Heinrich Zschokke
Alamontade
Heinrich Zschokke

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5.

Dillon überschlug einige Hefte, zog eines der letzten hervor, und las:

»Und welchen Weg wähltest Du, Alamontade, um Dich aus der düstern Region der Zweifel zum Licht empor zu schwingen?« frug ich ihn eines Tages.

»Auch mich,« antwortete er, »marterte einst die fürchterliche Ungewißheit über den Wert meines Lebens und über mein künftiges Schicksal. Wem sind diese Gegenstände nicht früher oder später einmal wichtig geworden? Immer aber fand ich nur zwei Wege, welche mich zu einiger Kenntnis über diese Angelegenheiten führen konnten: den Weg der bloßen Erfahrung und den Weg der selbsttätigen Vernunft. Der Pfad der Erfahrung schien mir lange der sichere. Allein bald empfand ich, daß meine Gegenstände außerhalb des Grenzkreises der irdischen Erfahrung liegen; daß ich unter den gegenwärtigen Verhältnissen und mit den dermaligen Werkzeugen meiner Seele die außersinnlichen Ursachen der Dinge oder Erscheinungen nie kennen lerne, die mich umgeben; daß ich vergebens ringe, Erfahrungen in einer Welt zu machen, für die mir keine Schwingen gegeben worden; daß ich zwar selbst ein Teil dieser dunkeln Welt der Kräfte und Ursachen, aber ohne Wahrnehmungssinn für sie sei, nur Wahrnehmungen für ihre Wirkungen habe. So blieb mir noch allein der Vernunftweg. Ich empfand lebhaft, daß ich, wenn ich von Überzeugungen sprach, auf Gesetze der Vernunft zurücksehen mußte. Was ihnen widersprach, konnte mich nicht überzeugen. Ich bemerkte, daß alle Menschen, ohne Verabredung, ohne sich jemals gesehen zu haben, zu allen Zeiten, unter allen Zonen dieselben Vernunftgesetze besaßen wie ich, und daß sie nur in Anwendung dieser Gesetze von mir abwichen. Ich bemerkte, daß sobald das neugeborene Kind durch eine Reihe von eigenen Erfahrungen, und Vergleichung derselben unter einander in Stand gesetzt war, sich selbst von andern Dingen zu unterscheiden, es ebenso bald anfing, nach diesen Gesetzen zu denken, zu handeln. Ich fand dasselbe auch beim abgestorbenen Greise, dessen Einbildungskraft versiegt, dessen Gedächtnis geschwunden war. Bis das Leben seines Körpers erlosch, behielten die Gesetze seines Denkens ihre Hoheit, obgleich er bei Lähmung seiner Sinneswerkzeuge, wie z. B. wenn er infolge des Alters durch Verlust des Gedächtnisses kindisch wurde, nicht mehr imstande sein mochte, die ihn umringenden Dinge richtig zu würdigen und die Gesetze seines Ich gehörig anzuwenden. Denke ich, handle ich nach diesen Gesetzen, so entwickelt sich alles vor mir in lichtvoller Übereinstimmung. Versuche ichs, mich ihrem Gebote zu entziehen, so stürzt alles in eine unauflösliche Verwirrung zusammen; ich schwinde unter zerreißenden Widersprüchen hin; ich rase. Die Einrichtung meines Ich zwingt mich, alles als Ursache oder Folge zu denken. Ich selbst erkenne mich als die Ursache meiner Gedanken, Wünsche und Handlungen. Ich kann nicht anders, als dem Dasein der mich umgebenden Welt der Kräfte, von welcher ich nur die Wirkungen auf mich, nicht sie selbst erkenne, eine Grundursache zu geben. Selbst der Gottesläugner läugnet diese nicht hinweg. Zwingt mich die Vernunft, ein letztes Urwesen anzunehmen, so zwingt sie mich zugleich, es nicht unvollkommener zu denken als ich selbst bin. Diese wunderbare Übereinstimmung im Weltganzen, diese Gesetze der geheimen Naturkräfte, welche das unermeßliche All leiten, sind so erhaben, wie kein Gedanke weder von mir selbst gedacht werden kann, noch jemals von Sterblichen gedacht worden ist. Ich ahne aus diesem eine mir ähnliche Kraft, ähnlich in Rücksicht der Selbstthätigkeit und des Bewußtseins. Und so tief ein einfaches Sonnenstäubchen unter dem wunderbaren Bau des Weltalls steht, so tief steht der Mensch mit seiner Weisheit und Kraft unter der Weisheit und Kraft des höchsten Wesens. Ja, mein Herr, wer die Gesetze der Vernunft nicht aufheben kann, der kann das alles ordnende, herrschende, alles beseelende Urwesen nicht aus dem Weltall in das Reich des Nichtseins verweisen! Der Mensch steht, wegen seines Bewußtseins und seiner erhabenen Eigenschaften, auf einer hohen Stufe in der Ordnung der Dinge. Und ein Beweis seiner Höhe ist, daß er durch seine Vernunft gezwungen ist, Gott zu denken. Er vernimmt aus seinem Innern eine Selbstoffenbarung Gottes, und erblickt in dem ihn umgebenden Weltall den Glanz des heiligen Urwesens. Mag auch ein selbstsüchtiger Schulweiser, mehr um zu glänzen als um zu überzeugen, die Begriffe verwirren, Zwiespalt anspinnen und sich groß dünken, bewiesen zu haben, es sei kein Gott – die Stimme der ganzen Natur hallt doch ewig in Deiner Brust wieder. Gott ist! Ich kann mich verstricken, mich mit Einbildungen betäuben, und immer komme ich wieder auf den Gedanken: Gott ist! Der Ruf der Vernunft dringt durch alle Klügeleien. Was fordert man von mir? Soll ich am Sein des unendlichen Urgeistes zweifeln? So wollet ihr, ich soll am Dasein aller Dinge selbst, an der Herrlichkeit, Weisheit und Heiligkeit im Weltall zweifeln, oder lieber glauben, das, was uns Gehör, Auge und Verstand gegeben, könne selbst nicht hören, sehen und verstehen. – Soll ich an der ewigen Wahrheit der Vernunftgrundsätze zweifeln? So wollet ihr, ich solle den Widerspruch der Übereinstimmung meines Wissens vorziehen; ich solle den Wahnsinn der Wahrheit vorziehen, meine eigenen Zweifel bezweifeln, von Unsinn zu Unsinn taumeln. Merkwürdig ists, daß alle Zweifler im gemeinen Leben vernünftig dachten und handelten, wie andere; nur im Studierzimmer wurden sie irre. Ihre besten Werke sind Meisterstücke scharfsinnigen Wahnsinns. Alles, was man bei dem Anblicke des wunderbaren Weltalls und der zartberechneten Verkettung der Dinge sagen mag, ist: Ich begreife es nicht!«

