Heinrich Zschokke
Alamontade
Heinrich Zschokke

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Zweites Buch.

1.

Als wir im Gartenzimmer beisammen waren, nahm der Abbé ein Heft hervor. »Hier,« sagte er, »ist Alamontades Erzählung, wie ich sie mit möglichster Sorgfalt zusammengetragen! Ich gab zu allem nur die vereinende Schnur; Alamontades Gedanken und Worte sind es, die ich darauf aneinander gereiht habe. Manches werdet Ihr darin sehr kurz, manches wieder umständlicher entwickelt finden, je nachdem den Erzähler Gegenstände seiner Vergangenheit mehr oder weniger berührten, oder meine Fragen dazu leiteten.«

Dillon, beschattet vom spielenden Weinlaub am Fenster, las. Nie vergesse ich diese schöne Stunde.

Ein kleines Dorf in Languedoc war meine Heimat und der Ort meiner Geburt, erzählte Alamontade. Ich verlor meine Mutter sehr früh. Mein Vater, ein armer Bauer, konnte, seiner Sparsamkeit ungeachtet, wenig auf meine Erziehung verwenden. Doch war er bei weitem nicht der Ärmste im Dorfe. Aber außer dem Zehnten von seinen Weinbergen, Ölbäumen und Äckern mußte er vom Übrigen seines mühseligen Gewinns den vierten Teil an Steuern und Abgaben hingeben. Unsere alltägliche Nahrung war Suppe mit schwarzem Brot und Rüben.

Mein Vater versank in Not. Dies kränkte ihn sehr. »O Colas,« sagte er mehr als einmal zu mir in schmerzlichem Ton, indem er die Hand auf mein Haupt legte, »meine Hoffnung geht zugrunde! Ich werde im Schweiße meines Angesichts dennoch keinen schuldenfreien Sarg gewinnen. Wie will ich nun das Wort halten, welches ich mit dem letzten Kuß Deiner Mutter auf ihrem Totenbette gab? Ich versprach ihr heilig, Dich zur Schule anzuhalten und aus Dir einen Geistlichen zu machen. Du wirst ein Tagelöhner werden und Fremden dienen.«

Dann tröstete ich wohl den guten, alten Mann, so gut ich's konnte. Aber mein kindlicher Trost beugte ihn nur tiefer. Er ward kränklicher und ahnte die Annäherung seiner letzten Tage. Oft sah er mich gerührt an, mit Besorgnis um meine Zukunft; und die bittere Thräne der Hoffnungslosigkeit netzte seine Augen. Ich verließ, wenn ich's sah, mein Spiel. Ich sprang zu ihm hinan, denn ich konnt' es nicht ertragen, ihn weinen zu sehen. Ich umklammerte seinen Hals, küßte ihm die Thränen von den Wimpern und rief schluchzend: O! mein Vater, weine doch nicht!

Ich war achtzehn Jahre alt, da starb mein Vater. Es war ein heiterer Abend, die Sonne nahe dem Untergange. Mein Vater saß vor der Hütte im Schatten eines Kastanienbaumes. Er wollte noch einmal den Anblick einer Welt genießen, die ihm trotz aller Leiden lieb geworden war. Ich kam vom Felde. Er war sehr matt. Ich ging zu ihm. Er schloß mich in seine Arme. O mein Sohn! sagte er, jetzt ist mir wohl. Mein Feierabend kommt, ich gehe zur Ruhe. Doch werde ich Dich nicht vergessen. Ich werde mit Deiner Mutter vor Gott stehen; wir wollen über den Sternen für Dich beten. Denk an uns und sei der Tugend treu bis in den Tod! wir wollen für Dich beten. Gott sorget für Dich. Und weine nicht! Denn hast Du einst Dein Tagewerk beendet, so wird auch Deine Feierstunde schlagen. Dann findest Du uns, mich und Deine Mutter droben wieder. Ach! Colas, wie sehnsuchtsvoll wollen wir Dich dort erwarten und wie wohl wird uns sein, wenn die drei seligen Herzen der Eltern und des Kindes vor Gottes Thron aneinander schlagen!

Der letzte Sonnenstrahl erblich an den Gebirgsgipfeln; die Erde versank in Dämmerungsschein. Der Geist meines Vaters war von der gebrechlichen Hülle des Körpers frei. Die teuern Überreste desselben lagen in meinen Armen.

2.

Der treue Knecht – sein Name ist mir entfallen – welcher mich zu Etienne, meiner Mutter Bruder in Nismes, nach dem letzten Willen meines Vaters bringen sollte, hielt mich an der Hand, als wir durch die dunkeln, engen Straßen der Stadt Nismes gingen. Ich zitterte. Ein unwillkürlicher Schauder faßte meine Seele.

»Du bebst, Colas?« sagte der Knecht. »Du siehst blaß und finster aus. Ist Dir nicht wohl?«

»Ach,« rief ich, »bringe mich nicht hierher in dieses schwarze Gefängnis. Mir ist so bange, als sollte ich hier sterben. Laß mich tagelöhnern in der grünen, freien Heimat! Sieh' doch diese Mauern: sie sehen wie Kerkerwände aus. Und diese Menschen! Sie sind so unstät, so düster, als wären sie Verbrecher!«

»Dein Oheim, der Müller,« antwortete er, »wohnt nicht innerhalb der Stadt; sein Haus ist vor dem Karmeliterthore, im Freien und Grünen.«

Vor dem Karmeliterthor war das Haus meines Oheims und daneben seine Mühle. Der Knecht wies mit der Hand auf das artige Gebäude, und sprach: »Herr Etienne ist ein reicher Mann, aber leider . . .«

»Was denn leider?«

»Ein Calvinist, wie die Leute sagen.«

Ich verstand ihn nicht. Wir traten in das schöne Gebäude. Meine Angst verging beim Eintritt. Ein stiller, liebreicher Geist sprach mich aus allem an, was ich erblickte, und mir ward wohl wie in der Heimat. In dem saubern Zimmer voll Einfachheit und Ordnung saß die Mutter, mit häuslicher Arbeit beschäftigt, am Tische, umgeben von drei blühenden Töchtern. Ein zweijähriger Knabe saß spielend auf dem Schooße der Mutter. Güte und Ruhe wohnten in jedem Angesicht. Sie schwiegen alle und schlugen die Augen zu mir auf. Mein Oheim stand am Fenster und las in einem Buche. Schon waren seine Locken grau, eine jugendliche Heiterkeit aber glänzte aus seinen Blicken. Seine Mienen waren die der Frömmigkeit.

Der Knecht sprach zu ihm: »Dieser ist Euer Neffe Colas, Herr Etienne! Sein Vater, Euer Schwestermann, ist in Armut gestorben und befahl mir, Euch seinen Sohn zu bringen, daß Ihr sein Vater sein möget.«

»Sei mir willkommen und gesegnet, Colas!« sagte Herr Etienne, indem er seine Hand auf mein Haupt legte. »Ich will Dein Vater sein!«

Dann stand die Frau auf, reichte mir die Hand und sprach: »Ich will Deine Mutter sein!«

Diese Güte bewegte mein Herz Ich weinte und küßte die Hand des neuen Vaters und der neuen Mutter, ohne ein Wort sprechen zu können. Da umringten mich die drei Töchter und sagten: »Weine nicht, Colas, wir sind Deine Schwestern.«

Von dieser Stunde an war ich wie eingewohnt in der neuen Heimat, als wär' ich nie Fremdling drin gewesen. Ich glaubte in einer Familie stiller Engel zu wohnen, von denen mir oft mein Vater erzählt hatte. Ich ward so fromm wie sie alle, doch nie der Frömmste.

