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Drittes Kapitel.

In Plassans, dieser verschlossenen Stadt, wo die Sonderung der Klassen im Jahre 1848 noch sehr scharf zum Ausdruck kam, war die Rückwirkung der politischen Ereignisse eine sehr schwache. Noch heutzutage erstickt daselbst die Stimme des Volkes; die Bürgerschaft setzt ihre Bedächtigkeit, der Adel seine stumme Verzweiflung, die Geistlichkeit ihre Schlauheit dafür ein. Mögen Könige sich einen Thron stehlen, oder Republiken gegründet werden: es berührt diese Stadt kaum. Wenn man in Paris sich schlägt, dann schläft man in Plassans. Allein mag die Oberfläche auch ruhig und gleichgültig erscheinen, es gibt doch im Grunde eine verborgene Arbeit, die sehr interessant zu beobachten ist. Wohl sind die Flintenschüsse nur selten in den Straßen, dagegen werden die Salons der Neustadt und des Sankt-Markus-Viertels von unaufhörlichen Ränken verzehrt. Bis zum Jahre 1830 zählte das Volk für nichts. Heute noch handelt man dort so, als ob es nicht da wäre. Alles wird zwischen der Geistlichkeit, dem Adel und der Bürgerschaft abgemacht. Die sehr zahlreichen Priester geben in der Politik der Stadt den Ton an. Es gibt da unterirdische Minen, Schläge im Dunkeln, eine scharfsinnige und vorsichtige Taktik, die kaum alle zehn Jahre einen Schritt vor oder zurück gestattet. Diese geheimen Kämpfe von Männern, die vor allem den Lärm vermeiden wollen, erheischen eine ganz besondere Schlauheit, eine Geschicklichkeit in der Handhabung der kleinen Dinge, eine Geduld von Leuten, die jeder Leidenschaft bar sind. Die provinziale Bedächtigkeit und Langsamkeit, über die man sich in Paris so gerne lustig macht, ist in Wirklichkeit voll Verräterei, geheimer Feindseligkeiten, stiller Siege und Niederlagen. Wenn diese wackeren Männer ihr Interesse auf dem Spiele wissen, töten sie fein säuberlich in den Zimmern mit Nasenstübern, wie wir in den Straßen der Hauptstadt mit Kanonenschüssen töten.

Die politische Geschichte von Plassans bietet gleich der aller kleinen Städte der Provence eine interessante Eigentümlichkeit. Bis zum Jahre 1830 blieben die Einwohner fromme Katholiken und eifrige Königstreue; das Volk schwur bei Gott und seinem rechtmäßigen König. Hernach fand eine seltsame Wandlung statt; der Glaube schwand, die Arbeiter und Bürger ließen die Sache der Rechtmäßigkeit im Stich und folgten allmählich der großen demokratischen Bewegung unserer Zeit. Als die Revolution im Jahre 1848 ausbrach, wirkten nur die Geistlichkeit und der Adel für den Sieg der Sache Heinrichs V. Lange Zeit hatten sie die Herrschaft der Orléans als einen lächerlichen Versuch betrachtet, der früher oder später zur Wiederkehr der Bourbonen führen mußte. Obgleich ihre Hoffnungen arg erschüttert waren, nahmen sie dennoch den Kampf auf, entrüstet über die Niedertracht ihrer ehemaligen Getreuen und bemüht, sie wieder für sich zu gewinnen. Das Sankt-Markus-Viertel machte sich, unterstützt von allen Pfarren, ans Werk. Nach den Ereignissen in den Februartagen war die Freude der Bürgerschaft und besonders des Volkes groß. Diese Lehrlinge der Republik hatten es eilig, ihr revolutionäres Fieber auf den Markt zu tragen. Allein für die Rentiers der Neustadt hatte diese Begeisterung nur den Glanz und die Dauer eines Strohfeuers. Die kleinen Grundbesitzer, die Kaufleute im Ruhestande, alle jene, die unter der Monarchie gefaulenzt oder ein Vermögen erworben hatten, wurden alsbald von einem panischen Schrecken ergriffen; die Republik mit ihren Erschütterungen ließ sie für ihre Kasse und für ihr liebgewordenes selbstsüchtiges Dasein zittern. Als daher im Jahre 1849 die klerikale Reaktion kam, ging fast die gesamte Bürgerschaft von Plassans zur konservativen Partei über. Sie wurde hier mit offenen Armen aufgenommen. Noch niemals hatte die Neustadt so enge Beziehungen zum Sankt-Markus-Viertel. Manche Edelleute gingen so weit, einfachen Advokaten und ehemaligen Ölhändlern die Hand zu reichen. Diese unerwartete Vertraulichkeit entzückte die Neustadt, die von nun ab die republikanische Regierung wütend bekämpfte. Die Geistlichkeit mußte wahre Wunder an Geschicklichkeit und Geduld aufbieten, um auch ihrerseits eine ähnliche Annäherung herbeizuführen. Im Grunde befand sich der Adel von Plassans gleich einem Sterbenden in einem Zustande unüberwindlicher Starre; er behielt seinen Glauben, aber er war von dem Schlafe der Erde übermannt; er zog es vor, nichts zu tun und alles dem Himmel zu überlassen; gerne würde er durch sein bloßes Stillschweigen Verwahren gegen die Geschehnisse eingelegt haben, weil er vielleicht das unbestimmte Gefühl hatte, daß seine Götter tot seien und daß ihm nichts mehr übrig blieb, als sich zu jenen zu versammeln. Selbst in jener Zeit des Umsturzes, als die Katastrophe vom Jahre 1848 geeignet war, den Adel einen Augenblick an die Wiederkehr der Bourbonen glauben zu lassen, erwies er sich als gleichmütig, schläfrig; er sprach wohl davon, sich in das Getümmel zu stürzen, zog es aber vor, am warmen Kamin zu bleiben. Der Klerus bekämpfte ohne Unterlaß dieses Gefühl der Ohnmacht und Entsagung; die Geistlichkeit betrieb dieses Geschäft mit einer wahren Leidenschaft. Wenn ein Priester verzweifelt, so kämpft er nur um so erbitterter; die ganze Politik der Kirche besteht darin, gerade fortzugehen, allem zu trotzen und jahrhundertelang auf die Verwirklichung ihrer Entwürfe zu warten, wenn es notwendig ist; keine Stunde zu verlieren, in unausgesetzter Arbeit immer vorwärts zu streben. In Plassans war es also die Geistlichkeit, die die Reaktion anführte, der Adel lieh nur den Namen dazu her; die Geistlichkeit barg sich hinter dem Adel und leitete diesen; ja, sie vermochte ihm sogar ein gewisses Scheinleben einzuflößen. Als es ihr gelungen war, das Widerstreben des Adels in dem Maße zu besiegen, daß sie ihn bewog, gemeinsame Sache mit der Bürgerschaft zu machen, glaubte sie des Sieges sicher zu sein.

Der Boden war wunderbar vorbereitet; diese alte königstreue Stadt, diese Bevölkerung von friedfertigen Bürgern und feigen Handelsleuten mußte kraft des Verhängnisses früher oder später zur Partei der Ordnung übergehen. Mit seiner geschickten Taktik beschleunigte der Klerus diese Bekehrung. Nachdem er die Haus- und Grundbesitzer der Neustadt gewonnen hatte, gelang es ihm, die Krämer des alten Stadtviertels zu überzeugen. Von da ab war die Reaktion Herrin der Stadt. In dieser Reaktion waren alle Meinungen vertreten. Noch nie hatte man ein solches Gemenge von unzufriedenen Liberalen, von Legitimisten, Orleanisten, Bonapartisten und Klerikalen gesehen. Aber das hatte einstweilen nichts zu bedeuten; es handelte sich vor allem darum, die Republik tot zu machen, und die Republik lag im Sterben. Ein Bruchteil des Volkes, etwa tausend Arbeiter von zehntausend Seelen der Stadt, grüßten noch den Freiheitsbaum, der in der Mitte des Präfekturplatzes errichtet war.

Die feinsten Politiker von Plassans, jene, die die reaktionäre Bewegung leiteten, witterten nur sehr spät das Auftauchen des Kaiserreiches. Die Volkstümlichkeit des Prinzen Louis Napoleon schien ihnen ein vorübergehender Taumel der Menge, mit dem man leicht fertig werden könne. Die Person des Prinzen selbst flößte ihnen nur eine mäßige Bewunderung ein. Sie hielten ihn für einen unbedeutenden hohlen Träumer, der unfähig sei, die Hand auf Frankreich zu legen und im besonderen unfähig, sich in der Macht zu erhalten. Für sie war er nur ein Werkzeug, dessen sie sich zu bedienen gedachten, ein Werkzeug, der Säuberung, das sie von sich werfen würden, sobald die Stunde schlagen würde, da der wahre Prätendent auftreten sollte. Indessen verflossen die Monate, und sie wurden allmählich unruhig. Da erst tauchte die unbestimmte Erkenntnis in ihnen auf, daß sie betrogen wurden. Allein man ließ ihnen nicht die Zeit, irgendeinen Entschluß zu fassen; der Staatsstreich brach über ihren Köpfen los und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als »ja« zu sagen; die große Metze, die Republik, war eben erwürgt worden. Das war immerhin ein Sieg. Die Geistlichkeit und der Adel nahmen die Tatsache mit Ergebung hin und verschoben die Verwirklichung ihrer Hoffnungen auf später; einstweilen rächten sie sich für ihre Enttäuschung, indem sie sich mit den Bonapartisten verbanden, um die letzten Republikaner auszurotten.

Diese Ereignisse begründeten das Glück der Rougon. In die verschiedenen Phasen dieser Krise mit verwickelt, wuchsen sie auf den Trümmern der Freiheit in die Höhe.

Diese Banditen auf dem Anstände bestahlen die Republik. Nachdem man sie erwürgt hatte, halfen sie dieselbe plündern.

Sogleich nach den Februartagen begriff Felicité, die die feinste Witterung in der Familie hatte, daß sie endlich auf der richtigen Spur seien. Sie begann ihren Mann zu umschwärmen und ihn anzuspornen, daß er sich rühre. Die erste Nachricht von der Revolution hatte Peter erschreckt. Als sein Weib ihm begreiflich machte, daß sie bei einem Umsturz wenig zu verlieren und alles zu gewinnen hätten, schloß er sich sehr rasch ihrer Meinung an.