6.

Ich trat, fuhr Abbé Dillon erzählend fort, an das Lager des unglücklichen Weisen, drückte gerührt seine harte Hand und sprach: »Du hast Recht, Alamontade! Alles, was auch der strengste Zweifler über diesen großen Gegenstand sagen kann, ist höchstem ein: Ich begreif' es nicht. Es läßt sich kein anschaulicher Beweis, weder dagegen, noch dafür geben. Ich fühl's, Alamontade, mit Dir, wir sind ohne Schwingen für die übersinnliche Welt! Aber Gott aus dem ewigen, unendlichen, prächtigen Weltall stolz hinwegläugnen wollen ist die überspannteste Anmaßung eines Träumers, dem mehr Schul- als Mutterwitz gegeben ward. Der menschliche Geist, durch die Gesetze seines Wesens gezwungen, muß ein höchstes Wesen glauben, obgleich er dasselbe nicht sinnlich wahrnahmen, nicht mathematisch beweisen kann. Wäre Gott sinnlich schaubar, so wäre er ein unendliches Wesen, so wäre er Staub, nicht Gott, Dieser Glaube ist mit der Vernunft so innig und eins, daß ihn zerstören, die Vernunft zerrütten heißt, dies fühlen alle Weltalter. Kein Völkerlehrer und kein Volk sprach auf Erden jemals: Ich weiß Gott! sondern in allen Zungen heißt es: Ich glaube Gott!«

Dillons Rede bewegte auch mich mit sonderbarer Gewalt. In Roderich's Augen glänzte eine Thräne. Wir breiteten die Arme aus, umarmten den Greis, küßten seine Wangen und riefen: Es ist ein Gott!