Ich wurde zur Schule angehalten. Nach einem halben Jahr trat Herr Etienne zu mir und sagte mit freundlichem Blick: Colas, Du bist arm, aber Gott hat Dich mit schönen Anlagen gesegnet! Deine Lehrer rühmen mir Deinen Fleiß und sagen, daß Du Deine Mitschüler alle an Kenntnissen wunderbar übertriffst. Darum habe ich beschlossen, Du sollst den Wissenschaften obliegen, und ein Gelehrter werden. Hast Du in Nismes Deine Lehrjahre vollbracht, so sende ich Dich auf die hohe Schule zu Montpellier. Du sollst die Rechte studieren, dann kannst Du ein Verteidiger unserer unterdrückten Kirche werden. Ich sehe in Dir ein Werkzeug Gottes zu unserer Rettung, und zur Beschirmung des evangelischen Glaubens gegen die Grausamkeit und Gewalt der Papisten.

Herr Etienne war ein heimlicher Protestant, wie mit ihm einige Tausend in Nismes und in den umliegenden Gegenden. Er weihte mich in seinen Glauben ein. Die Protestanten waren arbeitsame, ruhige, wohltätige Bürger, aber der Groll des Volkes und die Wut der Mönche verfolgten die Unglücklichen bis in das Innerste ihrer Wohnungen. Sie lebten in ewiger Furcht, doch diese unterhielt das Feuer der Frömmigkeit um so reger in aller Herzen. Gezwungen und zum Schein besuchten wir die Kirchen der Katholiken, feierten ihre Festtage und hatten die Bilder ihrer Heiligen in unsern Zimmern. Allein weder diese Nachgiebigkeit, noch die werktätige Frömmigkeit der Verfolgten söhnte den Haß ihrer Verfolger aus.

Schwebend zwischen zweierlei Kirchen, deren eine ich öffentlich, die andere heimlich bekennen mußte, alltäglicher Zeuge des herben Gezänks beider Parteien, und davon, wie Stolz und Haß und Eigennutz mehr als Einsicht und Frömmigkeit unter den Fahnen der kriegenden Kirchen standen, ward ich, ohne es zu wissen, Heuchler und Zweifler an beiden. Die Gründe, mit welchen jede die streitigen Glaubenslehren der anderen angriff, waren durchdachter, feiner und wirksamer, als diejenigen, mit welchen man den angefochtenen Wert verteidigte. Dies erweckte in mir einen Argwohn gegen alle Glaubenssätze, nur die nie angefochtenen behielten mir bleibenden Wert. Doch verbarg ich mein Inneres allen, um nicht allen ein Greuel zu sein.

So vereinsamte mein Geist früh. In geschäftslosen Stunden war Gott und seine Schöpfung der Gegenstand meiner Betrachtung. Der Wahnsinn der Menschen, mit welchem sie sich um der wechselnden Meinungen willen verfolgten, oder wegen eines Titels ihrer Fürsten bekriegten, war mir schauerlich. Im Alter der blühenden Einbildungskraft konnte ich nicht umhin, mir eine schönere Welt zu schaffen, in welcher Tugend, Recht und Wahrheit sich umarmten, und die Sinnlichkeit ihre lieblichsten Gefühle hinüberpflanzte.

3.

Die Ruinen des ungeheuren Amphitheaters zu Nismes, des alten prächtigen Denkmals der Römergröße, waren mein Lieblingsaufenthalt. Hier weilte ich gern, aber nie ohne Wehmut.

Das Hilfeschrei eines weiblichen Geschöpfes hier unter den Schwibbogen schreckte mich eines Abends aus meinen Träumen auf. Es dämmerte bereits in den Hallen. Ich eilte aus dem zweiten Geschoß die Stufen hinunter, und erblickte ein wohlgekleidetes Frauenzimmer in der Gewalt eines gemeinen Kerls. Der Schall meiner Fußtritte verscheuchte den Verbrecher. Er verschwand zwischen den Säulen. Ein junges Mädchen mit zerzaustem Haar saß bebend und außer sich auf einem Marmorblock.

»Ist Ihnen ein Leid angethan?« fragte ich.

Sie betastete ihren Kopf. »Es war ein Räuber, mein Herr; er hat mir den Haarschmuck entrissen, einige Steinnadeln von Wert; mehr nicht! Ich bitte Sie, nehmen Sie sich meiner an! Ich bin fremd hier. Neugier entfernte mich von Mutter und Schwester. Sie erwarten mich draußen. Der Mensch sollte mich aus diesen weiten Irrgärten zurückführen, und er führte mich in diese entlegene Gegend.«

Ich bot ihr meinen Arm. Wir traten ans Licht. O Klementine! . . .

Sie war eine Blüte von sechzehn Jahren, zart und schön aufgewachsen. Sie schwebte neben mir wie ein Luftbild. Das Liebliche, Frische, Geistige ihres Angesichts war engelhaft, und ihr Blick voller Unschuld und Liebe drang in das Innerste meiner Seele.

Ich versank in eine angenehme Verwirrung. Nie hatte ich solch ein Gefühl von Bewunderung und Zutrauen, von unaussprechlicher Neigung und Ehrfurcht empfunden. Obgleich einundzwanzig Jahre alt, kannte ich die Liebe nur aus den Gemälden alter Dichter, und nannte sie eine des Mannes unwürdige leidenschaftliche Freundschaft. Ach, sie ist wohl etwas anderes. Liebe ist die Poesie der menschlichen Natur. Das Gefühl der Schönheit veredelt die rohe Sinnlichkeit und erhebt sie zum Berühren des Geistigen; und der tugendhafteste, selbständige Geist vermählt sich unter dem Zauberhauch der Anmut dem Irdischen. So ists wahr, daß die Liebe den Staub vergöttlicht und das Himmlische auf die Erde herableitet.

»Sie sind fremd?« stammelte ich.

»Freilich,« antwortete sie, »aber es ist vergebens, daß wir Mutter und Schwester suchen! Wissen Sie das Haus des Herrn Albertas? Dort wohnen wir.«

Ich führte sie dahin. Wir kamen zum Hause. Man öffnete freudig die Pforte. Die ganze Familie drängte sich herbei, die geliebte Verlorne zu bewillkommnen, welche durch ausgeschickte Diener noch jetzt gesucht ward. Da vernahm ich unter den tausend Liebkosungen den Namen Klementine. Sie dankte mir mit wenigen Worten unter Erröten; desgleichen thaten alle. Ich aber konnte nichts erwidern. Man fragte nach meinem Namen; ich nannte ihn, verbeugte mich und verließ die Gesellschaft.

4.

Oft war ich im Amphitheater, oft führte mich der Weg durch die Straße von Albertas' Hause. Ich sah sie nicht wieder. Ihr Bild schwebte vor mir, ich irrte umher in meinen Träumen. Ich verlor alle Hoffnung, die schöne Erscheinung je wieder zu sehen, aber nicht meine Sehnsucht.

Die Zeit erschien, daß ich auf die hohe Schule nach Montpellier gesandt werden sollte. Herr Etienne wiederholte mir seine Wünsche, und beschwor mich, seine Erwartungen nicht zu täuschen. Im Übermaß seines Vertrauens zu meinen jungen Kräften, sah er in mir den künftigen Schutzengel der protestantischen Kirche Frankreichs. Er segnete mich. Die ganze Familie stand beim Abschiede weinend um mich her. Ich versprach, in allen Ferien nach Nismes zu kommen, und ging, vom Schmerz überwältigt, fort.