Ich weiß nicht genau, was du tun könntest, wiederholte Felicité, aber mir scheint, daß es etwas zu tun gäbe. Hat uns Herr von Carnavant neulich nicht gesagt, daß er reich würde, wenn Heinrich V. jemals zurückkäme? und daß dieser König alle, die für seine Rückkehr gearbeitet, herrlich belohnen würde? Da müssen wir vielleicht unser Glück suchen. Es wäre endlich an der Zeit, daß wir eine glückliche Hand haben.

Der Marquis von Carnavant, dieser Edelmann, der nach der Skandalchronik der Stadt zu Felicités Mutter in vertrauten Beziehungen gestanden, kam in der Tat von Zeit zu Zeit zu den Rougonschen Eheleuten zu Besuch. Die bösen Zungen behaupteten, daß Felicité ihm ähnlich sehe. Er war ein kleiner, magerer, rühriger Mann, damals etwa fünfundsiebzig Jahre alt. Mit zunehmendem Alter ward Felicité in ihren Zügen und in ihrem Benehmen dem Marquis immer ähnlicher. Man erzählte sich, daß er die Trümmer seines Vermögens, das sein Vater in den Zeiten der Auswanderung schon stark angegriffen, mit Weibern durchgebracht hatte. Er gestand übrigens ziemlich freimütig seine Armut ein. Von einem seiner Verwandten, dem Grafen von Valqueyras aufgenommen, lebte er als Schmarotzer, an der Tafel des Grafen speisend und einen ziemlich engen Raum unter dem Dache des gräflichen Palastes bewohnend.

Kleine, sagte er oft, die Wange Felicités tätschelnd, wenn Heinrich V. jemals mein Vermögen mir wiedergibt, sollst du meine Erbin sein.

Felicité war schon fünfzig Jahre alt, als er sie noch immer »Kleine« hieß. Madame Rougon dachte an dieses vertrauliche Tätscheln der Wange und an diese Versprechungen, sie zu seiner Erbin zu machen, wenn sie ihren Gatten dazu drängte, sich in die Politik zu stürzen. Oft genug klagte Herr von Carnavant bitter darüber, daß es ihm unmöglich sei, ihr zu Hilfe zu kommen. Es war kein Zweifel, daß er an dem Tage, da er wieder zu Macht käme, sich ihr als Vater zeigen würde. Peter, dem seine Frau in verhüllten Worten die Lage kennzeichnete, erklärte sich bereit, den Weg zu wandeln, den man ihm vorschreiben werde.

Die eigenartige Stellung des Marquis machte aus ihm in Plassans gleich in den ersten Tagen der Republik einen tätigen Agenten der reaktionären Bewegung. Dieser kleine behende Mann, der durch die Wiederkehr seiner legitimen Könige alles zu gewinnen hatte, beschäftigte sich mit fieberhaftem Eifer mit dem Triumph ihrer Sache. Während der reiche Adel des Sankt-Markus-Viertels in seiner Verzweiflung schlummerte, vielleicht aus Furcht, sich bloßzustellen und von neuem zur Verbannung verurteilt zu werden, sah man den Marquis sich vervielfältigen, Propaganda machen, Anhänger werben. Er ward zu einer Waffe, deren Heft eine unsichtbare Hand hielt. Von jetzt an kam er täglich zu den Rougon. Er brauchte einen Mittelpunkt für seine Operationen. Da sein Verwandter, der Graf von Valqueyras ihm verboten hatte, seine Verbündeten in seinen Palast zu bringen, hatte er Felicités gelben Salon zum Sammelplatz erkoren. Er fand übrigens alsbald an Peter einen sehr wertvollen Gehilfen. Er selbst konnte doch nicht hingehen und kleinen Krämern und Arbeitern der Hauptstadt die Sache der Legitimität predigen. Man würde ihn auch getötet haben. Peter hingegen, der unter diesen Leuten gelebt hatte, ihre Sprache redete, ihre Bedürfnisse kannte, vermochte sie in aller Ruhe zu belehren. In dieser Weise wurde er ein unentbehrlicher Mann. In weniger denn zwei Wochen waren die Rougon königstreuer als der König. Als der Marquis den Eifer Peters sah, barg er sich schlau hinter ihm. Wozu denn auch in den Vordergrund treten, wenn ein Mann mit breiten Schultern da ist, der die Dummheiten einer Partei auf sich nimmt? Er ließ Peter den Herrn spielen, sich aufblähen und großtun und begnügte sich seinerseits, ihn zurückzuhalten oder vorwärts zu treiben, je nach den Anforderungen seiner Sache. So wurde der ehemalige Ölhändler alsbald zu einer Person von Bedeutung.

Wenn sie des Abends allein waren, sagte Felicité zu ihrem Manne:

Nur vorwärts, fürchte nichts; wir sind auf dem richtigen Wege. Wenn das so weiter geht, werden wir reich sein, einen Salon haben wie der Steuereinnehmer und Gesellschaften geben.

Es hatte sich bei den Rougon ein Kern von Konservativen gebildet, die sich jeden Abend im gelben Salon versammelten, um gegen die Republik zu wettern.

Es waren drei oder vier Kaufleute im Ruhestande, die für ihre Renten zitterten und mit ihren heißesten Wünschen eine kluge und starke Regierung herbeisehnten; ferner ein ehemaliger Mandelhändler, Mitglied des Gemeinderates, namens Isidor Granoux; dieser war gleichsam das Haupt der ganzen Gruppe. Sein Mund, der einem Hasenmaul gleichend, fünf oder sechs Zentimeter von der Nase entfernt geschlitzt war, seine runden Augen, seine zufriedene und zugleich erschrockene Miene machten ihn einer fetten Gans ähnlich. Er sprach wenig, weil er keine Worte fand; er horchte nur dann auf, wenn man die Republikaner beschuldigte, daß sie die Häuser der Reichen plündern wollen und begnügte sich, dann rot zu werden, daß man einen Schlagfluß befürchten mußte und wütende Schmähungen auszustoßen, aus denen man die Worte: »Taugenichtse, Bösewichte, Diebe, Mörder« heraushörte.

Um die Wahrheit zu reden, waren nicht alle Gäste des gelben Salons so schwerfällig wie diese fette Gans. Ein reicher Grundbesitzer, Herr Roudier, mit fettem, einschmeichelndem Antlitz, hielt daselbst stundenlange Reden mit der Leidenschaftlichkeit eines Orleanisten, den der Sturz Louis Philippes aus allen seinen Berechnungen gerissen hat. Es war dies ein ehemaliger Schlafmützenfabrikant aus Paris, der sich nach Plassans zurückgezogen hatte, ein ehemaliger Hoflieferant, der seinen Sohn dem Richterstande zugeführt hatte in der Hoffnung, daß die Orleanisten ihn zu den höchsten Würden emporsteigen lassen würden. Da die Revolution seine Hoffnungen vernichtete, warf er sich mit Leib und Seele der Reaktion in die Arme. Sein Reichtum, seine ehemaligen geschäftlichen Verbindungen mit den Tuilerien, die er als freundschaftliche Beziehungen hinzustellen wußte; das Ansehen, das in der Provinz jedermann genießt, der in Paris Geld erworben hat, das er dann auf dem Lande verzehrt: sie sicherten ihm einen sehr großen Einfluß in der Gegend; viele hörten ihn an, wie ein Orakel.

Doch der gewaltigste Kopf im gelben Salon war sicherlich der Major Sicardot, Aristides' Schwiegervater. Gebaut wie ein Herkules, mit rotem Antlitz, auf dem hier und da Büschel grauen Haares saßen, zählte Herr Sicardot zu den ruhmvollsten Haudegen der großen Armee. In den Tagen der Februarrevolution hatte nur der Straßenkampf ihn in Wut versetzt; er konnte nicht müde werden, über diesen Gegenstand zu reden und schrie, daß er sich schämen würde, sich in dieser Weise zu schlagen, und erinnerte sich mit Stolz der Herrschaft des großen Napoleon.

Man sah bei den Rougon auch einen Mann mit feuchten Händen und falschen Blicken, Herrn Vuillet, einen Buchhändler, der alle Betschwestern der Stadt mit Heiligenbildern und Rosenkränzen versah. Bei Vuillet waren klassische Werke und Andachtsbücher zu finden; er war ein frommer, gläubiger Katholik, was ihm die Kundschaft der zahlreichen Klöster und Pfarren sicherte. Vermöge eines genialen Einfalles verband er mit seinem Buchhandel den Verlag eines zweimal in der Woche erscheinenden kleinen Journals, der »Gazette de Plassans«, in dem er sich ausschließlich mit den Interessen des Klerus beschäftigte. Dieses Blatt verschlang ihm Jahr für Jahr eine Summe von beiläufig tausend Franken. Aber es machte ihn zum Vorkämpfer der Kirche und verhalf ihm zum Absätze seiner Bilder und Traktätchen. Dieser Mensch ohne Bildung, der eine sehr zweifelhafte Orthographie schrieb, verfaßte selbst die Artikel seines Blattes mit einer Demut und einer Galligkeit gegen die Gottlosen, die bei ihm das Talent ersetzten. Als der Marquis seinen Feldzug eröffnete, dachte er sogleich an den Vorteil, den er aus diesem platten Küstergesicht, aus dieser plumpen und interessierten Feder ziehen konnte.

Seit den Februartagen enthielten die Artikel der Gazette wenig Fehler, weil der Marquis sie überprüfte.

Man kann sich jetzt vorstellen, welchen eigentümlichen Anblick der gelbe Salon der Rougon jeden Abend darbot. Hier drängten sich alle Meinungen durcheinander und bellten gleichzeitig gegen die Republik. Im Hasse fanden sich alle zusammen. Der Marquis, der bei keiner dieser Versammlungen fehlte, beschwichtigte übrigens durch seine Gegenwart die kleinen Zänkereien, die zwischen dem Major und den übrigen Anhängern sich erhoben. Die Spießbürger waren geschmeichelt durch die Händedrücke, die er bei seiner Ankunft und seinem Abgange ihnen auszuteilen die Gnade hatte. Bloß Roudier, der ehemalige Freidenker aus der St.-Honoré-Straße, erklärte, daß der Marquis, dieser Habenichts, ihm schnuppe sei. Dieser letztere bewahrte sein liebenswürdiges Lächeln eines Edelmannes. Er mengte sich unter diese Spießbürger ohne jene verächtliche Grimasse, die jeder andere Insasse des Sankt-Markus-Viertels unter ähnlichen Umständen gemacht haben würde.