Ein leises Abendlüftchen wehte über die Blumen des Gartens durch die offenen Fenster, unsere glühende Schläfe kühlend, daher. Der Mond umfloß die Welt mit zauberhaftem Scheine. und eine Million fremder Sonnen funkelte in verworrenen Sternbildern vom Himmel herab.

Nach einer kleinen Weile nahm der Abbé Dillon das niedergelegte Heft auf und las:

»Und damit,« rief Alamontade, »ist's genug! Was will ich denn weiter? Es ist ein Gott, die höchste Güte, die höchste Macht – es ist kein willenloses, totes, mechanisches Wesen – denn sonst wäre ich, der ich mit Bewußtsein und freiem Willen ausgerüstet bin, mehr als Gott! . . . Ich bin Ausfluß dieses höchsten Wesens voller Heiligkeit und Güte . . . ich bin seines Geschlechts! Mehr bedarf ich nicht zu meiner Ruhe. Ich will sterben – der Tod macht mich nicht zittern. Kann ich denn vergehen? Kann, was ist, nichts werden? Das Nichts ist ein Gedankending, kein sachlich wirkendes vorhandenes Wesen. Kann ein reiner Gedanke zur vorhandenen Sachlichkeit werden? Sind Kräfte, welche wechselnde Erscheinungen bewirken, vernichtbar? So wäre das Weltall vernichtbar, so wäre Gott selbst vernichtbar? Welch ein Wahnsinn! Tod ist Ablösung des Geistes von gewissen Naturkräften, mit denen er sich vereint hatte, die wir Körper heißen. Der Geist aus Gott ahnet seine Heimat. Sie ist in Gott. Dahin zieht ihn die Sehnsucht, immer vom Endlichen zum Unendlichen, vom Wandelbaren ins Ewige. Diese Sehnsucht, wieder Eins zu werden mit dem, welchem unsere Natur näher als den sich unbewußten Kräften steht, diese Sehnsucht nach Vollendung ist keine Erfindung, kein kindisches, willkürliches Gelüsten, sondern naturnotwendiger Zug des Verwandten im Weltall zum Verwandten, gleichwie der Magnet das ihm verwandte Eisen anziehen muß. In allen Sterblichen waltet diese Sehnsucht; sie spricht nur verschiedene Sprachen, wenn sie Himmel und Hölle, Elysium und Tartarus nennt. Diese Sehnsucht beweiset mir nichts, als daß sie ist. Die Unvernichtbarkeit aber des göttlichen Wesens ist Bürgin für die Unvernichtbarkeit unseres Geistes. Ich sehe wohl überall im Reich der Natur die Formen sich ändern, aber nicht das Wesen derselben oder die Ursachen selbst aufhören, welche jene hervorgebracht. Ich sehe überall wohl die Erscheinungen wandelbar, aber nicht die Kräfte, welche im Dunkeln in diesen Erscheinungen liegen und sie bewirken. Warum soll ich nun meines Glaubens an Gott spotten, und mir einbilden, es wäre mir jene Sehnsucht vergebens in das Herz gelegt, und jenes Gesetz, welches auf die Ewigkeit hinzeigt, vergebens der Vernunft eingeflößt? Warum soll ich über das von ihren eigenen Wirkungen verschleierte Reich der Urkräfte klügeln, da ich's nie entschleiern, und also auch nie darthun kann, die Kraft, die ich mein Selbst nenne, höre auf zu sein, wenn die Form meines Körpers auseinander fällt? Warum soll ich glauben, daß diejenige tote Kraft, welche eine Erscheinung bewirkt, die ich Sonnenstäubchen nenne, vom Anbeginn der Dinge war und ewig bleiben wird; daß hingegen die Kraft, welche ich mein Ich nenne und welche die erhabensten Wirkungen hervorbringt, bald und für immer anhöre? Es war von jeher ein unendlicher Mißgriff der Schulgelehrten, wenn sie Kenntnisse über die Natur des menschlichen Geistes und über die wechselseitigen Einwirkungen der Seele und des Körpers sammeln wollten, um zu Beweisen für oder wider die Unsterblichkeit zu gelangen. Diese weisen Meister sahen die Seele etwa so wie ein Gebäude an, dessen längere oder kürzere Dauer sich aus der Zusammensetzung der Materialien, oder deren Güte erkennen ließe. Alle jene Bemühungen sind bis auf den heutigen Tag fruchtlos geblieben, weil sie unbesonnen und kindisch waren; die Natur der Seele an sich sowie das Wesen des Körpers an sich sind unverkennbar, weil wir beide, Seele und Körper, nur in ihren Erscheinungen wahrnehmen. Es fehlt uns aber, so lange wir Menschen sind, ein Blick für die finstere Welt der Dinge an sich. Es ist demnach gleich thöricht, Beweise für die Vernichtung als für die Unvernichtbarkeit des menschlichen Geistes aus dem zu ziehen, was unerforschbar ist. Alle Erfahrung verläßt uns bei diesem Gegenstand, weil wir nie Erfahrung von den Urkräften haben, sondern nur von ihren Wirkungen durch die Geisteswerkzeuge aus den Geist.«

»Wirklich, mein lieber Alamontade,« sagte ich, »diese Versuche habe ich längst als fruchtlos verachtet! Inzwischen will ich Dir nicht verbergen, daß neulich die Stelle eines Buches mich sehr erschüttert hat, wo von eben dieser Angelegenheit geredet wird, und wo der Schriftsteller sagt: Ich finde überall, daß dies Geschlecht der Dinge fortdauert, aber daß die Einzelwesen untergehen. Es liegt für mich darin etwas Wahres. Die Natur, unbekümmert um die Erhaltung des Einzelnen, sorgt nur für die Fortpflanzung der Gattung, und dies ist genug für die Erhaltung der Weltordnung. Es liegt der Natur nichts daran, ob in einem Tage Milliarden von Insekten vergehen, als wären sie niemals am Leben gewesen; aber ihre Gattung, ihr Geschlecht bleibt.«

»Gattung?« rief Alamontade. »Geschlecht? Giebt es im Reiche der Wesen an sich auch Gattung und Geschlecht? Reden Sie aber von den Körpern, von dem Sinnlichen, das heißt von den Wirkungen der Kräfte? Nun ja, da giebt es Art und Geschlecht; da lösen sich die einzelnen Teile wieder auf, während die Grundgattung bleibt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß im Reiche der Wesen und Kräfte höhere und niedere Ordnungen bestehen. Ihre wechselnden Verbindungen und Scheidungen unter sich selbst verursachen den Wechsel der Erscheinungen. Jede der Urkräfte gehorcht aber beim Zusammen- und Auseinandertreten mit andern ihrem eigenen und ewigen Gesetz. Daher herrscht im bunten Spiel der Erscheinungen keine durchgreifende Gleichmäßigkeit. Eine Hauptkraft scheint aber die untergeordneten mit sich zu dem zu vereinen, was wir Art und Gattung nennen; und sie waltet regsam bis in das Ewige fort; sie ist der Faden, welcher unzerrissen und unvernichtbar das herrliche Gewebe der Dinge durchzieht. Sie erscheint im Pflanzenkeim, verbindet sich da nach ihrem Gesetz mit andern Stoffen, bildet so nach ihrem Gesetz die Palme und den Ölbaum, den Grashalm und das Moos, und läßt so dasjenige erscheinen, was wir bei den Naturkörpern, bei Steinen, Pflanzen und Tieren die Gattung und Art nennen. Die untergeordneten Kräfte trennen sich hinwieder nach ihrem eigentümlichen Gesetz von der Hauptkraft, durch die sie eine Zeitlang mit ihr verbunden waren; dann tritt der Tod ein. Aber, wenn die Kräfte in andere Keime übergegangen sind, fangen sie in Diesen ihr Lebensziel von neuem an. So setzt es sich bis ins Ewige fort. Darum sagen wir, die Geschlechter und Gattungen dauern, nur die Einzelwesen vergehen. Auch das menschliche Geschlecht gehört hierher. Auch hier waltet eine Grund und Stammkraft für die ewige Bildung und Fortsetzung des Geschlechts, wie bei der Pflanze, wie beim Tier ob. Aber gleichwie die Pflanze durch ihre innewohnende Lebenskraft höher steht als der Stein und das Tier durch die ihm innewohnende, empfindende, wahrnehmende Seele höher steht als die Pflanze: so steht der Mensch durch seinen sich bewußten, weltdurchblickenden Geist höher als die gesamte Tierwelt. Der Menschengeist ist eine der Urkräfte des Weltalls, aber unendlich verschieden von allen, die sich mit ihm vereinen, um seine Werkzeuge zu