Von Nismes bis Montpellier sind acht volle Stunden. Ich wandelte im Schatten der Maulbeerbäume zwischen goldenen Saaten und lachenden Weinbergen die Hügelkette entlang, über welche sich die grauen Sevennen erheben. Aber die Luft glühte und der Boden brannte unter mir. Nach drei Stunden sank ich am Ufer der Vidourle, im Statten eines reinlichen Landhauses und seiner Kastanienbäume, ermüdet nieder.

Ich sann über meine Vergangenheit und meine Zukunft. Ich berechnete, wie lange ich gelebt hatte, und welch ein Zeitraum mir noch, dem gewöhnlichen Maße nach, zu leben übrig bliebe. Ich fand noch vierzig Jahre, und schauderte zum erstenmale vor der Kürze unserer Tage. Die Eiche bedarf zu ihrer Entwicklung eines Jahrhunderts, und steht in ihrer Kraft noch ein zweites. Und des Menschen Sein so flüchtig! Und warum? Wohin soll er mit der Menge seiner Anlagen? Nicht ein langes, aber ein reiches Leben ist dem Sterblichen von der Natur verliehen. Der Gedanke beruhigte mich. Nun denn, dachte ich, vier Jahrzehnte, und dann stehst du, Vollendeter, wo dein Vater steht.

Allmählich entschlummerte ich so über diesen Gedanken. Im Traume war ich Greis, mein Gebein schwerer, mein Haar ergraut. Die tausend feinen Öffnungen des äußern Körpers, durch welche er unmerklich Lebenskraft einsaugt und sich von den Elementen nährt, waren schadhaft geworden. Mit dem verschwindenden Zufluß des Lebensstoffes erlahmte die Kraft der Muskeln, und erhärteten und verschlossen sich die zarten Teile allgemach, welche wir seine Werkzeuge heißen. Ich hörte nicht mehr, und bald erlosch auch mein Auge. Indem also die Sinne abstarben, mit welchen der Geist im Irdischen wurzelt, wurden die Gefühle schwächer, alle Vorstellungen matter, und alles, was durch die sonst so geschäftigen Sinne dem Geist zugeführt war, verlor sich. Ich hatte meinen Körper nicht mehr in vollkommener Gewalt, und vergaß die Namen der Dinge und ihren Gebrauch. Menschen fütterten mich und kleideten mich an und aus, und thaten mit mir, wie man mit Kindern thut. Ich konnte noch sprechen, aber die Worte waren mir oft entfallen und ich führte zuweilen Reden. die niemand verstand. Doch dachte ich, und fühlte, wenn gleich ohne allen Harm, daß ich der Erde nicht mehr angehöre. Bald aber dachte ich auch nicht mehr in Worten; sondern mein Sein war nur ein starres, stilles, sich gleichbleibendes Gefühl. Dies Sein, ewig Einerlei, mit gänzlicher Abwesenheit von etwas Äußerem, war ohne Wohl und ohne Weh; es war in ihm kein Wechsel des Gedankens, daher keine Folgen und keine Zeit mehr. Genug, ich war schon längst gestorben, mein Leichnam schon längst begraben und seit Jahrhunderten verweset. Nur auf Erden, wo wir die Veränderungen der Dinge zählen, sind Jahrhunderte, und das Gefolge der Ereignisse verursacht in uns die Vorstellung von Zeiten. Abgeschieden von allem Wechsel, ist im Sein keine Zeit vorhanden.

Eine angenehme dunkle Empfindung machte sich nun in mir geltend. Mein bisher vereinsamter Geist ward mit neuen Werkzeugen verbunden, um im Weltall auf's Weltall wirksam zu sein. Ich empfand immer deutlicher, und hörte ein mildes Säuseln, und fühlte eine liebliche Frische mich umströmen Vor mir schwammen goldene, blendende Strahlen und Silbergewölke gaukelten dahin. Ich senkte den verwunderten Blick in das leuchtende, durchsichtige Grün mich umschwebender Zweige, die wie gefärbte Luft im krystallklaren Äther flossen. Und zwischen den Zweigen und Wolken schimmerte Klementine bewegungslos, mit einem Kranze von jungen Blumen ums dunkle Haar, in namenloser Schönheit vor mir.

Sie lächelte mich an. So lächelt nur die Liebe in ihrer Unschuld. Sie nahm den Kranz aus den Locken, und schwang ihn mit der zarten Hand und der Kranz sank auf meine Brust. O du himmlischer Traum, verlaß mich nicht! dachte ich und starrte mit namenlosem Entzücken die schöne Gestalt an. Indem rollte es, wie ein Wagen, herbei. Klementinens Antlitz verfinsterte sich. Man rief ihren Namen. »Leben Sie wohl, Alamontade!« sagte sie und verschwand unter den bebenden Zweigen. In demselben Augenblick wollte ich zu ihren Füßen sinken. Aber ich lag auf dem Erdboden. Ich träumte nicht, denn ich erkannte die Vidourle und das von hohen Kastanien umschattete Landhaus.

Ich richtete mich auf. Ein Wagen donnerte über die Brücke. Ich eilte dahin. Ein alter Diener kam mir entgegen, und fragte, ob ich Erfrischung verlange? Ich bezeugte ihm meine Verwunderung. »Sind Sie nicht Herr Alamontade?« sagte er. Ich bejahte es. »Nun, Fräulein de Sonnes und ihre Frau Mutter haben mir den Befehl hinterlassen!« erwiderte er. Ich ging zurück, nahm Klementinens Kranz vom Boden auf und folgte dem Diener. Klementine war das Fräulein de Sonnes.

Dieser Tag war einer der unvergeßlich schönen meines Lebens.

5.

Ein Dachstübchen im Hinterhause eines der reichsten und glücklichsten Bewohner von Montpellier, des Herrn Bertollon, ward meine Wohnung. Einige Dächer, schwarze Mauern, und zwei Fenster nebst Balkon eines gegenüber stehenden Hauses waren meine dürftige Aussicht. Dennoch war ich glücklich. Umringt von meinen Büchern lebte ich nur den Wissenschaften; Klementinens Kranz hing über meinem Schreibtische. Des Frühlings Blüten-Millionen verloren ihren Glanz neben dem Zauber dieser verwelkten Blumen, und die Juwelen der Könige wogen mir nicht den Wert des leichtesten Citronenblättchens auf.

Klementine war meine Heilige. Ich liebte sie mit einer frommen Ehrfurcht, wie man überirdische Wesen lieben kann. Der hängende Kranz war ein Kleinod, das mir der Engel vom Himmel herab zugeworfen hatte. Ich sah sie im Glanze der Verklärung durch meine Träume schweben. Ihr Name tönte im meinen Liedern. Ich erwartete mit Beben und Sehnsucht die Ferien der hohen Schule, um meinen Oheim Etienne und Nismes, und vielleicht durch irgend einen glücklichen Zufall die geliebte Heilige wieder zu sehen.

Eines Tages öffnete sich die Thür meines einsamen Gemachs. Ein junger, schöner Mann trat herein, das Zimmer zu besichtigen. Es war Herr Bertollon. »Sie haben hier eine traurige Aussicht!« sagte er, und trat ans Fenster. »Doch drüben noch ein Stückchen vom Hause de Sonnes, einem der geschmackvollsten in der Stadt!« setzte er lächelnd hinzu.