Sein Schmarotzerleben hatte ihn geschmeidig gemacht. Er war die Seele der ganzen Gruppe. Er befahl im Namen einer unbekannten Person, die er niemals nennen wollte. »Sie will dies, sie will jenes« sagte er. Diese verborgenen Götter, die hinter Wolken über die Geschicke der Stadt Plassans wachten, ohne sich unmittelbar in die öffentlichen Angelegenheiten einzumengen, mußten gewiß Priester sein, diese großen Politiker der Gegend. Wenn der Marquis dieses geheimnisvolle »Sie« aussprach, das der ganzen Versammlung einen wunderbaren Respekt einflößte, verriet Vuillet durch ein seliges Lächeln, daß er sie vollkommen kenne.

Die glücklichste Person in der Versammlung war Felicité. Endlich hatte sie Gesellschaft in ihrem Salon. Wohl schämte sie sich ein wenig ihrer alten Möbel mit gelbem Samt, allein sie tröstete sich mit dem Gedanken an das reiche Mobiliar, das sie anschaffen würde, wenn die große Sache gesiegt habe.

Die Rougon trieben es so weit, daß sie schließlich ihre Königstreue ernst nahmen. Wenn Herr Rougon nicht da war, wagte Felicité sogar zu behaupten, daß nur die Julimonarchie daran schuld sei, wenn sie in ihrem Ölhandel keinen Reichtum erworben hatten. In dieser Weise gab sie ihrer Armut einen politischen Anstrich. Sie hatte Schmeicheleien für jedermann, selbst für Granoux, indem sie jeden Abend eine neue höfliche Art erfand, ihn aus dem Schlafe aufzurütteln, wenn die Versammlung zu Ende war.

Der Salon, dieser Sammelplatz von Konservativen, die allen Parteien angehörten und von Tag zu Tag zahlreicher wurden, gewann alsbald großen Einfluß. Vermöge der Verschiedenheit der Mitglieder und hauptsächlich dank dem geheimen Antriebe, den jeder einzelne unter ihnen von dem Klerus erhielt, wurde der Salon jener reaktionäre Brennpunkt, der über ganz Plassans sein Licht ausstrahlen ließ. Die Taktik des Marquis, der sich im Hintergründe hielt, war die, den Peter Rougon als Oberhaupt der Partei hinzustellen. Die Versammlungen fanden bei Rougon statt. Dies genügte in den wenig scharfsichtigen Augen der Mehrzahl, um diesen an die Spitze der Gruppe zu stellen und die öffentliche Meinung auf ihn zu lenken. Ihm wurde das ganze Werk zugeschrieben; man hielt ihn für die hauptsächliche Triebfeder in dieser Bewegung, die alle, die gestern sich noch für die Republik begeisterten, allmählich der konservativen Partei zuführte. Es gibt gewisse Umstände, aus denen nur die abgewirtschafteten Leute Nutzen ziehen. Sie suchen da ihr Glück aufzubauen, wo besser bestellte und einflußreiche Leute nichts wagen würden. Sicherlich hätte man Roudier, Granoux und die anderen, da sie reiche und angesehene Leute waren, dem Peter Rougon als tätige Oberhäupter der konservativen Partei tausendmal vorziehen müssen. Allein keiner von ihnen würde eingewilligt haben, seinen Salon zu einem politischen Mittelpunkte zu machen, weil ihre politischen Überzeugungen nicht so weit gingen, sich offen bloßzustellen. Alles in allem waren dies nur Schreier, provinzielle Klatschmäuler, die bereit waren, gegen die Republik zu wettern, wenn sich ein Nachbar fand, der für ihr Treiben die Verantwortlichkeit übernahm. Die Rolle war gar zu gewagt und darum fanden sich unter der Bürgerschaft von Plassans nur die Rougon für dieselbe; diese Leute, die ihr großer, unersättlicher Ehrgeiz und ihre Begierden zu den kühnsten Entschlüssen drängten.

Im April des Jahres 1849 verließ Eugen plötzlich Paris und kam nach Plassans, um zwei Wochen bei seinem Vater zuzubringen. Man hat den Zweck dieser Reise niemals erfahren; doch darf man annehmen, daß Eugen gekommen war, um seiner Geburtsstadt den Puls zu fühlen und um zu erfahren, ob er da mit Erfolg als Abgeordnetenkandidat für die gesetzgebende Versammlung, die in Bälde an Stelle der Konstituante treten sollte, auftreten könnte. Er war zu schlau, um einen Mißerfolg zu riskieren. Ohne Zweifel schien ihm die öffentliche Meinung wenig günstig, denn er enthielt sich jeden Versuches. Man wußte übrigens in Plassans nicht, was aus ihm geworden war und was er in Paris treibe. Als er in seiner Heimatsstadt eintraf, fand man ihn weniger dick, weniger schläfrig. Man umschwärmte ihn, man suchte ihn zum Sprechen zu bringen. Doch er spielte den Unwissenden und ließ sich nicht ausholen, suchte vielmehr die anderen auszuholen. Schlauere Köpfe würden unter seinem scheinbaren Müßiggange sein lebhaftes Interesse, die politischen Meinungen der Stadt zu erkunden, herausgefunden haben. Er schien den Boden mehr für eine Partei, als für seine eigene Rechnung erforschen zu wollen.

Obgleich er auf jede persönliche Hoffnung verzichtet hatte, blieb er bis zum Schlüsse des Monats in Plassans und nahm während dieser Zeit lebhaften Anteil an den Versammlungen im gelben Salon. Sobald der erste Gast erschien, setzte er sich in eine Fensternische, möglichst weit von der Lampe. Da blieb er den ganzen Abend, das Kinn auf die rechte Hand gestützt und hörte aufmerksam zu. Die größten Dummheiten, die da gesprochen wurden, ließen ihn unempfindlich. Er nickte zu allem zustimmend mit dem Kopfe, selbst zu dem erschrockenen Grunzen des Herrn Granoux. Wenn man ihn nach seiner Ansicht fragte, wiederholte er höflich die Meinung der Mehrheit. Nichts vermochte seine Geduld zu erschöpfen, weder der eitle Traum des Marquis, der von den Bourbonen so redete, wie nach den Vorgängen des Jahres 1815, noch die spießbürgerlichen Auslassungen Roudiers, der mit Rührung von den vielen Strümpfen redete, die er ehemals dem Bürgerkönig geliefert hatte. Er schien sich im Gegenteil inmitten dieses Babel sehr wohl zu befinden. Manchmal, wenn alle diese Tölpel aus Leibeskräften auf die Republik einhieben, sah man seine Augen lachen, während sein Mund die Falte des ernsten Mannes beibehielt. Seine ruhige Art zuzuhören, seine unwandelbare Gefälligkeit hatten ihm alle Teilnahme gewonnen. Man hielt ihn für einen unbedeutenden, gutmütigen Menschen. Wenn es einem oder dem andern der früheren Mandel- und Ölhändler nicht gelingen wollte, inmitten dieses Tumultes auseinanderzusetzen, in welcher Weise er Frankreich retten würde, wenn er der Herr wäre, dann flüchtete er zu Eugen und schrie diesem seine wunderbaren Pläne ins Ohr. Eugen nickte sanft mit dem Kopfe, gleichsam entzückt von den erhabenen Dingen, die er hörte. Vuillet betrachtete ihn argwöhnisch. Dieser Buchhändler, in dem zugleich ein Küster und ein Journalist staken, redete weniger als die anderen, aber er beobachtete mehr. Er hatte bemerkt, daß der Advokat zuweilen im Winkel des Salons mit dem Major Sicardot sprach. Er nahm sich vor, sie zu beobachten, aber er konnte kein Wort von ihrem Gespräch erhaschen. Eugen winkte dem Major zu schweigen, sobald er den Buchhändler sich nähern sah. Seit dieser Zeit sprach Sicardot von den Napoleons nur mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Zwei Tage vor seiner Rückkehr nach Paris traf Eugen auf der Promenade Sauvaire seinen Bruder Aristides, der ihn eine Strecke begleitete mit der Beharrlichkeit eines Menschen, der einen Rat sucht. Aristides befand sich in arger Verlegenheit. Als man die Republik ausgerufen hatte, trug er eine sehr lebhafte Begeisterung für die neue Regierung zur Schau. Sein durch zwei Jahre Pariser Studium geschärfter Verstand sah weiter als die schwerfälligen Köpfe von Plassans, er erkannte die Ohnmacht der Legitimisten und Orleanisten, ohne klar bezeichnen zu können, wer der dritte Bube sei, der die Republik in die Tasche stecken werde. Auf gut Glück hatte er sich zu den Siegern geschlagen. Er hatte alle Beziehungen mit seinem Vater abgebrochen, nannte ihn öffentlich einen alten Schwachkopf, den der Adel »herumgekriegt« hat.

Und doch ist meine Mutter eine gescheite Frau, pflegte er hinzuzufügen. Niemals hätte ich geglaubt, daß sie imstande sei, ihren Mann in eine Partei zu drängen, deren Hoffnungen durchaus eitel sind. Sie werden sich vollends zugrunde richten. Die Frauen verstehen eben nichts von Politik.