werden, das heißt, seinen Körper zu bilden. Er erkennt sich in seiner Verschiedenheit von ihnen. Er hat das Gefühl seiner Persönlichkeit. Wenn die Einzelwesen der Körperwelt verschwinden, wenn der Stein verwittert, die Pflanze verwelkt, das Tier stirbt, so treten die Kräfte, welche das Erscheinen des einzelnen Dinges bewirkten, ohne Zweifel in den unermeßlichen Behälter des Weltganzen zurück, aus dem sie hervorgingen, und werden in neuen Verbindungen wirksam. Das ist das innere Leben der Welt. Es bleibt ewig dasselbe. Es ist darin kein Edlerwerden, kein Fortschreiten zur Vollendung. Stein, Tier und Pflanze werden, wie man sie vor Jahrtausenden gesehen hat, heute noch gesehen. Anders ist es mit dem Geist des Menschen.«

»Warum anders?« unterbrach ich Alamontades Rede. »Wenn die geistigen Einzelwesen nach dem Tode des Leibes nun ebenfalls zur allgemeinen Kraft zurückflössen, aus der sie hervorgingen, und sich darin auflösten: so würden auch hier die geistigen Einzelwesen verschwinden, während das Geschlecht, die Gattung, die allgemein verbreitete Denkkraft bliebe.«

»Und wenn dem so wäre,« erwiderte Alamontade sanft lächelnd, »sollte ich mich darüber beklagen? Diese allgemein verbreitete, weltdurchblickende, sich bewußte Kraft voll heiligen Willens, welche das Weltall belebt und bewegt, wie der Geist des Menschen den Leib, der ihn umhüllt, – das ist die Gottheit. Ich gehe zum Vater zurück, zum Urquell der Geister. Wenn aber die Kraft in uns, die wir Geist nennen, so wenig vernichtbar ist, als Gott selbst: so kann auch ihr Bewußtsein, ihr heiliges Wollen nicht aufhören, wodurch sie sich eben von allen andern Kräften der Natur unterscheidet und über alle erhebt, wodurch sie eben das ist, was sie ist. Aber wer erfaßt einen Maßstab für die Unendlichkeit der Wesen? Wer überschaut die Verkettung der göttlichen Mächte und Kräfte im unbegrenzten Weltall? Wer zählet die Stufen des Throns göttlicher Majestät? Ach, mein Herr, unser Geist schwebt unendlich hoch über Millionen anderer Wesen; aber bis zu Gott sind neue Millionen über uns, und wir stehen wohl tief! Was wir sind, das wissen wir: sich bewußte, denkende, Welt und Gott erkennende Kräfte, voll heilgen Willens, voll unendlicher Sehnsucht des Ewigseins, und mit dem lebendigen Gefühle der persönlichen, in sich abgeschlossenen Selbständigkeit . . . Was wir sein können, das ahnen wir. Alle Kräfte der Natur bleiben sich gleich; nicht also die Geister. Diese schreiten fort von Einsicht zu Einsicht, vom Edlern zum Edlern, vom Vollkommeneren zum Vollkommeneren und verwandeln den Erdball unter unseren Füßen. Die Menschheit des heutigen Tages ist durch das Erbe der Vorwelt eine vollkommenere, als die Menschheit der Urzeiten. Das lehrt die Geschichte. Darin sind die Geister von allen übrigen Naturkräften verschieden . . . Was wir einst sein werden, darüber schweigt selbst die Ahnung. Gott ist groß, Heiligkeit und Liebe sein Walten, Wunder und Herrlichkeit sein Reich, Ewigkeit sein Leben. Und wir sind in Gott, wir seine Kinder, unvergänglich gleich ihm. Was bedarf es mehr zu unserm Troste?«

»Ja, ich bin!« sagte Alamontade, und seine Blicke wandten sich mit dem Ausdruck stiller Seligkeit himmelwärts. »Ich bin! Das ist mir genug. Ich bin! Dies kleine Wort umfaßt die Ewigkeit. denn was ist, das ist, und alles was Wesenheit hat, ist ewig wie Gott.«

7.

Hier schwieg der Abbé.

»Ach!« rief der sanfte Roderich mit bewegtem Herzen. »Ist's auch möglich? . . . Ein Sklave, ein Galeerensklave! Wie konnte in ihm so viel Weisheit gefunden werden, oder vielmehr, wie konnte ein Mann von solchen Einsichten, von so erhabenen Grundsätzen sich so weit verirren, daß er für die Lebenszeit auf die Bank der gröbsten Verbrecher geschmiedet ward? Es ist unbegreiflich!«

»Morgen sollet ihr auch dies erfahren,« sagte Dillon, »wie eine sonderbare Verkettung von Umständen den guten Alamontade so tief stürzen konnte. Seht, Ihr Lieben, ich ehre sein Andenken, wie das Andenken eines Heiligen. Er hat ein Tagebuch seines unglücklichen Lebens geschrieben; aus diesem, sowie aus dem, was er mir mündlich darüber offenbarte, setzte ich nachher seine Geschichte zusammen. Er hinterließ mir dies Tagebuch und seine kleinen, meistens auf dem Schiffe oder an den heißen Gestaden Afrikas geschriebenen Aufsätze als Vermächtnis. Ich war aber damit noch nicht zufrieden. Ich wollte der Erbe seiner Kette werden. Ich erhielt sie. Ein geschickter Meister malte mir auch sein Bildnis.«

»Sein Bildnis?« rief Roderich. »Und dies haben Sie uns noch nie gezeigt? Wahrlich, er ist einer der edelsten Menschen! Ich beschwöre Sie, lieber Abbé, zeigen Sie mir sein Bild!«

Dillon stand auf. Wir nahmen die Kerzen, und folgten unserem Freunde durch einige Zimmer in die Bibliothek, welche zugleich sein Arbeitszimmer war. Er trat vor einen Glasschrank, und öffnete die Thür. Da hing Alamontades Bild, und um dasselbe herum eine schwere eiserne Kette.

»Diese Kette,« sagte Dillon, »dient meinem Heiligen statt des Strahlenkranzes.«

»Ists möglich!« rief Roderich mit feuchtem Blick und sanftbebender Stimme. »Ist's möglich, daß solch ein Mann die unglückselige Fessel tragen mußte? Welch ein Adel, welch eine wunderbare Gemütsstille in diesen angenehmen Zügen!«

Roderich hatte recht. Hier war nicht das heimlichdüstere, in sich zurückgezogene Wesen, nicht das Rohe, Freche, welches die Gesichter gemeiner Verbrecher auszudrücken pflegen. Es war das Antlitz eines Dulders, voll unaussprechlicher Hoheit und Kraft. Aus den kränklichblassen Mienen, aus den matten Zügen um die geschlossenen Lippen, aus der gelinden Senkung des Hauptes gegen die Achsel, aus der Stirn voller Falten, um welche ein dünnes, unter schwerem Kummer allzu früh ergrautes Haar sich zog, erkannte man den namenlosen tiefen Gram und die tausend mannigfachen Leiden, welche Diesen edeln Mann in einer schauerlichen Reihe von Jahren allmählich töten mußten. Aber der feste und doch so gutmütige Blick der Augen verkündete wieder ein Gemüt, worin Stille wohnte, während es draußen stürmte; einen Geist, der kraftvoll durch frohes Bewußtsein zu den Schmerzen seines Körpers lächeln und seinen Peinigern verzeihen konnte.

Wir standen lange vor dem anziehenden Gemälde. Uns ward, als schwebe des Dulders Geist um uns.

Nach einer Weile führte uns Dillon wieder in das vorige Zimmer zurück. Wir setzten uns wieder, wie vorher. Da nahm der Abbé die Papiere und las:

Je länger ich mich mit Alamontade unterhielt, desto ehrwürdiger erschien er mir. Er war mein Lehrer, ich sein Schüler geworden. Ich, vom Kapitän Delaubin gesagt, ihn zur Religion zurückzuführen, hatte an ihm meinen Bekehrer gefunden. Ich fühlte meine Vernunft in sich selbst wieder befriedigt, und meine Zweifel mit einander ausgesöhnt. Ich sah ein, daß ich bisher nicht gedacht, sondern geträumt; daß ich Gegenstände, welche nicht in Verbindung mit der Erfahrung und Sinnenwelt stehen, Gegenstände, die nur von den Blicken der Vernunft berührt sein wollen, in ein Phantasiebild hatte bringen wollen; daß all mein Unglaube nur daher entsprungen, daß ich mir durch die Einbildungskraft vom Wesen der Gottheit oder von der Natur und Möglichkeit des Ewigseins eine anschauliche, gleichsam bildliche Vorstellung hatte schaffen wollen, wie man von sinnlichen Dingen zu haben pflegt. Ich sah ein, daß das Kind, welches sich Gott als einen mächtigen Greis, der Wilde, welcher sich ihn als ein verzehrendes Feuer denkt, daß alle sich kindlich-verwegen täuschen.

»O Mensch,« rief ich tiefbewegt, »wie war es möglich, daß Dich die Menschen aus ihren Reihen verbannten? Wie konntest Du mit diesem erhabenen Sinn zum Verbrecher werden? Seit wann schmiedet man den Tugendhaften an die harte Ruderbank? Warst Du vielleicht ein so grober Sünder, daß die bürgerliche Gesellschaft von Dir zu fürchten hatte? Es ist nicht möglich, Alamontade! Du bist unschuldig zur gräßlichsten der Strafen verdammt worden. Rede doch! Ich übernehme Deine Rechtfertigung. Du sollst, Du mußt noch einmal geehrt ins Leben zurücktreten! Schande darf nicht über Dein Grab gehen!«

Er war sehr erschüttert. Er zog mich mit Inbrunst an sich, und sein Blick schmolz in Thränen. »O,« rief er, »nun noch einmal einen Menschen, einen Bruder an diesem längstverwaisten, armen Herzen! Ach, es hat in den dreiundzwanzig Jahren seiner Einsamkeit die Liebe noch nicht verlernt; es fühlt noch einmal wieder seine alte Seligkeit, bevor es bricht!« Mehr konnte er in seiner Wehmut nicht sprechen. Er schwieg und seufzte still weinend.

In dieser schönen Stunde war's, daß Alamontades Herz sich freier gegen mich aufschloß. Er gab mir in zerrissenen Blättern sein Tagebuch. Er machte mich auf mein dringendes Bitten mit vielen Umständen seines Lebens genauer bekannt. Ich darfs nun wohl nicht erst sagen: Alamontade war unschuldig! Ich wollte auf der Stelle an seiner Rechtfertigung arbeiten. Ich wollte, daß ihm die Gerechtigkeit öffentliche Genugthuung leiste, ihm die geraubte Ehre zurückgebe. Er schüttelte den Kopf und bat mich, so lange er lebe, keinen Schritt dafür zu thun. Er sei nicht lüstern nach der Achtung einer Welt, die ihn so lange, so unbarmherzig verstieß, und zöge es vor, die letzten seiner Tage unzerstreut und ungestört sich selber zu gehören.

Ich wirkte für ihn bei den Behörden sogleich ein besseres Zimmer, größere Bequemlichkeit aus. Mit Freuden hätte ich mein Hab' und Gut hingegeben, ihm damit nach so viel ausgestandenen Leiden einen fröhlichen Augenblick zu erkaufen. Ach, daß ich ihn erst so spät kennen lernte!

Auf mein wiederholtes Begehren, mir alle, auch die geheimsten seiner Wünsche zu entdecken, sagte er endlich: »Wohlan, schreiben Sie doch nach Nismes oder Montpellier, um zu erfahren, wohin Klementine gekommen. Ob sie noch am Leben sei? Ob sie sich verheiratet habe? Ob sie glücklich war?«

Ich kannte diese Klementine aus seinen Papieren und seinen mündlichen Erzählungen. »Und wie, Alamontade?« sagte ich. »Wenn nun Klementine noch am Leben wäre? Nicht wahr, Du würdest wünschen, sie noch einmal zu sehen?«

Er lächelte bei dieser Frage still vor sich nieder. »Ach, sie war der Engel, der meine Jugend zauberhaft verschönerte und mich weinend bis an die Schwelle des verlornen Paradieses führte! Nein, bemühen Sie sich nicht, mein lieber Herr! Sie wird Alamontades nicht mehr gedenken, wenn sie lebt, und noch weniger wird sie sich überwinden können, zum Sterbelager des Galeerensklaven eine Reise zu machen.«

Ich schrieb. Ich bot die Hilfe aller meiner Freunde, aller meiner Bekannten auf, Klementinen zu entdecken, und sie zu bewegen, ohne Versäumen nach Toulon zu eilen, wo ihr wichtige Entdeckungen bevorständen. Wirklich gelang es einem meinem Freunde, ihren Aufenthalt zu erfahren. Es war bei Montpellier, wohin sie seit einigen Jahren aus Paris zurückgekehrt war. Sie hatte kaum von Alamontade erfahren, so entschloß sie sich, die Reise nach Toulon zu machen, ungeachtet sie an einer schweren Krankheit daniederlag.

Doch, Ihr Lieben, fuhr Dillon fort, wir vergessen. daß die Mitternacht vorüber ist, daß wir der Ruhe bedürfen! Morgen, wenn Ihr wollt, erzähle ich Euch die Geschichte unseres gemeinsamen Freundes! Sie ist belehrend. Ein so grausames Schicksal konnte nur ein Mann wie Alamontade tragen, ohne darunter zu erliegen. Mit seinem Blick auf Gott, erhaben über seinen eigenen Schmerz, ging er heldenmütig durch ein schauerliches Leben, von welchem jede Stunde schreckhafter als der Tod war.

Bei diesen Worten erhob sich Dillon. Wir folgten seiner Einladung. Wir umarmten ihn mit innigem Danke. »Was Sie, lieber Abbé, dem ehrwürdigen Sklaven sagten, als Sie ihm für Ihre Bekehrung dankten, das haben Sie zu sich selbst in unserem Namen gesprochen!« rief ich. »Welch ein majestätisches Wesen, dieser Alamontade in seinen Ketten! Welch ein mächtiger, seltener Geist! Seine Worte tönen wie Göttersprüche, und machen den Menschen göttlicher. Ich will mir seine Reden abschreiben. Nur Bruchstücke sind sie, aber in sich ein Vollendetes. Man muß sie öfters lesen, öfters hören, um in das schöne Heiligtum ihres Sinnes einzudringen!«

So schieden wir begeistert von einander. Die Morgenröte fand uns früher als wir den Schlummer.


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