Der Name de Sonnes erschütterte mich. Herr Bertollon blieb nachdenkend am Fenster stehen, und schien traurig zu werden. Ich knüpfte ein Gespräch an. Er fragte mich um meine Herkunft, um meine Kenntnisse. »Wie?« sagte er, »Sie spielen die Harfe? Und Sie lieben sie leidenschaftlich, ohne das Instrument zu besitzen?«

»Ich bin zu arm, mein Herr, mir selbst eins zu kaufen. Mein weniges Geld reicht kaum für die notwendigsten Bücher hin.«

»Meine Frau hat zwei Harfen. Sie kann eine schon entbehren!« gab er zur Antwort und verließ mich.

Binnen einer Stunde kam die Harfe. Wie glücklich war ich! Nun dacht' ich an Klementinen und schlug die Saiten. Empfindungen sind sprachlos; für den Gedanken sind die bezeichnenden Worte erfunden; für das Gefühl des Herzens die lieblich klingenden Töne.

Am folgenden Morgen kam der liebenswürdige Bertollon. Ich dankte ihm gerührt. Er fordete mich zum Spielen auf. Ich spielte und dachte an Klementinen. Er lehnte mit der Stirn ans Fenster und starrte trübe hinaus über die Dächer. Meine Seele versank im Gewühl der Harmonieen. Ich bemerkte nicht, daß er sich umwandte und horchend neben mir stand.

»Sie sind ein lieber Zauberer!« rief er, und umarmte mich mit Heftigkeit. »Wir beide müssen Freunde werden!«

Ich war schon der seinige; wir wurden's noch mehr in Zeit von einigen Wochen. Ich mußte ihn bei schönem Wetter auf allen kleinen Lustfahrten begleiten. Er verknüpfte mich mit einer unzähligen Bekanntschaft. Jeder behandelte mich mit Achtung und Auszeichnung. Er war Besitzer einer ansehnlichen Bibliothek, einer reichen Naturalien-Sammlung. Er übertrug mir die Aufsicht, und schien nur dies Mittel gewählt zu haben, meiner Armut durch ein ansehnliches Jahrgehalt für die geringen Bemühungen abhelfen zu können, ohne meine Empfindlichkeit zu kränken.

6.

Während ich so den Musen und der Freundschaft meine Stunden weihte, waren die beiden Fenster und der Balkon des Palastes de Sonnes nicht vergessen. Herr Bertollon hatte mir schon mehrmals ein anderes Zimmer, mit kostbaren Möbeln und einer weiten, schönen Aussicht, für mein Dachstübchen angeboten. Aber nicht gegen sein erstes Prunkzimmer, nicht gegen die Aussicht ins Paradies von Languedoc hätte ich das arme Dachstübchen vertauscht.

Der Zufall – denn Erkundigungen einzuziehen verhinderte mich eine seltsame Schüchternheit – der Zufall lehrte mich, daß die Familie de Sonnes in wenigen Wochen von Nismes zurückkommen würde, und daß sie in tiefer Trauer um Klementinens kürzlich verstorbene Schwester sei. Aber die Familie de Sonnes kam nicht zurück, und kein Zufall belehrte mich des Weiteren. Ich aber schwieg und verbarg der Welt mein liebendes Herz.

Die Ferien der hohen Schule erschienen. Ich flog nach Nismes, in der Hoffnung, dort glücklicher zu werden. Als ich beim Landhause an der Vidourle vorüber kam, blieb ich stehen. Alles war verschlossen, ungeachtet die Felder und Hügel von Schnittern und Winzern wimmelten. Da suchte ich die Wunderstelle unter den Kastanien auf, wo Traum und Wirklichkeit einst so zauberhaft zusammenflossen. Ich warf mich unter den herabhängenden Zweigen auf der Stätte nieder, welche Klementinens Fuß durch seine Berührung einst gleichsam geheiligt hatte. Liebe und Wehmut zogen mich nieder. Ich küßte den geweihten Boden, der damals das Teuerste getragen, was die Welt für mich enthielt. Ach, umsonst harrte ich einer Engelserscheinung entgegen. Ich verließ den schönen Ort, als es schon Abend geworden, und über der verdämmernden Ebene nur noch die Felsengipfel der Sevennen goldrot funkelten.

Herr Etienne und die fromme Mutter, und Marie, Antonie und Susanne, die drei Töchter, empfingen mich mit rührender Freude. Ich sank von Herz an Herz, wortlos und selig, und wußte nicht, von wem ich inniger geliebt wurde, und wen ich am meisten liebte. Ich war Sohn und Bruder in dieser Familie; war in meiner Heimat, und die Freude aller.

»Ja, Du bist unser aller Freude!« rief Herr Etienne gerührt, »und die Hoffnung unserer Kirche. Alle Nachrichten von Montpellier haben uns Deinen Fleiß gerühmt, und wie Deine Lehrer Dich stützen. Fahre fort, Colas, fahre fort, Dich zu waffnen, denn unsere Leiden sind groß, und das Trübsal der Gläubigen hat kein Aufhören! Gott ruft Dich. Werde sein auserwähltes Rüstzeug, die Macht des Widersachers der Gläubigen zu brechen, und das in den Staub getretene Evangelium triumphierend aufzurichten!«

Die Besorgnisse meines Oheims waren seit einiger Zeit besonders durch harte Äußerungen der ersten Magistrats-Person der Provinz wider die geheimen Protestanten vermehrt worden. Der Marschall von Montreval wohnte in Nismes, und um so mächtiger und furchtbarer wurde dieser Mann, da er des Königs ungemessenes Vertrauen besaß. Seine Drohungen gegen die Hugenotten gingen von Mund zu Mund; einer raunte sie dem andern zu. Mich aber quälte eine andere Sorge. Vergeblich hatte ich alltäglich die Straße von Albertas' Hause, vergebens das Amphitheater durchirrt. Klementine war nirgends sichtbar. Auf der Straße begegnete mir eines Morgens der alte Diener, welcher mich auf Befehl der Frau de Sonnes im Landhause an der Vidourle bewirtet hatte. Er erkannte mich; er schüttelte mir freundlich die Hand, und erzählte mir nach tausend andern Dingen, Frau de Sonnes und ihre Tochter wären schon seit einigen Monaten nicht mehr in Nismes, sondern in Marseille, um durch die Zerstreuungen dieser großen Handelsstadt ihren Schmerz über den Verlust einer zärtlich geliebten Tochter und Schwester zu beruhigen.

Mit vernichteter Hoffnung, Klementinen, wenn auch nur einen Augenblick und aus der Ferne, zu sehen, ging ich traurig nach Hause. Die freudige Erwartung, welche ich durch die volle Hälfte eines Jahres genährt hatte, war getäuscht. Niederschlagen betrat ich wieder das Haus des Herrn Etienne.

Mit Befremden ward ich hier in allen Gesichtern eine ungewöhnliche Verlegenheit und Unruhe gewahr. Die Mutter trat zu mir, legte ihre Hände auf meine Schultern und küßte mich mit einem Blicke des Mitleids; Marie und Antonie und Susanne nahmen meine Hände freundlich in die ihrigen, als wollten sie mich damit trösten. Ich gab meine Verwunderung über dies alles zu erkennen. »Du hast Recht, Colas,« sagte der Alte, »und es verdrießt mich das Zagen der Weiber. Der Herr Marschall von Montreval hat vor einer Stunde hierher gesandt, und Dir gebieten lassen, morgen um die zehnte Stunde ins Schloß hinauf zu kommen. Da hast Du's. Weiter nichts! Ist Dein Gewissen ruhig, so gehe ohne Furcht zum Marschall, und wäre sein Schloßhof die aufgesperrte Hölle!«

Die Mutter hatte mit zitternden Händen am andern Morgen meinen Anzug geordnet. Ich beruhigte mit allem Troste die lieben Bekümmerten. »Es ist zehn Uhr!« rief Herr Etienne. »Geh' in Gottes Namen! Wir beten für Dich.«

Ich ging. Der Marschall von Montreval war in seinem Zimmer. Nach mehr denn anderthalb Stunden wurde ich durch eine Reihe von Zimmern und Sälen zu ihm geführt. »Ich wollte Sie sehen, Alamontade,« sagte der Marschall, »weil Sie auf der Liste der Universität Montpellier so sehr mit Lob ausgezeichnet sind! Bilden Sie Ihre Talente aus. Sie können ein nützlicher Mann werden, und ich will in Zukunft für Sie sorgen! Meine Aufmunterung wird Sie nicht stolz, sondern fleißiger machen. Ich werde mich ferner nach Ihnen erkundigen. Wenden Sie alles an, die Freundschaft des Herrn Bertollon, Ihres Gönners, sich zu erhalten, und sagen Sie ihm, daß ich Sie habe zu mir rufen lassen!«

Dies war es, was mir der Marschall sagte. Er schien, nach einer kleinen Unterredung mit mir, Wohlgefallen an mir zu haben. Ich empfahl mich seiner Gnade, und eilte, meine in Bangigkeit schwebende Familie zu trösten. Die Freude war groß. Bald mußten es nun alle Nachbarn und die ganze Stadt erfahren, welcher Ehre mich der Marschall gewürdigt.

7.

Herr Bertollon war auf's Land zu seiner Gattin gereist, als ich in Montpellier ankam. Nicht ohne Betrübnis stand ich in meinem Dachstübchen vor dem verwelken Kranze. Ich seufzte Klementinens Namen, und küßte die dürren Blumen, welche einst unter ihren zarten Fingern geblüht hatten. Ich wollte mich der Thränen schämen, die mir getäuschte Hoffnung in's Auge trieb, und doch ward mir durch sie leichter.

Der Kranz und der schmale Teil des prächtigen Hauses de Sonnes sollten nun den Winter hindurch wieder die stummen Zeugen meiner Freuden, meiner Hoffnungen werden. Vielleicht führt der Frühling mit seinen Blüten auch sie nach Montpellier! sagte ich zu mir und sah hinüber nach dem Palast, der sie dann aufnehmen sollte.

Da stand an einem der hohen Fenster drüben eine weibliche Gestalt, in schwarzen Flor gehüllt, den Rücken gegen mich gewandt. Meine Pulse stockten, mein Athem verging, meine Augen verdunkelten sich. Es kann nur Klementine sein! dachte ich, aber ich war, im Fenster liegend, kraftlos zusammengesunken, und hatte weder den Mut, noch die Macht, aufzusehen und Überzeugung zu suchen. Als ich meine Kräfte wieder gesammelt hatte, richtete ich mich empor, und warf zitternd einen Blick hinüber. Ihr Gesicht, vom schwarzen Schleier umweht, war mir zugewandt. Die Lüfte spielten in des Schleiers Falten; er hob sich ich sah Klementinen und zwar in einem Augenblicke, wo ich ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben schien. Ich schlug die Augen nieder. Eine nie empfundene Glut brannte in meinen Adern. Ich glaubte, vergehen zu müssen. Und als ich abermals hinübersah, war sie vom Fenster verschwunden, aber nicht vor meinem inneren Blick.

»Sie ist's!« sagte mein Herz, und ich stand auf der Höhe irdischer Seligkeit, einsam, nur Klementinens Bild vor mir.

Es war Klementine. Am Abend strahlten die Fenster erleuchtet; ich sah ihren Schatten daran vorüberschweben. Als es spät ward, nahm ich die Harfe, und bei ihren Tönen besänftigten sich allmälich meine Gefühle.

Am andern Morgen erwachte ich spät. Schlummerlos war mir die Nacht verflogen. Als ich an das Fenster trat, lag Klementine im Morgengewande schon im ihrigen. Ich verneigte mich gegen sie – mein Gruß ward kaum merklich erwidert. Aber sie sah doch wieder freundlich auf. So lange sie da lag, war auch ich an's Fenster gebannt. zuweilen begegneten sich unsere schüchtern vorüberstreifenden Blicke. Meine Seele redete zu ihr, und mir war es, als vernähme ich leise Antworten.

Am Abend nahm ich die Harfe aus dem Winkel und ließ die Saiten rauschen. Ich spielte die Leiden des Grafen Peter von Provence und der geliebten Magelone, damals eine der neuesten und rührendsten Balladen, voll ausdrucksvoller Melodie. Als ich die erste Strophe beendet hatte, und die Hände einen Augenblick ruhten, gaben Harfenklänge laut denselben Gesang in der Stille der Nacht leise zurück. Wer konnte es anders sein, als Klementine, die das Echo meiner Empfindungen werden zu wollen schien? Als sie geendet hatte, hob ich nun wieder an. So wechselten wir gegenseitig. Musik ist die Sprache der Seele. Welch' eine unnennbare Wonne für mein Herz: Klementine würdigte mich des Gesprächs!

Ach tausend namenlose Kleinigkeiten, die nur ihren unermeßlichen Wert durch den Sinn empfangen, in welchem sie gegeben und angenommen werden, muß ich verschweigen: allein sie sind unvergessen. Die bloße Erinnerung an den schönen, längst verflogenen Jugendtraum ist noch immer entzückend schön.

Und so dauerte der Traum zwei Jahre lang. Zwei Jahre lang sahen wir uns schweigend und liebend, und redeten zusammen durch Saitenstimmen, und näherten uns nie. Ich kannte die Kirche, in der sie betete. Da war auch ich, und betete mit ihr. Ich wußte die Tage, wann sie, von ihrer Mutter und ihren Freundinnen begleitet, unter schattigen Bäumen lustwandelte; da war auch ich. Ihr Blick erkannte mich dann und belohnte mich schüchtern.

Ohne einander in diesem langen Zeitraume gesprochen zu haben, waren wir nach und nach die innigsten Vertrauten geworden. Wir entdeckten uns unsere Freude und unsern Kummer; wir baten und gewährten, und hofften und fürchteten, wir schworen einander Gelübde, und brachen sie nie. Niemand ahnte den Umgang unserer Seelen, unsere schuldlose Vertraulichkeit. Nur Herrn Bertollons Güte setzte mich oft in Gefahr, meine Freuden alle einzubüßen. Er wollte durchaus mir bessere Zimmer einräumen; nicht ohne Mühe erkämpfte ich mir den ferneren Besitz des Dachstübchens.

8.

Als Madame Bertollon von ihrem Landhause zurückgekommen war, stellte mich ihr der Gemahl vor.

»Hier,« sagte er, »ist Alamontade, ein Jüngling, den ich als meinen Freund liebe, und dem ich nichts wünsche, als daß er auch der Ihrige werde, Madame!«

Man hatte nicht zu viel von ihr gesagt. Sie war sehr schön, kaum zwanzig Jahre alt, und konnte den Malern als Ideal zu Madonnen dienen. Eine angenehme Schüchternheit verschönerte sie umsomehr, je weniger die meisten ihres Geschlechts und Standes in Montpellier auch nur die feine Bescheidenheit kannten, ohne welche die Anmut allen Zauber verliert. Sie sprach wenig, aber gut. Sie schien kalt, aber die Lebhaftigkeit und Klarheit ihrer Blicke verrieten ein gefühlvolles Herz, einen regen Geist. Sie war die Wohlthäterin aller Armen, und die ganze Stadt ehrte sie. Von ihrem Gemahl vernachlässigt, von jungen, schönen Männern aus den ersten Familien angebetet wußte dennoch die Verleumdung keinen Schatten in der Reinheit ihrer Sitten zu entdecken. Sie führte ein fast klösterlich eingezogenes Leben. Ich selbst sah sie nur selten. Erst im letzten Jahre meines Besuchs der Hochschule gab eine Krankheit ihres Mannes Anlaß, daß wir uns öfters in seinem Zimmer beisammen fanden.

Die zärtliche Besorgnis um die Gesundheit des Herrn Bertollon war in allen ihren Zügen zu lesen. Sie war unaufhörlich um ihn beschäftigt. Sie bereitete ihm die Arzneien; sie las ihm vor, und als die Krankheit auf der entscheidenden Höhe stand, wich sie nicht von seinem Lager; durch anhaltende Nachtwachen zerstörte sie ihre eigene Gesundheit. Herr Bertollon blieb sich, als er genas, in seinem kalten, höflichen Betragen gegen sie gleich. Ihre Güte blieb unerwidert. Sie schien seine Gleichgültigkeit tief zu empfinden und entfernte sich nach und nach in demselben Verhältnis wieder von ihm als seine Gesundheit zunahm.

Ich hörte inzwischen nicht auf, den Umgang mit Madame Bertollon in öfteren Besuchen fortzusetzen. Ich glaubte zu bemerken, daß sie Vergnügen an der Unterhaltung mit mir fände. Immer war sie die Stille, Duldende, Sanfte,

»Sie sind Bertollons erster Freund und Vertrauter,« sagte sie einmal, als sie an meinen Arm gelehnt im Garten auf und nieder ging, »ich betrachte Sie auch als meinen Freund und Ihr Charakter giebt mir ein Recht auf Ihre Güte. Reden Sie offenherzig, Alamontade! Sie wissen es: Warum haßt mich Bertollon?«

»Er haßt Sie nicht, Madame! Er ist voll Hochachtung für Sie. Hassen? Er müßte ein Ungeheuer sein, wenn er das könnte. Nein, er ist ein edler Mensch! Er kann niemanden hassen.«

»Sie haben wohl recht. Er kann niemanden hassen, weil er niemanden lieben kann. Er gehört weder der ganzen Welt, noch jemanden; die ganze Welt und jeder gehört nur ihm an. Nie hat wohl die Erziehung ein gefühlreicheres Herz und einen talentvolleren Kopf vergiftet als bei ihm.«

»Sie urteilen vielleicht zu hart, Madame!«

»O das gebe der Himmel! Ich bitte Sie, bekehren Sie mich!«

»Ich Sie bekehren? Nicht doch, Madame! Beobachten Sie Ihren Gemahl, und Sie werden Ihre Meinung ändern.«

»Ihn beobachten? Das that ich stets, und immer blieb er derselbe.«

»Wenigstens ein guter, liebenswürdiger Mensch.«

»Liebenswürdig? Er ist's. Er weiß es und bemüht sich, es zu sein; aber leider nicht um andere, sondern nur um sich zu beglücken. Ich kann ihn eben deswegen auch nicht gut nennen, wiewohl er auch nicht schlecht ist.«

»Gewiß, Madame, verstehe ich Sie nicht ganz! Aber erlauben Sie, daß ich Ihr Vertrauen mit Vertrauen erwidern darf! Nie habe ich zwei Menschen gekannt, die so sehr verdienten, glücklich zu sein, und so sehr geeignet wären, es mit einander zu werden, als Sie und Ihren Gemahl. Und doch stehen beide von einander getrennt da! Gewiß, ich will glauben, in der Welt genug gelebt und gethan zu haben, wenn ich Sie beide mit einander aufs innigste habe verbinden und Ihre entfremdeten Herzen zusammenführen können!«

»Sie sind sehr gütig. Aber ungeachtet die Hälfte Ihrer Arbeit schon gethan ist, denn mein Herz eilte längst dem seinigen nach, welches vor mir flieht, so fürchte ich doch, wünschen Sie eine Unmöglichkeit. Wenn's aber noch Einem gelingen sollte, so würden Sie der Eine sein. Sie, Alamontade, sind der Erste, dem Bertollon so ganz und gar sich hingiebt, an den er sich so fest klammert! Versuchen Sie es, ändern Sie meines Mannes Denkart!«

»Sie scherzen! Ihn ändern? Welche Tugend verlangen Sie, die Bertollon noch ausüben soll? Er ist großmütig, bescheiden, der Beschirmer der Unschuld, von immer gleicher Laune, ohne hervorstechende Leidenschaft, gemeinnützig, freundschaftlich.«

»Sie haben recht, das alles ist er.«

»Und wie soll ich ihn ändern?«

»Machen Sie ihn zum bessern Menschen!«

»Zum bessern Menschen?« erwiderte ich erstaunt und blieb stehen, und sah der schönen Frau mit einer sonderbaren Verlegenheit in die von einer Thräne benetzten Augen. »Ist er denn böse? Ist er lasterhaft?«

»Das ist Bertollon nicht,« antwortete sie, »aber er ist nicht gut.«

»Und dennoch, Madame. geben Sie zu, daß er all die schönen Eigenschaften besitzt, die ich vorhin an ihm rühmte? Fordern Sie nicht vielleicht zu viel von einem Sterblichen?«

»Was Sie an ihm gerühmt haben, Alamontade, habe ich nicht abgeleugnet! Aber es sind nicht seine Eigenschaften, es sind nur seine Werkzeuge. Er thut viel Gutes, aber nicht weil es das Gute ist, sondern weil es ihm vorteilhaft ist. Er ist nicht tugendhaft, sondern klug. Er sieht in allen Handlungen nur das Nützliche und Schädliche, nie das Gute und Böse. Er würde ebenso gern die Hölle als den Himmel zur Erreichung seiner Absichten in Bewegung setzen. Sehen Sie, Alamontade, das ist mein Mann! Er kann mich nicht lieben, denn er liebt nur sich. Mit eherner Beharrlichkeit verfolgt und erreicht er seine Ziele. Er ist der Sohn einer angesehenen Familie, die aber von der Höhe des alten Wohlstandes herabgesunken war. Er wollte reich sein, ward Kaufmann, verschwand in entlegene Gegenden und kam als Herr einer Million zurück. Er wollte seinen Wohlstand durch eine Verbindung mit einem der angesehensten Geschlechter dieser Stadt sichern. Ich ward sein Weib. Er wollte Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten haben, ohne den Neid zu wecken: er ward volkstümlich und schlug die ersten Ehrenstellen aus. Nichts ist ihm bei seiner Art zu denken unerreichbar. Er kennt keine Heiligkeit. Er überwältigt alles; niemand ist ihm stark genug, weil jeder durch irgend eine Neigung, Leidenschaft oder Meinung schwach ist.«

Dies Gemälde von Bertollons Denkart erschütterte mich. Ich fand es in allen Zügen dem Urbilde entsprechend. Noch nie hatte sich das alles in mir zur deutlichen Vorstellung erhoben, obschon es dunkel in meiner Empfindung lag. Ich entdeckte die ungeheure Kluft, welche die Herzen beider Gatten trennte, und verzagte daran, sie beseitigen zu können.

»Aber, Madame,« sagte ich und drückte gerührt die Hand der schönen Unglücklichen, »verzweifeln Sie nicht! Ihre ausdauernde Liebe, Ihre Tugend wird ihn endlich fesseln.«

»Tugend? O lieber Alamontade, was darf man von einem Manne hoffen, der die Tugend eine Schwäche oder Einseitigkeit des Charakters, oder Sprödigkeit des Sinnes nennt, der die Religion nur für ein Machwerk der Kirche und Erziehung hält, womit die Phantasie der Blöden voll kindischen Eifers ihr Spiel treibt!«

»Er hat aber doch ein Herz, der Mann!«

»Er hat ein Herz, aber er hat es nur für sich und nicht für andere. Er will geliebt sein, ohne dafür hingebend zu sein. Ach, und kann man einen solchen lieben? Nein, Alamontade, die Liebe fordert mehr! Sie giebt sich ganz dem Geliebten hin, und lebt in ihm, und ist ihrer selbst nicht Herrin. Sie rechnet nicht, sie sorget nicht, sie wagt's darauf, ob endlich Treue sie beseligt oder Verrat sie tötet. Aber hoffnungslos will sie nicht sein. Sie begehrt des andern Herz, und eben darin liegt ihr Himmelreich.«

9.

»Und eben darin liegt ihr Himmelreich!« seufzte ich, als ich in meinem Zimmer stand und Klementinens gedachte.

Ich nahm den dürren Kranz herab und hing ihn auf die Harfe. Er war mir bisher das heilige Unterpfand von Klementinens Huld gewesen. Hatte sie nicht selbst ihn auf meine Brust geworfen, die das liebende Herz birgt? Schien sie nicht damals mit eigener Hand dies krönen zu wollen? Wäre es nur kindliche Tändelei gewesen? . . . Ach, hätte es ihr gleich gegolten, ob es eine Dornenkrone oder ein Blütenkranz war, mit dem sie das Herz umzog?

Sie war am Fenster. Ich hob den Kranz empor und hielt ihn gegen meine Lippen. Sie schien ihn zu erkennen. Sie verbarg ein Lächeln und lehnte sich an das Fensterbrett, sah hinab in die Straße und nicht wieder zu mir herüber.

Diese Antwort stürzte mich in eine unaussprechliche Unruhe. Mir war es, als schäme sie sich der Erinnerung, dies Geschenk mir einst gereicht zu haben. Jetzt war es mir plötzlich klar, was ich forderte, was ich hoffte. Ich sehnte mich nach dem Unmöglichen. Nie hatte ich mir Klementinen als Gattin gedacht. Ich liebte sie nur und wünschte von ihr geliebt zu sein. Aber Gattin? Ich, der arme Sohn eines in Schulden verstorbenen Bauers, ich, der noch selbst mit der Dürftigkeit zu kämpfen hatte und nur eine ungewisse Zukunft vor mir hatte . . . ich forderte Montpelliers reichste Erbin? Mein stolzer Mut sank. Ich liebte Klementinen, verzieh es ihr jedoch, wenn sie mich nicht mit Gegenliebe belohnen konnte. Ich sah es ein, daß ich die Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens nicht aufheben könnte, und war im Grunde auch zu stolz, um mein äußeres Glück durch eines Weibes Hand zu machen.

Eifriger lag ich fortan den Wissenschaften ob. Ich wollte mir durch eigene Kraft den Weg zu Klementinens Höhe bahnen. Nächte durchwachte ich unter meinen Büchern. Ich wollte das unbefangene Urteil der Kenner über meine Anlagen hören, und ließ doch ohne Namensnennung ein Werk über die Rechtspflege der älteren Nationen und zugleich eine Sammlung von Gedichten drucken, von denen mir die geheime Liebe einen bedeutenden Teil in die Feder diktierte. Die Veröffentlichung meiner Arbeiten ward von unerwartet glücklichem Erfolg begleitet. Der laute Beifall erhob mein Selbstgefühl. Die Neugier enthüllte bald den Namen des Verfassers, und dieser erntete überall Lob. Das Gelingen meiner ersten Versuche zündete der Hoffnung erloschene Fackel wieder an, unter deren Licht ich, wenn auch in dämmernder Ferne, Klementinen als die meinige erblickte. Sie selbst lohnte mich am schönsten. Als mein Name schon bekannter geworden, las sie am Fenster einst in meinen Liedern. Auch ohne des Verfassers Namen zu wissen, konnte sie ihn ja aus hundert Zügen, die nur sie verstand, am leichtesten erraten. Sie sah herüber, lächelte und legte das Buch an ihre Brust, als wollte sie mir zu verstehen geben: Ich hab' es lieb, und was Du darin sprachst, hast Du zu dieser Brust gesprochen, und sie empfindet es und ist voll stillen Dankes.

Ich nahm noch einmal den verdorrten Kranz, den ich so oft besungen. Sie lächelte. verbeugte sich und sah nicht mehr herüber.

Niemand aber war entzückter durch den mir gezollten Beifall, als mein Freund Bertollon. Er schloß sich immer inniger und vertraulicher mir an. Wir betrachteten uns als Brüder. Er gab sich mir ganz hin und bewies in tausend Dingen, daß er auch ein Herz für andere habe. Er ließ keinen Tag entfliehen, ohne eine gute That verrichtet zu haben. Ich selbst erfuhr nur immer durch Zufall bald diese, bald jene seiner schönen Handlungen.

O, Bertollon! rief ich einst, indem ich ihn mit Heftigkeit an mich drückte, welch ein Mensch bist Du! Warum muß ich Dich ebenso beklagen, als bewundern!

Du thust in beidem zu viel, denn ich verdiene weder das eine, noch das andere, antwortete er mit freundlichem Lächeln.

Nein, Bertollon, das ist das Beklagenswerte, daß Du gut und tugendhaft bist, ohne es sein zu wollen! Du nennst die Tugend Schwärmerei und Einseitigkeit, und doch übst Du unaufhörlich ihre Vorschriften.

Gut, Alamontade, sei damit zufrieden! Warum mühst Du Dich doch immer an meiner Bekehrung ab? Sobald Du älter wirst, seh' ich Dich in meinen Fußtapfen. Für jetzt sei wenigstens duldsam! Vielleicht ist es dasselbe Kind unter verschiedenen Namen.

Ich zweifle. Könntest Du Dich freiwillig ins Elend stürzen, Bertollon, um die gerechte Sache zu erhalten?

Was nennst Du gerechte Sache? Deine Begriffe sind nicht klar.

Wenn Du Montpellier durch eigene Aufopferung vom Untergange erretten könntest, wärest Du fähig, lebenslängliche Armut oder selbst den Tod dafür zu leiden?

Höre. Colas, Du schwärmst wieder! Nur Schwärmer können solche Opfer fordern und bringen. Und es ist gut, daß es dergleichen in der Welt giebt. Aber komm' doch einmal zur Besonnenheit! Es thut mir leid um Dich, daß Du immer den Grillen nachhängst. Du wirst auf diese Weise nie glücklich. Lauf' durch die ganze Welt und suche die Thoren zusammen, die für Deine Begriffe in den Tod gehen wollen; Du findest unter hundert Millionen nicht einen. Alles ist unter gewissen Verhältnissen wahr, gut, nützlich, gerecht, schön. Die Begriffe der Menschen sind überall verschieden. Wie viele haben gemeint, mit ihrem Tode die Welt zu retten! Sie starben für ihre Vorstellungsart und nicht für die Welt, und wurden hinterher als Narren ausgelacht.

Ich könnte um dieser Worte willen Dich hassen, Bertollon!

Dann wärest Du nach Deinen Begriffen nicht allzu tugendhaft.

Wenn Du Deinen Reichtum dadurch vergrößern könntest, daß Du mich ins Verderben stießest, würdest Du mich ins Verderben stoßen?

Für eine solche Frage sollte ich Dich hassen, Colas!

Und doch konnte ich sie thun. Du strebst ja nur, wie Du sagst, immer nach dem, was Dir nützlich ist. Du wägest ja die Güte der Thaten nur immer nach der Güte des Erfolgs.

Lieber Colas, ich seh' es schon, Du wirst ein schlechter Advokat werden und wenig Schätze sammeln, wenn Du nur immer die nach Deinem Begriffe gute Sache und nie die ungerechte verteidigen willst, insofern Du Dir Vorteil dabei verschaffen könntest!

Ich schwöre es Dir, Bertollon, ich würde mich lebenslang verabscheuen, wenn ich einmal meine Lippen zur Anklage der Unschuld und zum Schutz des Verbrechens rührte!

Und doch, Du gutherziges Närrchen, wirst Du es mehr als einmal thun, weil Du nicht immer der Menschen Schuld und Unschuld auf ihrer Stirn geschrieben findest! Geh! Du wirst der Welt Narr, wenn Du nicht ihre Wege einschlagen kannst.

So stritten wir oft miteinander. Ich ward zuweilen an ihm irre. Ich hätte ihn fürchten können, wenn er mir seine widerwärtigen Meinungen nicht immer so scherzend gesagt hätte, als wenn er sie selbst nicht hege. Er wollte mich nur gern in Harnisch bringen; und wenn's ihm gelungen war, lachte er herzlich. Seine Thaten aber sprachen gegen seine Worte.

Madame Bertollon hingegen enthüllte täglich mehr die schöne Gesinnung, welche sie beseelte. Sie glühte für die Tugend, welche sie mit religiösem Eifer übte. Ich ward ihr Tischgenosse. Nie mangelte uns Stoff zur Unterhaltung. Einsam verlebte ich mit ihr die langen Winterabende. Sie lernte von mir die Harfe spielen. Bald konnte ich ihren reizenden Gesang mit meinem Saitenspiel begleiten. Sie sang meine Lieder mit tiefem Gefühl. Sie war bezaubernd. Ihre Schönheit würde mir gefährlich geworden sein, hätte mein Herz nicht an Klementine gehangen. Wenn ich von ihr mit Entzücken zu Bertollon sprach, lächelte er. Wenn ich ihm Vorwürfe machte, daß er ein so liebenswürdiges Wesen sich selbst überlassen könne, antwortete er: »Unser Geschmack ist verschieden. Laß doch einem jeden den seinigen!«

Ich hatte meine Studien beendet und empfing den Grad eines Doktors der Rechte und die Erlaubnis, vor den Tribunalen des Königreichs als Anwalt aufzutreten. Meine verdoppelten Arbeiten in dieser Zeit machten meine Besuche bei Madame Bertollon seltener. Aber desto fröhlicher empfing sie mich dann jedesmal; desto lebhafter empfand ich, wie teuer sie mir war. Wir sagten es uns nicht, wie sehr wir uns einander notwendig geworden, aber jedes verriet es dem andern in Miene und Herzlichkeit des Wesens.

Zuweilen schien es mir, als wäre sie trauriger als sonst, und dann wieder liebreicher und hingebender. Zuweilen schien sie mich mit auffallender Kälte und Zurückhaltung zu behandeln, und dann wieder mich mit zarter Schwesterlichkeit über meine Besorgnisse beruhigen zu wollen. Diese Ungleichheit des Betragens war mir befremdend; vergebens bemühte ich mich, die Ursache davon zu erforschen. Indessen blieb es mir nicht verborgen, daß sie nicht mehr wie sonst die immer Heitere und Gleichmütige war. Ich fand sie oft mit rotgeweinten Augen. Sie sprach zuweilen mit einer sonderbaren Schwärmerei über das Glück der klösterlichen Abgeschiedenheit. Dabei entzog sie sich ihren gewöhnlichen Gesellschaften mehr und mehr. Eine verhehlte Schwermut nagte an der Blüte ihres jungen Lebens.

Diese Beobachtungen machten auch mich traurig. Ich bemühte mich oft vergebens, sie aufzuheitern. Die Wehmut ihres Blickes, das erlöschende Rot ihrer Wangen, ihr tiefes Schweigen, und ihr Bestreben, mir unter erkünstelter Munterkeit den Gram zu verheimlichen, an dem ihr Herz krankte, mischten in meine Freundschaft die milde Wärme und Zärtlichkeit des Mitleidens. Wie gern hätt' ich mein Leben darum gegeben, ihr frohere Tage zu erkaufen!

Einst hemmte in einer Abendstunde, da sie zu meinem Harfenspiel sang, ein plötzlicher Thränenstrom ihre Stimme. Ich stellte erschrocken die Harfe weg. Sie stand auf und wollte in ihr Kabinett flüchten, um mir ihren Schmerz zu verbergen.

Wie rührend sind Jugend, Schönheit und Unschuld im Augenblick des stillen Leidens!

Ich ergriff ihre Hand und hielt sie zurück.

»Nein,« rief sie, »lassen Sie mich!«

»Aber so kann ich Sie unmöglich verlassen! Bleiben Sie! Darf ich Ihren Kummer nicht teilen? Bin ich nicht Ihr Freund? Nennen Sie mich nicht selbst so? Und giebt dieser schöne Name mir nicht ein Recht, nach Ihrer Betrübnis zu fragen, die Sie mir umsonst verheimlichen wollen?«

»Lassen Sie mich! Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich!« rief sie, und wollte sich mit matten Kräften von mir loswinden.

»Nein! Sie sind unglücklich« . . . sagte ich.

»Ja, unglücklich!« seufzte sie mit unverhaltenem Schmerz, und ihr schönes Gesicht sank an meine Brust, um die Thränen zu verbergen.

Unwillkürlich schlang ich meine Arme um die zarte Dulderin. Ein wehmütiges Mitgefühl überwältigte auch mich. Ich stammelte ihr Worte des Trostes zu, und bat sie, sich zu beruhigen.

»Ach, ich bin unglücklich!« rief sie mit Heftigkeit und schluchzend.

Ich wagte es nicht weiter, mit unzeitigem Zureden den Sturm ihrer Empfindungen zu beschwichtigen. Ich ließ sie ausweinen, und führte sie zu den Sesseln zurück, da ich fühlte, daß sie schwächer ward und zitterte. Ihr Haupt blieb an meiner Brust. »Ihnen ist nicht wohl?« frug ich schüchtern.

»Es wird mir wohler!« antwortete sie. Nach einer Weile ward sie ruhiger. Sie sah auf, und sah meine Augen naß. »Warum weinen Sie, Alamontade?« lispelte sie.

»Kann ich bei Ihrem Schmerze ungerührt bleiben?« antwortete ich, indem ich mich zu ihr niederbog. Schweigend, Hand in Hand und Aug' in Auge, saßen wir da, von unsern Gefühlen überwältigt. Eine Thräne floß über ihre Wangen. Ich bog mich leise gegen sie, küßte die Thräne hinweg und zog die Leidende enger an mein Herz, ohne zu wissen, was ich that. Meine Lippen glühten an den ihrigen, und ich fühlte meinen Kuß sanft erwidert. Unsere Umarmung löste sich nicht; meine Thränen trockneten an der Glut der Wangen. In unsern Küssen loderte ein betäubendes Feuer, und was wir Freundschaft genannt, ging verwandelt in Liebe über.

Wir schieden. Zehnmal schieden wir, und ebenso oft sank ich wieder an ihren Hals und vergaß der Trennung. Taumelnd, wie ein Berauschter, kam ich in mein Zimmer. Harfe, Kranz und Fenster erschreckten mich.


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