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Fünftes Kapitel

In der Ferne zogen sich die mondscheinhellen Straßen dahin.

Die Bande der Aufrührer setzte in der winterlich kahlen Landschaft ihren heldenmütigen Marsch fort. Es war wie ein breiter Strom der Begeisterung. Der heldenhafte Zug, der Miette und Silvère, die großen Kinder, die nach Liebe und Freiheit dürsteten, fortriß, bildete mit seinem hochsinnigen Feuereifer den schroffsten Gegensatz zu den schmachvollen Komödien der Macquart und der Rougon. Von Zeit zu Zeit grollte die laute Stimme des Volkes in das Geschwätz des gelben Salons und das Schimpfen des Onkels Antoine hinein. Die gemeine, schmähliche Posse entwickelte sich zum großen, weltgeschichtlichen Drama.

Als sie Plassans hinter sich hatten, schlugen die Aufständischen die Straße nach Orchères ein. In dieser Stadt mußten sie gegen zehn Uhr morgens eintreffen. Die Straße folgt dem Laufe der Viorne und läuft immer am Fuße der Hügel, welche den Fluß einsäumen. Links breitet die Ebene sich aus, wie ein endloser grüner Teppich, wo da und dort die grauen Flecke der Dörfer zu sehen sind. Rechts streckt die Kette des Garriguesgebirges seine kahlen Spitzen, seine Steinfelder, seine rostfarbigen Blöcke, die von der Sonne gerötet scheinen, in die Höhe. Der Weg, der am Flusse sich zur Heerstraße erweitert, führt zwischen riesigen Felsen hindurch, wo bei jedem Schritte irgendein Winkel des Tales sichtbar wird. Man kann sich nichts Wilderes, Eigentümlicheres, Großartigeres denken, als diese in die Flanken der Hügel gebrochene Straße. Besonders zur Nachtzeit rufen diese Orte ein Gefühl der Ehrfurcht hervor. Beim bleichen Lichte des Mondes schritten die Aufständischen wie durch die Straßen einer zerstörten Stadt dahin, in der zu beiden Seiten die Tempel in Trümmern liegen. Jeder Felsen schien in dieser nächtlichen Beleuchtung eine zerbrochene Säule, ein abgestürztes Oberstück, eine Mauer mit seltsamen Durchgängen. In der Höhe schlief das Garriguesgebirge in bleichem, weißem Lichte, gleich einer zyklopischen Stadt, deren Türme, Obelisken und Häuser mit hohen Terrassen einen Teil des Himmels verdecken. Im Hintergrunde, auf der Seite der Ebene, breitete ein Ozean von verschwimmenden Lichtern sich aus, eine unbestimmte, endlose Ferne, wo Felder leuchtenden Nebels schwebten. Die Aufrührerbande hätte glauben mögen, daß sie einer Riesenstraße folge, einem Rundwege, der am Gestade eines lichtstrahlenden Meeres verläuft und einen unsichtbaren Babelturm umkreist.

Die Viorne ließ in dieser Nacht, am Fuße der Felsen dahineilend, ein rauhes Grollen vernehmen. Durch dieses fortdauernde Tosen des reißenden Flusses hindurch hörten die Aufständischen das schmerzliche Gewimmer der Sturmglocken. Die jenseits des Flusses in der Ebene ausgestreuten Dörfer erhoben sich, läuteten Alarm und zündeten Feuer an. Die marschierende Truppe, der das traurige Gebimmel der Glocken das Geleite gab, sah so bis zum Morgen den Aufruhr sich längs des ganzen Tales fortwälzen, wie eine Pulverwolke. Die Alarmfeuer bildeten blutigrote Punkte im nächtlichen Dunkel; ferne Gesänge tönten in gedämpften Schallwellen herüber; die ganze, unklar verschwimmende Ebene, in das weißliche Dunstlicht des Mondes getaucht, war in einer verworrenen Bewegung, von Zeit zu Zeit von Zornesaufwallungen geschüttelt. Meilenweit blieb dieses Schauspiel sich gleich.

Diese Männer, die in der Blindheit des Fiebers dahinmarschierten, das die Pariser Ereignisse in den Herzen der Republikaner entfacht hatte, begeisterten sich an dem Anblick dieses großen Stück Landes, welches der Aufruhr durchrüttelte. Berauscht von dem Taumel der allgemeinen Erhebung, von der sie träumten, glaubten sie, daß ganz Frankreich ihnen folge; sie wähnten jenseits der Viorne, in dem endlosen Meer von verschwommenen Lichtern unendliche Reihen von Männern, die gleich ihnen herbeieilten, um die Republik zu schützen. Und ihr bäuerlicher Verstand dachte in der Einfalt und der Einbildungskraft der großen Mengen, daß der Sieg ganz leicht und sicher sei. Sie hätten jeden als Verräter niedergeschossen, der es gewagt hätte, ihnen zu dieser Stunde zu sagen, daß sie allein den Mut der Pflicht hätten und daß der übrige Teil des Landes, vom Schrecken niedergehalten, sich ruhig erwürgen lasse.

Sie schöpften noch fortwährend neuen Mut aus dem Empfang, den die wenigen Flecken, die am Abhange des Garriguesgebirges an der Heerstraße lagen, ihnen bereiteten. Bei der Annäherung der kleinen Kriegerschar erhob sich die Bevölkerung in Massen; die Frauen liefen herbei und wünschten ihnen einen raschen Sieg. Die Männer, kaum bekleidet, stießen zu ihnen, die erstbeste Waffe ergreifend, die ihnen in die Hände fiel. In jedem Dorfe gab es einen neuen begeisterten Willkomm und lange Abschiedsgrüße.

Gegen Tagesanbruch verschwand der Mond hinter dem Garriguesgebirge; die Aufständischen setzten ihren raschen Marsch durch die finstere Winternacht fort; sie sahen das Tal, die Hänge nicht mehr, sie hörten bloß das Gejammer der Sturmglocken, die gleich unsichtbaren Trommlern sie unaufhörlich mit ihren verzweifelten Rufen anfeuerten.

Miette und Silvère wurden von der Begeisterung der Truppe mitgerissen. Gegen den Morgen überwältigte die Müdigkeit das Mädchen. Sie trippelte jetzt mit kurzen, hastigen Schritten dahin, weil sie die großen Schritte der sie umgebenden Burschen nicht mithalten konnte. Aber sie faßte ihren ganzen Mut zusammen, um keine Klage vernehmen zu lassen; es wäre ihr zu schwer angekommen, einzugestehen, daß sie nicht die Kraft eines Burschen habe. Nach den ersten Meilen, die sie zurückgelegt hatten, reichte Silvère ihr den Arm; als er sah, daß die Fahne allmählich ihren steifen Händen entglitt, wollte er die Fahne ergreifen, um dem Mädchen die Last abzunehmen; darob ward sie böse und gestattete ihm nur, die Fahne mit einer Hand zu stützen, während sie nach wie vor diese auf der Schulter tragen wollte. So bewahrte sie ihre heldenmütige Haltung mit kindischem Eigensinn und lächelte dem jungen Manne zu, so oft er einen Blick voll zärtlicher Besorgnis auf sie richtete. Allein als der Mond hinter den Wolken verschwand, erlag sie, im Dunkel der Nacht marschierend, der Ermüdung. Silvère fühlte, wie sie an seinem Arme schwerer wurde. Er mußte die Fahne tragen und das Mädchen um den Leib fassen, damit es nicht strauchle. Noch immer kam kein Laut der Klage über ihre Lippen.

Du bist wohl sehr müde, arme Miette? fragte ihr Gefährte.

Ja, ein wenig, erwiderte sie mit beklommener Stimme.

Wollen wir eine Weile ausruhen?

Sie sagte nichts, aber er merkte doch, daß sie wankte. Da übergab er die Fahne einem der Kameraden und trat aus Reih und Glied, das Kind in seinen Armen tragend. Sie wehrte sich ein wenig; sie schämte sich, noch ein Kind zu sein. Doch er beruhigte sie; er kenne einen Querweg, sagte er, der die Entfernung um die Hälfte abkürze. Sie könnten ein Stündchen ausruhen und würden dennoch mit den anderen zugleich Orchères erreichen.

Es war ungefähr sechs Uhr morgens. Ein leichter Nebel stieg von der Viorne auf. Die Nacht schien sich noch zu verdichten. Die beiden erklommen tastend den Abhang des Garriguesberges bis zu einem Felsen, auf dem sie sich niederließen. Rings um sie her war tiefste Finsternis. Sie waren wie verloren auf der Spitze eines Riffs, über der Leere schwebend. Als die Truppe der Aufständischen mit immer mehr ersterbendem Geräusche in der Ferne verschwand, hörten sie in dieser Leere nichts als zwei Glocken, die eine ganz hell, ohne Zweifel, weil sie zu ihren Füßen ertönte in irgendeinem Dorfe, das an der Heerstraße lag, die andere aus der Ferne, in gedämpftem Schall das klagende Gewimmer der ersten erwidernd. Es war, als wollten die beiden Glocken einander durch das Nichts der Nacht das traurige Ende einer Welt verkünden.

Vom schnellen Gehen erwärmt, fühlten die beiden anfangs keine Kälte. Sie schwiegen und lauschten mit unsagbarer Traurigkeit diesem Sturmläuten, das durch die stille Nacht zitterte. Sie sahen einander nicht. Miette hatte Furcht; sie suchte die Hand Silvères und behielt sie in der ihrigen. Nach dem fieberhaften Taumel, der sie stundenlang ihrer selbst vergessen ließ und ihnen keine Zeit gönnte, über ihre Lage nachzudenken, fand dieser plötzliche Aufenthalt, diese Einsamkeit, in der sie Seite an Seite saßen, die beiden Kinder gebrochen und erstaunt, wie aus einem unruhigen Traume plötzlich erwacht. Es war ihnen, als habe eine Flut sie hierher, an den Wegrand gespült und sich dann wieder verlaufen. Ein unüberwindlicher Rückschlag versetzte sie in einen Zustand unbewußter Erstarrung; sie vergaßen ihre Begeisterung; sie dachten nicht mehr an diese Truppe, zu der sie stoßen sollten; sie gaben sich ganz dem traurigen Reize hin, sich allein zu fühlen Hand in Hand inmitten dieser unheimlichen Finsternis.

Du grollst mir doch nicht? fragte das Mädchen nach einer Weile. Ich möchte mit dir die ganze Nacht marschieren, aber die Männer liefen zu schnell; mir war der Atem ausgeblieben.

Warum sollte ich dir grollen? entgegnete der junge Mensch.

Ich weiß nicht. Ich fürchte, daß du mich nicht mehr liebest. Ich hätte lange Schritte machen mögen wie du, immerfort gehen, ohne stillzustehen. Du wirst nun glauben, ich sei nur ein Kind.

Silvere lächelte und Miette ahnte dieses Lächeln, das sie nicht sehen konnte. Sie fuhr mit entschlossener Stimme fort:

Du sollst mich nicht immer wie eine Schwester behandeln; ich will dein Weib sein.

Und sie selber zog Silvère an ihre Brust.

Sie hielt ihn fest in ihre Arme geschlossen und flüsterte:

Es wird uns kalt werden; laß uns so erwärmen.

Ein Stillschweigen trat ein. Bis zu dieser trüben Stunde hatten die beiden sich mit geschwisterlicher Zärtlichkeit geliebt. In ihrer Unschuld galt ihnen noch immer nur für Freundschaft die Macht der Anziehung, die sie dazu trieb, sich unaufhörlich in den Armen zu halten länger und fester, als Brüder und Schwestern es tun. Allein am Grunde ihrer unschuldigen Liebe grollten mit jedem Tage lauter die Stürme des heißen Blutes dieser Kinder. Mit zunehmendem Alter, mit der wachsenden Erkenntnis mußte aus dieser Idylle eine heiße, südlich-stürmische Leidenschaft hervorgehen. Ein Mädchen, das sich an den Hals eines Burschen hängt, ist schon ein Weib, ein unbewußtes Weib, das die erste Liebkosung erwecken kann. Wenn Verliebte sich auf die Wangen küssen, sind sie auf der Suche nach den Lippen. Ein Kuß macht ein Liebespaar aus ihnen. In dieser schwarzen, kalten Winternacht, bei dem schrillen Klagen der Sturmglocken tauschten Miette und Silvère einen jener Küsse, die das Herzblut auf die Lippen heraufholen.

Stumm saßen sie da, eng ineinander verschlungen. Miette hatte gesagt: »So wollen wir uns erwärmen« und nun warteten sie unschuldig, bis sie warm werden würden. Alsbald drang eine Wärme durch ihre Kleider; sie fühlten, wie sie in der Umschlingung heiß wurden, und hörten in dem nämlichen Atemzuge ihre Brust schwellen. Eine Mattigkeit bemächtigte sich ihrer, die sie in einen fieberischen Schlummer versenkte. Jetzt war ihnen warm; Lichter tanzten vor ihren geschlossenen Augen, ein verworrenes Tosen drang zu ihrem Gehirn empor. Dieser Zustand einer schmerzlichen Lust, der einige Minuten währte, schien ihnen eine Ewigkeit. Wie im Traume fanden sich ihre Lippen. Es war ein langer und gieriger Kuß. Es war ihnen, als hätten sie noch niemals früher sich geküßt. Sie litten dadurch und ließen einander los. Als die Kälte der Nacht ihr Fieber gelöst hatte, verblieben sie in einiger Entfernung voneinander in unsagbarer Verwirrung.

Die beiden Glocken führten ihr trauriges Zwiegespräch fort in dem finsteren Abgrund, der rings um das junge Paar gähnte. Die zitternde und erschrockene Miette wagte nicht, sich Silvère zu nähern. Sie wußte gar nicht mehr, ob er noch da sei; sie hörte ihn keine Bewegung mehr machen. Beide waren des herben Gefühls voll, das ihr Kuß in ihnen erzeugt hatte. Ein Trieb der Mitteilsamkeit drängte Worte auf ihre Lippen; sie hätten sich gegenseitig danken, sich noch einmal küssen mögen, aber sie schämten sich dermaßen ihres sengenden Glückes, daß sie lieber darauf verzichtet hätten, es ein zweites Mal zu genießen, als daß sie davon laut gesprochen hätten. Hätte nicht der lange Marsch ihr Blut in Wallung gebracht, wäre nicht die stockfinstere Nacht ihre Mitschuldige geworden: sie hätten noch lange sich nur auf die Wangen geküßt wie gute Kameraden. Die Scham erfaßte Miette. Nach dem glühenden Kusse Silvères, in dem seligen Dunkel, in dem ihr Herz sich öffnete, erinnerte sie sich der Roheiten Justins. Wenige Stunden früher hatte sie ohne Erröten den Burschen gehört, der sie als Metze behandelte; er hatte sie gefragt, wann Kindtaufe sein werde; er hatte ihr zugerufen, sein Vater werde sie mittelst Fußtritte entbinden, wenn sie es jemals wagen solle, nach dem Jas-Meiffren zurückzukehren; und sie hatte geweint, ohne ihn zu verstehen; sie hatte geweint, weil sie erriet, daß all dies schimpflich sein müsse. Jetzt, da sie Weib wurde, sagte sie sich in der letzten Regung ihrer Unschuld, daß der Kuß, dessen Brennen sie noch in sich fühlte, vielleicht genügte, um sie mit jener Schmach zu bedecken, deren ihr Vetter sie beschuldigt hatte. Da ward sie von Schmerz ergriffen und schluchzte.

Was ist dir? Warum weinst du? fragte Silvère besorgt.

Nein, laß mich, stammelte sie. Ich weiß es nicht.

Und sie fügte, in Tränen aufgelöst, unwillkürlich hinzu:

Ach, ich bin eine Unglückliche! Als ich zehn Jahre zählte, warf man mich mit Steinen; heute behandelt man mich wie das geringste der Geschöpfe. Justin hatte recht, als er mich vor aller Welt mit seiner Verachtung überschüttete. Wir haben soeben Schlimmes getan, Silvère.

Der junge Mensch war betroffen; er schloß sie in seine Arme und suchte sie zu trösten.

Ich liebe dich, flüsterte er. Ich bin dein Bruder. Warum sagst du, daß wir Schlimmes getan haben? Wir haben uns umarmt, weil wir froren. Du weißt wohl, daß wir uns jeden Abend umarmten, wenn wir voneinander schieden.

O, nicht so wie jetzt, sprach sie sehr leise. Wir dürfen das nicht mehr tun, hörst du? Das muß verboten sein, denn ich fühle mich so ganz eigentümlich. Die Männer werden mich künftig verlachen, wenn sie mich vorbeikommen sehen. Und ich werde nicht mehr den Mut haben, mich zu verteidigen, denn sie haben recht.

Der junge Mann schwieg; er fand kein Wort, um den aufgescheuchten Sinn dieses dreizehnjährigen Kindes zu beschwichtigen, das nach seinem ersten Liebeskusse am ganzen Leibe vor Angst zitterte. Er drückte sie sanft an sich; er ahnte, daß er sie beruhigen werde, wenn er ihr das wärmende Wohlbehagen ihrer Umarmung wiedergeben könne. Allein sie wehrte ab und sagte:

Wenn du willst, laß uns fortgehen und diese Gegend verlassen. Ich kann nicht mehr nach Plassans zurückkehren; mein Oheim prügelt mich; alle Leute zeigen mit Fingern auf mich...

Dann rief sie, wie in plötzlicher Gereiztheit:

Nein, ich bin verdammt! Du darfst meinethalben Tante Dide nicht verlassen. Du mußt mich irgendwo, auf der Heerstraße stehen lassen...

Miette, Miette, sage das nicht! flehte Silvère.

Doch, ich will dich freimachen von mir. Sei vernünftig. Man hat mich davongejagt wie einen Tunichtgut. Wenn ich mit dir zurückkehrte, müßtest du dich jeden Tag mit einem andern herumschlagen. Das will ich nicht.

Der junge Mann küßte sie wieder auf den Mund und murmelte:

Du wirst mein Weib; niemand soll es wagen, dich zu kränken.

O, ich bitte dich, küsse mich nicht so! flehte sie. Es tut mir weh.

Nach kurzem Stillschweigen fuhr sie fort:

Du weißt wohl, daß ich nicht deine Frau werden kann. Wir sind zu jung. Ich müßte warten und würde vor Scham sterben. Du hast unrecht, böse zu werden: Du mußt mich irgendwo in einem Winkel stehen lassen.

Jetzt begann auch Silvère zu weinen; die Kräfte hatten ihn verlassen. Das Schluchzen eines Mannes ist von ergreifender Härte. Erschrocken darüber, wie der arme Junge in ihren Armen vom Schluchzen geschüttelt wurde, küßte Miette ihn auf die Wangen, vergessend, daß dabei ihre Lippen schier verbrannten. Es sei ihr Fehler, sagte sie sich. Sie sei ein albernes Ding, daß sie den süßen Schmerz einer Liebkosung nicht ertragen könne. Sie wußte nicht, weshalb sie an traurige Dinge dachte gerade in dem Augenblicke, da ihr Geliebter sie in einer Weise küßte, wie er es noch niemals zuvor getan hatte. Und sie preßte ihn an ihre Brust, um ihn für den ihm zugefügten Kummer um Verzeihung zu bitten. Und diese weinenden, voll Angst sich umfangen haltenden Kinder erhöhten noch die Trostlosigkeit dieser finsteren Dezembernacht. Die Glocken in der Ferne ließen noch immer ihr trauriges Geläute vernehmen.

Es wäre besser zu sterben, flüsterte Silvère mitten in seinem Schluchzen.

Weine nicht, vergib mir, stammelte Miette. Ich werde stark sein und tun, was du verlangst.

Der junge Mann trocknete seine Tränen und sagte:

Du hast recht; wir können nicht nach Plassans zurückkehren. Aber wir haben jetzt keine Zeit, feige zu sein. Wenn wir als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen, hole ich die Tante Dide ab und nehme sie mit uns, weit, weit. Wenn wir aber besiegt werden ...

Er hielt inne.

Wenn wir besiegt werden? ... wiederholte Miette.

Dann sei uns der Himmel gnädig! fuhr Silvère leise fort. Ich werde dann nicht mehr sein, und du wirst die arme Greisin trösten. Das wird besser sein.

Ja, du sagtest es soeben: es wäre besser zu sterben, flüsterte das Mädchen.

Bei dieser Sehnsucht nach dem Tode umarmten sie sich noch inniger. Miette wollte mit Silvère sterben; dieser hatte nur von sich selbst gesprochen, aber sie fühlte wohl, daß er sie gerne mit ins Grab nehmen wollte. Dort würden sie sich freier lieben dürfen als am hellen Tage. Tante Dide würde ebenfalls sterben und zu ihnen hinabsteigen. Es war wie ein flüchtiges Ahnen, die Sehnsucht nach einer seltsamen Lust, welche der Himmel durch die Klagetöne der Sturmglocken bald zu erfüllen verhieß. Ster–ben! ster–ben! Die Glocken wiederholten dieses Wort mit zunehmender Gewalt und die Liebenden waren bereit, diesem Ruf nach dem Schattenreiche zu folgen. Sie hatten gleichsam einen Vorgeschmack der ewigen Ruhe in dieser schlummerartigen Betäubung, in welche die Wärme ihre Glieder und die Glut ihrer Lippen, die sich wiedergefunden hatten, sie von neuem versenkten.

Miette wehrte sich nicht mehr. Jetzt war sie es, die ihren Mund auf den Silvères preßte, die mit stummer Gier jene Freude suchte, deren herben Brand sie anfänglich nicht hatte ertragen können. Der Traum von einem nahen Tode hatte ein Fieber in ihr entzündet; sie fühlte kein Erröten mehr; sie hängte sich an den Geliebten; sie schien, ehe sie ins Grab stieg, diese neuen Wonnen auskosten zu wollen, von denen sie kaum genippt hatte; es verdroß sie, daß nicht augenblicklich dieses unbekannte Etwas, das ihr ganzes Wesen aufrüttelte, sie durchdringen konnte. Außer dem Kusse ahnte sie noch etwas anderes, was sie erschreckte und zugleich anzog in dem Taumel ihrer nunmehr erwachten Sinne. Sie gab sich hin; in der schamlosen Einfalt der Jungfrauen hätte sie Silvère anflehen mögen, den letzten Schleier zu zerreißen. Er aber, schier die Besinnung verlierend infolge ihrer Liebkosung, von einem vollkommenen Glücke erfüllt, ohne Kraft, ohne andere Begierden, schien an größere Wonnen gar nicht zu glauben.