Er, Aristides, wolle sich so teuer wie möglich verkaufen. Seine ganze Sorge war jetzt darauf gerichtet, die richtige Witterung zu bekommen, sich stets auf die Seite derer zu stellen, die im Falle ihres Sieges ihn herrlich belohnen könnten. Unglücklicherweise tappte er im Finstern. Er fühlte, daß er in diesem Provinzorte, ohne Führung, ohne Wegweiser verloren sei. Einstweilen, bis der Lauf der Begebenheiten ihm eine bestimmte Bahn vorzeichnen würde, bewahrte er die Haltung eines begeisterten Republikaners, die er gleich am ersten Tage eingenommen hatte. Dank dieser Haltung verblieb er in der Unterpräfektur; man hatte ihm daselbst sogar seine Bezüge vermehrt. Von dem Verlangen angetrieben, eine Rolle zu spielen, bestimmte er einen Buchhändler, einen Konkurrenten Vuillets, ein demokratisches Blatt zu gründen, bei dem er, Aristides, einer der eifrigsten Redakteure wurde. Der »Independant« (Der Unabhängige) führte unter seiner Leitung einen erbarmungslosen Krieg gegen die Reaktionären. Allein die Strömung trieb ihn allmählich weiter, als er gehen wollte; er schrieb manchmal Brandartikel, bei deren Durchlesen ihn selbst eine Gänsehaut überlief. Vielbemerkt wurde in Plassans eine Reihe von Angriffen, die der Sohn gegen die Personen richtete, die der Vater allabendlich in dem berühmten gelben Salon empfing. Der Reichtum Roudiers und Granoux' ärgerte Aristides in dem Maße, daß er alle Vorsicht außer acht ließ. Durch seine gierige Eifersucht angetrieben, hatte er sich die Bürgerschaft zum unversöhnlichen Feinde gemacht, als die Ankunft Eugens und die Art und Weise, wie dieser sich in Plassans benahm, ihn stutzig machten. Er maß seinem Bruder eine große Geschicklichkeit bei. Es war seine Meinung, daß dieser dicke, schläfrige Bursche nur mit einem Auge schlafe wie die Katzen, wenn sie vor einem Mäuseloch auf dem Anstande sind. Und nun verbrachte dieser Eugen ganze Abende in dem gelben Salon, mit großer Aufmerksamkeit diesen Tölpeln zuhörend, die er – Aristides – so grausam verhöhnt hatte. Als er durch das Gerede in der Stadt erfuhr, daß sein Bruder mit Granoux und dem Marquis Händedrücke wechsle, fragte er sich besorgt, was er davon halten solle? Sollte er sich so sehr getäuscht haben? Sollten die Legitimisten oder die Orleanisten Aussichten auf Erfolg haben? Dieser Gedanke machte das Blut in seinen Adern stocken; er verlor allen Halt, und wie es oft genug geschieht, fiel er über die Konservativen nur noch wütender her, gleichsam um sich für seine Verblendung zu rächen.

An dem Tage vor jenem, an dem er Eugen auf der Promenade Sauvaire anhielt, hatte er in dem »Indépendant« einen furchtbaren Artikel über die Machenschaften des Klerus losgelassen als Antwort auf eine Auslassung von Vuillet, der die Republikaner beschuldigte, daß sie die Kirchen stürmen wollten. Vuillet war dem Aristides, was dem Stier der rote Lappen; es verging keine Woche, ohne daß die beiden Journalisten die gröbsten Beschimpfungen austauschten. In der Provinz, wo man sich noch der Umschreibungen bedient, holt die Polemik ihre Ausdrücke aus der Gosse. Aristides nannte seinen Gegner »Bruder Judas« oder »Knecht des heiligen Antonius«; Vuillet seinerseits nannte den Republikaner »ein blutrünstiges Ungeheuer, dessen schändliche Genossin die Guillotine ist«.

Um seinen Bruder auszuholen, begnügte sich Aristides, der seine Unruhe nicht offen zu zeigen wagte, ihn zu fragen:

Hast du meinen Artikel von gestern gelesen? Wie denkst du darüber?

Du bist ein Schaf, Bruder, erwiderte Eugen mit den Achseln zuckend.

Der Journalist erbleichte.

Wie? rief er; du gibst Vuillet recht? Du glaubst an Vuillets Sieg?

Ich? Vuillet ...

Er wollte ohne Zweifel sagen: »Vuillet ist gerade so ein Tölpel wie du selbst.« Allein, als er das verzerrte Gesicht seines Bruders sah, das sich ihm entgegenstreckte, schien er plötzlich von Mißtrauen ergriffen zu werden.

Vuillet hat auch sein Gutes, sagte er ruhig.

Nachdem er von seinem Bruder geschieden, war Aristides noch unruhiger als vorher. Eugen schien sich über ihn lustig gemacht zu haben, denn Vuillet war sicherlich der schmutzigste Kerl, den man sich vorstellen konnte. Er beschloß vorsichtig zu sein, sich nicht mehr zu binden, um freie Hand zu haben, wenn er eines Tages einer Partei behilflich sein müßte, die Republik zu erwürgen.

Am Morgen seiner Abreise führte Eugen eine Stunde bevor er in den Postwagen stieg, seinen Vater in das Schlafzimmer, wo er mit ihm eine lange Unterredung hatte. Felicité, die im Salon zurückgeblieben war, versuchte vergebens zu horchen. Die beiden Männer sprachen leise, als hätten sie gefürchtet, daß auch nur ein einziges ihrer Worte von außen gehört werden könne. Als sie endlich aus dem Zimmer traten, schienen beide sehr erregt zu sein. Nachdem er Vater und Mutter umarmt hatte, sagte Eugen, der sonst mit schleppender Stimme redete, lebhaft und bewegt:

Du hast mich wohl verstanden, Vater? Da ist unser Glück zu suchen. In diesem Sinne müssen wir mit allen unseren Kräften arbeiten. Vertraue mir.

Ich werde deine Weisungen getreulich befolgen, erwiderte Rougon. Aber vergiß nicht, was ich als Preis meiner Bemühungen von dir verlangt habe.

Wenn wir unser Ziel erreichen, werden deine Wünsche erfüllt werden. Das schwöre ich dir. Ich werde dir übrigens schreiben und dich leiten je nach der Richtung, die die Ereignisse nehmen. Nur keine Furcht und keine Begeisterung. Folge blindlings meinen Weisungen.

Was für eine Verschwörung habt ihr miteinander? fragte Felicité neugierig.

Liebe Mutter, erwiderte Eugen lächelnd, du hast an mir zu sehr gezweifelt, als daß ich dir heute meine Hoffnungen anvertrauen könnte, die einstweilen nur auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen beruhen. Du müßtest Glauben und Zutrauen zu mir haben, um mich zu verstehen. Übrigens wird der Vater dir alles sagen, wenn die Stunde schlägt.

Da Felicité beleidigt tat, flüsterte er ihr ins Ohr, indem er sie noch einmal küßte:

Ich bin dein Sohn, wenngleich du mich verleugnet hast. Zu viel wissen wäre in diesem Augenblicke nicht von Nutzen. Wenn die Krise eintritt, wirst du die Leitung der Sache in die Hand bekommen.

Damit ging er; doch wandte er sich noch auf der Schwelle um und sagte nachdrücklich:

Vor allem aber mißtraut Aristides! Er ist ein Tollkopf, der alles verderben würde. Ich habe ihn genügend beobachtet, um sicher zu sein, daß er immer wieder auf die Füße fällt. Ihr brauchet kein Mitleid mit ihm zu haben; wenn wir unser Glück machen, wird er sich seinen Teil zu stehlen wissen.

Als Eugen fort war, versuchte Felicité in das Geheimnis einzudringen, das man ihr vorenthielt. Sie kannte ihren Gatten zu gut, um ihn offen zu befragen; er würde ihr zornig geantwortet haben, daß die Sache sie nichts angehe. Allein trotz der schlauen Taktik, die sie entwickelte, erfuhr sie nichts. In dieser trüben Zeit, wo die größte Verschwiegenheit not tat, hatte Eugen seinen Vertrauensmann gut gewählt. Geschmeichelt von dem Vertrauen seines Sohnes, hatte Peter jene passive Schwerfälligkeit noch übertrieben, die aus ihm eine ernste, undurchdringliche Masse machte. Als Felicité einsah, daß sie von ihm nichts erfahren werde, hörte sie auf, ihn zu umschwärmen. Bloß auf eine Sache war sie ungeheuer neugierig. Die beiden Männer hatten von einem Preise gesprochen, den Peter selbst bestimmen sollte. Was für ein Preis konnte das sein? Da lag das große Interesse für Felicité, die sich aus politischen Fragen nichts machte. Sie wußte, daß ihr Mann sich teuer verkauft haben mußte, und sie brannte vor Begierde, den Handel kennen zu lernen. Als sie eines Abends eben zu Bette gingen und sie ihren Mann in guter Laune sah, lenkte sie das Gespräch auf die Entbehrungen, zu denen ihre Armut sie nötigte.

Es ist Zeit, daß es ein Ende nehme, sagte sie. Wir geben eine Menge Geld für Beleuchtung und Heizung aus, seitdem die Herren zu uns kommen. Wer wird die Rechnung bezahlen? Vielleicht niemand.

Peter ging richtig in die Falle.

Nur Geduld, sagte er mit einem überlegenen Lächeln.

Dann fügte er mit schlauer Miene hinzu, indem er seiner Frau fest in die Augen schaute:

Bist du zufrieden, die Frau eines Steuereinnehmers zu werden?

Felicités Antlitz flammte in großer Freude auf. Sie setzte sich im Bett auf und schlug nach Art der Kinder ihre dürren Greisenhände zusammen.

Ist's wahr? stammelte sie. Hier in Plassans?

Peter antwortete nicht, sondern nickte nur wiederholt zustimmend mit dem Kopfe. Er freute sich der Verwunderung seiner Ehegattin. Sie erstickte schier vor Aufregung.

Aber, fuhr sie endlich fort, da ist ja eine ungeheure Sicherstellung notwendig. Ich habe mir erzählen lassen, daß unser Nachbar, Herr Peirotte, achtzigtausend Franken dem Staatsschatze hinterlegen mußte.

Ach, das geht mich nichts an, sagte der ehemalige Ölhändler. Eugen nimmt alles auf sich. Er wird die Sicherstellungssumme durch einen Pariser Bankier hinterlegen lassen. Du wirst begreifen, daß ich eine Stelle gewählt habe, die viel einbringt. Eugen hat das Gesicht verzogen, als ich ihm meine Bedingung stellte. Er sagte, man müsse reich sein, um solche Stellungen zu bekleiden und daß man diese Beamten gewöhnlich unter einflußreichen Leuten wähle. Aber ich ließ nicht locker, und er hat endlich nachgegeben. Um Einnehmer zu werden, braucht man weder Latein noch Griechisch. Ich werde, wie Herr Peirotte, einen Bevollmächtigten haben, der alle Arbeiten statt meiner besorgt.

Felicité hörte ihm mit Entzücken zu.

Ich habe wohl erraten, fuhr er fort, was unsern teuren Sohn beunruhigte. Wir sind hier wenig beliebt. Man weiß, daß wir kein Vermögen haben, und wird über uns schmähen. Doch was liegt daran? In kritischen Zeiten kann ja alles geschehen. Eugen wollte mich nach einer anderen Stadt ernennen lassen, allein ich habe abgelehnt, ich will in Plassans bleiben.

Ja, ja, wir müssen da bleiben, rief lebhaft die alte Frau. Hier haben wir gelitten, hier müssen wir triumphieren. Ich will sie niederschmettern, alle diese schönen Sonntags-Spaziergängerinnen, die so geringschätzig auf meine wollenen Kleider herabschauen. An die Stelle des Einnehmers hatte ich nicht gedacht, ich glaubte, du wollest Bürgermeister werden.

Ach, Bürgermeister! Die Stelle ist ja eine unentgeltliche. Auch Eugen hat mir vom Bürgermeisteramte gesprochen, aber ich erwiderte ihm: Ich nehme die Stelle an, wenn du mir eine Rente von 15 000 Franken sicherst.

Diese Unterredung, in welcher die großen Ziffern wie Raketen umherflogen, entzückte Felicité und sie rückte unruhig hin und her und fuhr vor Aufregung schier aus der Haut. Endlich nahm sie eine unterwürfige Haltung an und sagte im Tone der Sammlung:

Laß uns rechnen, Peter, wie viel wirst du erwerben?

Die fixen Bezüge betragen 3000 Franken, erwiderte Peter.

Dreitausend, zählte Felicité.

Dazu kommen die Prozente nach den Einnahmen. Sie belaufen sich in Plassans auf ungefähr 12 000 Franken.

Macht fünfzehntausend, zählte Felicité weiter.

Ja, ungefähr fünfzehntausend. So viel erwirbt auch Peirotte. Doch das ist nicht alles. Peirotte betreibt Bankgeschäfte auf eigene Faust. Das ist erlaubt. Vielleicht versuche auch ich mich darin, wenn ich günstige Aussichten habe.

So setzen wir 20 000 Franken! rief Felicité, durch diese Summe in höchste Bewunderung versetzt.

Die Vorschüsse werden wir zurückerstatten müssen, bemerkte Peter.

Das tut nichts, entgegnete Felicité. Wir werden doch reicher sein als viele dieser Herren. Wird vielleicht der Marquis oder werden die anderen Herren mit uns teilen wollen?

Nein, nein, alles bleibt uns!

Als sie das Gespräch fortsetzen wollte, fürchtete Peter, sie wolle ihm sein Geheimnis entlocken. Daher runzelte er die Augenbrauen und sagte:

Jetzt haben wir genug geplaudert, es ist spät, wir sollen schlafen. Es bringt Unglück, wenn man im voraus rechnet. Ich habe die Stelle noch nicht. Vor allem Verschwiegenheit!

Doch als die Lampe ausgelöscht war, konnte Felicité keinen Schlaf finden. Mit geschlossenen Augen lag sie wach da und baute die herrlichsten Luftschlösser. Die 20000 Franken jährlicher Einkünfte führten im Dunkel vor ihren Augen einen Hexentanz auf. Sie bewohnte ein schönes Haus in der Neustadt, mit demselben Luxus eingerichtet wie das des Herrn Peirotte, gab Abendgesellschaften und blendete mit ihrem Reichtum die ganze Stadt. Was ihrer Eitelkeit am meisten schmeichelte, war die schöne Stellung, die ihr Gatte einnehmen würde. Er wird dem Granoux, dem Roudier und allen Bürgern ihre Renten auszahlen, die heute zu ihr kommen wie in ein Kaffeehaus, um sich laut auszusprechen und die Neuigkeiten des Tages zu erfahren. Sie hatte sehr wohl die hochmütige Art und Weise bemerkt, wie diese Leute ihren Salon betraten und das hatte sie gegen jene erbittert. Selbst der Marquis mit seiner spöttischen Höflichkeit begann ihr zu mißfallen. Allein zu siegen und alles für sich zu behalten: das war ein Gedanke, den sie mit liebevoller Zärtlichkeit hegte. Wenn diese plumpen Leute einst unter tiefen Bücklingen bei dem Herrn Einnehmer Rougon erscheinen werden, wird sie an der Reihe sein, jene mit ihrem Stolze zu Boden zu drücken. Die ganze Nacht hindurch beschäftigte sie sich mit diesem Gedanken. Als sie am andern Morgen die Vorhänge in die Höhe zog, richtete sich ihr erster Blick unwillkürlich nach der andern Seite der Straße, auf die Fenster des Herrn Peirotte; sie lächelte, wie sie die breiten Damastvorhänge betrachtete, die hinter den Fensterscheiben hingen.

Indem Felicités Hoffnungen ihre Richtung wechselten, wurden sie nur um so gieriger. Wie alle Frauen war sie einiger Heimlichkeit nicht abgeneigt. Der geheime Zweck, den ihr Man verfolgte, interessierte sie weit lebhafter als jemals die legitimistischen Umtriebe des Marquis von Carnavant. Ohne sonderliches Bedauern gab sie die Hoffnungen preis, die sie auf den Erfolg des Marquis gebaut hatte, von dem Augenblick an, wo ihr Mann behauptete, daß er durch andere Mittel denselben reichen Gewinn erzielen werde. Sie war übrigens bewunderungswürdig in ihrer Verschwiegenheit und Vorsicht.

Im Grunde wurde sie noch immer von einer beklemmenden Neugierde geplagt; sie beobachtete die geringste Gebärde ihres Mannes und suchte ihn zu begreifen. Wie, wenn Eugen ihn in irgendeinen Hinterhalt locken wollte, aus dem sie nur ärmer denn je sich retten könnten? Indessen gewann sie allmählich Vertrauen. Eugen hatte mit einer solchen Überlegenheit befohlen, daß sie schließlich Zutrauen zu ihm faßte. Die Macht des Unbekannten ließ sich eben auch hier fühlen. Peter erzählte ihr in geheimnisvollem Tone von den hohen Persönlichkeiten, mit denen ihr ältester Sohn in Paris verkehrte. Sie selbst wußte allerdings nicht, was er da tun mochte, während es ihr unmöglich war, vor den Torheiten, welche Aristides in Plassans beging, die Augen zu verschließen. In ihrem eigenen Salon legte man sich gar keinen Zwang an, um den demokratisch gesinnten Journalisten mit äußerster Strenge zu behandeln. Granoux nannte ihn einen Räuber und Roudier sagte jede Woche ein paarmal zu Felicité:

Ihr Sohn schreibt schöne Sachen. Gestern erst hat er unsern Freund Vuillet mit empörender Bosheit angegriffen.

Der ganze Salon stimmte in diese Klagen ein. Major Sicardot sprach davon, seinen Schwiegersohn zu ohrfeigen. Peter verleugnete rundweg seinen Sohn. Die arme Mutter senkte ihren Kopf und würgte ihre Tränen hinab. Manchmal drängte es sie, loszubrechen und Herrn Roudier ins Gesicht zu schreien, daß ihr liebes Kind trotz seiner Fehler noch immer mehr tauge, als er und alle anderen zusammen. Allein sie war gebunden; sie wollte die so schwer errungene Stellung nicht wieder aufs Spiel setzen. Als sie sah, wie die ganze Stadt auf Aristides einhieb, dachte sie bekümmert, daß der Unglückliche in sein Verderben renne. Zweimal nahm sie ihn ins Gebet und beschwor ihn, zu ihnen zurückzukehren und die Fehde gegen den gelben Salon aufzugeben. Aristides erwiderte ihr, daß sie von diesen Dingen nichts verstehe und daß sie selbst einen argen Fehler begangen habe, indem sie ihren Gatten in den Dienst des Marquis stellte. Sie mußte ihn aufgeben, nahm sich aber im stillen vor, daß, wenn Eugen ans Ziel gelangen werde, dieser die Beute mit dem armen Jungen teilen müsse, der noch immer ihr Lieblingskind war und blieb.

Als sein älterer Sohn wieder abgereist war, fuhr Peter Rougon fort, im Mittelpunkte der Reaktion zu leben. In der öffentlichen Meinung des berühmten gelben Salons schien sich nichts geändert zu haben. Jeden Abend erschienen daselbst dieselben Männer, um dieselbe Propaganda zugunsten einer Monarchie zu machen, und der Herr des Hauses summte ihnen zu und unterstützte sie mit demselben Eifer wie bisher. Am ersten Mai hatte Eugen Plassans verlassen. Einige Tage später befand sich der gelbe Salon im höchsten Entzücken. Man besprach daselbst den Brief des Präsidenten der Republik an den General Oudinot, in dem die Belagerung von Rom beschlossen war. Dieser Brief wurde als ein offenkundiger Sieg betrachtet, den man der entschlossenen Haltung der reaktionären Partei zu verdanken hatte. Schon seit dem Jahre 1848 stand in den Verhandlungen der Kammer die römische Frage an der Tagesordnung. Einem Bonaparte war es vorbehalten, eine Republik im Entstehen zu erwürgen durch ein Eintreten, dessen das freie Frankreich sich niemals schuldig gemacht hätte. Der Marquis erklärte, es sei unmöglich, für die Sache der Legitimität besser zu arbeiten. Vuillet schrieb einen prachtvollen Artikel; die Begeisterung kannte keine Grenzen mehr, als einen Monat später der Major Sicardot eines Abends im Hause Rougons erschien und der Gesellschaft ankündigte, daß die französische Armee unter den Mauern Roms sich schlage. Während alle Welt in ein Freudengeschrei ausbrach, trat er zu Peter und drückte ihm in vielbedeutsamer Weise die Hand. Als er saß, begann er ein Loblied auf den Präsidenten der Republik zu singen, der, wie er sagte, allein fähig sei, Frankreich vor der Anarchie zu retten.

Er möge es retten so schnell wie möglich, unterbrach ihn der Marquis, und es dann in die Hände seiner rechtmäßigen Herren zurücklegen.

Peter schien dieser schönen Antwort lebhaft beizustimmen. Als er in dieser Weise eine Probe seiner glühenden Königstreue geliefert hatte, wagte er zu bemerken, daß der Prinz Louis Bonaparte in dieser Sache seine volle Teilnahme besitze. Es fand zwischen ihm und dem Major ein Austausch von kurzen Bemerkungen statt, welche die vortreffliche Absicht des Präsidenten würdigten und ganz den Anschein hatten, als seien sie im vornhinein einstudiert worden. Zum erstenmal hielt der Bonapartismus ganz offen seinen Einzug in den gelben Salon. Seit den Wahlen vom 10. Dezember wurde übrigens der Prinz daselbst mit einer gewissen Milde beurteilt. Man zog ihn Cavaignac hundertmal vor, und die ganze reaktionäre Gesellschaft hatte für ihn gestimmt.

Allein man betrachtete ihn doch immer mehr als einen Mitschuldigen, denn als einen Freund, und man mißtraute diesem Mitschuldigen, dem man nachgerade vorwarf, daß er die Kastanien, nachdem er sie aus dem Feuer geholt, für sich behalten wolle. Dank dem römischen Feldzuge hörte man an diesem Abend immerhin beifällig die Lobsprüche, die Peter und der Major dem Präsidenten widmeten.

Die Gruppe Granoux und Roudier forderte bereits, daß der Präsident alle diese Bösewichte von Republikanern erschießen lasse. Der Marquis stand an den Kamin gelehnt und betrachtete mit nachdenklicher Miene eine verblaßte Rosette des Teppichs. Als er endlich aufblickte, schwieg Peter plötzlich, der die Wirkung seiner Worte heimlich in dem Antlitz des Marquis lesen zu wollen schien. Herr von Carnavant begnügte sich mit einem Lächeln, indem er mit schlauer Miene Felicité anschaute. Dieses behende Spiel entging den Spießbürgern, die sich hier zusammengefunden hatten. Bloß Vuillet sagte mit herber Betonung:

Ich würde diesen Bonaparte lieber in London als in Paris sehen. Unsere Angelegenheiten würden dann einen rascheren Fortgang nehmen.

Der ehemalige Ölhändler erbleichte, denn er fürchtete, zu weit gegangen zu sein.

Ich klammere mich nicht so stark an meinen Bonaparte, sagte er fest, Sie wissen ja, wohin ich ihn senden würde, wenn ich der Herr wäre. Ich behaupte einfach, daß der Feldzug gegen Rom eine gute Sache sei.

Mit neugierigem Erstaunen war Felicité dieser Szene gefolgt. Sie erwähnte ihrem Manne nichts mehr davon, was bewies, daß sie im geheimen darüber nachdachte. Das Lächeln des Marquis, das sie sich nicht genau zu erklären wußte, gab ihr viel zu denken.

Von diesem Tage angefangen ließ Rougon von Zeit zu Zeit, wenn sich gerade eine Gelegenheit darbot, ein Wörtchen zugunsten des Präsidenten der Republik einfließen. An solchen Abenden spielte Sicardot die Rolle des gutmütigen Gevatters. Im übrigen aber herrschte die klerikale Gesinnung unbeschränkt im gelben Salon; hauptsächlich aber im nächsten Jahre gewann diese Gruppe der Reaktionären einen entscheidenden Einfluß in der Stadt, und zwar dank der rückläufigen Bewegung, die in Paris sich vollzog. Die Gesamtheit von antiliberalen Maßnahmen, die man »die römische Expedition im Inlande« nannte, sicherte in Plassans endgültig den Sieg der Partei Rougon. Die letzten Bürger, die sich noch für die Republik begeisterten, sahen diese in den letzten Zügen und beeilten sich, ihren Anschluß an die Konservativen zu vollziehen. Die Stunde der Rougon war gekommen. Die Neustadt bereitete ihnen fast eine Ovation an dem Tage, als man den auf dem Präfekturplatze aufgerichteten Freiheitsbaum umsägte. Dieser Baum, eine jener Tannen, die man vom Ufer der Viorne hierher verpflanzt hatte, war allmählich verdorrt zum größten Leidwesen der republikanischen Arbeiter, die jeden Sonntag hier erschienen, um das Fortschreiten des Übels festzustellen, ohne die Ursache dieses langsamen Todes zu begreifen. Ein Hutmachergehilfe behauptete, er habe gesehen, wie ein Weib aus dem Rougonschen Hause gekommen sei und einen Kübel vergiftetes Wasser am Fuße des Baumes ausgeschüttet habe. Seither galt es in der Stadt als eine Tatsache, daß Felicité persönlich jede Nacht gekommen sei, um die Tanne mit Vitriol zu begießen. Als der Baum abgestorben war, erklärte der Gemeinderat, die Würde der Republik erheische seine Entfernung. Da man fürchtete, darob das Mißvergnügen der Arbeiterbevölkerung zu erregen, wählte man hierfür eine späte Nachtstunde. Die konservativ gesinnten Rentenbesitzer der Neustadt hatten von diesem kleinen Feste Wind bekommen; sie kamen alle auf den Präfekturplatz, um zu sehen, wie der Freiheitsbaum gefällt werde. Die Gesellschaft vom gelben Salon war an den Fenstern erschienen, um der Szene beizuwohnen. Als der Baum dumpf krachte und mit der tragischen Starre eines zu Tode getroffenen Helden im Schatten niederstürzte, glaubte Felicité mit ihrem weißen Taschentuch Triumph winken zu sollen. Das fand Beifall in der Menge und die Zuschauer erwiderten den Gruß, indem sie gleichfalls ihre Taschentücher wehen ließen. Eine Gruppe erschien sogar unter dem Fenster und schrie:

Wir werden sie begraben!

Ohne Zweifel meinten sie die Republik. Felicité war so aufgeregt, daß sie schier einen Nervenanfall bekam. Es war ein schöner Abend für den gelben Salon.

Indes bewahrte der Marquis noch immer sein geheimnisvolles Lächeln, wenn er Felicité anschaute. Dieser kleine Greis war zu schlau, um nicht zu begreifen, wohin Frankreich steuerte. Er war einer der ersten, die den Anzug des Kaiserreiches witterten. Als später die gesetzgebende Körperschaft in öffentlichem Gezänk ihre Kräfte verzettelte, als selbst die Orleanisten und Legitimisten stillschweigend sich mit dem Gedanken an einen Staatsstreich vertraut machten, sagte sich der Marquis, daß das Spiel entschieden verloren sei. Übrigens war er der einzige, der die Lage klar beurteilte. Vuillet fühlte wohl, daß die Sache Heinrichs V., die er in seiner Zeitung verfocht, allen Halt verlor, aber was lag ihm daran? Es genügte ihm, eine gehorsame Kreatur des Klerus zu sein. Seine ganze Politik ging darauf hinaus, so viel Rosenkränze und Heiligenbilder wie möglich unter die Leute zu bringen. Was Roudier und Granoux betrifft, so lebten sie in Schrecken und Blindheit. Es war nicht sicher, daß sie eine Meinung hatten; sie wollten vor allem in Ruhe essen und schlafen; das war der Punkt, wo ihre politischen Bestrebungen eine Grenze fanden. Der Marquis erschien indes regelmäßig im Hause der Rougon, auch dann, als er seine Hoffnungen gescheitert sah. Die Sache machte ihm Spaß. Der Zusammenstoß der Meinungen, dieses Auskramen von spießbürgerlichen Tölpeleien bereiteten ihm allabendlich ein vergnügliches Schauspiel. Ihn überlief eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, den Abend in dem Kämmerlein zuzubringen, das er durch die Gnade des Grafen Valqueyras bewohnte. Mit boshafter Freude bewahrte er für sich die Überzeugung, daß die Stunde der Bourbonen noch nicht geschlagen habe; Er tat, als sehe er nichts, arbeitete nach wie vor am Triumph der Rechtmäßigkeit und stellte sich dem Klerus und dem Adel zur Verfügung. Die neue Taktik Peters hatte er am ersten Tage durchschaut und glaubte, Felicité sei die Mitschuldige ihres Gatten.

Als er eines Abends als erster ankam, fand er die alte Frau allein in dem Salon.

Nun, Kleine, fragte er mit seiner lächelnden Vertraulichkeit, gehen eure Angelegenheiten gut? Weshalb, zum Henker, tust du mir gegenüber so geheim?

Ich tue nicht geheim, erwiderte Felicitè nachdenklich.

Ei, ei, sie glaubt einen alten Fuchs meines Schlages täuschen zu können! Betrachte mich doch als einen Freund, mein Kind. Ich bin vielleicht bereit, euch im geheimen zu unterstützen. Sei doch offen gegen mich.

Felicité hatte einen Lichtblick. Sie selbst hatte nichts zu sagen, aber sie würde vielleicht alles erfahren, wenn sie geschickt zu schweigen verstände.

Du lächelst? fuhr Herr von Carnavant fort; das ist der Anfang eines Geständnisses. Ich dachte mir wohl, daß du hinter deinem Gatten stündest. Peter ist zu schwerfällig, um den hübschen kleinen Verrat zu ersinnen, den ihr vorbereitet. Fürwahr, ich wünsche von ganzem Herzen, daß die Bonaparte euch das geben, was ich von den Bourbonen für euch gefordert hätte.

Dieser einfache Satz bestätigte die Vermutungen, die die alte Frau seit langer Zeit gehegt hatte.

Prinz Louis Napoleon hat alle Aussichten, nicht wahr? fragte sie lebhaft.

Wirst du mich verraten, wenn ich dir sage, daß ich es glaube? erwiderte der Marquis lächelnd. Ich habe mich schon darein gefunden, Kleine. Ich bin ein alter Mann, tot und begraben. Ich arbeite nur für dich. Da du ohne mich den richtigen Weg gefunden hast, tröste ich mich, wenn ich sehe, daß meine Niederlage deinen Sieg bedeutet. Aber es ist unnötig, daß du künftig die Geheimnisvolle spielst; wenn du in Verlegenheit bist, komm zu mir. Und er fügte mit dem skeptischen Lächeln des herabgekommenen Edelmannes hinzu:

Ich verstehe mich ja auch ein klein wenig auf Verräterei.

In diesem Augenblicke erschien das Haupt der ehemaligen Öl- und Mandelhändler.

Ach, die lieben Reaktionäre, fuhr Herr von Carnavant mit leiser Stimme fort. Siehst du, Kleine, die Kunst in der Politik besteht darin, scharf zu sehen, wenn die anderen blind sind. Du hast die schönsten Karten zu deinem Spiel.

Durch diese Unterredung noch neugieriger gemacht, wollte Felicité am folgenden Tage durchaus Gewißheit haben. Man war damals in den ersten Tagen des Jahres 1851. Seit mehr als achtzehn Monaten empfing Rougon regelmäßig alle vierzehn Tage einen Brief von seinem Sohne Eugen. Er schloß sich dann in seinem Schlafzimmer ein, um diese Briefe zu lesen, die er hernach in einem Schreibpulte verwahrte, dessen Schlüssel er sorgfältig in seiner Westentasche behielt. Wenn seine Frau ihn befragte, begnügte er sich zu antworten: »Eugen schreibt mir, daß er sich wohl befindet«. Schon seit längerer Zeit trachtete Felicité diese Briefe ihres Sohnes in ihre Gewalt zu bekommen. Am folgenden Tage, während Peter noch schlief, erhob sie sich und schlich auf den Fußspitzen zu den Kleidern ihres Gatten, um den Schlüssel des Schreibpultes durch einen andern Schlüssel von gleicher Größe zu ersetzen. Dann, als ihr Gatte ausgegangen war, schloß sie sich ihrerseits ein, leerte das Schubfach aus und las mit fieberhafter Neugierde die Briefe ihres Sohnes.

Herr von Carnavant hatte sich nicht getäuscht, und sie sah auch ihre eigenen Vermutungen bestätigt. Es waren an vierzig Briefe da, in denen sie die große bonapartistische Bewegung verfolgen konnte, die später mit der Errichtung des Kaiserreiches ihren Abschluß finden sollte. Diese Briefe bildeten eine Art Tagebuch, in dem die Ereignisse in der Reihenfolge dargestellt waren, wie sie auftauchten, und aus ihnen wurden Hoffnungen und Ratschläge abgeleitet. Eugen glaubte an den Erfolg der Bewegung. Er sprach seinem Vater vom Prinzen Louis Bonaparte wie von einem unentbehrlichen Manne des Schicksals, der allein die Lage zu entwirren vermöge. Er hatte an ihn schon geglaubt, noch bevor jener nach Frankreich zurückgekehrt war, als der Bonapartismus noch als leerer Wahn behandelt wurde. Felicité begriff jetzt, daß ihr Sohn seit dem Jahre 1848 ein sehr tätiger Geheimagent sei. Obgleich er sich über seine Stellung in Paris nicht deutlich aussprach, war es klar, daß er für das Kaiserreich arbeitete, und zwar auf Befehl von Persönlichkeiten, die er mit einer gewissen Vertraulichkeit nannte. Jeder seiner Briefe stellte die Fortschritte der bonapartistischen Sache fest und ließ eine nahe Abwickelung voraussehen. Die Briefe endigten gewöhnlich mit einem Fingerzeig, wie Peter sich in Plassans zu verhalten habe. Jetzt erst konnte Felicité sich gewisse Worte und gewisse Handlungen ihres Mannes erklären, deren Zweck ihr bisher entgangen war. Peter gehorchte seinem Sohne und befolgte blindlings dessen Weisungen.

Als die alte Frau die Briefe zu Ende gelesen hatte, war sie überzeugt. Jeder Gedanke Eugens stand jetzt klar vor ihr. In dem Umstürze wollte er sein politisches Glück machen und mit einem Schlage seine Schuld an die Eltern abtragen, indem er ihnen in der Stunde der allgemeinen Treibjagd ein Stück von der Beute zuwerfen würde. Wenn sein Vater ihn nur ein wenig unterstützen, der bonapartistischen Sache nützlich sein wolle, werde es ihm ein leichtes sein, ihn zum Steuereinnehmer ernennen zu lassen. Ihm, der zu den geheimsten Verrichtungen der Bewegung herangezogen ward, werde man nichts versagen können. Seine Briefe waren nichts als Warnungen, um der Familie Rougon Dummheiten zu ersparen. Darum empfand auch Felicité eine lebhafte Dankbarkeit für ihren Sohn; sie las wiederholt gewisse Stellen des Briefes, in denen Eugen in unbestimmten Ausdrücken von der Endkatastrophe sprach. Diese Katastrophe, deren Natur und Tragweite ihr entgingen, wurde für sie eine Art Untergang der Welt. Bei dieser Gelegenheit würde Gott die Auserwählten rechts und die Verdammten links stellen und sie würde sich unter den Auserwählten befinden.

Als sie in der folgenden Nacht den Schlüssel des Schubfaches wieder in die Westentasche ihres Mannes eingeschmuggelt hatte, nahm sie sich vor, sich desselben Mittels zu bedienen, um alle folgenden Briefe ihres Sohnes zu lesen. Auch war sie entschlossen, die Nichtswissende zu spielen. Diese Taktik war eine ausgezeichnete. Von diesem Tage an war sie ihrem Gatten eine um so wirksamere Stütze, als sie es unwissentlich zu sein schien. Wenn Peter allein zu arbeiten glaubte, war sie es, die am häufigsten das Gespräch auf das gewünschte Gebiet leitete und Anhänger für den entscheidenden Augenblick warb. Sie kränkte sich wegen des Mißtrauens ihres Sohnes und nahm sich vor, nach errungenem Erfolge ihm zu sagen: »Ich wußte alles und anstatt etwas zu verderben, habe ich den Sieg herbeiführen helfen.« Niemals hatte eine Mitschuldige weniger Geräusch gemacht und mehr Arbeit verrichtet. Der Marquis, den sie zu ihrem Vertrauten gemacht hatte, war von Bewunderung erfüllt.

Was sie beunruhigte, war das Schicksal ihres lieben Aristides. Seitdem sie die Hoffnungen ihres Ältesten teilte, verursachten die Wütenden Artikel des »Indépendant« ihr einen noch größeren Schrecken. Gerne würde sie den unglücklichen Republikaner zu den Napoleonischen Ideen bekehrt haben. Allein sie wußte nicht, wie sie es in vorsichtiger Weise anfangen sollte. Sie erinnerte sich, wie eindringlich Eugen ihnen gesagt hatte, dem Aristides zu mißtrauen. Sie legte die Sache dem Marquis vor, der ganz derselben Ansicht war wie sie.

Mein Kind, sagte er, in der Politik muß man selbstsüchtig sein. Wenn Sie Ihren Sohn bekehren würden und der »Indépendant« anfinge, den Bonapartismus zu verteidigen, so wäre das ein harter Schlag für die Partei. Über den »Indépendant« ist das Urteil gesprochen; sein Titel allein genügt, um die Spießbürger von Plassans gegen ihn aufzubringen. Lassen Sie den lieben Aristides sich herumschlagen, das bildet die jungen Leute. Er scheint mir ganz von dem Holze geschnitzt, um nicht lange die Rolle des Märtyrers zu spielen.

In ihrem Feuereifer, den Ihrigen den richtigen Weg zu zeigen – jetzt, da sie die Wahrheit zu kennen glaubte – ging Felicité so weit, daß sie selbst ihren Sohn Pascal belehren wollte. Der Arzt, der sich mit dem Eigensinn des Gelehrten in seine Forschungen versenkt hatte, kümmerte sich sehr wenig um Politik. Während er ein Experiment machte, konnten Kaiserreiche in Trümmer gehen, ohne daß er auch nur den Kopf umgewandt hätte. Indes hatte er endlich den Bitten seiner Mutter nachgegeben, die ihm mehr als je vorwarf, daß er als Werwolf lebe.

Wenn du mehr in Gesellschaft kämest, sagte sie ihm, würdest du Patienten aus den vornehmen Kreisen bekommen. Komm doch zu uns, um die Abende in unserem Salon zuzubringen, da wirst du die Bekanntschaft der Herren Roudier, Granoux, Sicardot machen, lauter wohlhabende Leute, die dir einen ärztlichen Besuch mit vier und fünf Franken bezahlen werden. Die armen Leute werden dich nicht reich machen.

Der Gedanke, ans Ziel zu kommen, ihre ganze Familie reich werden zu sehen, war bei Felicité zu einer Sucht geworden. Um sie nicht zu kränken, kam Pascal einige Abende in den gelben Salon. Er langweilte sich daselbst weniger, als er befürchtet hatte. Das erstemal war er erstaunt über den Grad von Dummheit, zu dem ein sonst gesunder Mensch herabsinken kann. Die ehemaligen Öl- und Mandelhändler, der Marquis und der Major selbst schienen ihm interessante Geschöpfe, die er bisher zu studieren keine Gelegenheit hatte. Er betrachtete mit dem Interesse eines Naturalisten ihre Gesichter, die gleichsam in einer Grimasse gestockt waren und aus denen er ihre Beschäftigungen und ihre Bestrebungen herauslas. Er hörte ihr leeres Geschwätz mit demselben Interesse, als ob er den Sinn des Katzengewinsels und des Hundegebells hätte erforschen wollen. Zu jener Zeit beschäftigte er sich viel mit vergleichender Naturgeschichte, indem er die Wahrnehmungen, die er über die Art der Vererbung bei Tieren machte, auf das menschliche Geschlecht anwandte. Wenn er sich im gelben Salon befand, machte es ihm Spaß zu glauben, daß er in eine Menagerie geraten sei. Er suchte Ähnlichkeiten zwischen jedem dieser spaßigen Kerle und irgendeinem Tiere, das er kannte. Der Marquis erinnerte ihn an eine große, grüne Grille, er hatte ihre Magerkeit, ihren schmalen Kopf. Vuillet machte auf ihn den Eindruck einer grauen Kröte. Freundlicher war sein Urteil über Roudier; dieser schien ihm ein fettes Schaf, der Major eine alte, zahnlose Dogge. Der merkwürdige Granoux war ein Gegenstand seines fortwährenden Staunens. Er verbrachte einen ganzen Abend damit, seinen Gesichtswinkel zu messen. Wenn er ihn irgendeinen unbestimmten Schimpf gegen die Republikaner, diese Bluthunde, ausstoßen hörte, war er immer gefaßt, ihn blöken zu hören wie ein Kalb, und wenn er ihn sich erheben sah, bildete er sich immer ein, Granoux werde sich auf alle vier werfen und dann den Salon verlassen.

So rede doch etwas, sagte leise die Mutter. Trachte die Kundschaft dieser Herren zu gewinnen.

Ich bin kein Tierarzt, erwiderte er ungeduldig.

Eines Abends nahm Felicité ihn beiseite und versuchte ihm ins Gewissen zu reden. Sie war glücklich darüber, ihn jetzt mit einer gewissen Regelmäßigkeit bei ihr erscheinen zu sehen. Sie glaubte ihn für die Gesellschaft gewonnen, während sie keinen Augenblick das seltsame Vergnügen voraussetzen konnte, das er darin fand, die reichen Leute lächerlich zu machen. Sie nährte die geheime Hoffnung, aus ihm den beliebtesten Arzt in Plassans zu machen. Zu diesem Zwecke werde es genügen, daß Männer, wie Granoux und Roudier ihn in ihren Schutz nahmen. Vor allem wollte sie ihm die politischen Ideen der Familie beibringen, weil sie einsah, daß ein Arzt alles zu gewinnen habe, wenn er ein eifriger Parteigänger jener Regierung wurde, die berufen war, die Republik abzulösen.

Mein Lieber, sagte sie zu ihm, du bist endlich vernünftig geworden und mußt auch an deine Zukunft denken. Man beschuldigt dich, ein Republikaner zu sein, weil du dumm genug bist, allen Bettlern der Stadt unentgeltlich deinen Beistand zu leihen. Sei offen! Welches sind deine wirklichen politischen Ansichten?

Pascal betrachtete seine Mutter mit unverhohlenem Erstaunen. Dann sagte er lächelnd:

Meine wirklichen Ansichten? Ich weiß es wahrhaftig nicht. Du sagst, man beschuldigt mich, ein Republikaner zu sein; mich beleidigt das ganz und gar nicht. Ich bin es auch, wenn man unter diesen Worten einen Menschen versteht, der aller Welt das Beste wünscht.

Da wirst du zu nichts kommen, unterbrach ihn Felicité lebhaft. Man wird dich niedertreten. Sieh doch deine Brüder an; sie trachten, den richtigen Weg einzuschlagen.

Pascal begriff, daß er sich wegen seiner Eigennützigkeiten als Gelehrter nicht zu verteidigen habe. Seine Mutter beschuldigte ihn einfach, daß er auf die politische Lage nicht spekuliere. Er ließ ein bitteres Lachen vernehmen, und lenkte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Niemals vermochte Felicité ihn zu bewegen, daß er die Aussichten der verschiedenen politischen Parteien erwäge, oder sich derjenigen anschließe, der seiner Ansicht nach der Sieg zufallen mußte. Er fuhr indessen fort, von Zeit zu Zeit im gelben Salon zu erscheinen. Besonders Granoux war es, der ihn interessierte wie ein vorsintflutliches Tier.

Inzwischen nahmen die Ereignisse ihren Fortgang. Das Jahr 1851 war für die Politiker von Plassans ein Jahr der Angst und des Schreckens, was der geheimen Sache der Rougon nur zum Nutzen gereichte. Es kamen die widersprechendsten Nachrichten aus Paris. Bald waren die Republikaner obenauf, bald wieder vernichtete die konservative Partei die Republik. Der Widerhall des Haders, der die gesetzgebende Versammlung zerfleischte, drang bis in die Tiefen der Provinz, an einem Tage vergrößert, am andern Tage verringert, fortwährend wechselnd, so daß selbst die Hellsehenden irre wurden. Doch herrschte das allgemeine Gefühl, daß man vor einer Lösung stehe und die Unkenntnis dieser Lösung war es, die dieses Volk von feigen Spießbürgern in zähneklappernder Besorgnis hielt. Alle sehnten ein Ende herbei. Diese Ungewißheit machte sie krank. Sie wären bereit gewesen, sich dem Großtürken in die Arme zu werfen, wenn der Großtürke geruht hätte, Frankreich vor der Anarchie zu retten.

Das Lächeln des Marquis ward immer spitziger. Des Abends näherte er sich im gelben Salon, wenn der Schrecken das Gebrumme des Herrn Granoux immer unverständlicher machte, Felicité und flüsterte ihr ins Ohr:

Die Frucht ist reif, Kleine. Aber ihr müßt euch nützlich machen.

Felicité, die fortfuhr, die Briefe Eugens zu lesen, und daher wußte, daß die entscheidende Krise von einem Tag zum anderen eintreten könne, hatte die Notwendigkeit, sich nützlich zu machen, oft eingesehen und sich gefragt, wie die Rougon sich nützlich machen würden. Schließlich beriet sie sich hierüber mit dem Marquis.

Alles hängt von den Ereignissen ab, erwiderte der kleine Greis. Wenn der Bezirk ruhig bleibt, wenn keine Erhebung die Stadt umstürzt, wird es euch schwer sein, hervorzutreten und der neuen Regierung Dienste zu erweisen. Ich rate euch daher, ruhig zu Hause zu bleiben und die Nachrichten eures Sohnes Eugen abzuwarten. Allein wenn das Volk sich erhebt und unsere braven Spießbürger sich bedroht glauben, wird es für euch eine hübsche Rolle zu spielen geben. Dein Mann ist ein wenig schwerfällig...

Oh, rief Felicité, ich werde ihn schon geschmeidig machen. Glauben Sie, daß der Bezirk sich erheben wird?

Ich halte es für sicher. Plassans wird vielleicht ruhig bleiben; die Reaktion ist daselbst zu stark. Allein die benachbarten Städte, Dörfer und Weiler werden seit langer Zeit durch geheime Gesellschaften bearbeitet und gehören zur fortgeschrittenen republikanischen Partei. Wenn ein Staatsstreich losbricht, wird man Sturm läuten in der ganzen Gegend, von den Wäldern des Seillegebirges bis zur Hochebene von Sainte-Roure.

Felicité faßte sich.

Sie glauben also, fuhr sie fort, daß eine Erhebung notwendig sei, um unser Glück zu sichern?

Das ist meine Ansicht, erwiderte Herr von Carnavant.

Und er fügte mit ironischem Lächeln hinzu:

Eine neue Dynastie kann nur nach dem Umsturze des Bestehenden errichtet werden. Das Blut ist ein guter Dünger. Es wird ganz hübsch sein, wenn die Rougon wie gewisse berühmte Familien ihren Ursprung von einem allgemeinen Gemetzel herleiten.

Bei diesen von einem höhnischen Gekicher begleiteten Worten überlief ein Frösteln Felicités Rücken. Allein sie war ein kluges Weib, und der Anblick der schönen Fenstervorhänge des Herrn Peirotte, die sie jeden Morgen mit einer gewissen andächtigen Regelmäßigkeit betrachtete, hielt ihren Mut aufrecht. Wenn sie sich schwach werden fühlte, trat sie ans Fenster und betrachtete das Haus des Steuereinnehmers. Dies waren ihre Tuilerien. Sie war zu den äußersten Handlungen entschlossen, um in der Neustadt ihren Einzug zu halten, in diesem gelobten Lande, an dessen Schwelle sie seit so vielen Jahren von Begierden verzehrt wurde.

Die Unterredung, die sie mit dem Marquis gehabt, hellte ihr die Lage vollends auf. Einige Tage später las sie einen Brief Eugens, in dem dieser Helfershelfer des Staatsstreiches gleichfalls auf eine Erhebung zählte, die seiner Ansicht nach seinem Vater zu einer Bedeutung verhelfen würde. Eugen kannte seine Heimat. Alle seine Ratschläge gingen dahin, in den Händen der Reaktionäre des gelben Salons soviel Einfluß wie möglich zu vereinigen, damit die Rougon im kritischen Augenblicke die Herren der Stadt seien. Nach seinen Wünschen mußte der gelbe Salon im November des Jahres 1851 Herr von Plassans sein. Roudier repräsentierte daselbst das reiche Bürgertum. Seine Haltung würde sicherlich diejenige der ganzen Neustadt bestimmen. Noch wertvoller war Granoux: er hatte den Gemeinderat hinter sich, dessen einflußreichstes Mitglied er war, was leicht eine Vorstellung von den übrigen Mitgliedern dieses Gemeinderates zu geben vermag. Durch den Major Sicardot endlich, den der Marquis zum Befehlshaber der Nationalgarde gemacht hatte, verfügte der gelbe Salon über die bewaffnete Macht. Den Rougon, diesen übel beleumdeten armen Schluckern, war es endlich gelungen, die Werkzeuge ihres Glückes um sich zu vereinigen. Jeder sollte, sei es aus Feigheit, sei es aus Dummheit, ihnen gehorchen und blindlings an ihrer Erhebung tätig sein. Sie hatten nichts zu fürchten als andere Einflüsse, die in demselben Sinne handeln würden wie sie selbst und ihnen so einen Teil an dem Verdienste des Sieges entreißen würden. Das war der Gegenstand ihrer großen Angst, denn sie hatten sich allein die Rolle der Retter zugedacht. Sie wußten im voraus, daß der Adel und die Geistlichkeit sie eher unterstützen als behindern würden. Allein in dem Falle, daß der Unterpräfekt, der Bürgermeister und die übrigen Beamten sich vordrängen und die Erhebung im Keime ersticken würden, wären die Rougon in ihren Verdiensten verkleinert, in ihren Zielen behindert; sie würden weder Zeit noch Mittel finden, sich nützlich zu machen. Was sie wünschten, war die vollständige Zurückhaltung, ein allgemeiner Schreck der Beamten. Wenn die ordentliche Verwaltung vollständig verschwand und sie dann eines Tages die Herren der Geschicke von Plassans waren, dann war ihr Glück fest begründet. Glücklicherweise für sie gab es in der Stadtverwaltung nicht einen einzigen Mann, der überzeugt oder arm genug gewesen wäre, um das Spiel zu wagen. Der Unterpräfekt war ein Freigeist, den die vollziehende Gewalt in Plassans vergessen hatte, ohne Zweifel, weil die Stadt einen guten Ruf hatte; von ängstlichem Charakter, wie er war, und unfähig, seine Macht zu einer Gewalttat zu gebrauchen, mußte dieser Mann angesichts einer Empörung allen Halt verlieren. Die Rougon, die da wußten, daß er der Sache der Demokratie günstig gesinnt sei und die daher von seiner Seite keinen besonderen Eifer zu besorgen hatten, waren nur neugierig, welche Haltung er annehmen werde. Der Stadtrat machte ihnen keine Sorge mehr. Der Bürgermeister, Herr Garçonnet, war ein Legitimist, den das Sankt-Markus-Viertel im Jahre 1849 durchgesetzt hatte; er verachtete die Republikaner und behandelte sie sehr geringschätzig; allein er war mit gewissen Mitgliedern der Geistlichkeit zu eng verbunden, um einem bonapartistischen Staatsstreiche seine tätige Mithilfe zu leihen. