einem stieren, durchbohrenden Blick an und antwortete: »Schweig!«

»Aber, Bertollon, diese Antwort ist ja eine Bestätigung Deiner nächtlichen Aussage. Ich beschwöre Dich, Freund, beruhige mich. Hast Du alles wirklich ausgeführt? Oder wolltest Du mich nur . . .«

Bertollon richtete sich auf und sagte: »Colas, ich hoffe, Du bist gescheit!«

»Aber rede doch! Bertollon, heute wird das Obergericht über Deine Gattin das Urteil fällen! Laß die Unschuld nicht verderben!«

»Bist Du rasend, Colas? Hättest Du Lust, der Verräter Deines Freundes zu werden?«

Indem er dies sagte, oder vielmehr stammelte, sah ich ihn in starker Bewegung. Er war sehr bleich geworden, seine Lippen wurden bläulich, und sein Auge starrte gräßlich vor sich hin. Alles belehrte mich nur zu gewiß, daß er in der Nacht beim Rausche Dinge bekannt, vor denen er jetzt selbst erschrak, da er sich vor mir nicht mehr sicher sah.

Ich legte meine Hand auf seine Achsel und flüsterte ihm ins Ohr: »Bertollon, kleide Dich an, nimm so viel Geld als möglich mit und flieh! Ich sorge für alles andere.«

Mit einem tödlichen Blicke fragte er: »Warum?«

»Flieh! sag' ich, noch ist es Zeit!«

»Warum?« entgegnete er. »Hast Du im Sinn . . . oder vielleicht schon . . .«

»Bei allem, was Dir lieb und heilig ist, fliehe, sage ich!«

Indem ich ihm dies zuflüsterte, sprang er eilends auf, lief unangekleidet im Zimmer umher, als suche er etwas. Ich glaubte, er habe in der Bestürzung vergessen, daß seine Kleider neben dem Bette lagen. Während ich mich bückte, ihm dieselben zu reichen, fiel ein Pistolenschuß und das Blut stürzte über meine Brust herab.

Die Thür sprang auf, der Polizeibeamte trat erschrocken herein. Bertollon, in der einen Hand die abgefeuerte Pistole, in der andern eine zweite, sah erstarrt die unerwartete Erscheinung.

»Verruchter Hund!« schrie er mir mit der verzerrten Geberde der Verzweiflung zu, und schleuderte mir die abgeschossene Pistole mit Wut gegen den Kopf. Von neuem fiel ein Schuß. Bertollon hatte sich erschossen. Er taumelte auf mich zu. Ich fing ihn in meinen Armen auf. Sein Haupt war zerschmettert.

Meine Sinne schwanden. Ich sank zu Boden und erwachte erst wieder auf meinem Zimmer unter der Geschäftigkeit der Ärzte und Bedienten. Meine Wunde, unter der linken Schulter, war untersucht, verbunden und ohne alle Gefahr.

Alles war in großer Bestürzung. Mehrere von Bertollons Freunden standen vor mir. Jeder bestürmte mich mit Fragen. Ich machte mich von ihnen los, und sobald ich mich erholt, warf ich frische Kleider über und bestellte eine Sänfte, um nach dem Vernehmungsort des Obergerichts getragen zu werden. Bertollons Selbstmord war inzwischen stadtkundig geworden. Eine ungeheure Menge Volks umwogte das Haus. Sobald man erfuhr, daß ich mich ins Gericht begeben würde, folgte der neugierige Haufe meiner Sänfte nach. Schon war in einer geheimen Sitzung des Gerichts das Urteil über Madame Bertollon gefällt worden. In eben dem Augenblick, als sie in den Saal geführt wurde, um dasselbe vor dem versammelten Volke anzuhören, traf auch ich daselbst ein. Ich bat, angehört zu werden, weil ich wichtige Entdeckungen zu eröffnen habe. Die Erlaubnis zu reden ward mir erteilt. Eine Stille ging durch den weiten Saal, als wäre das Leben aus jeder Brust gewichen.

»Ihr Richter,« sprach ich, »einst stand ich hier als ein Ankläger der Unschuld! Ich komme, sie zu retten, und ihr den gebührenden Triumph zu bereiten. Ich war getäuscht vom Schein der Umstände; getäuscht, gemißbraucht von meinem Freunde, und der Teilnehmer an einer Grausamkeit, ohne es zu wissen. Die Unglückliche, deren Urteil Ihr sprechen wollet, ist keiner Missethat schuldig!«

Ich erzählte nun umständlich die Geschichte der vergangenen Nacht; erzählte den Selbstmord Bertollons und seinen Versuch, mir das Leben zu rauben. Neben mir stand der Polizeibeamte als Zeuge, und der lahme Jacques, welcher sich erinnerte, den Herrn Bertollon am Abend vor der Vergiftungsszene aus dem Zimmer seiner Gemahlin mit einer brennenden Kerze kommen gesehen zu haben.

Eine solche Auflösung des Rechtshandels, in welchem ich anfänglich über meinen Gegner, Herrn Menard, einen so glänzenden Sieg davon getragen hatte, und der meinen Ruf im ganzen Lande begründen sollte, hatte niemand erwartet. Während meiner Rede malten sich Erstaunen und Grausen in allen Gesichtern umher. Als ich aber schwieg, entstand ein Gemurmel, und das Gemurmel ward zum lauten Jauchzen. Das Volk rief meinen Namen mit schwärmerischer Freude, und die Augen der Umstehenden waren mit Thränen gefüllt.

Es war an keine Ordnung im Saale mehr zu denken. Ohnmächtig war Madame Bertollon unter den Glückwünschen der sie Umringenden hingesunken. Der Unterstatthalter der Provinz, welchen Zufall oder Neugier heute in den Gerichtssaal geführt hatte, ein Verwandter des Marschalls Montreval, stieg von seinem erhobenen Sitz und umarmte mich öffentlich. Herr Menard folgte seinem Beispiel, unter dem Zujauchzen des entzückten Volkes.

Ich ließ mich zu Madame Bertollon führen. Meine Kniee brachen. Ich sank entkräftet vor ihr nieder, und drückte meine nassen Augen auf ihre Hand.

»Können Sie mir verzeihen?« stammelte ich.

Mit einem Blick voll unaussprechlicher Liebe, mit einem himmlischen Lächeln sah sie auf mich nieder.

»Alamontade!« seufzte sie leise und Thränen verhinderten sie, mehr zu sagen.

Die Sitzung des Gerichts mußte aufgehoben werden. Die Richter umarmten mich. Vergebens wünschte ich zu Madame Bertollon zurück zu kommen. Das Getümmel war zu groß. Man führte mich durch die gedrängte Menschenmasse, welche mich mit Ehrenbezeugungen überhäufte, die Stufen des Gerichtsgebäudes hinab.

Im Begriff, in die Sänfte zu steigen, ward ich von einem jungen, wohlgekleideten Manne angehalten.

»Sie können, mein Herr,« sagte er, »unmöglich mit angenehmen Empfindungen in das Haus zurückkehren, das noch den Leichnam eines Selbstmörders beherbergt und Sie allenthalben an die schrecklichen Ereignisse erinnern muß. Gewähren Sie mir die Ehre, ich bitte Sie, mein Herr, Sie wenigstens einstweilen in meinem Hause bewirten zu dürfen!«

Diese, mit so herzlicher Innigkeit gemachte Einladung kam mir unerwartet. Dem jungen Manne glänzten noch die Thränen in den Augen. Er bat so anhaltend, daß ichs nicht mehr ablehnen konnte. Er drückte mir mit freudiger Dankbarkeit die Hand, gab den Sänfteträgern einen Befehl und verschwand.

Immer vom Volk mit Freudengeschrei durch die Straßen der Stadt begleitet, langte ich endlich, aber sehr langsam, vor dem Hause meines unbekannten Freundes an. Ich bemerkte nun, daß es in der Nachbarschaft von Bertollons Hause, und in der Straße war, worin Klementine wohnte, was mir, so verwirrt und betäubt ich auch war, keine unangenehme Entdeckung sein konnte.

An der Treppe im Innern des Hauses ward die Sänfte geöffnet. Der freundliche Unbekannte erwartete mich schon. Ich sah mich in einem großen, prachtvollen Gebäude; zwei Bediente führten mich die Marmortreppe hinauf.

Eine Flügeltür ward geöffnet. Einige Damen traten ein, mir entgegen. Die Älteste derselben redete mich an: »Ich bin meinem Neffen sehr verbunden, daß er mir die Ehre verschafft, den edelmütigen Retter der Unschuld in meiner Wohnung zu sehen.«

Wer schildert meine Bestürzung! Es war Madame de Sonnes, und Klementine trat hinter ihrer Mutter hervor. Ich wollte auf die mir gesagten Artigkeiten eine Erwiderung stammeln, allein ich war allzu entkräftet. Der Blutverlust am Morgen nach einer traurig durchwachten Nacht, und der Wechsel der allerfremdartigsten und heftigsten Empfindungen, deren Beute ich bisher gewesen, hatten mich gänzlich erschöpft. Klementinens Erscheinung machte mich sprachlos. Ich sah nur sie, bis Gestalten und Farben vor meinem brechenden Auge in ein verworrenes Dunkel zusammenflossen.

Mehrere Wochen lang mußte ich Bett und Zimmer hüten. Mit den Schmerzen meiner Wunde hatte sich ein Fieber verbunden. Der junge Herr de Sonnes verließ mich nie; er hatte meine wenige Habe aus dem Bertollonschen Hause herbeischaffen lassen . . . auch die Harfe. Aber der Kranz fehlte. Man wußte ja nicht, welchen Wert er für mich hatte!

Unterdessen war Madame Bertollon freigesprochen worden. Herr de Sonnes erzählte mir, daß die schöne Unglückliche sogleich von Montpellier abgereist und in ein entferntes Kloster gegangen sei. Dabei überreichte er mir einen Brief, der durch Einschluß an Madame de Sonnes für mich angekommen war.

»Wahrscheinlich wird Madame Bertollon ihrem Erretter danken!« sagte er.

Ich nahm den Brief mit zitternder Hand. Sobald ich allein war, las ich ihn. Er hat mich seitdem durch all mein Wohl und Weh begleitet. Hier ist er:

Abtei St. G** zu B*. Den 11. Mai 1702.

Leben Sie wohl, Alamontade! Diese Zeilen, die ersten, die ich einem Manne schreibe, werden auch die letzten sein. Ich habe das stürmische Leben der Welt verlassen; die feierliche Stille geweihter Mauern umgiebt mich, ich habe mich ohne Mühe von allem, was mir einst lieb und unentbehrlich war, losmachen können; ich habe nichts aus der Welt genommen als die Wunden, die sie mir schlug.

Ach, hätte ich auch diese Wunden und mein Gedächtnis dort draußen lassen können! Sie bleiben mir aber, um den letzten meiner Freunde, den Tod, desto reizender zu machen.

In der Blüte meines Lebens umweht mich der schwarze Witwenschleier; ich zeige den Menschen damit eine Trauer, die ich nicht fühle, und verberge damit eine andere, die mich erdrückt. Ja, Alamontade, ich erröte nicht, es noch jetzt, aus dieser heiligen Stätte, zu bekennen, was ich Ihnen nicht verhehlen konnte, daß ich Sie liebte! Sie wußten es, Sie wissen es – ach, und Sie waren es, der den Dolch wider das Herz zücken konnte, das auf Erden nur für Sie allein schlug. O Mann, Sie haben mich belogen! Sie haben mich nie geliebt! Nicht daß mein unglücklicher Gemahl mich des schwärzesten Verbrechens zeihen wollte, hat mich betrübt – nein, daß Alamontade mich schuldig glauben, mein Ankläger werden konnte, er, für den ich freudig gestorben sein würde, das hat die Hoffnungen meines Lebens vernichtet!

Doch nein! Kein Vorwurf! Edler, treuer und noch immer geliebter Mann, Du warst schuldlos! Geblendet vom Schein, brachtest Du der Freundschaft und der Gerechtigkeit Deine Neigung zum Opfer. Du wolltest lieber unglücklich als undankbar sein. Ich fühlte es wohl, die Gattin eines andern durfte Dich nicht lieben, und ich mit meiner sündigen Liebe war Deines reinen Herzens nie wert.

Ich fühlte es immer, und immer begann ich mit allzu schwachen Kräften den Kampf gegen meine Leidenschaft. Elender war kein Wesen, als ich, und jeder Deiner Blicke, jeder Deiner Küsse erhöhten noch die Glut in mir, anstatt sie zu dämpfen. In einem Augenblick stiller Verzweiflung wollte ich der Gefahr, meine Tugend einzubüßen, den freiwilligen Tod vorziehen. Damals ward das Gift geholt. Ich hatte es mir bestimmt, weil ich Dich zu heftig liebte. Hier, Mann, hast Du das Geheimnis, welches die Scham mir verwehrte unter den Folter zu bekennen! Ach! Unglücklicher, mußtest Du es sein, der vor den Richtern mich darum befragte?

Du hast mich nie geliebt! Meine Entfernung wird Dich nie betrüben. Ich hatte mich selbst getäuscht, und muß für die Hingebung meines arglosen Herzens leiden. Die Welt beklagt mich, aber ihre Klage läßt mich ohne Trost, und selbst Dein Mitleiden, o Freund, kann meinen Schmerz nur erhöhen, statt ihn zu lindern!

Hier in diesen Klostermauern sehe ich das Ziel meiner kurzen Wallfahrt; die Linde vor dem Gitterfenster meiner Zelle verbreitet ihren Schatten auf das kleine Plätzchen, welches mein Grabhügel bedecken soll. Siehe da meinen Trost!

Ach, wie traurig ist es, so einsam in der Welt dazustehen! Und einsam bin ich, denn mich liebt keiner. Meine Freundinnen haben mich schon in ihren fröhlichen Kreisen vergessen, meine Thränen stören ihre Lustbarkeiten nicht. Ich verblühe, wie die vereinzelte Blume im Gebirge, unbekannt und ungesehen: sie gab und empfing keine Freude, ihr Verschwinden läßt keine Spur zurück.

Und Du, den ich einzig geliebt habe, empfange diese Zeilen, unsern Scheidebrief. Ein brechendes Wort hauchte die Worte; eine sterbende Hand schrieb sie – ich vollzog meine letzte Pflicht. Unterbrich meine Ruhe durch keine Antwort! Ich nehme keinen Brief an und will Dich selbst nicht sehen! Ich will zu Gott flehen für Dein Glück; ich will meinen letzten Seufzer Dir weihen, und mit dem Gedanken an Dich soll mich der Tod ins bessere Leben leiten!

Amalie Bertollon.

Und nie sah ich die Edle wieder. Mit ihrer Tugend im Herzen sank sie unter. Nie vergaß ich sie. Oft weinte ich bei ihrem Andenken.


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