Als Miette keinen Atem mehr hatte und die herbe Freude der ersten Umarmung schwinden fühlte, flüsterte sie:

Ich will nicht sterben, ohne daß du mich liebest... ich will, daß du mich noch mehr liebest...

Ihr fehlten die Worte; nicht als ob sie das Bewußtsein der Schande gehabt hätte, sondern weil sie nicht wußte, was sie wünschte. Sie war ganz einfach von einer dumpfen inneren Regung und von einem Bedürfnis nach Unendlichem in ihrer Freude erfüllt.

In ihrer Unschuld hätte sie mit dem Fuße stampfen mögen wie ein Kind, dem man ein Spielzeug verweigert.

Ich liebe dich! Ich liebe dich! wiederholte Silvère ermattend.

Miette schüttelte den Kopf; sie schien zu sagen, es sei nicht wahr, und der junge Mensch verheimliche ihr etwas. Ihre kraftvolle und freie Natur hatte den geheimen Trieb der Fruchtbarkeit des Lebens. Darum wies sie den Tod von sich, wenn sie als Unwissende sterben sollte. Diesen Aufruhr ihres Blutes und ihrer Nerven gestand sie treuherzig durch ihre glühenden, umhertastenden Hände, durch ihr Stammeln, durch ihr Flehen.

Dann ward sie ruhiger, lehnte das Haupt an die Schulter des jungen Mannes und schwieg. Silvère neigte sich zu ihr und küßte sie lange. Sie genoß seine Küsse langsam, nach ihrem Sinn, ihrer geheimen Lust forschend. Sie hörte sie gleichsam durch ihre Adern rieseln und fragte sie, ob sie die ganze Liebe, die ganze Leidenschaft seien. Eine Mattigkeit bemächtigte sich ihrer; sie entschlief sanft, hörte aber auch im Schlafe nicht auf, die Liebkosungen Silvères zu genießen. Dieser hatte sie in den großen, roten Mantel eingehüllt, von dem er einen Zipfel auch über sich selbst gebreitet hatte. Sie fühlten die Kälte nicht mehr. Als Silvère an dem regelmäßigen Atemholen Miettens merkte, daß sie eingeschlummert sei, war er froh über diesen Schlaf, nach dem sie gestärkt wieder ihren Weg würden fortsetzen können. Er nahm sich vor, sie eine Stunde schlafen zu lassen. Der Himmel war noch immer schwarz; kaum eine weißliche Linie im Osten kündigte das Nahen des Morgens an. Hinter dem Liebespaare mußte ein Fichtenwald sein, dessen vielstimmiges Erwachen bei dem ersten Wehen der Morgenluft der junge Mensch vernahm. In der schneidenden Luft tönte das Klagen der Glocken immer schärfer, und diese Töne wiegten Miette in den Schlummer, gleichwie sie vorhin ihr Liebesfieber begleitet hatten.

Bis zu dieser Nacht voll Aufregungen und Verwirrungen hatten die beiden jungen Leute eine jener kindlichen Idyllen durchlebt, die in der Arbeiterklasse entstehen, unter den Enterbten, Geistesarmen, bei denen man noch zuweilen die einfache Liebe der altgriechischen Sagen antrifft.

Miette war kaum neun Jahre alt, als ihr Vater auf die Galeeren geschickt wurde, weil er einen Gendarm erschossen hatte. Der Prozeß Chantegreil war in der ganzen Gegend berühmt geblieben. Der Wilderer hatte den Mord glattweg eingestanden; aber er schwor, daß der Gendarm sein Gewehr auf ihn angelegt hatte. Ich bin ihm nur zuvorgekommen, sagte er; ich habe mich nur verteidigt; es war ein Zweikampf und kein Mord. Und aus dieser Art sich zu verteidigen trat er nicht heraus. Es wollte dem Präsidenten nicht gelingen, ihm begreiflich zu machen, daß ein Gendarm wohl das Recht habe, auf einen Wilderer zu schießen, nicht aber umgekehrt. Dank seiner überzeugten Haltung und seinem unbescholtenen Vorleben entging Chantegreil dem Schafott, doch kam er auf die Galeeren. Dieser Mann weinte wie ein Kind, als man ihm seine Tochter brachte, ehe er nach Toulon abgeführt ward. Die Kleine, die noch in der Wiege gelegen hatte, als sie ihre Mutter verlor, wohnte bei ihrem Großvater in Chavanoz, einem Dorfe in den Tälern des Seillegebirges. Als der Wilderer nicht mehr da war, lebten der Alte und das Kind von Almosen. Die Einwohner von Chavanoz, sämtlich Jäger, unterstützen die armen Geschöpfe, die der Sträfling zurückgelassen hatte. Doch der Alte starb bald vor Kummer. Miette, die allein geblieben war, hätte auf den Straßen betteln müssen, wenn die Nachbarinnen sich nicht erinnert hätten, daß sie in Plassans eine Tante habe. Es fand sich eine mildtätige Seele, die Miette zu dieser Tante brachte, die das Kind ziemlich unwirsch empfing.

Eulalie Chantegreil, an den Krautgärtner Rébufat verheiratet, war ein langes, eigensinniges Teufelsweib, das im Hause das Regiment führte. In der Vorstadt sagte man, daß sie ihren Mann nasführe. Die Wahrheit war, daß der geizige, überaus arbeitsame und gewinnsüchtige Rébufat eine Art Respekt empfand vor diesem derben Weib, das so rüstig bei der Arbeit, so nüchtern und so sparsam war, wie wenige ihresgleichen.

Dank dem Weibe gedieh das Haus. Der Gärtner murrte, als er, abends heimkehrend, die kleine Miette in seinem Hause traf. Doch sein Weib schloß ihm den Mund, indem sie mit ihrer rauhen Stimme sagte:

Die Kleine ist kräftig, sie wird uns als Magd dienen. Wir geben ihr das Essen und sparen den Lohn bei ihr.

Diese Berechnung gefiel dem Rébufat. Er ging so weit, daß er die Arme des Kindes betastete, und erklärte mit Genugtuung, es sei für sein Alter sehr stark. Miette war damals neun Jahre alt. Schon vom nächsten Tage an machte er sie sich dienstbar. Die Arbeit der Bäuerinnen im Süden ist viel leichter als im Norden. Nur selten sieht man dort die Weiber die Erde behauen, Lasten tragen, überhaupt die Verrichtungen der Männer besorgen. Sie binden Garben und pflücken Oliven oder Maulbeerblätter. Ihre schwerste Beschäftigung ist Unkraut jäten. Miette arbeitete munter. Das Leben im Freien war ihre Freude und ihre Gesundheit. Solange ihre Tante lebte, konnte Miette ihres Daseins froh werden. Trotz ihrer rauhen Art liebte die wackere Frau das Mädchen wie ihr eigenes Kind; sie verbot ihr, die schweren Arbeiten zu verrichten, die ihr Mann ihr aufbürden wollte, und sie rief dem letzteren zu:

Du bist aber ein Pfiffikus! Siehst du nicht ein, Schwachkopf, daß, wenn du sie heute zu sehr ermüdest, sie morgen nichts wird machen können!

Dieser Grund war entscheidend. Rébufat senkte den Kopf und trug selber die Last, die er dem Mädchen hatte aufbürden wollen.

Unter dem geheimen Schutze ihrer Tante hätte Miette ein glückliches Leben führen können, wären nicht die Neckereien ihres damals sechzehnjährigen Vetters gewesen, der seine in Trägheit verlebten Tage dazu benützte, das Mädchen zu mißachten und zu verfolgen. Die besten Stunden Justins waren die, wenn es ihm durch irgendeine plumpe Lüge gelang, daß sie ausgescholten wurde. Wenn er ihr auf die Füße treten oder sie roh anrennen konnte, mit der Entschuldigung, daß er sie nicht bemerkt habe, lachte er und genoß die tückische Lust der Leute, die sich der Übel der anderen freuen. Miette schaute ihn dann mit ihren großen kindlichen Augen an, mit Blicken voll Zorn und Stolz, die dem blöden Kichern des feigen Wichtes Einhalt geboten. Im Grunde hatte er eine wilde Furcht vor seiner Base.

Das Mädchen war bald elf Jahre alt, als ihre Tante Eulalie plötzlich starb. Seit jenem Tage änderte sich alles in dem Hause. Rébufat gewöhnte sich allmählich daran, das Mädchen als Ackerknecht zu behandeln. Er bürdete ihr schwere Arbeiten auf, bediente sich ihrer wie eines Lasttieres. Sie beklagte sich nicht, sie glaubte eine Schuld abtragen zu müssen. Wenn sie des Abends müde und erschöpft auf ihr Lager sank, beweinte sie die Tante, dieses schreckliche Weib, dessen geheime Güte sie jetzt erst voll empfand. Übrigens waren ihr selbst die schweren Arbeiten nicht zu lästig; sie liebte die Kraft und war stolz auf ihre starken Arme und Schultern. Was sie kränkte, war die mißtrauische Überwachung ihres Oheim, seine fortwährenden Vorwürfe, sein Auftreten eines zornigen Gebieters.

Zu dieser Zeit war sie im Hause eine Fremde. Und selbst eine Fremde hätte man nicht so schlecht behandeln können wie sie. Ohne Gewissensbisse mißbrauchte Rébufat die arme kleine Verwandte, die er aus wohlberechneter Mildtätigkeit in seinem Hause behielt. Sie vergalt mit ihrer Arbeit zehnfach seine rohe Gastfreundschaft, und es verging kein Tag, an dem er ihr nicht das Brot vorwarf, das sie aß. Justin tat sich besonders darin hervor, sie zu kränken. Seitdem seine Mutter nicht mehr da war, verwendete er seine ganze böse Einbildungskraft darauf, dem nunmehr wehrlosen Kinde den Aufenthalt im Hause zu verleiden. Die tückischeste Marter, die er ersann, war die, wenn er dem Mädchen von dessen Vater sprach. Das arme Mädchen, das außerhalb der Welt gelebt hatte unter dem Schutze ihrer Tante, die verboten hatte, daß man vor ihr die Worte »Sträfling« und »Galeeren« ausspreche, begriff nicht den Sinn dieser Worte. Justin war es, der sie diesen Sinn lehrte, indem er ihr in seiner Weise erzählte, wie der Gendarm getötet und Chantegreil verurteilt wurde. Er hörte nicht auf, abscheuliche Einzelheiten zu erzählen: die Sträflinge schleppten eine eiserne Kugel an den Füßen nach, müßten fünfzehn Stunden arbeiten und gingen sämtlich unter dieser Plage zugrunde. Das Bagno sei ein furchtbarer Ort, den er mit all seinen Schrecknissen ausführlich schilderte. Betroffen, die Augen voll Tränen, hörte Miette ihm zu. Zuweilen ward sie von heftigen Zornesanfällen erfaßt und Justin wich vor ihren geballten Fäusten einen Schritt zurück. Dieses grausame Einweihen in die Sachlage genoß er wie ein Feinschmecker. Wenn sein Vater – was oft wegen des geringsten Versehens geschah – sich gegen das Kind erzürnte, war er gleich mit dabei und war glücklich, sie gefahrlos beschimpfen zu können. Wenn sie sich zu wehren suchte, sagte er:

Das Blut verleugnet sich nicht; du wirst im Zuchthaus enden wie dein Vater!

Ohnmächtig vor Scham und im Innersten getroffen konnte Miette nichts tun als weinen.

Zu jener Zeit entwickelte sich Miette schon zum Weibe. Frühzeitig gereift, konnte sie den Quälereien mit außerordentlicher Willenskraft Widerstand leisten. Nur in den seltenen Stunden, wenn ihr angeborener Stolz von den Beschimpfungen des Vetters gedemütigt ward, gab sie sich der Verzweiflung hin. Bald ertrug sie trockenen Auges die unaufhörlichen Beschimpfungen dieses Feiglings, der, während er mit ihr sprach, sie sorgfältig beobachtete aus Furcht, daß sie ihm ins Gesicht fahren könne. Überdies wußte sie ihn zum Schweigen zu bringen, wenn sie ihn fest ansah. Wiederholt fühlte sie sich versucht, aus dem Jas-Meiffren zu fliehen. Aber sie tat es nicht, um ihren Mut dadurch zu bekunden; sie wollte sich nicht eingestehen, daß sie den Verfolgungen erliege, die sie zu erdulden hatte. Alles in allem verdiente sie ja ihr Brot und ließ sich die Gastfreundschaft der Familie Rébufat nicht schenken. Diese Gewißheit genügte ihrem Stolze. So blieb sie denn, um zu kämpfen, machte sich stark und lebte in dem unaufhörlichen Gedanken an den Widerstand. Sie richtete ihr Verhalten danach ein, daß sie still ihre Arbeit verrichtete und für die schlimmen Worte, die sie zu hören bekam, sich durch stumme Verachtung rächte. Sie wußte wohl, daß ihr Oheim zu viel Nutzen von ihr zog, als daß er leichthin den Einflüsterungen Justins Gehör geschenkt hätte, der sie nur immer vor die Türe setzen wollte. Darum legte sie eine Art Trotz darin, nicht freiwillig das Haus zu verlassen.

In den langen Stunden des Stillschweigens gab sie sich gar seltsamen Träumereien hin. Ihre Tage in dem Gemüsegarten verbringend, von aller Welt getrennt, wuchs sie in Widerspenstigkeit heran und bildete sich Meinungen, die die braven Leute des Vorortes gar sehr erschreckt haben würden. Vornehmlich beschäftigte sie das Schicksal ihres Vaters. Sie erinnerte sich aller schlimmen Worte Justins und nahm schließlich die Mordbeschuldigung als wahr hin, indem sie sich sagte, ihr Vater habe recht gehandelt, den Gendarm zu töten, der ihn töten wollte. Sie kannte die wahre Begebenheit aus dem Munde eines Erdarbeiters, der im Jas-Meiffren gearbeitet hatte. Seit jenem Augenblicke wandte sie nicht einmal den Kopf mehr um, wenn bei einem ihrer seltenen Ausgänge ein Gassenjunge in der Vorstadt ihr nachschrie:

Seht da, die Chantegreil!

Mit zusammengekniffenen Lippen und wütenden Blicken beschleunigte sie dann ihre Schritte. Wenn sie heimgekehrt das Torgitter hinter sich geschlossen hatte, warf sie einen einzigen und langen Blick auf die Bande der Gassenjungen. Sie wäre schlecht geworden, sie wäre zur grausamen Wildheit der Parias herabgesunken, wenn nicht zuweilen ihre ganze Kindheit in ihr Herz wieder eingekehrt wäre. Ihre elf Jahre warfen sie in kindliche Schwächen zurück, die sie trösteten. Dann weinte sie; sie schämte sich ihrer selbst und ihres Vaters. Sie verbarg sich in einem Stalle, wo sie nach Herzenslust weinen konnte, weil sie begriff, daß sie noch mehr gequält würde, wenn man sie weinen sähe. Und wenn sie genug geweint hatte, wusch sie sich in der Küche die Augen aus und nahm wieder ihre ruhige, stille Miene an. Nicht bloß ihr Interesse war es, was sie antrieb, sich zu verbergen; sie trieb den Stolz ihrer frühreifen Kräfte so weit, daß sie nicht mehr ein Kind scheinen wollte. Wenn dies so fortging, drohte mit der Zeit ihr ganzes Wesen zu verbittern. Glücklicherweise ward sie gerettet, weil sie die Zärtlichkeit ihrer liebevollen Natur wiederfand.

Im Hofe des Hauses, das Tante Dide und Silvère bewohnten, stand ein Brunnen, der auch von den Bewohnern des Jas-Meiffren benutzt wurde. Die Mauer teilte ihn. Ehe der Krautgarten der Fouque mit der großen Nachbarbesitzung vereinigt wurde, benützten die Gärtner täglich diesen Brunnen. Seitdem der Grund aber verkauft war, kamen die Leute nur selten mehr hierher, weil sie im Jas-Meiffren große Wasserbassins hatten und weil der Brunnen von den gemeinsamen Wohnungen auch zu weit entfernt lag. Jenseits der Mauer jedoch hörte man jeden Morgen den Brunnenschwengel kreischen; Silvère schöpfte für Tante Dide das im Hauhalte notwendige Wasser.

Eines Tages brach der Brunnenschwengel. Der junge Stellmacher zimmerte aus Eichenholz einen neuen und hängte ihn am Abend ein, als er von seinem Tagewerk heimgekehrt war. Zu diesem Behufe mußte er auf die Mauer steigen. Als er die Arbeit getan hatte, blieb er rittlings auf der Mauer sitzen, um auszuruhen, und betrachtete neugierig die weite Ausdehnung des Jas-Meiffren. Endlich blieben seine Blicke auf einer Bäuerin haften, die wenige Schritte von ihm entfernt Unkraut jätete. Man war im Juli und die Luft war schwül, obgleich die Sonne schon zur Rüste ging. Die Bäuerin hatte ihre Jacke abgelegt. Im weißen Mieder, mit einem buntfarbigen Tuche um die Schultern, die Hemdärmel bis zu den Ellenbogen aufgestreift, hockte sie in den Falten ihres Rockes von blauem Wollstoff, der von zwei rückwärts gekreuzten Schulterbändern festgehalten ward. Sie bewegte sich auf den Knien fort und jätete fleißig das Unkraut aus, das sie in einem Korb warf. Der junge Mensch sah nur ihre entblößten, von der Sonne gebräunten Arme, die bald rechts, bald links sich ausstreckten, um einen vergessenen Grashalm zu pflücken. Mit Wohlgefallen folgte er diesen hastigen Handbewegungen der Bäuerin, und es bereitete ihm ein Vergnügen, diese Arme so fest und so flink zu sehen. Sie hatte sich leicht aufgerichtet, als sie ihn nicht mehr arbeiten hörte, und hatte gleich wieder das Haupt gesenkt, noch ehe er ihre Züge hatte unterscheiden können. Diese scheue Bewegung fesselte seine Aufmerksamkeit. Er fragte sich, wer dieses Frauenzimmer sein könne und pfiff ein Liedchen vor sich hin, wobei er mit seinem Schnitzmesser den Takt schlug. Da entfiel ihm plötzlich das Schnitzmesser. Das Werkzeug fiel auf der Seite des Jas-Meiffren nieder, auf den Brunnenkranz und von da zu Boden. Silvère neigte sich hinab, um mit den Augen das Messer zu suchen, zögerte aber hinabzusteigen. Doch es schien, als beobachte die junge Bäuerin ihn von der Seite, denn sie erhob sich wortlos, nahm das Schnitzmesser und reichte es Silvère. Dieser konnte jetzt sehen, daß die Bäuerin noch ein Kind war. Er war überrascht und ein wenig eingeschüchtert. Im roten Lichte der Abendsonne erhob sich das Mädchen zu ihm. Die Mauer war an dieser Stelle niedrig, aber noch immer zu hoch für sie. Silvère beugte sich nieder, das Kind stellte sich auf die Fußspitzen. Sie sprachen nichts, sahen einander nur mit verlegenem Lächeln an. Der junge Mensch wünschte im stillen, das Kind möchte länger in dieser Stellung verbleiben. Sie erhob ein schönes Haupt zu ihm mit großen Augen und einem frischen Munde und alles dies setzte ihn in Erstaunen und bewegte ihn ganz seltsam. Noch niemals hatte er ein Mädchen in solcher Nähe gesehen; er wußte nicht, daß ein Mund und zwei Augen so lieblich zum Anschauen sein könnten. Alles schien ihm einen unbekannten Reiz zu haben, das bunte Tuch, das weiße Mieder, der Rock von blauem Wollstoff, von Achselbändern festgehalten, die bei der Bewegung der Schultern sich spannten. Sein Blick glitt den Arm entlang, der ihm das Schnitzmesser reichte. Bis zum Ellenbogen war der Arm wie mit goldbrauner Farbe belegt; aber weiter hinauf, im Schatten des aufgestreiften Hemdärmels, bemerkte Silvère eine nackte Rundung, so weiß wie Milch. Er ward verwirrt, neigte sich noch weiter hinab und griff endlich nach dem Schnitzmesser. Jetzt ward auch das Bauernmädchen verlegen. So verblieben sie, immer lächelnd, das Kind unten, das Antlitz aufwärts gekehrt, der junge Mensch halb sitzend, halb auf dem Mauerkamm hegend. Sie wußten nicht, wie sie sich trennen sollten. Sie hatten noch kein Wort gewechselt. Silvère hatte sogar vergessen zu danken.

Wie heißt du? fragte er endlich.

Marie, erwiderte das Bauernmädchen; aber alle Welt nennt mich Miette.

Sie erhob sich ein wenig und fragte mit heller Stimme:

Und du?

Ich heiße Silvère, erwiderte der junge Arbeiter.

Es entstand ein kurzes Stillschweigen, als wollten sie an dem Wohlklang ihrer Namen sich ergötzen.

Ich bin fünfzehn Jahre alt, begann Silvère endlich wieder. Und du?

Ich werde zu Allerheiligen elf Jahre alt, erwiderte Miette.

Der junge Arbeiter machte eine Bewegung der Überraschung.

Ach, das ist nicht übel! sagte er dann lachend. Ich hatte dich für ein Weib gehalten! Du hast ja dicke Arme!...

Nun lachte auch sie, indem sie ihre Arme betrachtete. Dann sprachen sie gar nichts mehr. Sie schauten einander noch eine Weile lächelnd an und da Silvère ihr nichts mehr zu sagen zu haben schien, ging Miette einfach weiter und machte sich wieder an das Unkraut jäten, ohne aufzuschauen. Silvère blieb noch einen Augenblick auf der Mauer. Die Sonne ging zur Neige, ein breites Feld von schrägen Strahlen ergoß sich über die gelben Beete des Jas-Meiffren; das Gartenland lag in einem feurigen Lichte da; man war versucht zu glauben, daß ein Brand sich am Boden hinwälze. Silvère betrachtete die inmitten dieses lodernden Feldes hockende kleine Bäuerin, deren nackte Arme ihr hurtiges Werk wieder aufgenommen hatten; ihr Rock von blauem Wollstoffe nahm eine weiße Färbung an und Streiflichter glitten über ihre gebräunten Arme hin. Schließlich fühlte Silvère eine Art Scham darüber, daß er noch immer da sitze, und stieg von der Mauer herunter.

Silvère, der sein Abenteuer nicht vergessen konnte, befragte am Abend die Tante Dide. Vielleicht würde sie Bescheid wissen über diese Miette, die so schwarze Augen und frische Lippen hatte. Allein, Tante Dide hatte, seitdem sie das Häuschen in der Sackgasse bewohnte, keinen Blick mehr jenseits der Mauer des kleinen Hofes geworfen. Diese Mauer war gleichsam ein unübersteiglicher Wall, die ihre Vergangenheit abschloß. Sie wußte nicht, sie wollte nicht wissen, was jetzt jenseits dieser Mauer war, in dem alten Krautgarten der Familie Foucque, wo sie ihre Liebe, ihr Herz und ihren Leib eingegraben hatte. Bei den ersten Fragen Silvères betrachtete sie diesen mit einem fast kindlichen Schrecken. Wollte etwa auch er die Asche ihrer erloschenen Tage aufrühren und ihr Tränen erpressen, wie ihr Sohn Antoine?

Ich weiß nicht, erwiderte sie hastig, ich gehe nicht mehr aus und sehe niemanden ...

Silvère erwartete den folgenden Tag mit einiger Ungeduld. Kaum in der Werkstatt seines Meisters angekommen, lenkte er bei seinen Kameraden des Gespräch auf den Gegenstand, der ihn beschäftigte. Er sagte nichts von seiner kurzen Begegnung mit Miette; er sprach nur in unbestimmten Ausdrücken von einem Mädchen, das er aus der Ferne im Jas-Meiffren gesehen hatte.

Ei, das ist die Chantegreil! rief einer der Arbeiter aus.

Und ohne daß Silvère es nötig gehabt hätte, sie zu befragen, erzählten ihm die Arbeiter die Geschichte des Wildschützen Chantegreil und seiner Tochter Miette mit dem blinden Hasse der großen Menge gegen die Parias der Gesellschaft. Besonders von dem Kinde redeten sie in einer unflätigen Weise; die Schmach der Tochter des Galeerensträflings kam ihnen immer wieder auf die Lippen wie eine Sache, gegen die es nichts zu erwidern gebe und die das liebe, unschuldige Kind für immer mit Schande bedecke.

Der Stellmacher Bian, ein braver und würdiger Mann, hieß sie endlich schweigen.

Still, ihr bösen Mäuler! rief er, eine Deichsel aus der Hand legend, die er eben besichtigt hatte. Schämt ihr euch nicht, ein Kind so hart zu verlästern? Ich habe die Kleine gesehen, sie hat ein sehr ehrbares Aussehen. Auch hat man mir erzählt, daß sie sehr fleißig sei und die Arbeit einer Dreißigjährigen verrichte. Es gibt hier Nichtstuer, die lange nicht so viel taugen wie sie. Ich wünsche ihr für später einen tüchtigen Ehemann, der all der schlimmen Nachrede ein Ende macht.

Silvère, den die Scherze und plumpen Schmähungen der Arbeiter erstarrt hatten, fühlte, wie ihm bei den letzteren Worten Vians die Tränen in die Augen traten. Übrigens öffnete er den Mund nicht. Er nahm seinen Hammer wieder zur Hand, den er weggelegt hatte, und begann mit aller Kraft auf das Rad loszuhauen, das er bereifte.

Am Abend aus der Werkstätte heimgekehrt, beeilte er sich, die Mauer zu erklimmen. Er fand Miette bei der gestrigen Arbeit. Er rief sie an und sie kam zu ihm mit ihrem verlegenen Lächeln, mit der liebenswürdigen Scheu eines Kindes, das unter Tränen aufgewachsen.

Du bist die Chantegreil, nicht wahr? fragte er sie geradeheraus.

Sie wich zurück; das Lächeln erstarb auf ihren Lippen; ihre Augen verdunkelten sich und nahmen einen Ausdruck von Trotz und Härte an. Will dieser Bursche sie beschimpfen wie die anderen? Sie wandte den Rücken, ohne zu antworten, als Silvère, betroffen von dem plötzlichen Wechsel in ihrem Antlitze, sich beeilte hinzuzufügen:

Bleib, ich bitte dich! Ich will dich nicht kränken ... Ich habe dir so vieles zu sagen.

Sie kam zögernd zurück. Silvère, dessen Herz voll war und der den Vorsatz gefaßt hatte, es sich zu erleichtern, war jetzt stumm; er wußte nicht, wo er anfangen sollte, und fürchtete, eine neue Ungeschicklichkeit zu begehen. Endlich legte er sein ganzes Herz in einen Satz.

Willst du, daß ich dein Freund sei? fragte er mit bewegter Stimme.

Und da Miette ganz überrascht ihre jetzt wieder feuchten und lächelnden Augen zu ihm erhob, fuhr er lebhaft fort:

Ich weiß, daß man dir Kränkungen zufügt. Das muß aufhören. Ich werde dich von heute ab verteidigen. Willst du?

Das Kind strahlte vor Freude. Diese Freundschaft, die sich ihr darbot, verscheuchte alle ihre bösen, gehässigen Träume. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte:

Nein, ich will nicht, daß du dich für mich prügelst. Du hättest zu viel zu tun. Und dann gibt es Leute, gegen die du mich nicht verteidigen kannst.

Silvère wollte ausrufen, daß er sie gegen die ganze Welt verteidigen werde; allein sie schloß ihm mit einer schmeichlerischen Gebärde den Mund und fügte hinzu:

Es genügt, daß du mein Freund seist.

Dann plauderten sie mit gedämpfter Stimme einige Minuten. Miette erzählte Silvère von ihrem Oheim und von ihrem Vetter. Für nichts in der Welt hätte sie mögen, daß sie ihn da rittlings auf der Mauer sitzen sähen. Justin wäre unerbittlich, wenn er eine Waffe gegen sie hätte. Sie lieh ihrer Angst und Furcht mit einem Schrecken Ausdruck, wie ein Schulmädchen, das eine Freundin getroffen, deren Umgang die Mutter ihr verboten hat. Silvère begriff von alle dem nur so viel, daß es ihm nicht leicht sein werde, Miette zu sehen. Das machte ihn sehr traurig. Indes versprach er ihr, nicht wieder auf die Mauer zu steigen. Sie waren beide damit beschäftigt, ein Mittel ausfindig zu machen, um sich wiederzusehen, als Miette ihn bat, sich zu entfernen. Sie hatte Justin bemerkt, der, quer über den Gartengrund kommend, seine Schritte nach der Brunnenseite lenkte. Silvère beeilte sich, die Mauer zu verlassen. Als er sich in dem kleinen Hofe befand, blieb er am Fuße der Mauer stehen und spitzte die Ohren, innerlich verdrossen über seine Flucht. Nach einigen Minuten wagte er, die Mauer von neuem zu erklimmen und einen Blick nach dem Jas-Meiffren zu werfen. Er sah Justin mit Miette sprechen und zog gleich wieder den Kopf zurück. Am folgenden Tage sah er seine Freundin nicht, selbst aus der Ferne nicht; sie schien in diesem Teile des Jas ihre Arbeit beendet zu haben. So vergingen acht Tage, ohne daß die beiden Gefährten Gelegenheit gefunden hätten, ein Wort auszutauschen. Silvère war trostlos und dachte schon daran, geradeswegs zu den Rébufat zu gehen und nach ihr zu fragen.

Der gemeinschaftliche Brunnen war ein großer, mäßig tiefer Brunnen. Zu beiden Seiten der Mauer lagen die Randsteine in breitem Halbkreise vor. Das Wasser stand in einer Tiefe von drei bis vier Metern. Dieses stille Wasser widerspiegelte die beiden Öffnungen des Brunnens, zwei Halbmonde, die der Schatten der Mauer wie ein schwarzer Strich trennte. Neigte man sich über den Brunnen, so hätte man glauben mögen, in dem unbestimmten Tageslichte zwei Spiegel von seltsamer Klarheit und eigenartigem Glänze zu sehen. An sonnenhellen Tagen, wenn nicht die von den Strängen herabfallenden Tropfen die Oberfläche des Wassers trübten, hoben diese Spiegel des Himmels sich weiß und schimmernd von dem grünen Wasser ab, mit einer Seltsamen Genauigkeit die Blätter der Efeustaude abzeichnend, die oberhalb des Brunnens aus der Mauer hervorgebrochen war. Als eines Morgens Silvère die Tante Dide mit Wasser versorgte und sich ein wenig hinabbückte, um den Strick zu ergreifen, bebte er zusammen und blieb unbeweglich in seiner gebeugten Haltung stehen. Er hatte auf dem Wasserspiegel des Brunnens das Haupt eines Mädchens zu erkennen geglaubt, das ihn lächelnd betrachtete; aber schon hatte er den Brunnenstrang geschüttelt und das hierdurch in Bewegung gebrachte Wasser bot nur mehr einen trüben Spiegel, in dem sich nichts mehr klar abzeichnete. Er wartete, bis das Wasser wieder ruhig würde; regungslos, mit stürmisch pochendem Herzen stand er da. In dem Maße, wie die Ringe des Wassers sich erweiterten und verloren, sah er auch das Bild wieder auf der Fläche erscheinen. Es schwankte lange in der Wellenbewegung des Wassers, die den Zügen des Kindes einen seltsam gespenstischen Reiz verliehen. Endlich zeichnete es sich fest und ruhig ab. Es war das lächelnde Gesicht Miettens mit ihrer Büste, ihrem bunten Tuche, ihrem weißen Mieder, ihren blauen Achselbändern. Jetzt bemerkte Silvère auch sein eigenes Bild in dem anderen Spiegel. Da jetzt beide wußten, daß sie sich sahen, grüßten sie sich mit Kopfnicken. Im ersten Augenblicke dachten sie nicht daran, einander anzusprechen. Doch nach einer Weile sagte das Mädchen:

Guten Tag, Silvère!

Guten Tag, Miette!

Der sonderbare Klang ihrer Stimme setzte sie in Erstaunen. Diese Stimmen klangen in dem feuchten Loche seltsam dumpf und weich. Es schien ihnen, als kämen diese Stimmen aus weiter Ferne, mit dem leichten, singenden Tonfall der Stimmen, die man des Abends auf freiem Felde hört. Sie begriffen, daß sie nur ganz leise zu sprechen brauchten, um einander zu hören. Der Brunnen gab den leisesten Hauch wieder. Über den Randstein gebeugt und ihre Bilder im Brunnen betrachtend, begannen sie zu plaudern. Miette erzählte, wieviel Kummer sie seit acht Tagen gehabt habe. Sie arbeite jetzt am andern Ende des Jas und könne nur am frühen Morgen abkommen. Bei diesen Worten machte sie ein verdrossenes Mäulchen, das Silvère genau sehen konnte und mit einem gereizten Kopfschütteln beantwortete. Sie machten sich gegenseitig ihre Bekenntnisse, als ob sie einander gegenüber stünden, mit den Gebärden und Gesichtsausdrücken, die die gesprochenen Worte eben erheischten. Die Mauer, die sie trennte, kümmerte sie wenig, da sie sich jetzt in dieser verschwiegenen Tiefe sehen konnten.

Ich wußte, fuhr Miette mit pfiffiger Miene fort, daß du jeden Morgen zur nämlichen Stunde Wasser schöpfest. Ich höre von unserer Wohnung aus die Brunnenstange kreischen. Da ersann ich einen Vor wand: ich behauptete, daß das Wasser dieses Brunnens dem Wachstum der Gemüse zuträglicher sei. Ich dachte mir, ich würde jeden Morgen zur selben Stunde wie du hier Wasser schöpfen und dir so guten Morgen sagen können, ohne einen Verdacht zu erwecken.

Sie lachte vergnügt, wie um sich für ihre List zu belohnen und fügte hinzu:

Aber ich konnte nicht denken, daß wir uns im Wasser sehen würden.

In der Tat entzückte sie diese unverhoffte Freude. Sie sprachen nur, um die Bewegung ihrer Lippen zu sehen, so sehr ergötzte dieses neue Spiel ihren kindlichen Sinn. So versprachen sie einander in allen Tonarten, daß sie bei diesem Stelldichein am frühen Morgen niemals fehlen würden. Als Miette erklärt hatte, daß sie nunmehr gehen müsse, sagte sie zu Silvère, daß er jetzt seinen Wassereimer in die Höhe ziehen könne. Allein Silvère wagte nicht, den Strick zu berühren; Miette stand noch immer über den Brunnenkranz gebeugt; er sah ihr lächelndes Antlitz und konnte es nicht über sich bringen, dieses Lächeln zu zerstören. Als er den Eimer leise in Bewegung brachte, geriet auch das Wasser in zitternde Bewegung und Miettens Lächeln verblaßte. Von einer seltsamen Angst ergriffen hielt er inne; er bildete sich ein, daß er sie gekränkt habe und daß sie nun weine. Doch das Kind rief ihm zu: »Geh, geh doch!« mit einem Lachen, das der Widerhall noch länger und heller in seine Ohren dringen ließ. Da ließ sie selbst geräuschvoll einen Eimer hinab. Es gab ein wahres Gewitter im Brunnen; alles verschwand unter dem dunklen Wasser. Jetzt erst entschloß sich Silvère, seine beiden Krüge zu füllen, wobei er den Schritten Miettens lauschte, die jenseits der Mauer sich entfernte.

Seit jenem Tage unterließen es die beiden Kinder nicht ein einziges Mal, bei dem Stelldichein zu erscheinen. Das stille Wasser, diese weißen Spiegel, wo sie ihr Bild betrachteten, verliehen ihren Zusammenkünften einen unendlichen Reiz, der ihrer tändelnden, kindlichen Einbildungskraft lange Zeit genügte. Sie hatten kein Verlangen, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen; es schien ihnen viel ergötzlicher, einen Brunnen zum Spiegel zu wählen und ihren Morgengruß seinem Echo anzuvertrauen. Bald kannten sie den Brunnen wie einen alten Freund. Es war ihnen eine Freude, sich über die schwere, unbewegliche Fläche zu beugen, die flüssigem Silber glich. Im Brunnen unten sahen sie in dem geheimnisvollen Zwielichte grüne Lichter tanzen, die die feuchte Höhle in einen versteckten Winkel in der Tiefe eines Waldes zu verwandeln schienen. So sahen sie sich denn gewissermaßen in einem grünen, moosbelegten Neste inmitten von kühlem Wasser und schattigem Laub. Die ganze Fremdartigkeit dieser tiefen Quelle, dieses hohlen Turmes, über den sie – von einer seltsamen Macht angezogen – sich fröstelnd neigten, mengte in ihre Freude, sich zulächeln zu dürfen, eine uneingestandene und köstliche Angst. Es kam ihnen der tolle Einfall, sich auf die großen Steine zu setzen, die einige Zentimeter über dem Wasserspiegel eine Art Rundbank bildeten; da wollten sie ihre Füße ins Wasser stecken, stundenlang plaudern, ohne daß es jemandem einfiele, sie da zu suchen. Als sie sich fragten, was es da unten wohl geben möge, kehrte ihre unbestimmte Angst wieder und sie dachten, es sei schon genug, daß sie ihr Bild in die Tiefe sandten, in jene grünen Lichter, die die Steine so seltsam streiften, und in jene eigentümlichen Geräusche, die aus den dunkeln Winkeln aufstiegen. Besonders diese aus dem Unsichtbaren kommenden Geräusche beunruhigten sie; oft schien es ihnen, als würden auf ihre Stimmen andere Stimmen antworten; dann schwiegen sie und vernahmen tausend leise Klagen, die sie sich nicht erklären konnten; es war das dumpfe Walten der Feuchtigkeit, Seufzer der Lüfte, Wassertropfen, die auf die Steine glitten und deren Fall den tiefen Klang eines Schluchzens erzeugte. Um sich zu beruhigen, nickten sie einander freundlich mit dem Kopfe zu. Der Reiz, der sie so, auf die Randsteine gelehnt, festhielt, hatte denn auch seinen geheimen Schauder. Nichtsdestoweniger blieb der Brunnen ihr alter Freund. Er war ein so trefflicher Vorwand für ihre Begegnungen! Justin, der jedem Schritte Miettens nachspähte, fand niemals etwas Verdächtiges in der Hast, mit der das Mädchen am Morgen zum Brunnen eilte, um Wasser zu holen. Manchmal sah er aus der Ferne, wie sie sich überneigte und so verharrte, Oh, die Müßiggängerin! brummte er dann; sie vertreibt sich die Zeit damit, Ringe im Wasser zu machen! Wie hätte er vermuten können, daß jenseits der Mauer ein Freund war, der im Wasser das Lächeln des jungen Mädchens betrachtete und ihr sagte: Wenn dieser rohe Esel Justin dich schlecht behandelt, mußt du es nur mir sagen; dann soll er von mir hören!

Länger als einen Monat währte dieses Spiel. Man war im Juli. Schon am Morgen tauchte die Sonne die Landschaft in ein weißes Glühlicht, und es war eine Wonne, sich in diesen feuchten Winkel zu flüchten. Es tat wohl, den eisigen Hauch des Brunnens im Gesichte zu fühlen, sich im Wasser dieser Quelle zu lieben zu einer Stunde, da der Brand des Himmels sich entzündete. Miette kam über die Stoppelfelder atemlos dahergelaufen; im Laufe flatterten die Härchen an ihrer Stirne und ihren Schläfen; sie nahm sich kaum Zeit, ihren Krug niederzustellen, hochgerötet, mit losem Haupthaar, vom Lachen geschüttelt neigte sie sich über. Und Silvère, der fast immer zuerst zur Stelle war, hatte – wenn er sie mit ihrer heiteren und tollen Eile im Wasser erscheinen sah – das lebhafte Gefühl, das er empfunden haben würde, wenn sie sich plötzlich an einer Krümmung des Weges in seine Arme geworfen hätte. Rings um sie her sangen und klangen die Freuden des strahlenden Morgens; eine Flut glühenden Lichtes, vom hellen Summen der Käfer erfüllt, ergoß sich über die alte Mauer, die Pfeiler und die Randsteine. Doch sie sahen nicht mehr den Morgensonnenschein; sie hörten nicht die tausend Geräusche, die vom Erdboden aufstiegen. Sie waren in der Tiefe ihres grünen Verstecks, unter der Erde, in dem geheimnisvoll schaurigen Loche, wo sie sich dabei vergaßen, in fröstelnder Wonne sich der Kühle und des Zwielichtes zu freuen.

Miette, deren Temperament eine lange Betrachtung nicht ertrug, wurde manchmal mutwillig; sie schüttelte den Strick und ließ Wassertropfen hinabfallen, die auf den klaren Spiegeln Falten hervorriefen und die Bilder entstellten. Silvère bat sie dann, ruhig zu bleiben. Er, dessen Freundschaft mehr innerlich war, kannte kein lebhafteres Vergnügen, als das Antlitz seiner Freundin zu betrachten, das in der ganzen. Reinheit seiner Züge sich widerspiegelte. Aber sie hörte ihn nicht; sie trieb ihre Scherze weiter, sprach mit lauter Stimme, die das Echo im Brunnen mit einem seltsam rauhen Beiklang wiedergab.

Nein, nein, brummte sie; heute liebe ich dich nicht; heute will ich das Gesicht verziehen; schau, wie häßlich ich bin!

Und sie ergötzte sich an den seltsamen Formen, die ihre übermäßig breiten, auf dem Wasser tanzenden Gesichter annahmen.

Eines Morgens ward sie ernstlich böse. Sie fand Silvère nicht beim Stelldichein und wartete auf ihn fast eine Viertelstunde, während der sie wiederholt vergebens die Brunnenstange kreischen ließ. Schon war sie im Begriff, in verdrossener Stimmung sich zu entfernen, als er endlich ankam. Kaum hatte sie ihn erblickt, als sie in dem Brunnen ein wahres Ungewitter entfesselte; mit zorniger Hand schüttelte sie den Eimer; das schwärzliche Wasser schlug mit dumpfem Klatschen an die Steine. Vergebens erklärte ihr Silvère, daß Tante Dide ihn zurückgehalten habe. Auf alle seine Entschuldigungen erwiderte sie:

Du hast mich gekränkt; ich will dich nicht sehen.

Vergebens spähte der arme Junge in das dunkle Loch, wo es jetzt so stürmisch herging und wo an anderen Tagen das helle Gesicht seiner Freundin ihn auf dem Wasserspiegel erwartete. Er mußte gehen, ohne Miette zu sehen. Am folgenden Morgen war er vor der Stunde des Stelldicheins am Platze und schaute trübselig in den Brunnen; es war still, er hörte nichts und sagte sich, daß das schlimme Köpfchen vielleicht nicht erscheinen werde, als das Kind, das jenseits der Mauer auf sein Kommen gelauscht hatte, sich plötzlich überneigte und hell auflachte. Alles war vergessen.

So gab es zwischen ihnen Ernst und Scherz, wobei der Brunnen Mitschuldiger war. Diese glückselige Höhle mit ihren weißen Spiegeln und ihrem wohlklingenden Echo förderte ganz eigentümlich ihre Zuneigung. Sie verliehen dem Brunnen ein eigenartiges Leben, sie erfüllten ihn dermaßen mit ihrer jungen Liebe, daß noch lange nachher, als sie nicht mehr hierherkamen, um sich auf die Randsteine zu lehnen, Silvere jeden Morgen beim Wasserschöpfen Miettens lachendes Gesicht in dem Zwielichte zu sehen glaubte, in dem die Freuden, die sie hier genossen, noch nachzuzittern schienen.

Dieser in froher Zärtlichkeit dahingehende Monat rettete Miette aus ihrer stummen Verzweiflung. Sie fühlte die liebevollen Regungen, die glückliche Sorglosigkeit des Kindes wieder erwachen, die die bittere Einsamkeit in ihr unterdrückt hatte. Die Gewißheit, daß sie von jemandem geliebt, daß sie nicht mehr allein in der Welt sei, machten ihr die Verfolgungen Justins und der Gassenjungen der Vorstadt erträglich. Es war jetzt in ihrem Herzen ein Singen, das das Gejohle übertönte. Mit zärtlichem Mitleide gedachte sie ihres Vaters; sie überließ sich nicht mehr so häufig ihren Träumen von unversöhnlicher Rache. Ihre erwachende Liebe war wie ein kühler Morgen, in dem sich ihre bösen Fieberanfälle milderten. Zugleich hatte sie einen schlauen Einfall, wie ihn nur ein verliebtes Mädchen haben kann. Sie sagte sich, daß sie ihre stumme und trotzige Haltung bewahren müsse, wenn sie wolle, daß Justin keinen Argwohn fasse. Allein, wenn dieser Bursche sie jetzt kränkte, behielt sie trotz aller Anstrengungen den sanften Ausdruck ihrer Augen; sie fand nicht mehr den finstern und harten Blick von ehemals. Er hörte sie auch manchmal am Morgen beim Frühstück ein Liedchen summen.

Ei, bist du aber aufgeräumt, Chantegreil! sagte er mißtrauisch und beobachtete sie mit seiner scheelen Miene. Ich wette, du hast irgendeinen schlimmen Streich verübt.

Sie zuckte mit den Schultern, aber schrak innerlich zusammen und entschloß sich dann schnell, die Rolle einer empörten Märtyrerin zu spielen. Obgleich er übrigens die geheimen Freuden seines Opfers witterte, mußte Justin lange forschen, bis er erfuhr, in welcher Weise sie ihm entkommen war.

Silvère genoß seinerseits ein inniges Glück. Seine täglichen Zusammenkünfte mit Miette genügten, um die leeren Stunden auszufüllen, die er in der Behausung verbrachte. Sein einsames Leben, sein langes, stillschweigendes Alleinsein mit Tante Dide: sie dienten ihm dazu, daß er eine um die andere die Erinnerungen vom Morgen neu durchlebte, sie in allen Einzelheiten nochmals genoß. Er hatten seither eine Fülle von Empfindungen, die ihn noch mehr in dem klösterlichen Leben festhielt, das er sich neben seiner Großmutter eingerichtet hatte. Er liebte die versteckten Winkel, die Einsamkeiten, wo er ungestört mit seinen Gedanken leben konnte. Zu jener Zeit hatte er sich gierig in das Lesen all der zerfetzten Bücher versenkt, die er bei den Vorstadttrödlern fand und die ihn zu einer seltsamen Ansicht über die gesellschaftlichen Einrichtungen führten. Die schlecht verdaute Belehrung, der es an einer festen Grundlage fehlte, weckte in ihm über die Welt und besonders über die Frauen Regungen der Eitelkeit und der glühenden Wollust, die seinen Geist seltsam hätten verwirren müssen, wenn sein Herz ungestillt geblieben wäre. Da kam Miette, und er nahm sie anfänglich als Gespielin, später als die Freude und den Ehrgeiz seines Lebens. Wenn er am Abend in dem Gelaß, wo er schlief, die Lampe am Kopfende seiner Lagerstätte aufgehängt hatte, fand er Miettens Bild wieder auf jeder Seite des verstaubten Buches, das er auf Geratewohl von dem Brette, das über seinem Haupte angebracht war, herabgelangt hatte, und das er mit Inbrunst las. Wenn in seinen Büchern von einem Mädchen, von einem guten und schönen Geschöpfe die Rede war, setzte er sein Lieb an dessen Stelle. Dann brachte er sich selbst auf die Szene. Las er eine romantische Geschichte, so heiratete er zum Schluß Miette, oder starb vereint mit ihr. Las er hingegen ein politisches Spottgedicht oder eine ernste Abhandlung über Sozialökonomie – und er zog diese Bücher den Romanen vor infolge der seltsamen Vorliebe der Halbgebildeten für die schwierige Lektüre – fand er auch die Möglichkeit, sie mit den tödlich langweiligen Dingen, die er selbst kaum verstand, in Verbindung zu bringen. Er glaubte so die Art und Weise zu lernen, wie er gut und liebevoll zu ihr sein müsse, wenn sie einmal Mann und Weib wären. So mengte er sie in seine Träumereien. Durch diese reine Liebe gefeit gegen die unflätigen Darstellungen gewisser Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert, die ihm in die Hände kamen, gefiel er sich hauptsächlich darin, sich mit ihr in jene menschenfreundlichen Träume zu versenken, die manche große Geister unserer Tage, für den Wahn des allgemeinen Glückes schwärmend, geträumt haben. In seinen Vorstellungen war Miette notwendig zur Abschaffung der allgemeinen Verarmung und zum endgültigen Siege der Revolution. Die Nächte vergingen mit fieberhaftem Lesen, während dessen sein angespannter Geist sich von dem Bande nicht losmachen konnte, den er zwanzigmal weglegte und wieder an sich nahm; es waren Nächte voll wollüstiger Aufregung, die er bis zum dämmernden Morgen genoß wie einen verbotenen Rausch, körperlich eingeschlossen zwischen den Mauern dieses engen Kämmerchens, der Blick getrübt durch die gelbe, schwache Flamme der Lampe, sich freudig dem Unbehagen der Schlaflosigkeit aussetzend, Entwürfe einer neuen Gesellschaftsordnung schmiedend, die unsinnig waren in ihrer Großmut – Entwürfe, in denen das Weib immer mit den Zügen Miettens von allen Nationen auf den Knien angebetet wurde. Durch gewisse ererbte Einflüsse war er vorzugsweise veranlagt zu solchen Schwärmereien, die nervösen Störungen seiner Großmutter wurden bei ihm zu steter Begeisterung für alles Großartige und Unmögliche. Seine einsame Kindheit, seine Halbbildung hatten die Neigungen seiner Natur seltsam entwickelt. Aber er war noch nicht in dem Alter, wo die fixe Idee ihren Nagel in das Gehirn eines Menschen treibt. Wenn er am Morgen seinen Kopf mit einem Kübel Wasser abgekühlt hatte, erinnerte er sich nur mehr verworren der Gespenster seiner schlaflosen Nacht und bewahrte von diesen Träumen nur eine gewisse Scheu voll einfachen Glaubens und unaussprechlicher Liebe. Er ward wieder zum Kinde und lief zum Brunnen mit dem einzigen Verlangen, das Lächeln seines Schatzes wiederzufinden, die Freuden des strahlenden Morgens wieder zu genießen. Und wenn im Laufe des Tages Gedanken an die Zukunft ihn träumerisch machten oder plötzliche Regungen ihm dazu drängten, küßte er die Tante Dide auf beide Wangen, die ihm dann in die Augen blickte mit einer gewissen Unruhe darüber, daß sie diese so hell und so tief sah in einer Freude, die sie zu erkennen glaubte.

Indes begannen Silvère und Miette es müde zu werden, sich bloß in ihrem Schatten zu sehen. Ihr Spielzeug war abgenützt; sie träumten von lebendigeren Freuden, als der Brunnen ihnen zu bieten vermochte. In diesem Bedürfnis nach Wirklichkeit, das sie ergriff, hätten sie einander von Angesicht zu Angesicht sehen, in den Feldern herumlaufen, von da atemlos heimkehren mögen, einander fest umschlingend, damit sie ihre Freundschaft besser fühlten. Silvère sprach eines Morgens davon, daß er ganz einfach über die Mauer steigen und mit Miette im Jas-Meiffren lustwandeln werde. Allein das Kind bat ihn, diese Torheit nicht zu begehen, die sie dem Hasse Justins ausliefern werde. Er versprach ihr, ein anderes Mittel zu ersinnen.

Die Mauer, in die der Brunnen eingefügt war, machte einige Schritte vom Brunnen entfernt eine plötzliche Biegung; dadurch entstand eine Art Vertiefung, wo die Liebenden vor allen Blicken geschützt gewesen wären, wenn sie sich dahin hätten flüchten können. Es handelte sich nur darum, bis zu dieser Vertiefung zu gelangen. Silvère durfte nicht mehr daran denken, über die Mauer zu steigen, da diese Absicht Miette so sehr erschreckt hatte. Er nährte im stillen einen andern Plan. Das Pförtchen, das Macquart und Adelaide einst zur Nachtzeit durchgebrochen hatten, war in diesem entlegenen Winkel des großen Nachbargrundes vergessen geblieben. Man hatte gar nicht daran gedacht, es zu vermauern; schwarz von der Nässe, grün vom Moose, Schloß und Angeln vom Roste zerfressen, bildete das Türchen gleichsam einen Teil der alten Mauer. Der Schlüssel war ohne Zweifel verloren gegangen. Das Gras und Unkraut, das vor den Brettern des Pförtchens üppig wucherte, bewies, daß seit langen Jahren kein Mensch seinen Fuß hierher gesetzt hatte. Diesen in Verlust geratenen Schlüssel hoffte Silvère wiederzufinden. Er wußte, mit welcher Gleichgültigkeit Tante Dide die Überreste der Vergangenheit an ihrem Platze verwittern ließ. Indes durchsuchte er das Haus acht Tage lang ohne Erfolg. Jede Nacht schlich er auf den Fußzehen hinaus, um zu sehen, ob er endlich den richtigen Schlüssel erwischt habe. So versuchte er an die dreißig, die ohne Zweifel von dem früheren Krautgarten der Familie Foucque herstammten, und die er überall zusammengesucht hatte: an den Wänden, auf den Brettern, in den Schubfächern. Schon begann er zu verzweifeln, als er endlich den glückseligen Schlüssel entdeckte. Er war einfach mittelst einer Schnur an den Haustorschlüssel geknüpft, der immer im Schlosse steckte. Hier hing der Schlüssel seit nahezu vierzig Jahren. Jeden Tag hatte Tante Dide ihn mit der Hand berühren müssen, ohne sich jemals zu entschließen, ihn verschwinden zu lassen, obgleich er ihr zu nichts mehr nütze war und nur die schmerzliche Erinnerung an längst erstorbene Freuden in ihr wachrief. Als Silvère sich versichert hatte, daß dieser Schlüssel das Pförtchen öffnete, harrte er des kommenden Tages, indem er an die Freuden der Überraschung dachte, die er Mietten zu bereiten gedachte. Er hatte nämlich seine Nachforschungen vor ihr geheim gehalten.

Als er am folgenden Tage das Mädchen seinen Krug niederstellen hörte, öffnete er sachte das Pförtchen, dessen Schwellen er von Unkraut und Erde gereinigt hatte. Als er den Kopf hindurch steckte, sah er Miette, wie sie über den Brunnenkranz geneigt in den Brunnen schaute, ganz in Erwartung versunken. In zwei Schritten erreichte er die Vertiefung, die die Mauer da bildete und rief: Miette! Miette! mit einer leisen Stimme, die das Mädchen erbeben machte. Sie blickte in die Höhe, weil sie glaubte, er sitze auf der Mauer. Als sie ihn im Jas-Meiffren sah, wenige Schritte von ihr entfernt, schrie sie erstaunt auf und eilte zu ihm. Sie faßten sich bei den Händen und betrachteten einander, entzückt darüber, daß sie so nahe beisammen waren, und fanden sich im warmen Sonnenlichte noch schöner. Es war am 15. August zu Maria Himmelfahrt; in der Ferne läuteten die Glocken durch jene klare Luft der großen Festtage, durch die ein Zug goldener Heiterkeit zu wehen scheint.

Guten Tag, Silvre!

Guten Tag, Miette!

Die Stimme, mit der sie ihren Morgengruß austauschten, setzte sie in Erstaunen. Sie kannten den Klang ihrer Stimmen nur verschleiert durch das Echo des Brunnens. Sie schien ihnen hell wie der Sang der Lerche. Wie lieblich war es in diesem warmen Versteck, in dieser festtäglichen Luft! Sie hielten sich noch immer bei den Händen, Silvère mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, Miette ein wenig zurückgeneigt. Ihr Lächeln rief gleichsam Helle und eine heitere Stimmung zwischen ihnen hervor. Sie waren im Begriff, sich all die guten Dinge zu sagen, die sie dem dumpfen Widerhall des Brunnens nicht hatten anvertrauen wollen, als Silvère, auf ein leises Geräusch den Kopf wendend erbleichte und die Hände Miettens losließ. Er hatte Tante Dide bemerkt, die hoch aufgerichtet auf der Schwelle des Pförtchens stand.

Die Großmutter war zufällig zum Brunnen gekommen. Als sie in der alten, schwarzen Mauer die weiße Öffnung der Türe erblickte, die Silvere weit offen gelassen hatte, fühlte sie sich im innersten Herzen getroffen. Diese weiße Öffnung schien ihr ein Abgrund von Licht, mit roher Hand in ihrer Vergangenheit aufgetan. Sie sah sich wieder in der Morgenhelle, wie sie herbeilief und über diese Schwelle schritt mit dem ganzen Ungestüm ihrer nervösen Liebesleidenschaft. Und Macquart war zur Stelle und erwartete sie. Sie hängte sich an seinen Hals, blieb an seiner Brust, während die aufgehende Sonne, die mit ihr zugleich bei dem Pförtchen eingedrungen war, das sie zu schließen vergessen hatte, beide in das Licht ihrer schrägen Strahlen tauchte. Es war ein plötzliches Gesicht, das sie grausam aus dem Schlafe ihres Alters aufstörte wie ein letztes Strafgericht, indem es in ihr den brennenden Stachel der Erinnerung weckte. Niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß diese Türe sich noch öffnen könne. Macquarts Tod hatte für sie diese Türe für immer vermauert. Wäre der Brunnen samt der ganzen Mauer in die Erde versunken, ihr Erstaunen hätte nicht größer sein können. In ihre Verwunderung mengte sich plötzlich eine gewisse Empörung gegen die heiligtumschänderische Hand, die, nachdem sie diese Schwelle entehrt, diese helle Öffnung wie ein offenes Grab hinter sich gelassen hatte. Wie durch einen Zauber angezogen, kam sie näher. Unbeweglich stand sie im Rahmen der kleinen Pforte.

Hier blickte sie mit schmerzlicher Überraschung um sich. Wohl hatte man ihr gesagt, daß der Garten der Fouque mit dem Jas-Meiffren vereinigt worden sei; aber niemals hätte sie geglaubt, daß ihre Jugend bis zu diesem Grade erstorben sei. Ihr war, als habe ein Sturmwind alles hinweggefegt, was ihrer Erinnerung teuer geblieben war. Das alte Haus, der große Gemüsegarten mit seinen grünen Beeten war verschwunden. Kein Stein, kein Baum von ehemals war mehr da. Und an der Stelle des Fleckens Erde, wo sie herangewachsen war und den sie gestern noch zu sehen glaubte, wenn sie die Augen schloß, dehnte sich jetzt ein Stück kahlen Bodens aus, ein trostloses Stoppelfeld, das einer Wüste glich. Wenn sie jetzt mit geschlossenen Augen die Dinge der Vergangenheit sich in die Erinnerung rufen wollte, würde immer wieder dieses Stoppelfeld ihr erscheinen gleich einem Laken von grober, gelblicher Leinwand, das man über die Erde geworfen, wo ihre Jugend begraben war. Angesichts dieses alltäglichen, gleichgültigen Anblickes glaubte sie, daß ihr Herz ein zweites Mal sterbe. Jetzt war alles aus; man nahm ihr selbst die Träume ihrer Erinnerungen. Sie bereute, dem Zauberbanne dieser hellen Öffnung nachgegeben zu haben, dieser Türe, die sich auf die für immer entschwundenen Tage öffnete.

Eben war sie im Begriff, sich zurückzuziehen, die verdammte Türe zu schließen, ohne nach der Hand zu forschen, die sie gewaltsam geöffnet hatte, als sie Miette und Silvère erblickte. Der Anblick der beiden verliebten Kinder, die verwirrt, mit niedergeschlagenen Augen ihres Blickes harrten, hielt sie auf der Schwelle fest, die Beute eines noch lebhafteren Schmerzes. Sie begriff jetzt. Sie sollte sich vollends wiederfinden, sich und Macquart, Arm in Arm in der Helle des jungen Tages. Zum zweiten Male ward das Pförtchen zum Mitschuldigen. Wo die Liebe hindurch geschritten, da schritt sie abermals hindurch. Es war der ewige Wiederbeginn mit seinen gegenwärtigen Freuden und seinen künftigen Tränen. Tante Dide sah nur die Tränen und hatte gleichsam ein plötzliches Vorgefühl, das ihr die beiden Kinder blutend, ins Herz getroffen zeigte. Erschüttert durch die Erinnerung an die Leiden ihres Lebens, die dieser Ort in ihr wachgerufen hatte, beweinte sie ihren teuren Silvère. Sie allein war strafbar; hätte sie einst nicht die Mauer durchbrochen, so wäre Silvère nicht in diesem verlorenen Winkel, vor einem Mädchen kniend und sich an einem Glücke berauschend, das den Tod reizt und neidisch macht.

Nachdem die Alte eine Weile stillschweigend dagestanden, trat sie näher und faßte, ohne ein Wort zu sprechen, den jungen Mann bei der Hand. Vielleicht hätte sie die Kinder hier am Fuße der Mauer plaudern lassen, wenn sie sich nicht mitschuldig an diesen tödlichen Freuden gefühlt hätte. Als sie mit Silvère den Rückweg ins Haus antrat, wandte sie sich um, weil sie den leichten Schritt Miettens hörte, die sich beeilt hatte, ihren Krug zu nehmen und quer über das Stoppelfeld zu fliehen. Sie rannte wie toll, glücklich darüber, so leichten Kaufes davon zu kommen. Tante Dide lächelte unwillkürlich, als sie das Mädchen wie eine flüchtige Ziege über das Feld laufen sah.

Sie ist noch jung, flüsterte sie; sie hat noch Zeit.

Sie wollte ohne Zweifel sagen, daß Miette noch Zeit habe zu leiden und zu weinen. Indem sie wieder auf Silvère blickte, der mit Entzücken dem Laufe des Kindes im hellen Sonnenlichte folgte, fuhr sie einfach fort:

Nimm dich in acht, mein Junge; man stirbt daran.

Dies waren die einzigen Worte, die sie bei diesem Vorfall sprach, der alle in ihrem Innersten schlummernden Leiden aufwühlte. Das Stillschweigen war ihr zum Gesetz geworden. Als Silvère wieder ins Haus getreten war, verschloß sie das Pförtchen doppelt und warf den Schlüssel in den Brunnen. So war sie dessen sicher, daß die kleine Türe sie nicht wieder zur Mitschuldigen machen werde. Sie kehrte einen Augenblick zu dem Pförtchen zurück und war glücklich, es wieder in seiner früheren Düsterheit und Unbeweglichkeit zu sehen. Das Grab war wieder geschlossen; die helle Öffnung war für immer verstopft durch diese wenigen Bretter, die schwarz waren von der Feuchtigkeit, grün vom Moose, und auf die die Schnecken ihre silbernen Tränen ausgestreut hatten.

Am Abend bekam Tante Dide einen jener Nervenanfälle, die sie noch von Zeit zu Zeit heimsuchten. Während dieser Anfälle sprach sie oft mit lauter Stimme, ohne Zusammenhang, wie unter dem Alpdrücken. Silvère, der von tiefem Mitleid ergriffen für diesen armen, in Krämpfen sich windenden Körper, die Alte auf ihrem Lager festhielt, hörte sie diesen Abend von Zollwächtern, von Schüssen, von Mord reden. Und sie wand und krümmte sich, flehte um Gnade und sprach von Rache. Als die Krise ihrem Ende nahte, hatte sie – wie immer – einen seltsamen Schrecken, ein Frösteln des Entsetzens, daß ihre Zähne klapperten. Sie richtete sich halb auf, blickte mit einer wirren Verwunderung nach allen Winkeln der Stube, dann sank sie unter schweren Seufzern wieder auf ihre Kissen zurück. Ohne Zweifel war sie die Beute von Wahnvorstellungen. Sie zog Silvère an ihre Brust; es schien, als beginne sie ihn zu erkennen, obgleich sie ihn von Zeit zu Zeit mit einer anderen Person verwechselte.

Da sind sie! stammelte sie. Sie werden dich fassen... sie werden dich auch noch töten... Ich will nicht... Schicke sie weg... sage ihnen, daß ich nicht will... daß sie mir wehe tun, wenn sie mich so anstarren ...

Und sie wandte sich zur Mauer, um die Leute nicht zu sehen, von denen sie sprach. Nach einer Weile fragte sie ihn:

Bist du da, mein Kind? Du darfst mich nicht verlassen ... Ich glaubte vorhin, ich würde sterben... Wir taten unrecht, als wir die kleine Tür durchbrachen. Seit jenem Tage habe ich gelitten. Ich wußte wohl, daß jene Tür uns noch Unglück bringen werde. Ach, die teueren, unschuldigen Kinder! Man wird auch sie töten... man wird sie niederschießen wie Hunde.

Sie verfiel wieder in ihren Zustand der Bewußtlosigkeit; sie wußte nicht mehr, daß Silvère noch bei ihr sei.

Plötzlich richtete sie sich auf und starrte nach dem Fußende ihres Bettes mit einem schrecklichen Ausdrucke der Furcht.

Warum hast du sie nicht weggeschickt? schrie sie, ihr weißes Haupt an der Brust des jungen Mannes verbergend. Sie sind noch immer da. Der mit der Flinte macht mir ein Zeichen, daß er schießen werde ...

Bald darauf verfiel sie in einen tiefen Schlaf, wie er nach diesen Krisen sich immer einstellte. Am folgenden Tage schien sie alles vergessen zu haben. Nie wieder sprach sie mit Silvère von dem Morgen, als sie ihn mit seinem Schatz hinter der Mauer gefunden hatte.

Zwei Tage lang sahen die jungen Leute einander nicht. Als Miette zu dem Brunnen zurückzukehren wagte, faßten sie den Vorsatz, den Streich von vorgestern nicht zu wiederholen. Doch hatte ihre so plötzlich unterbrochene Begegnung in ihnen das lebhafte Verlangen erweckt, sich von neuem in einem glücklichen Versteck allein zu treffen. Der Freuden müde, die der Brunnen ihnen bot, und weil er die Tante Dide nicht dadurch betrüben wollte, daß er Miette jenseits der Mauer wiedersah, bat Silvère das Kind, ihm anderwärts ein Stelldichein zu geben. Sie ließ sich nicht lange bitten; sie nahm diesen Vorschlag mit dem zufriedenen Lachen eines Kindes an, das an nichts Schlimmes denkt; sie lachte über den Gedanken, daß sie den Spion Justin zum besten halten werde. Als die Verliebten einig waren, berieten sie lange über die Wahl eines Zusammenkunftsortes. Silvère schlug unmögliche Verstecke vor; er gedachte ordentliche Reisen zu machen, oder das Mädchen zur Mitternachtsstunde in den Scheunen des Jas-Meiffren zu treffen. Miette, die praktischer war, zuckte mit den Achseln und erklärte, sie werde ihrerseits einen Ort suchen. Am folgenden Morgen blieb sie nur eine Minute am Brunnen, so lange wie sie brauchte, um Silvère ein Lächeln zu senden und ihm zu sagen, er möge um zehn Uhr abends sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes einfinden. Man kann sich wohl denken, daß der junge Mensch pünktlich war. Die Wahl Miettens hatte den ganzen Tag seine Gedanken beschäftigt. Seine Neugierde steigerte sich noch, als er auf dem schmalen Pfade dahinschritt, den die Bretterhaufen im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes freiließen. Von dieser Seite wird sie kommen, sagte er sich, nach der gen Nizza führenden Straße blickend. Dann hörte er hinter der Mauer ein lautes Geräusch von knisternden Zweigen, und er sah über der Mauerkrone ein lachendes, struppiges Haupt erscheinen, das ihm fröhlich zurief:

Ich bin's!

Es war in der Tat Miette, die wie ein Knabe einen der Maulbeerbäume erklettert hatte, die heute noch längs der Mauern des Jas stehen. In zwei Sprüngen erreichten sie den Grabstein, der zur Hälfte in den Winkel der Mauer, am Ende des Weges, eingesenkt war. Mit staunendem Entzücken sah Silvère sie herabsteigen und dachte nicht daran, ihr dabei behilflich zu sein. Er faßte sie an beiden Händen und sagte ihr:

Wie flink du bist! Du kletterst besser als ich.

So trafen sie sich zum ersten Male in diesem verlorenen Winkel, wo sie so liebliche Stunden verbringen sollten. Seit jenem Abend trafen sie sich hier fast jede Nacht. Der Brunnen diente ihnen nur mehr dazu, sich gegenseitig von den unvorhergesehenen Hindernissen zu verständigen, die sich ihren Begegnungen entgegenstellten, von Veränderungen in der Stunde, von all den kleinen, in ihren Augen großen Zwischenfällen, die keinen Aufschub duldeten; es genügte, daß, wer dem andern eine Mitteilung zu machen hatte, den Brunnenschwengel in Bewegung setzte, dessen Kreischen weithin hörbar war. Doch obwohl sie an gewissen Tagen sich mehrmals riefen, um sich Kleinigkeiten zu sagen, die in ihren Augen eine ungeheure Wichtigkeit hatten, genossen sie ihre wahren Freuden erst am Abend, auf dem verschwiegenen Wege. Miette war von seltener Pünktlichkeit. Glücklicherweise schlief sie oberhalb der Küche in einer Kammer, in der man, ehe sie ins Haus gekommen, die Wintervorräte aufbewahrte, und zu der eine besondere kleine Stiege hinanführte. So konnte sie zu jeder Stunde das Haus verlassen, ohne von Rébufat oder Justin gesehen zu werden. Für den Fall übrigens, daß letzterer sie einmal bei der Rückkehr überraschen sollte, gedachte sie ihm irgendeine Geschichte aufzubinden und ihn dabei mit jener Härte anzuschauen, die ihn jedesmal zum Verstummen brachte.

Ach, welche glücklichen und milden Abende! Man war damals in den ersten Tagen des September, eines in der Provence sonnenhellen Monates. Die Verliebten konnten erst gegen neun Uhr zusammenkommen. Miette kam über ihre Mauer gestiegen. Sie erlangte bald eine solche Geschicklichkeit in der Überwindung dieses Hindernisses, daß sie fast immer schon auf dem alten Grabsteine stand, noch ehe Silvère ihr die Hand gereicht hatte. Dann lachte sie ihrerseits hell auf, blieb einen Augenblick da stehen, atemlos, mit wirrem Haar, ihren Rock mit der flachen Hand glättend, daß er wieder hübsch in Ordnung komme. Ihr Freund nannte sie dann lachend einen »schlimmen Gassenjungen«. Im Grunde liebte er die kecke Munterkeit des Kindes. Er beobachtete ihren Sprung von der Mauer mit dem Wohlgefallen eines älteren Bruders, der den Übungen eines seiner jüngeren Brüder beiwohnt. Es lag so viel Kindlichkeit in ihrer erwachenden Liebe! Wiederholt faßten sie den Vorsatz, eines Tages am Ufer der Viorne Vogelnester auszuheben.

Du sollst sehen, wie ich auf die Bäume klettere! sagte Miette stolz. Als ich noch in Chavanoz war, erstieg ich die höchsten Nußbäume des Vaters André. Hast du jemals Elstern ausgehoben? Das ist aber schwer!

Dann folgten Auseinandersetzungen über die Art und Weise, wie Pappeln erklommen werden wollen. Miette sagte ihre Ansicht knapp und klar wie ein Junge.

Mittlerweile hatte Silvère sie auf die Erde gesetzt, wobei sein Knie ihr als Schemel diente. Und nun wandelten sie, einander um den Leib fassend, dahin. Und während sie darüber stritten, wie man die Füße setzen und wie man die Hände an den Hüftenansatz legen müsse, schlossen sie sich enger aneinander und fühlten in ihren Umschlingungen ein unbekanntes Glühen, das sie mit einer fremdartigen Wonne erfüllte. Niemals hatte der Brunnen ihnen ein ähnliches Vergnügen verschafft. Sie blieben Kinder, behielten die Spiele und das Geplauder von Gassenjungen und genossen dabei die Freuden von Verliebten, ohne auch nur von Liebe sprechen zu können, bloß dadurch, daß sie sich bei den Fingerspitzen hielten. Von einem instinktiven Bedürfnis ergriffen, suchten sie die Wärme ihrer Hände, ohne zu wissen, wohin ihre Sinne und ihr Herz sie führten. In solcher Stunde glücklicher Kindlichkeit verheimlichten sie einander sogar die seltsame Erregung, die sie bei der geringsten Berührung sich gegenseitig verursachten. Lächelnd, zuweilen erstaunt über das wonnige Gefühl, das sie durchströmte, sobald sie sich berührten, überließen sie sich der Wonne dieser ihnen neuen Empfindungen, während sie fortfuhren, wie zwei Schuljungen von den Elsternestern zu plaudern, die so schwer zu erreichen sind.

So wandelten sie auf dem einsamen Pfade dahin, zwischen den Bretterhaufen und der Mauer des Jas-Meiffren. Niemals überschritten sie das Ende dieses schmalen Sackgäßchens, machten vielmehr jedesmal kehrt, um denselben Weg zurückzugehen. Sie waren hier daheim. Glücklich darüber, sich so wohl verborgen zu wissen, blieb Miette oft stehen und beglückwünschte sich zu ihrer Entdeckung:

Hatte ich nicht eine glückliche Hand! rief sie strahlend. Wir könnten eine Meile weit gehen, ohne ein so gutes Versteck zu finden.

Im dichten Grase erstarb das Geräusch ihrer Schritte. Sie waren in eine Flut von Dunkelheit getaucht, gleichsam zwischen zwei dunkeln Ufern gewiegt und sahen über ihren Köpfen nichts als einen Streifen tiefblauen, mit Sternen übersäten Himmels. In diesen Wogen des Bodens, auf dem sie wandelten, bei dieser Ähnlichkeit des Pfades mit einem Schattenfluß, der unter einem dunkeln und goldschimmernden Himmel sich ergießt, empfanden sie eine unerklärliche Aufregung und senkten die Stimme, obgleich niemand sie hören konnte. Den stillen Fluten der Nacht sich überlassend, mit Körper und Geist dahinschwebend, erzählten sie einander an solchen Abenden die tausend Nichtigkeiten ihres Tages, von Zeit zu Zeit in einem Liebesfrösteln erbebend.

Andere Male wieder an hellen Abenden, wenn der Mond die Linien der Mauer und der Bretterstöße scharf abzeichnete, bewahrten Miette und Silvère ihre kindliche Sorglosigkeit. Von weißen Streifen erhellt, dehnte der Weg sich hin, völlig klar, ohne alles Unheimliche oder Unbekannte. Die beiden Spielgenossen jagten einander, lachten wie Schuljungen in den Ferien und trieben den Übermut manchmal so weit, daß sie die Bretterstöße erklommen. Silvère mußte Miette schrecken, indem er ihr sagte, Justin sei jenseits der Mauer und spähe ihr nach. Dann schritten sie, noch atemlos, ruhig nebeneinander her und faßten den Vorsatz, eines Tages auf den Sainte-Claire-Wiesen herumlaufen, um zu sehen, wer den andern schneller abfangen könne.

Ihre erwachende Liebe wußte sich so den dunkeln Nächten und den hellen Nächten anzubequemen. Ihr Herz war allezeit rege, und ein wenig Schatten genügte, damit ihre Umarmung süßer, ihr Lachen wollüstig-weicher sei. Das liebe Versteck, so heiter im Mondenschein, so seltsam bewegt in dunkeln Nächten, schien ihnen unerschöpflich an Ausbrüchen der Heiterkeit und bebendem Schweigen. So blieben sie da bis Mitternacht, während die Stadt entschlummerte und in der Vorstadt ein Licht nach dem andern erlosch.

Niemals wurden sie in ihrer Einsamkeit gestört. Zu dieser späten Stunde spielten die Straßenjungen nicht mehr Versteckens hinter den Bretterstößen. Wenn zuweilen die jungen Leute ein Geräusch hörten, sei es, daß Arbeiter singend vorüberzogen, oder daß von dem benachbarten Fußsteige Stimmen hereindrangen, wagten sie es, einen Blick auf das Saint-Mittre-Feld zu werfen. Leer, nur von wenigen Schatten bevölkert, dehnte der mit Balken bedeckte Grund sich aus. An warmen Abenden sahen sie die unbestimmten Schatten von Liebespaaren, Greise, die am Wegrande auf Brettern sitzend ausruhten. Wenn die Abende kühler wurden, sahen sie auf dem öden, einsamen Grunde nichts als das Feuer, das wandernde Zigeuner angezündet hatten und vor dem große, dunkle Schatten hin und her schwebten. In der Stille der Nacht drangen verschwommene Töne und Worte an ihr Ohr, der »Gutenachtwunsch« eines Bürgers, der seine Haustüre schloß, das Geräusch eines zuschlagenden Fensterladens, der tiefe Schlag der Uhren, alle die ersterbenden Geräusche einer Provinzstadt, die zur Ruhe geht. Und wenn Plassans eingeschlafen war, vernahmen sie noch das Gezanke der Zigeuner, das Prasseln ihres Lagerfeuers, dazwischen die plötzlich erklingenden Kehllaute der jungen Mädchen, die in einer unbekannten Sprache voll harter Akzente Lieder sangen.

Doch die Liebenden blickten nicht lange hinaus nach dem Saint-Mittre-Feld; sie beeilten sich, in ihr Heim zurückzukehren, und nahmen ihren Spaziergang auf dem stillen, einsamen Wege wieder auf. Sie kümmerten sich wenig um die anderen, um die ganze Stadt. Die wenigen Bretter, die sie von den bösen Leuten trennten, schienen ihnen nachgerade ein unübersteiglicher Wall. Sie waren so einsam und so frei in diesem mitten im Vororte gelegenen Winkel kaum fünfzig Schritte vom römischen Tor, daß sie sich manchmal einbildeten, weit fort zu sein, im Freien, in irgendeiner Senkung des Viornetales. Von allen Geräuschen, die zu ihren Ohren drangen, vernahmen sie eines mit sorgenvoller Empfindung: das der Turmuhren, die in der nächtlichen Stille die Stunden kündeten. Wenn die Stunde schlug, taten sie manchmal als hörten sie nichts; manchmal wieder unterbrachen sie sich plötzlich, wie um zu protestieren. Wenn sie sich auch noch eine Gnadenfrist von zehn Minuten gestatteten, es mußte schließlich doch geschieden sein. Sie hätten bis zum Morgen spielen und plaudern mögen immer mit verschlungenen Armen, um jene seltsame Beklemmung zu fühlen, deren Wonne sie im geheimen mit immer wieder sich erneuernder Überraschung genossen. Endlich entschloß sich dann Miette, ihre Mauer zu erklettern. Damit war es aber noch nicht aus; der Abschied währte wohl noch eine Viertelstunde. Wenn das Kind ein Bein über die Mauer gesetzt hatte, blieb es da, mit den Ellenbogen auf die Kante gestützt, von Ästen des Maulbeerbaumes festgehalten, der ihr als Leiter gedient hatte. Auf dem Grabsteine stehend konnte Silvère sie noch bei den Händen fassen und halblaut mit ihr weiter plaudern. Mehr als zehnmal sagten sie sich: »Auf Wiedersehen bis morgen!« – und hatten sich immer wieder etwas zu sagen. Manchmal sprach Silvère scheltend:

Geh, es ist Mitternacht vorbei.

Aber Miette wollte in mädchenhaftem Eigensinn, daß er zuerst von dem Steine hinabsteigen solle; sie wollte ihn gehen sehen. Weil der junge Mann nicht nachgab, sagte sie plötzlich ohne Zweifel, um ihn zu strafen:

Ich springe hinab, sollst du sehen.

Damit sprang sie von dem Maulbeerbaum zum großen Schrecken Silvères. Er hörte das dumpfe Geräusch ihres Falles; dann lief sie mit lautem Lachen davon, ohne sein letztes Lebewohl zu erwidern. Er blieb noch einige Augenblicke da, bis er ihren Schatten im nächtigen Dunkel verschwinden sah; dann stieg auch er langsam hinab und trat den Rückweg nach dem Saint-Mittre-Gäßchen an.

Zwei Jahre hindurch kamen sie jeden Tag hierher. Zur Zeit ihrer ersten Begegnungen erfreuten sie sich daselbst noch einiger schönen, lauen Nächte. Die Verliebten konnten sich im Mai wähnen, im Monate des fröstelnden Sprießens, wo der kräftige Geruch der Erde und des jungen Laubes die milde Luft erfüllt. Dieser Spätlenz war für sie gleichsam eine Gnade des Himmels, der ihnen so gestattete, auf dem Wege frei herumzulaufen und ihre Freundschaft enger zu knüpfen.

Dann kamen die Regentage und dann die Fröste und Schneefälle. Doch die Unbilden des Winters hielten sie nicht zurück. Miette kam nicht ohne ihren großen braunen Mantel, und die beiden kümmerten sich nicht um die Ungunst des Wetters. War die Nacht trocken und hell, daß ein leiser Wind unter ihren Schritten einen weißen Reif auftrieb und ihre Gesichter wie mit feinen Gerten peitschte, dann hüteten sie sich wohl, sich niederzusetzen. Sie gingen dann mit rascheren Schritten hin und her, eingehüllt in den Mantel, mit blauen Backen und Tränen in den Augen, die die Kälte ihnen erpreßte; und sie lachten und schüttelten sich vor Lust während des schnellen Gehens in eisigkalter Nacht. An einem Abende, da es schneite, vergnügten sie sich damit, eine riesig große Schneekugel zu machen, die sie in eine Ecke wälzten. Hier stand die Kugel einen vollen Monat, worüber sie bei jeder neuen Begegnung erstaunten. Auch der Regen schreckte sie nicht. Sie kamen bei schrecklichen Niederschlägen zusammen, die sie bis auf die Knochen durchnäßten. Silvère eilte zum Stelldichein und sagte sich, Miette werde doch nicht so töricht sein, ebenfalls zu kommen; und wenn sie dennoch kam, fand er kein Scheltwort für sie. Im Grunde erwartete er sie ja doch. Schließlich suchte er ein schützendes Dach gegen die Unbilden des Wetters, weil er begriff, daß sie ausgehen würden, trotzdem sie sich gegenseitig das Versprechen gegeben hatten, keinen Fuß aus dem Hause zu setzen, wenn es regnen würde. Um ein schützendes Dach zu gewinnen, brauchte er bloß in einem Stoß Bretter eine Höhlung zu machen. Er zog einige Holzstücke heraus und tat sie wieder zurück, daß sie beweglich wurden und ohne Mühe entfernt und wieder an ihre Stelle gebracht werden konnten. Seither hatten die Verliebten eine Art niedrigen, geraden Schilderhauses zu ihrer Verfügung, eine viereckige Höhlung, wo sie nur eng zusammengedrängt Platz fanden, auf dem Ende eines Brettes sitzend, das sie im Hintergrunde des Loches gelassen hatten. Wenn es regnete, flüchtete der zuerst Ankommende hierher; und wenn sie dann vereinigt waren, horchten sie mit unsagbarem Vergnügen, wie das Wasser auf dem Bretterhaufen klatschte, und das klang wie ein dumpfer Trommelwirbel. Vor ihnen ringsumher, in der stockfinstern Nacht rauschte ein Wasserstrom, den sie nicht sahen und dessen unablässiges Geräusch dem lauten Getöse einer großen Menge glich. Und sie waren doch ganz allein, so gut wie am Ende der Welt, umgeben von Wassern. Niemals fühlten sie sich glücklicher, so sehr abgesondert von allen anderen, als inmitten dieser Sintflut, in diesem Bretterhaufen, jeden Augenblick in Gefahr, von den Fluten des Himmels weggeschwemmt zu werden. Ihre eingezogenen Knie erreichten fast die Öffnung, und sie zogen sich so viel wie möglich zurück, was nicht hinderte, daß ein feiner Regenstaub ihnen Hände und Gesicht benetzte. Zu ihren Füßen klatschten in gleichmäßigen Zeitabständen schwere Tropfen von den Brettern hernieder. Und es war ihnen recht warm in dem braunen Mantel; sie hockten so eng beisammen, daß Miette zur Hälfte auf den Knien Silvères saß. Sie plauderten; dann wieder schwiegen sie, von einem Gefühl der Ermattung ergriffen, einschlummernd in der Wärme ihrer Umschlingung und dem eintönigen Rauschen des Regens. So blieben sie stundenlang da mit jener Vorliebe für den Regen, die bewirkt, daß kleine Mädchen bei Regenwetter mit dem offenen Schirm in der Hand ernst und langsam dahinschreiten. Schließlich waren ihnen die Regenabende lieber; nur ihre Trennung war dann schwieriger. Miette mußte unter dem niederprasselnden Regen über ihre Mauer klettern und im Jas-Meiffren bei völliger Dunkelheit durch die Pfützen waten. Sobald sie aus seinen Armen sich losgemacht hatte, verlor Silvère sie aus den Augen im nächtlichen Dunkel und im Getöse des Regens. Er horchte dann aufmerksam, geblendet und betäubt. Doch die Angst, in der die plötzliche Trennung beide zurückließ, war ein Reiz mehr; sie fragten sich dann bis zum Morgen, ob ihnen nichts zugestoßen sei bei diesem bösen Wetter, in das man keinen Hund hinausgejagt haben würde; sie waren vielleicht ausgeglitten oder hatten sich verirrt. Es waren dies Besorgnisse, die beide unwiderstehlich beherrschten und ihr nächstes Zusammentreffen nur um so zärtlicher gestalteten.

Endlich kamen die schönen Tage wieder. Im April gab es milde Nächte; auf dem Wege sprießte das Gras üppig hervor. In diesem Lebensstrom, der vom Himmel niederfloß und aus dem Erdreiche aufstieg, inmitten des Rausches des jungen Jahres bedauerten die Liebenden manchmal ihre winterliche Einsamkeit, die Regenabende, die kalten Nächte, während der sie so verloren, so fern waren von allem Geräusch der Menschen. Jetzt ward es nicht schnell genug Abend; sie grollten der langen Dämmerung und wenn die Nacht dunkel genug geworden war, um Miette ohne die Gefahr, gesehen zu werden, das Klettern über die Mauer zu gestatten, wenn es ihnen endlich gelungen war, den teuren, einsamen Pfad zu erreichen, fanden sie daselbst nicht mehr jene Einsamkeit, die in ihrer Scheu verliebter Kinder ihnen so wohltat. Das Saint-Mittre-Feld bevölkerte sich; die Jungen der Vorstadt blieben bis elf Uhr abends da und trieben sich unter munteren Spielen auf den Balken umher; es kam auch vor, daß der eine oder andere sich hinter den Bretterstößen verbarg und dann Silvère und Miette mit der Frechheit eines zehnjährigen Taugenichts zulachte. Die Angst, überrascht zu werden, und das Erwachen des Lebens, das mit fortschreitendem Sommer immer reger und lauter wurde, verleideten ihnen ihre Begegnungen.

Überdies ward ihnen der Weg zu enge. Niemals war er in so heißen Strömungen erbebt; niemals hatte dieser Boden, wo die letzten Gebeine des alten Kirchhofes schlummerten, so sinnverwirrende Ausdünstungen entsandt. Und sie waren noch zu sehr Kinder, um den wollüstigen Reiz dieses im Fieber des Frühlings bebenden, stillen Winkels zu genießen. Das Gras reichte ihnen bis zu den Knien; sie bewegten sich nur mehr schwierig an diesem Orte, und wenn sie junge Triebe zertraten, hauchten gewisse Pflanzen scharfe Düfte aus, die sie betäubten. Von einer seltsamen Ermüdung ergriffen, verwirrt und schwankend, die Beine gleichsam durch die Gräser gebunden, lehnten sie sich dann an die Mauer, die Augen halb geschlossen, keinen Schritt wagend. Es war ihnen, als werde das ganze Schmachten des Himmels in sie eindringen.

Da ihr kindliches Ungestüm schlecht zu diesen plötzlichen Anwandlungen von Schwäche paßte, beschuldigten sie schließlich ihren Schlupfwinkel, daß es ihm an frischer Luft fehle und entschlossen sich, mit ihrer jungen Liebe ins Freie hinauszuwandern. So begannen denn neuerlich jeden Abend ihre Ausflüge. Miette kam mit ihrem Mantel; beide hüllten sich in das weite Kleidungsstück, huschten längs der Mauern fort, erreichten die Heerstraße, die weiten, freien Felder, wo die Luft mächtig dahinströmte gleich den Wogen der hohen See. Hier empfanden sie keine Beklemmung mehr; hier fanden sie ihre Kindheit wieder, fühlten sie den Taumel schwinden, die Betäubung, die das üppige Gras des Saint-Mittre-Feldes ihnen verursacht hatte.

Zwei Jahre hindurch besuchten sie diesen Winkel der Gegend. Jeder Felsenvorsprung, jede Rasenbank kannte sie bald; da war kein Gesträuch, keine Hecke, kein Dickicht, das ihnen nicht befreundet wurde. Hier machten sie ihre Träume zur Wirklichkeit; hier gab es ein tolles Rennen über die Sainte-Claire-Wiesen, Miette konnte tüchtig laufen und Silvère mußte ordentlich ausgreifen, wenn er sie einholen wollte. Sie suchten auch Elsternester; Miette, die durchaus zeigen wollte, wie sie in Chavonoz auf die Bäume geklettert war, band sich die Röcke mit einem Endchen Bindschnur und erklomm die hohen Pappeln. Silvère stand bebend am Fuße des Baumes, mit ausgebreiteten Armen, wie um sie aufzufangen, wenn sie herabgleiten sollte. Diese Spiele beschwichtigten ihre Sinne in dem Maße, daß sie eines Abends sich schier prügelten wie zwei Gassenjungen beim Verlassen der Schule. Doch fanden sich in der weiten Landschaft noch Plätze, die sie nicht kannten. Solange sie wanderten, gab es ein geräuschvolles Lachen, ein Treiben und Drängen und Stoßen; sie gingen meilenweit, manchmal bis zur Garrigues-Hügelkette, schlugen die engsten Pfade ein und schritten wohl auch querfeldein. Ihnen gehörte die ganze Gegend; sie lebten da wie in erobertem Lande, freuten sich der Erde und des Himmels. Mit dem weiten Gewissen der Frauen wollte Miette es sich nicht versagen, manchmal eine Weintraube, einen Zweig grüner Mandeln von den Bäumen abzureißen, deren Äste im Vorübergehen sie trafen. Das verstieß gegen die strengen Grundsätze Silvères; doch wagte er nicht, das Mädchen auszuschelten, weil ihr – allerdings seltenes – Schmollen ihn trostlos machte. »Ach die Schlimme!« rief er dann aus, der Lage ein ernstes Gepräge gebend, »sie wäre imstande, einen Dieb aus mir zu machen.« Darauf schob Miette ihm seinen Teil an der gestohlenen Frucht in den Mund. Die Listen, die er anwandte, um sie von diesem instinktiven Bedürfnisse, von fremdem Gute zu naschen, abzuhalten, indem er seinen Arm um ihren Leib legte, die Obstbäume mied, die Weingärten entlang sich von ihr jagen ließ; diese Listen erschöpften bald seine Erfindungsgabe. Dann nötigte er sie, sich niederzusetzen. Jetzt stellten sich bei ihnen die Beklemmungen wieder ein. Besonders die Erdmulden am Ufer der Viorne mit ihrem nächtigen Dunkel erzeugten ein Gefühl des Fiebers in ihnen. Wenn die Ermüdung sie zu dem Ufer des Flusses zurückführte, war es mit ihrer schönen, kindlichen Heiterkeit zu Ende. Unter den Weiden schwebten graue Schatten gleich den Schleiern einer Frau in Trauer. Die Kinder fühlten, wie diese Schatten, gleichsam noch durchduftet und warm von den wollüstigen Schultern der Nacht, sie um die Schläfen liebkosten, wie in eine unbesiegbare Ermattung hüllten. In der Ferne zirpten die Heimchen in den Sainte-Claire-Wiesen, die Viorne zu ihren Füßen Heß ein verliebtes Flüstern vernehmen wie das gedämpte Geräusch kußfeuchter Lippen. Vom schlafenden Himmel schien ein warmer Sternenregen herniederzurieseln. Und bei dem Erbeben dieses Himmels, dieses Flusses, dieses nächtigen Schattens suchten die Kinder, die nebeneinander im hohen Grase lagen, die verzückten Blicke im Dunkel der Nacht verloren, gegenseitig ihre Hände und tauschten einen kurzen Händedruck aus.

Silvère, der von den Gefahren dieser Verzückungen eine dunkle Ahnung hatte, sprang mit einem Satze wieder auf die Füße und schlug vor, sie möchten nach einer der kleinen Inseln hinüber gehen, die das seichte Wasser in der Mitte des Flusses bloßlegte. Und beide wagten dann nackten Fußes den Gang durchs Wasser. Miette machte sich nichts aus den Kieseln und wollte nicht dulden, daß Silvère sie stütze, und so geschah es einmal, daß sie sich mitten im Flusse niedersetzte. Doch das Wasser reichte ihr da kaum bis zu den Knien und der ganze Schaden bestand darin, daß der Unterrock ein wenig naß wurde. Wenn sie die Insel erreicht hatten, legten sie sich bäuchlings auf eine Sandzunge hin, die Augen auf die Oberfläche des Wassers gerichtet, dessen Silberschuppen fern im Mondlichte schillerten. Miette erklärte dann, daß sie im Schiffe sei und daß die Insel schwimme; sie fühlte es, wie sie fortgetragen werde. Dieser Taumel, verursacht durch das Dahinfließen des Wassers, dem sie folgten, ergötzte sie eine Weile, hielt sie fest am Rande der Insel, wo sie halblaut sangen nach Art der Schiffer, wenn sie ihre Ruder ins Wasser senken. Ein andermal, wenn auf der Insel eine kleine Böschung war, ließen sie sich daselbst nieder wie auf einer Rasenbank und ließen ihre nackten Beine ins Wasser hängen. Da plauderten sie stundenlang, spritzten mit den Fersen das Wasser in die Höhe, schaukelten ihre Beine im Wasser und vergnügten sich damit, einen kleinen Sturm in dem stillen Flüßchen hervorzurufen, dessen Kälte ihr Fieber dämpfte.

Diese Flußbäder zeitigten in Miettens Köpfchen eine Laune, die der schönen Unschuld ihrer Liebe schier ein Ende gemacht hätte. Sie wollte durchaus Vollbäder nehmen. Oberhalb der Brücke, versicherte sie, gebe es eine Vertiefung von kaum vier Fuß, wo man sicher baden könne; es sei da hübsch warm und man könne behaglich bis zu den Schultern im Wasser sitzen; sie möchte schon so lange gern schwimmen können, und Silvère solle es sie lehren. Dieser machte Einwendungen; es sei nicht vorsichtig, des Nachts solches zu tun; man könne sie sehen, und es werde schlimme Folgen für sie haben. Aber er verschwieg den wahren Grund; er war instinktiv beunruhigt bei dem Gedanken an dieses neue Spiel. Er fragte sich, wie sie sich entkleiden würden und wie er es anfangen werde, Miette in seinen nackten Armen über Wasser zu halten. Das Mädchen schien nichts von diesen Schwierigkeiten zu ahnen.

Eines Abends brachte sie einen Badeanzug mit, den sie sich aus einem alten Kleide zugeschnitten hatte. Silvère mußte zu Tante Dide zurückkehren, um seine Schwimmhose zu holen. Und die Partie gestaltete sich ganz einfach. Miette entfernte sich nicht weit; sie entkleidete sich ganz einfach im Schatten einer Weide, und dieser Schatten war so dicht, daß ihr kindlicher Körper nur einige Sekunden als ein schwacher, weißer Schimmer darin erschien. Silvère mit seiner braunen Haut erschien in der Nacht wie der dunkle Stamm einer jungen Eiche, während die Arme und Beine des jungen Mädchens, nackt und rund, den milchweißen Schäften der Birken am Flußufer glichen. Wie mit dunklen Flecken bekleidet, die das hohe Laub auf sie hernieder senkte, traten dann beide fröhlich ins Wasser, einander zurufend und von der Kälte überrascht leise Angstrufe ausstoßend. Alle Bedenken, die geheime Scheu, die uneingestandene Scham: sie waren vergessen. Sie blieben da eine volle Stunde, herumplätschernd, sich mit Wasser bespritzend; Miette tat beleidigt, um dann in ein Lachen auszubrechen; Silvère gab ihr die erste Schwimmlektion, tauchte ihr von Zeit zu Zeit den Kopf unter, um sie abzuhärten. Solange er sie mit der einen Hand am Gürtel ihres Badeanzuges festhielt, während er mit der anderen ihren Bauch stützte, arbeitete sie wütend mit Armen und Beinen und glaubte zu schwimmen; aber sobald er sie losließ, begann sie schreiend zu strampeln, streckte die Hände aus, peitschte das Wasser und hielt sich fest wo sie konnte, am Leibe des jungen Mannes, oder an einem seiner Handknöchel. Einen Augenblick überließ sie sich ihm, ruhte an seiner Brust, völlig atemlos, wassertriefend, während der nasse Badeanzug die Reize ihrer jungfräulichen Büste abzeichnete. Dann rief sie:

Noch einmal! Du läßt mich absichtlich los.

Kein Gefühl der Scham stieg ihnen auf aus diesen Umarmungen Silvères, der sich überneigte, um sie zu stützen, aus diesen Anstrengungen Miette zu retten, die sich erschreckt dem jungen Manne an den Hals hing. Das kalte Bad versetzte sie in eine Kristallreinheit. Es waren zwei nackte, unschuldige, lachende Kinder in warmer Sommernacht unter dem stillen Laub der Bäume. Nach den ersten Bädern machte Silvère sich im stillen Vorwürfe, daß er an Böses denken konnte. Miette kleidete sich so schnell aus und war so frisch in seinen Armen und lachte so hell!

Doch nach Verlauf von zwei Wochen konnte die Kleine schwimmen. Ihre Glieder beherrschend, gewiegt von der Flut, mit der sie jetzt spielte, überließ sie sich der weichen Schmiegsamkeit des Flusses, der Stille des Nachthimmels, der träumerischen Einsamkeit, die auf den Ufern lagerte.

Wenn beide geräuschlos dahinschwammen, glaubte Miette an den beiden Ufern das Laub sich verdichten, sich über sie neigen, ihr Versteck mit riesigen Vorhängen verhüllen zu sehen. An mondhellen Abenden glitt der Lichtschein zwischen den Baumstämmen hindurch, milde Gestalten in weißer Gewandung schienen die Ufer entlang zu wandeln. Miette hatte keine Furcht. Eine unsagbare Aufregung erfaßte sie, wenn sie den Spielen des Schattens folgte. Während sie mit verlangsamter Bewegung vorwärts schwamm, kräuselte sich das Wasser, das im Mondlichte wie ein klarer Spiegel dalag, bei ihrer Annäherung wie ein silberdurchwirkter Stoff; die Ringe wurden breiter und verloren sich im Dunkel der Ufer, unter den niederhängenden Zweigen der Weiden, woher ein geheimnisvolles Plätschern zu vernehmen war. Bei jedem Ausgreifen fand sie solche flüsternden Tiefen, dunkle Höhlungen, an denen sie rascher vorbeieilte, Sträucher, Baumreihen, deren dunkle Massen die Form wechselten, sich verlängerten, von der Höhe des Ufers ihr zu folgen schienen. Wenn sie auf dem Rücken schwamm, ward sie durch den Blick in die unendlichen Tiefen des Nachthimmels noch mehr ergriffen. Von der Landschaft, die sie nicht sah, hörte sie eine tiefe, lang aushaltende Stimme aufsteigen, gleichsam aus allen Seufzern der Nacht zusammengesetzt.

Sie war nicht von träumerischer Natur und freute sich mit ihrem ganzen Körper, mit allen ihren Sinnen des Himmels, des Flusses, der Schatten, der Lichter. Im besonderen der Fluß, dieses Wasser, dieses bewegliche Feld, trug sie mit unsagbaren Liebkosungen dahin. Wenn sie den Fluß hinaufschwamm, verursachte es ihr ein großes Vergnügen zu fühlen, wie ihr das Wasser schneller über Brust und Beine floß; es war ein anhaltender, sanfter Kitzel, den sie ohne nervöses Lachen ertragen konnte. Sie tauchte dann tiefer ins Wasser, bis dieses ihr an die Lippen reichte, damit es über ihre Schultern hinweg fließe, sie mit einem Zuge vom Kinn bis zu den Füßen in seine flüchtige Liebkosung einhüllte. Sie verfiel dann in eine Schlaffheit, in der sie unbeweglich auf der Oberfläche des Wassers liegen blieb, während es in kleinen Wellen weich zwischen dem Anzug und ihrer Haut durchfloß, wobei der Stoff sich blähte; dann wälzte sie sich in dem stillen Wasser wie eine Katze auf einem Teppich; und sie schwamm aus dem schimmernden Wasser, wo der Mond badete, in das dunkle, vom Laube in Schatten gehüllte Wasser, mit einem Frösteln, als habe sie eine sonnige Ebene verlassen und die Kühle der Zweige auf ihren Nacken fallen fühlen.

Jetzt trat sie schon beiseite, um sich zu entkleiden; sie verbarg sich. Einmal im Wasser verhielt sie sich schweigsam; sie wollte nicht mehr dulden, daß Silvère sie berühre; sie schlüpfte sachte an seine Seite und schwamm mit dem leisen Geräusch eines Vogels, der durch ein Dickicht fliegt; oder auch sie umkreiste ihn, von einer unbestimmten Furcht ergriffen, die sie sich nicht erklären konnte. Er selbst entfernte sich, wenn er an eines ihrer Glieder streifte. In dem Flusse fanden sie jetzt nur mehr einen ermattenden Taumel, ein wollüstiges Einlullen, das sie in eine seltsame Verwirrung versetzte. Besonders wenn sie aus dem Bade stiegen, hatten sie ein Gefühl der Schläfrigkeit, der Blendung. Sie waren gleichsam erschöpft. Miette brauchte eine volle Stunde, um sich anzukleiden. Zuerst warf sie nur ihr Hemd über und einen Rock; dann blieb sie da, im Grase ausgestreckt, über Müdigkeit klagend und Silvère rufend, der einige Schritte weiterhin stand, mit leerem Schädel und mit einer seltsamen, aufregenden Mattigkeit in den Gliedern. Auf dem Heimwege war dann ihre Umarmung feuriger, sie fühlten durch ihre Gewandung deutlicher ihren infolge des Bades geschmeidiger gewordenen Körper; sie blieben stehen von Zeit zu Zeit und stießen schwere Seufzer aus. Der riesige Haarknäuel Miettens, ihr Nacken, ihre Schultern hatten einen Geruch der Frische, einen Duft der Reinheit, der den jungen Mann vollends betäubte. Zum Glück erklärte das Mädchen eines Abends, daß es keine Bäder mehr nehmen werde, daß das kalte Wasser ihr das Blut zu Kopfe treibe. Ohne Zweifel gab sie diesen Grund in aller Wahrheit und Unschuld an.

Sie nahmen ihre langen Gespräche wieder auf. Von der Gefahr, die ihrer unschuldigen Liebe gedroht, war im Geiste Silvères nichts als eine große Bewunderung für die körperliche Kraft Miettens zurückgeblieben. In zwei Wochen hatte sie schwimmen gelernt und oft, wenn sie um die Wette schwammen, hatte er sie den Fluß mit ebenso kräftigen Armen teilen sehen, wie er selbst. Er, der die Kraft und die körperlichen Übungen liebte, war gerührt, wenn er sie so stark und so geschickt sah. In seinem Herzen erstand eine seltsame Achtung für ihre starken Arme. Eines Abends, nach einem der ersten Bäder, bei denen sie noch so lustig waren, hatten sie sich um den Leib gefaßt und auf einem schmalen Sandstreifen minutenlang gerungen, ohne daß es Silvère gelungen wäre, Miette zu Boden zu werfen; schließlich verlor er selbst das Gleichgewicht, fiel um und das Mädchen blieb aufrecht. Ihr Freund behandelte sie fortab wie einen Jungen und eben die langen Märsche, das tolle Jagen durch die Wiesen, das Nesterausheben auf den hohen Bäumen, ihre Kämpfe, ihre ungestümen Spiele beschützten sie so lange und hinderten sie, ihre junge Liebe zu beflecken. Nebst der Bewunderung für die Kraft und Behendigkeit seiner Freundin mischte in die Liebe des jungen Burschen sich auch noch sein Erbarmen für die Unglücklichen. Er, der keinen Verlassenen, keinen Armen, kein barfüßiges Kind im Straßenstaub sehen konnte, ohne daß das Erbarmen ihm den Atem raubte, er liebte Miette, weil niemand sie liebte, weil sie das harte Dasein eines Paria führte. Wenn ei sie lachen hörte, war er tief bewegt von dieser Freude, die er ihr verschaffte. Und dann war das Mädchen eine Wilde wie er selbst ein Wilder; sie fanden sich auch in dem gemeinsamen Hasse gegen die Klatschbasen der Vorstadt. Der Traum, den er tagsüber träumte, während er bei seinem Meister mit kräftigen Hammerschlägen die Räder bereifte – dieser Traum war voll edelmütiger Torheiten. Er dachte an Miette als Erlöser. Alles, was er gelesen hatte, stieg ihm dann zu Kopfe; er wollte eines Tages seine Freundin zu seiner Frau machen, um sie in den Augen der Welt zu erheben; er legte sich den heiligen Beruf bei, die Tochter des Sträflings zu retten, der Welt und dem Heil wiederzugeben. Er hatte den Kopf dermaßen voll mit gewissen Reden, daß er sich nicht damit begnügte, sich diese Dinge einfach vorzunehmen; er verlor sich in einem gewissen sozialen Mystizismus; er ersann eine wahre Verherrlichung, mit der das Kind der Welt wiedergegeben werden sollte; er sah im Geiste Miette auf einem am Ende der Promenade Sauvaire errichteten Throne sitzen; und die ganze Stadt verneigte sich vor ihr, bat sie um Verzeihung und sang Loblieder auf sie. Glücklicherweise vergaß er alle diese schönen Dinge wieder, sobald Miette von ihrer Mauer herabsprang und ihm auf der Heerstraße sagte:

Laß uns laufen, willst du? Ich wette, daß du mich nicht fängst.

Doch wenn der Jüngling am hellen Tage von der Verherrlichung seiner Freundin träumte, so hatte er anderseits ein so tiefes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, daß er dem Kinde oft Tränen erpreßte, wenn er ihr von ihrem Vater sprach. Trotz der tiefen Zärtlichkeit, die die Freundschaft Silvères in ihr Herz gepflanzt, erwachten in ihr doch von Zeit zu Zeit plötzlich die alten bösen Triebe; ihre ganze heftige Natur lehnte sich auf, sie kniff die Lippen zusammen, und es erschien der harte Blick in ihren Augen wieder. Sie behauptete dann, ihr Vater habe recht getan, den Gendarm zu töten; die Erde gehöre aller Welt und man habe das Recht zu schießen, wo und wann man wolle. Silvère erklärte ihr mit ernster Stimme das Gesetz, so wie er es verstand, und mit Auslegungen, die in ihrer Seltsamkeit bei allen Richtern von Plassans ein sehr bedenkliches Kopfschütteln hervorgebracht hätten. Diese Gespräche fanden zumeist in irgendeinem verlornen Winkel der Sainte-Claire-Wiese statt. Der dunkelgrüne Rasen dehnte sich dahin, soweit das Auge reichte und kein einziger Baum war da, der einen Fleck auf dieser endlosen Fläche gebildet hätte; und der Himmel schien unermeßlich, mit seinen Sternen die nackte Rundung des Gesichtskreises füllend. Die Kinder wurden gleichsam gewiegt in diesem Meer von Grün. Miette kämpfte lange gegen Silvères Ansichten; sie fragte diesen, ob es besser gewesen wäre, wenn ihr Vater sich hätte von dem Gendarmen umbringen lassen und Silvère schwieg einen Augenblick; dann erklärte er, daß es in einem solchen Falle besser sei, das Opfer zu sein als der Mörder, und daß es immer ein großes Unglück sei, wenn man seinen Nebenmenschen töte und sei es auch im Stande berechtigter Notwehr. Ihm war das Gesetz eine heilige Sache; die Richter hatten recht, als sie Chantegreil auf die Galeeren schickten. Darob ergrimmte das Mädchen; sie hätte ihren Freund prügeln mögen und rief ihm zu, er habe ein ebenso böses Herz wie die anderen. Als er fortfuhr, seine Gedanken über die Gerechtigkeit standhaft zu verteidigen, brach sie schließlich in Tränen aus und stammelte, daß er ohne Zweifel sieh ihrer schäme, da er sie immer wieder an das Verbrechen ihres Vaters erinnere. So endigten diese Erörterungen in einem Strom von Tränen, in gemeinsamer Aufregung. Doch wenn das Kind auch weinte, wenn sie auch anerkannte, daß sie vielleicht unrecht habe, bewahrte sie im Innern doch ihre Wildheit, ihre leichte Erregbarkeit. Einmal erzählte sie laut lachend, wie ein Gendarm in ihrer Gegenwart vom Pferde gefallen sei und ein Bein gebrochen habe. Übrigens lebte Miette nur mehr für Silvère. Wenn dieser sie über ihren Oheim und ihren Vetter befragte, antwortete sie, »daß sie nichts wisse«; und wenn er in sie drang aus Besorgnis, daß man sie im Jas-Meiffren vielleicht zu sehr quäle, sagte sie, daß sie viel arbeite und sich nichts geändert habe. Doch glaubte sie, daß Justin schließlich dennoch erfahren habe, weshalb sie jeden Morgen so lustig sei und was den Ausdruck ihrer Augen so sehr gemildert habe. Doch sie fügte hinzu:

Was tut's? Wenn er uns jemals stören wollte, werden wir ihm einen Empfang bereiten, daß ihm die Lust vergehen soll, sich wieder in unsere Angelegenheiten einzumengen.

Indes wurden sie durch die langen Märsche im Freien oft ermüdet. Sie kehrten dann immer wieder nach dem Saint-Mittre-Felde zurück, in dem engen Weg, aus dem sie durch die geräuschvollen Sommerabende, durch die allzu starken Gerüche der Gräser, durch die heißen, sinnverwirrenden Ausströmungen verjagt worden waren. Aber an manchen Abenden war der Aufenthalt auf dem Wege lieblicher; es strich ein erfrischender Wind hindurch; sie konnten da bleiben, ohne einen Taumel zu empfinden. Sie genossen dann eine köstliche Erholung. Auf dem Grabstein sitzend, die Ohren geschlossen für das Getümmel der Kinder und der Zigeuner, fühlten sie sich da wieder heimisch. Silvère hatte wiederholt Knochenreste, Bruchstücke von Schädeln gesammelt, und sie gefielen sich jetzt darin, von dem alten Kirchhofe zu sprechen. Mit ihrer regen Einbildungskraft sagten sie sich im stillen, daß ihre Liebe wie eine kräftige, fette Pflanze in diesem vom Tode befruchteten Boden gediehen sei. Sie war aufgeschossen wie diese wilden Gräser; sie war aufgeblüht wie die Klatschrosen, die der leiseste Wind auf ihren Stengeln bewegt und die offenen, blutenden Herzen glichen. Und sie erklärten sich die lauen Ausströmungen, die über ihre Stirnen hinwegzogen, das Geflüster, das sie im Schatten hörten, das anhaltende Frösteln, in welchem der Weg erbebte. Es waren die Toten, die ihnen ihre zerstobenen Leidenschaften ins Gesicht hauchten, ihnen ihre Brautnacht erzählten und sich im Grabe umwandten, gepackt von einer wilden Begierde zu lieben, die Liebe von neuem zu beginnen. Diese Gebeine – das fühlten sie wohl – waren voll Zärtlichkeit für sie; die geborstenen Schädel erhitzten sich von neuem an den Flammen ihrer Jugend; die kleinsten Bruchstücke umgaben sie mit einem entzückten Geflüster, einer ruhelosen Sorgfalt, einer angstvollen Eifersucht. Wenn sie sich entfernten, schien der alte Kirchhof zu weinen. Diese Gräber, die in den heißen Nächten ihnen die Füße banden, daß sie nur wankend gehen konnten: es waren lange, schmale Finger, die aus dem Erdreich nach ihnen langten, um sie festzuhalten, um sie einander in die Arme zu werfen. Dieser scharfe, durchdringende Geruch, den die zertretenen und gebrochenen Stengel aushauchten: es war der befruchtende Geruch, der mächtige Saft des Lebens, den allmählich die Gräber ausschwitzen und in den Verliebten, die auf den einsamen Pfaden wandeln, betäubende Begierden wachrufen. Die Toten, die alten Toten, heischten die bräutliche Vereinigung von Miette und Silvère.

Niemals wurden die Kinder von Furcht ergriffen. Es rührte sie die Zärtlichkeit, die sie in der Luft schweben fühlten; sie gewannen die unsichtbaren Wesen lieb, deren Berührung sie gleich einem leichten Flügelschlag oft zu fühlen glaubten. Sie wurden nur manchmal von einer milden Traurigkeit ergriffen und begriffen nicht, was die Toten von ihnen wollten. Sie fuhren fort, ihrer unschuldsvollen Liebe zu leben, inmitten dieses Überquellens der Säfte, in diesem Winkel eines aufgelassenen Kirchhofes, wo das von Leichen gesättigte Erdreich Leben ausschwitzte, und der gebieterisch ihre Verbindung heischte. Die summenden Stimmen, die in ihren Ohren klangen, die plötzlichen Anflüge von Hitze, die über ihr Antlitz huschten: sie kündeten ihnen nichts Bestimmtes. Es gab Tage, an denen der Schrei der Toten so laut wurde, daß Miette, die fiebernd, erschöpft auf dem Grabstein lehnte, mit ihren in Tränen schwimmenden Augen Silvère anblickte wie um ihn zu fragen: »Was wollen sie denn? Warum blasen sie Flammen in meine Adern?« Und Silvère, der selbst gebrochen, außer sich war, wagte nicht zu antworten, wagte nicht die flammenden Worte zu wiederholen, die er in der Luft zu vernehmen glaubte, die unsinnigen Ratschläge, die die hohen Gräser, die Flüsterstimmen des ganzen Weges, diese schlecht geschlossenen Gräber ihm gaben, die sich gleichsam als Lagerstätte anboten für die junge Liebe dieser Kinder.

Oft befragten sie sich über die Gebeine, die sie entdeckten. Miette mit ihrem weiblichen Instinkte sprach gern von traurigen Gegenständen. Bei jedem neuen Funde gab es ein Raten ohne Ende. War es ein kleiner Knochen, dann sprach Miette von einem jungen Mädchen, das brustkrank gewesen, oder am Vorabende seiner Hochzeit von einem Fieber hinweggerafft worden; war es ein großer Knochen, dann träumte sie von einem hochgewachsenen Greise, einem Soldaten, einem Richter, irgendeinem furchtbaren Manne. Besonders der Grabstein beschäftigte sie lange. An einem schönen, mondhellen Abende entdeckte Miette auf einer der Flächen halb verwitterte Schriftzeichen. Silvere mußte mit seinem Messer das Moos wegkratzen. Und nun lasen sie die verstümmelte Inschrift: » Hier liegt ... Marie ... gestorben ...« Miette war ganz betroffen, als sie ihren Namen auf dem Grabsteine fand. Silvère schalt sie eine alberne Grete, aber sie vermochte ihre Tränen nicht zurückzuhalten. Sie sagte, sie habe es wie einen Stoß in die Brust empfunden, daß sie bald sterben werde und daß der Grabstein für sie sei. Jetzt fühlte der Bursche sein Blut erstarren; aber es gelang ihm dennoch, dem Kinde so weit Vernunft einzureden, daß es sich schämte. Was? Sie, die so mutig war, konnte solche Kindereien träumen? Und schließlich lachten sie. Dann redeten sie nicht mehr von diesem Gegenstande. Aber in den Stunden der Schwermut, wenn unter dem umwölkten Himmel der Weg traurig dalag, konnte Miette nicht umhin, diese Tote zu nennen, diese unbekannte Marie, deren Grab so lange ihre Zusammenkünfte begünstigt hatte. Vielleicht lagen noch die Gebeine des armen Mädchens da. Eines Abends hatte sie die seltsame Laune, zu verlangen, daß Silvère den Grabstein umwende, damit sie sehen können, was darunter sei. Er weigerte sich, als sei es eine Heiligtumsschändung, was sie verlange, und diese Weigerung nährte nur die Träume Miettens über dieses teure Gespenst, das ihren Namen trug. Sie behauptete durchaus, daß jene in ihrem Alter, mit dreizehn Jahren, mitten in ihrer Liebe, gestorben sei. Sie bedauerte selbst den Grabstein, diesen Stein, auf den sie so hurtig herabstieg, auf dem sie so oft gesessen, diesen Stein, den der Tod eiskalt gemacht, und den sie mit ihrer Liebe wieder erwärmt hatten. Sie fügte hinzu; Du wirst sehen, das wird uns Unglück bringen. Wenn du stürbest, möchte ich, daß ich hier stürbe und man diesen Stein über mich wälze.

Silvère war beklommen bei solchen Reden und schalt sie aus, weil sie an so traurige Dinge dachte.

So liebten sie sich fast zwei Jahre lang auf dem engen Wege und in der weiten Landschaft. Ihre Liebe überdauerte die eisig kalten Niederschläge des Dezember und die glühenden Aufregungen des Juli, ohne zur Schmach der gemeinen Liebschaften herabzusinken; sie bewahrte den köstlichen Reiz einer griechischen Schäferidylle, ihre flammende Reinheit, alle die kindlichen Wahnvorstellungen des Fleisches, das begehrt und unwissend ist. Selbst die alten Toten flüsterten ihnen vergeblich zu. So nahmen sie aus dem alten Friedhofe nichts mit als eine rührende Schwermut, das unbestimmte Vorgefühl eines kurzen Lebens; eine geheime Stimme sagte ihnen, daß sie von hinnen scheiden würden mit ihrer jungfräulichen Liebe vor ihrer bräutlichen Vereinigung an dem Tage, an dem sie sich einander würden geben wollen. Ohne Zweifel hatten sie hier, auf diesem Grabstein inmitten der Gebeine, die in den fetten Gräsern umherlagen, jene Liebe zum Tode eingesogen, jenes gierige Verlangen, zusammen in der Erde zu liegen, das sich auf ihre stammelnden Lippen drängte am Rande der Straße nach Orcheres, in dieser Dezembernacht, während die zwei Kirchturmglocken sich ihr klagendes Gewimmer zusandten.

Miette schlief ruhig, das Haupt an die Brust Silvères gelehnt, während dieser der fernen Zusammenkünfte gedachte, der schönen Jahre beständigen Zaubers. Bei Tagesanbruch erwachte das Kind. Vor ihnen dehnte das helle Tal unter dem winterlichen Himmel sich dahin. Die Sonne war noch hinter den Bergen. Eine kristallreine Helle, durchsichtig und eisig wie Quellwasser, floß von dem bleichen Gesichtskreise hernieder. In der Ferne verlor sich die Viorne, einem Bande von weißem Satin gleichend, zwischen den roten und gelben Feldern. Es war eine schier grenzenlose Weite; graue Meere von Olivenpflanzungen, Weingärten, die breiten, gestreiften Stoffen glichen, eine ganze Landschaft, noch vergrößert durch die Klarheit der Luft und die winterliche Ruhe. Der Wind, der in kurzen Stößen dahinfegte, hatte die Gesichter der Kinder schier zu Eis erstarren lassen. Sie erhoben sich jetzt munter, des hellen Morgens sich freuend. Da mit der Nacht auch ihre Traurigkeit und ihr Schrecken geschwunden waren, betrachteten sie entzückten Auges den ungeheuren Kreis der Ebene und lauschten dem Gebimmel der beiden Glocken, das ihnen jetzt das fröhliche Frühläuten eines Festtages schien.

Ach, wie gut habe ich geschlafen! rief Miette. Ich habe geträumt, daß du mich küßtest. Hast du mich geküßt, sprich?

Es kann schon sein, erwiderte Silvère lachend. Mir war auch nicht warm; denn es ist eine wahre Hundekälte.

Mir ist nur in den Füßen kalt.

Nun denn, laß uns laufen... Wir haben reichlich zwei Meilen zu gehen. Dabei wird dir warm werden.

Sie stiegen den Abhang hinab und erreichten laufend die Straße. Als sie unten waren, erhoben sie den Kopf, wie um dem Felsen Lebewohl zu sagen, wo sie unter Tränen glühende Küsse gewechselt hatten. Aber sie sprachen nicht von dieser flammenden Liebkosung, die in ihrer Liebe ein neues, unbestimmtes Bedürfnis entstehen ließ, von welchem sie sich keine Rechenschaft geben konnten. Sie faßten einander nicht mehr am Arme, unter dem Vorwande, daß sie so schneller gehen könnten. Sie marschierten munter fort, ein wenig verlegen, ohne zu wissen warum, wenn sie sich von Zeit zu Zeit anblickten. Inzwischen war der Tag immer heller rings um sie her. Der junge Bursche, der im Auftrage seines Meisters häufig den Weg nach Orchères zu machen hatte, kannte die besten und kürzesten Seitenpfade. So legten sie mehr als zwei Meilen zurück, auf Hohlwegen, vorbei an Hecken und endlosen Mauern. Miette beschuldigte Silvère, sie irregeführt zu haben. Oft sahen sie viertelstundenlang nichts von der Landschaft; sie bemerkten nur über die Mauern und Hecken hinausragende Mandelbaumreihen, deren dürren Äste sich von dem bleichen Morgenhimmel abhoben.

Plötzlich standen sie vor Orchères. Lautes Freudengeschrei, das Getöse der Menge drang durch die klare Morgenluft zu ihnen. Die Bande der Aufrührer war eben in die Stadt eingezogen. Miette und Silvère betraten sie mit den letzten Nachzüglern. Niemals hatten sie eine solche Begeisterung gesehen. In den Straßen sah es aus wie an Prozessionstagen, wenn zu Ehren des unter dem Baldachin vorüberziehenden Allerheiligsten alle Fenster sich mit kostbaren Stoffen schmücken. Man feierte die Aufrührer als Befreier. Die Männer umarmten sie, die Frauen trugen Mundvorräte herbei. Auf den Türschwellen standen Greise, die vor Rührung weinten. Die südliche Lebhaftigkeit äußerte sich in geräuschvoller Weise, singend, tanzend, gestikulierend. Als Miette vorüberkam, ward sie in einem riesigen Reigen mitgerissen, der auf dem Hauptplatze tanzte. Silvère folgte ihr. Die Mutlosigkeit, die Todesgedanken waren jetzt weit von ihm. Er wollte sich schlagen, wenigstens sein Leben teuer verkaufen. Von neuem betäubte ihn der Gedanke an den Kampf. Er träumte vom Siege, von einem glücklichen Leben mit Miette im großen Frieden der allgemeinen Republik.

Dieser brüderliche Empfang seitens der Bewohner von Orcheres war die letzte Freude der Aufständischen. Sie verbrachten den Tag in strahlender Zuversicht und in grenzenloser Hoffnung. Die Gefangenen, der Major Sicardot, die Herren Garçonnet, Peirotte und die anderen, die man in einem Zimmer des Rathauses eingesperrt hatte, dessen Fenster auf den Hauptplatz gingen, sahen mit Überraschung und Schrecken diese ausgelassenen Tänze und diese Stürme von Begeisterung, die an ihnen vorüberzogen.

Welch ein Lumpenpack! brummte der Major, der sich an das Gesims eines Fensters lehnte, wie an die samtbekleidete Brüstung einer Theaterloge. Hätte ich doch nur zwei Batterien zu befehligen; wie wollte ich dieses ganze Gesindel hinwegfegen!

Als er Miette bemerkte, fügte er, zu Herrn Garçonnet gewendet, hinzu:

Schauen Sie nur jenes große, rote Mädchen, Herr Bürgermeister! Es ist fürwahr eine Schmach, daß sie sogar ihre Dirnen mitführen. Wenn das noch lange währt, werden wir schöne Dinge zu sehen bekommen.

Herr Garçonnet nickte mit dem Kopfe und sprach von den »entfesselten Leidenschaften« und von den »schlimmsten Tagen unserer Geschichte«. Herr Peirotte war bleich wie sein Hemd und schwieg. Nur einmal tat er den Mund auf, um zu Herrn Sicardot, der wieder mit lauter Stimme schimpfte, zu sagen:

Leiser, leiser, mein Herr! Sie werden es so arg treiben, daß wir alle niedergemetzelt werden.

In Wahrheit behandelten die Aufständischen ihre Gefangenen mit größter Milde. Sie ließen ihnen sogar am Abend eine vortreffliche Mahlzeit vorsetzen. Aber für Feiglinge vom Schlage des Herrn Einnehmers waren solche Aufmerksamkeiten nur um so schrecklicher; die Aufständischen – so behauptete er – behandelten ihre Gefangenen nur deshalb so gut, damit sie desto fetter und zarter seien an dem Tage, wo sie diese fressen würden.

Als der Abend dämmerte, sah sich Silvère seinem Vetter, dem Doktor Pascal gegenüber. Der Gelehrte war der Bande zu Fuße gefolgt, mit den Arbeitern plaudernd, die ihn verehrten. Anfänglich hatte er sich bemüht, sie von dem Kampfe abzubringen; dann, gleichsam durch ihre Reden gewonnen, hatte er ihnen mit einem gleichmütig wohlwollenden Lächeln gesagt:

Ihr habt vielleicht recht; schlaget euch nur; ich bin ja da, um euch die Arme und Beine wieder zusammenzuflicken.

Er hatte am Morgen ganz ruhig begonnen, längs des Weges Steine und Pflanzen zu sammeln. Er war trostlos, weil er seinen Geologenhammer und seine Botanisierbüchse nicht mitgenommen hatte. Um diese Zeit waren seine Taschen zum Reißen voll von Steinen und aus seiner Ledermappe, die er unter dem Arme trug, hingen ganze Büschel langer Gräser heraus.

Schau, bist du's, mein Junge? rief er, als er Silvère gewahrte. Ich glaubte hier der einzige von der Familie zu sein.

Er sprach die letzteren Worte mit leisem Spott über das Benehmen seines Vaters und des Onkels Antoine. Silvère war glücklich, seinen Vetter zu treffen. Der Doktor war der einzige Rougon, der ihm die Hand drückte, wenn er ihn auf der Straße traf, und ihm eine aufrichtige Freundschaft bewies. Als Silvère ihn noch mit dem Straßenstaube bedeckt sah, bekundete er eine lebhafte Freude, weil er ihn für die republikanische Sache gewonnen glaubte. Er sprach zu ihm von den Rechten des Volkes, von dessen heiliger Sache, von dem sicheren Sieg mit jugendlicher Begeisterung. Pascal hörte ihn lächelnd an; neugierig beobachtete er seine Gebärden, das lebendige Spiel seiner Züge, als habe er diese Begeisterung zerlegen können, um zu sehen, was auf dem Grunde dieses edelmütigen Eifers sei.

Wie du sprudelst, wie du dich ereiferst! Man sieht, du bist der Enkel deiner Großmutter!

Mit leiser Stimme setzte er hinzu im Tone eines Chemikers, der sich Notizen macht:

Hysterie oder Begeisterung; schmähliche Narrheit oder erhabene Narrheit. Immer diese teuflischen Nerven.

Dann schloß er gleichsam seinen Gedankengang und sagte laut:

Die Familie ist vollständig: sie wird auch ihren Helden haben.

Silvère hatte nichts gehört. Er fuhr fort, von seiner teuren Republik zu sprechen. Einige Schritte weiter war Miette stehen geblieben; sie trug noch immer ihren roten Mantel und verließ Silvère nicht mehr. Arm in Arm hatten sie den ganzen Tag die Stadt durchstreift. Dieses große, rote Mädchen zog schließlich das Interesse Pascals auf sich; er unterbrach plötzlich den Redefluß seines Vetters und fragte:

Wer ist dieses Kind, das bei dir ist?

Das ist mein Weib, erwiderte Silvère ernst.

Der Doktor machte große Augen. Er verstand nicht, was jener gesagt hatte. Da er den Frauen gegenüber sehr schüchtern war, zog er vor Miette tief den Hut und ging.

Die Nacht gestaltete sich unruhig. Ein Unglückswind jagte über die Aufständischen hinweg. Die Begeisterung und die Zuversicht von gestern schienen mit dem Dunkel der Nacht zerstoben. Am Morgen sah man düstere Mienen, traurige Blicke wurden ausgetauscht, lange Pausen der Mutlosigkeit traten ein. Schreckliche Gerüchte waren in Umlauf. Die schlimmen Nachrichten, welche die Anführer seit gestern geheimzuhalten vermochten, hatten sich verbreitet, ohne daß jemand gesprochen hätte, zugeflüstert durch jenen unsichtbaren Mund, der mit einem Atemzug den Schrecken unter die Menge wirft. Es wurden Stimmen laut, die behaupteten, Paris sei bezwungen, die Provinz habe sich auf Gnade und Ungnade unterworfen; diese Stimmen fügten hinzu, daß zahlreiche Truppen, die unter den Befehlen der Obersten Masson und Blériot von Marseille aufgebrochen waren, heranrückten, um die Aufständischen zu vernichten. Das war ein Zusammenbruch, ein Erwachen voll Zorn und Verzweiflung. Diese Männer, gestern noch in einem patriotischem Fieber glühend, erbebten jetzt in der großen Kälte, welche die schmachvolle Unterwerfung des Lanües verbreitete. So besaßen denn sie allein den Heldenmut der Pflicht. Sie waren jetzt verloren inmitten des Entsetzens aller, in der Totenstille ringsumher; sie wurden zu Aufrührern und sollten gleich wilden Tieren mit Kolbenstößen verjagt werden. Sie hatten von einem großen Kriege geträumt, von der Erhebung eines ganzen Volkes, von einem siegreichen Eroberungszuge des Rechtes. Jetzt, inmitten einer solchen Verlassenheit, einer solchen Auflösung beweinte dieses Häuflein Menschen seinen erstorbenen Glauben, seinen zerflatterten Traum von Gerechtigkeit. Es waren Leute in der Truppe, die unter Verwünschungen gegen das feige Frankreich ihre Waffen wegwarfen und am Rande der Straße sich hinsetzten mit der Erklärung, daß sie da die Kugeln des Feindes abwarten wollten, um zu zeigen, wie Republikaner sterben.

Obgleich diese Männer nur zwischen Verbannung und Tod die Wahl hatten, fanden sich nur wenige Fahnenflüchtige unter ihnen. Eine bewunderungswürdige Eintracht verband diese Horden. Der Ingrimm kehrte sich gegen die Anführer. Diese waren in der Tat unfähig. Unverbesserliche Fehler waren begangen worden; und die verlassenen, disziplinlosen Aufständischen, kaum durch einige Schildwachen geschützt, unter den Befehlen einiger unentschlossener Männer stehend, sahen sich jetzt den erstbesten Truppen, die sich zeigen würden, ausgeliefert.

Sie verweilten noch zwei Tage in Orchères, am Dienstag und Mittwoch, verloren so zwei Tage und erschwerten noch ihre Lage. Der General, der Mann mit dem Säbel, den Silvère seiner Freundin Miette auf der Straße nach Plassans gezeigt hatte, zögerte, gebeugt unter der Wucht der auf ihm lastenden furchtbaren Verantwortung. Am Donnerstag fand er, daß die Stellung in Orchères gefahrvoll sei. Gegen ein Uhr gab er den Befehl zum Aufbruch und führte seine kleine Schar auf die Höhen von Sainte-Roure. Es war dies übrigens eine uneinnehmbare Stellung für jemanden, der sie zu verteidigen wußte. Die Häuser von Sainte-Roure sind am Abhang eines Hügels erbaut; hinter der Stadt ist der Gesichtskreis von ungeheuren Felsblöcken abgeschlossen. Diese Art Hochburg ist nur von der Ebene von Nores aus zu ersteigen, die sich am Fuße des Plateaus ausbreitet. Ein Vorplatz, wo man einen mit herrlichen Ulmen bepflanzten Spazierweg angelegt hatte, beherrscht die Ebene. Auf diesem Vorplatz lagerten die Aufständischen. Die Geiseln sperrte man in dem Gasthofe »Zum weißen Maultier« ein, der mitten auf dem Vorplatz lag. Die Nacht war finster und beklemmend. Man sprach von Verrat. Der Mann mit dem Säbel, der die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen verabsäumt hatte, hielt am frühen Morgen eine Schau über seine Truppen. Die einzelnen Abteilungen waren in langer Reihe aufgestellt mit dem Rücken gegen die Ebene in dem seltsamen Gemisch ihrer Trachten, braune Jacken, dunkle Röcke, blaue Blusen, durch rote Gürtel festgehalten; die bunt zusammengewürfelten Waffen, frisch geschliffene Sensen, breite Schaufeln, alte Jagdflinten, leuchteten in der winterlichen Sonne, als in dem Augenblicke, da der zeitweilige General seine kleine Armee abritt, ein Mann, den man in einem nahen Olivenfelde als Schildwache vergessen hatte, lebhaft gestikulierend herbeieilte, mit dem immerfort wiederholten Rufe: Die Soldaten! Die Soldaten!

Es entstand eine ungeheure Bewegung. Man glaubte anfangs an einen blinden Lärm. Alle Disziplin vergessend stürzten die Aufständischen vorwärts, bis zum Ende des Vorplatzes, um die Soldaten zu sehen. Die Reihen lösten sich. Und als die dunkle Linie der Truppe erschien, in gerader Haltung mit der schimmernden, breiten Linie der Bajonette hinter der Reihe grauer Olivenbäume hervorbrechend, trat eine Bewegung nach rückwärts ein, eine Verwirrung, die ein Erbeben des Schreckens durch die ganze Menge von einem Ende der Anhöhe bis zum andern jagte.

Inzwischen hatten die Abteilungen von La Palud und Saint-Martin-de-Vaux inmitten des Spazierweges sich wieder in Reih und Glied geordnet und standen in trotziger Entschlossenheit da. Ein Köhler, ein Riese, der alle seine Genossen überragte, schrie, seine rote Halsbinde schwingend: Zu uns her, ihr Leute von Chavanoz, Graille, Poujols, Saint-Eutrope! Hierher Tulettes und Plassans!

Es gab nun ein tolles Laufen auf dem Vorplatz. Der Mann mit dem Säbel, umgeben von den Leuten aus Faverolles, entfernte sich mit den Abteilungen von Vernoux, Corbière, Marsanne, Pruinas, um den Feind zu umgehen und in der Flanke zu fassen. Andere wieder, die Leute von Valqueyras, Nazère, Castel-le-Vieux, Roches-Noires, Murdaran, stürmten links davon, um sich als Schwarmlinie in der Ebene von Nores aufzulösen.

Während die Wandelbahn auf dem Vorplatze sich leerte, vereinigten sich alle die Flecken und Dörfer, die der Köhler zu Hilfe gerufen hatte, und diese Leute bildeten eine dunkle, unregelmäßige Masse, gegen alle Regeln der Kriegskunst gruppiert, aber hierhergewälzt wie ein Block, um den Weg zu versperren oder zu sterben. Plassans stand in der Mitte dieses heldenmütigen Bataillons. Unter den grauen Blusen und Jacken inmitten der bläulich schimmernden Waffen nahm sich der Mantel Miettens, die mit beiden Händen die Fahne hielt, wie ein breiter, roter Fleck aus, wie der Fleck einer frischen, blutenden Wunde.

Plötzlich war tiefe Stille eingetreten. An einem der Fenster der Herberge »Zum weißen Maultier« erschien das bleiche Haupt des Herrn Peirotte. Er sprach und gestikulierte.

Ziehen Sie sich zurück und schließen Sie die Fensterläden! riefen die Aufständischen wütend. Sie laufen Gefahr, erschossen zu werden.

Die Fensterläden wurden in aller Hast geschlossen, und man vernahm nichts mehr, als den gleichmäßigen Marsch der herannahenden Soldaten.

Eine lange, bange Minute verfloß. Die Truppe war jetzt einen Augenblick verschwunden; eine Erdfalte verbarg sie und bald bemerkten die Aufständischen von der Ebene her im Lichte der aufgehenden Sonne die Spitzen der Bajonette, die sich immer mehr näherten, immer größer werdend sich heranwälzten, gleich einem Weizenfelde mit stählernen Ährenspitzen. In diesem Augenblicke glaubte Silvère in dem Fieber, das ihn schüttelte, das Bild des Gendarmen vorbeischweben zu sehen, dessen Blut seine Hände gerötet hatte. Er hatte von seinen Kameraden erfahren, daß Rengade nicht gestorben war, daß er ihm nur ein Auge ausgestoßen hatte; und er sah ihn jetzt deutlich mit der leeren, blutigen, schrecklichen Augenhöhle. Der quälende Gedanke an diesen Menschen, den er seit seinem Aufbruch von Plassans nicht gesehen, war ihm unerträglich. Er fürchtete, daß er Angst haben könne und drückte heftig seine Waffe an sich, die Augen von einem Nebel verschleiert, vor Begierde brennend, seine Waffe abzuschießen und so das Bild des Einäugigen zu verscheuchen. Die Bajonette kamen langsam immer näher.

Als die Köpfe der Soldaten am Rande des Vorplatzes auftauchten, wandte sich Silvère mit einer instinktiven Bewegung zu Miette. Größer geworden, mit rosig glühendem Antlitze stand sie neben ihm, in die Falten der roten Fahne gehüllt. Sie stellte sich auf die Fußspitzen, um die herannahende Truppe besser zu sehen. Ihre Nasenflügel zitterten in nervöser Erwartung; ihre weißen Wolfszähnchen schimmerten zwischen den roten Lippen. Silvère lächelte ihr zu. Noch hatte er den Kopf nicht von ihr gewandt, als Gewehrfeuer knatterte. Die Soldaten, von denen man erst die Schultern sah, hatten die erste Salve abgegeben. Es schien Silvère, als sei ein heftiger Windstoß über seinen Kopf hinweggefahren, während eine Menge welker Blätter, durch die Kugeln getroffen, von den Ulmen niederfielen. Ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Ast zu Boden fällt, ließ ihn zur Seite blicken. Er sah den großen Köhler, den Mann, der alle übrigen überragte, am Boden liegen. Er hatte ein kleines schwarzes Loch in der Mitte der Stirne. Nun schoß Silvère seinen Karabiner ab, ohne zu spielen, lud und schoß von neuem. All das sah er wie ein Rasender, wie ein wildes Tier, das an nichts denkt, das nur töten will. Er sah die Soldaten nicht mehr; unter den Ulmen schwebte Pulverdampf gleich Fetzen grauer Musseline. Es regnete noch immer dürres Laub auf die Häupter der Aufständischen; die Soldaten schossen zu hoch. Inmitten des Geknatters vernahm der junge Mensch zuweilen einen Seufzer, ein dumpfes Röcheln; dann entstand in der kleinen Schar ein Drängen, wie um dem Unglücklichen Platz zu machen, der fiel und sich an die Schultern seiner Nachbarn klammerte. Das Feuer währte schon zehn Minuten.

Da schrie zwischen zwei Salven plötzlich ein Mann: Rette sich wer kann! Ein fürchterlicher Ausdruck des Schreckens lag in diesem Rufe. Es wurden wilde Scheltworte laut; einzelne Stimmen brummten: O, die Feiglinge! Unheilvolle Gerüchte gingen durch die Reihen; der General sei geflohen, die Kavallerie säble die in der Ebene zerstreuten Plänkler nieder. Und das Gewehrgeknatter hörte nicht mehr auf; es folgte Salve auf Salve, mit plötzlich aufblitzenden Flammen den Pulverdampf rötend.

Eine rauhe Stimme verkündete wiederholt, man müsse hier auf dem Fleck sterben. Aber die andere, die von der Furcht gepreßte Stimme, schrie lauter: Rette sich wer kann! Einzelne Männer entflohen, indem sie ihre Waffen von sich schleuderten und über die Toten hinwegsprangen. Die anderen rückten zusammen. Es waren noch zehn Aufständische da; zwei flüchteten alsbald und von den übrigen lagen bei der nächsten Salve drei getroffen am Boden.

Die beiden Kinder waren unwillkürlich da geblieben, ohne die Vorgänge zu begreifen. In dem Maße, als die Schar kleiner ward, hielt Miette ihre Fahne immer höher; mit geschlossenen Fäusten hielt sie sie wie eine große Kerze aufrecht vor sich. Die Fahne war schon von Kugeln durchlöchert. Als Silvère keine Munition mehr in der Tasche hatte, hörte er auf zu schießen und betrachtete mit blöder Miene sein Gewehr. In diesem Augenblick zog ein Schatten an seinem Antlitze vorüber, wie wenn ein Riesenvogel mit einem Flügelschlag seine Stirne gestreift hätte. Als er die Augen aufhob, sah er die Fahne den beiden Händen Miettes entsinken. Beide Hände auf die Brust gepreßt, mit zurückgesunkenem Haupte und einem furchtbaren Ausdrucke des Schmerzes drehte das Mädchen sich langsam herum. Ohne einen Schrei auszustoßen sank sie auf die rote Fahne nieder.

Auf! Erhebe dich! Komm schnell! rief Silvére ihr die Hand reichend. Er hatte nunmehr den Kopf verloren.

Allein Miette blieb mit weit geöffneten Augen auf dem Boden liegen, ohne ein Wort hervorzubringen. Er begriff und warf sich vor ihr auf die Knie nieder.

Du bist verwundet? Sprich! Wo bist du verwundet?

Sie antwortete nicht; von einem kurzen Frösteln geschüttelt, sah sie ihn mit ihren großen Augen an. Er zog ihre Hände von der Brust und fragte:

Ist's hier?

Dann zerriß er ihr Leibchen und legte ihre Brust bloß. Er suchte, sah aber nichts. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Endlich entdeckte er unter der linken Brust ein kleines rotes Loch; ein einziger Blutstropfen hing an der Wunde.

Es wird nichts sein, stammelte er. Ich will Pascal aufsuchen; er wird dich gesund machen. Wenn du nur aufstehen könntest... Kannst du dich nicht erheben?

Die Soldaten schossen nicht mehr. Sie stürzten nach links davon, um sich auf die Abteilungen zu werfen, die der Mann mit dem Säbel weggeführt hatte. Auf dem leeren Vorplatz war niemand mehr da außer Silvère, der bei Miette am Boden kniete. Mit einer Hartnäckigkeit der Verzweiflung hatte er sie in seine Arme genommen. Er wollte sie aufrichten; allein das Kind ward von dem Schmerze dermaßen geschüttelt, daß er sie wieder auf den Boden legen mußte.

Sprich zu mir, flehte er. Warum sagst du mir nichts?

Sie konnte nicht sprechen. Langsam bewegte sie die Hände, um anzudeuten, daß es nicht ihre Schuld sei. Unter der Gewalt des Todes verdünnten sich bereits ihre zusammengekniffenen Lippen. Mit aufgelöstem Haar, das Haupt in die roten Falten der Fahne gehüllt, lag sie da, und es lebten nur mehr die Augen an ihr, diese schwarzen Augen, die in dem weißen Gesichte leuchteten. Silvère schluchzte. Die Blicke dieser großen, schmerzerfüllten Augen taten ihm weh. Er las darin ein grenzenloses Bedauern um das Leben. Miette sagte ihm mit diesen Blicken, daß sie allein von hinnen scheiden müsse vor ihrer Vereinigung, noch ehe sie sein Weib geworden; sie sagte ihm weiter, daß er es so gewollt und daß er sie hätte lieben sollen, wie alle Burschen die Mädchen lieben. In ihrem Todeskampfe, in diesem schweren Ringen ihrer starken Natur mit dem Tode, beweinte sie ihre Jungfernschaft. Silvère lag über sie gebeugt und begriff das bittere Schluchzen dieses glühenden Fleisches. Er hörte aus der Ferne die drängenden Bitten der alten Gebeine; er erinnerte sich der Liebkosungen, die in der verflossenen Nacht, am Rande der Straße, ihre Lippen versengt hatten; sie hatte sich an seinen Hals gehängt und die ganze Liebe gefordert und er hatte es nicht begriffen und ließ sie als Kind von hinnen ziehen, verzweifelt darüber, die Wonnen des Lebens nicht genossen zu haben. In seiner Trostlosigkeit, daß sie nichts als das Andenken an einen Schulknaben, an einen Spielgenossen von ihm mitnehmen sollte, küßte er ihre jungfräuliche Brust, diese reine und keusche Brust, die er enthüllt hatte. Dieser bebende Leib, diese bewunderungswürdige Reife des Mädchens war ihm unbekannt geblieben. Die Zähren benetzten ihm die Lippen. Er preßte den blutenden Mund auf die Haut des Kindes. Diese Küsse des Liebhabers ließen eine letzte Freude in den Augen Miettens aufleuchten. Sie liebten sich, und ihre Idylle fand im Tode ihre Lösung.

Doch er konnte nicht glauben, daß sie sterben solle.

Nein, du wirst sehen, es ist nichts, sagte er. Sprich nicht, wenn du leidest. Wart', ich will dir den Kopf stützen, dann werde ich dich erwärmen, deine Hände sind eiskalt. In den Olivenfeldern links begann das Schießen wieder. Aus der Ebene von Nores war das dumpfe Geräusch der galoppierenden Reiterei zu vernehmen. Von Zeit zu Zeit hörte man ein Schreckensgeheul, wie von Menschen, die erwürgt werden. Dichte Rauchwolken zogen daher, unter den Ulmen des Vorplatzes hin. Allein Silvère sah und hörte nichts mehr. Pascal, der nach der Ebene hinabeilte, bemerkte ihn, wie er am Boden lag, und näherte sich, weil er ihn verwundet glaubte. Als der junge Mensch ihn erkannt hatte, klammerte er sich an ihn und zeigte ihm Miette.

Sehen Sie, sprach er; sie ist verwundet, da, unterhalb der Brust. Ach, wie gütig sind Sie, daß Sie gekommen sind! Sie werden sie retten.

In diesem Augenblicke ging ein leichtes Zucken durch den Leib der Sterbenden. Ein schmerzlicher Schatten flog über ihr Antlitz und zwischen ihren Lippen, die sich jetzt öffneten, stieß sie einen leichten Hauch hervor. Ihre Augen blieben weit offen auf dem jungen Manne haften.

Pascal, der sich herabgebeugt hatte, richtete sie auf und sagte:

Sie ist tot.

Tot! Silvère wankte bei diesem Worte. Er hatte sich auf den Knien aufgerichtet und sank jetzt zurück, wie umgeworfen durch den schwachen Hauch Miettens.

Tot! Tot! wiederholte er. Das ist nicht wahr; sie schaut mich doch an. Sehen Sie nicht, daß sie mich anschaut?

Er faßte den Arzt bei seinem Rocke, beschwor ihn, sich nicht zu entfernen, beteuerte ihm, daß er sich täusche, daß sie nicht tot sei und daß er sie retten werde, wenn er nur wolle. Pascal wehrte sanft ab und sagte in teilnahmvollem Tone:

Ich kann nichts mehr tun; andere heischen meine Hilfe. Laß ab, mein armes Kind; sie ist tot. Er ließ ihn ziehen und sank zu Boden. Tot! Tot! Abermals dieses Wort, das wie der Schall einer Totenglocke in seinem leeren Schädel widerhallte. Als er allein war, schleppte er sich zur Leiche hin. Miette schaute ihn noch immer an. Da warf er sich auf sie und wälzte sein Haupt auf ihrem entblößten Busen und badete ihren Leib in seinen Tränen. Er verfiel schier in Wahnsinn, drückte wütend seine Lippen auf die beginnende Rundung ihres Busens und hauchte in einem Kusse sein Fieber, sein Leben ein, wie um sie wieder zu erwecken. Aber das Kind wurde unter seinen Küssen immer kälter. Er fühlte, wie dieser Körper schlaff und leblos in seinen Armen lag. Ihn erfaßte ein Grausen; mit verstörtem Antlitz, kraftlos herabhängenden Armen hockte er da und wiederholte immerfort:

Sie ist tot, aber sie schaut mich an; sie schließt nicht die Augen, sie sieht mich immer an.

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit unsagbarer Freude. Er rührte sich nicht mehr. Er tauschte mit Miette einen langen Blick, um noch einmal in ihren Augen, die der Tod noch vertiefte, das letzte Bedauern des Kindes zu lesen, das seine Jungfernschaft beweint.

Inzwischen hieb die Reiterei in der Ebene noch immer auf die Flüchtlinge ein; der Galopp der Pferde, das Geschrei der Sterbenden entfernte sich immer mehr und drang schwächer herüber gleich den Klängen einer Musik, die in der klaren Luft lange zu hören ist. Silvère wußte nicht mehr, daß man sich da unten schlage. Er sah seinen Vetter nicht, der den Hügel heraufkam und abermals über den Vorplatz ging. Im Vorbeigehen hob Pascal den Karabiner Macquarts auf, den Silvère weggeworfen hatte; er kannte die Waffe, weil er sie bei Tante Dide über dem Kamin hatte hängen sehen; er wollte sie vor den Händen der Sieger bergen. Kaum hatte er die Herberge »Zum weißen Maultier « betreten, wohin man eine große Anzahl von Verwundeten geschafft hatte, als ein Schwärm Aufständischer, von den Gendarmen gleich einem Rudel wilder Tiere gehetzt, den Vorplatz überflutete. Der Mann mit dem Säbel hatte Reißaus genommen; auf die letzten Abteilungen der Landleute wurde Jagd gemacht. Es gab ein entsetzliches Gemetzel. Es war vergebens, daß der Oberst Masson, sowie Blériot, von Mitleid ergriffen, den Rückzug anordneten. Die Soldaten fuhren fort wütend in den Knäuel zu schießen, die Fliehenden mit ihren Bajonetten an die Mauern zu spießen. Als sie keine Feinde mehr vor sich hatten, durchlöcherten sie mit ihren Kugeln die Mauer der Herberge »Zum weißen Maultier«. Die Fensterläden gingen in Trümmer; ein halb offen gebliebenes Fenster wurde mit lautem Klirren heruntergerissen. Im Innern riefen jammernde Stimmen: »Die Gefangenen! Die Gefangenen!« Allein die Soldaten hörten nichts; sie fuhren fort zu schießen. Einen Augenblick sah man den Major Sicardot verzweifelt auf der Schwelle erscheinen und unter lebhaften Armbewegungen sprechen. Neben ihm zeigte der Steuereinnehmer, Herr Peirotte, seinen schmächtigen Leib, sein erschrockenes Gesicht. Es ertönte noch eine Entladung und Herr Peirotte stürzte nieder, das Antlitz dem Boden zugekehrt.

Silvère und Miette betrachteten einander noch immer. Der junge Mann hatte in seiner Stellung – über die Tote gebeugt – verharrt, inmitten des Schießens und des Stöhnens der Sterbenden, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Er merkte nur, daß Männer in der Nähe seien und von einem Gefühl der Scham ergriffen, breitete er die rote Fahne über Miette, um ihre nackte Brust zu verdecken. Dann fuhren sie fort, einander anzusehen.

Doch der Kampf war jetzt zu Ende. Die Ermordung des Steuereinnehmers hatte die Soldaten befriedigt. Einzelne suchten noch alle Winkel des Vorplatzes ab, damit ihnen kein einziger Aufständischer entgehe. Ein Gendarm, der Silvère unter den Ulmen bemerkte, lief herbei, und als er sah, daß er es mit einem Kinde zu tun habe, fragte er:

Was machst du da, Junge?

Silvère gab keine Antwort; die Augen auf Miettens offen starre Augen gerichtet, hockte er da.

Ha, der Bandit! Seine Hände sind von Pulver geschwärzt! rief der Mann, der sich herabgeneigt hatte. Auf, auf, Hundsfott! Deine Rechnung ist fertig!

Als Silvère, auf dessen Lippen ein Lächeln schwebte, sich noch immer nicht rührte, bemerkte der Mann, daß die Leiche auf der Fahne die eines Weibes sei.

Eine hübsche Dirne, fürwahr! rief er. Es ist schade um sie. Es war wohl deine Metze, Lumpenkerl?

Und er fuhr mit einem rohen Gelächter fort:

Auf! Vorwärts! Sie ist tot, du wirst doch nicht bei ihr schlafen wollen!

Er zerrte Silvère empor, brachte ihn auf die Beine und führte ihn hinweg, wie man einen Hund an einer Pfote nachschleppt. Silvère ließ sich wortlos wegführen, gefügig wie ein Kind. Er wandte sich um und betrachtete Miette. Er war trostlos, sie so allein, unter den Bäumen zurücklassen zu müssen. Aus der Ferne sah er sie ein letztes Mal. Keusch und starr blieb sie da liegen, in die rote Fahne gehüllt, das Haupt leicht vorgeneigt. Und die weit offenen Augen starrten ins Leere.


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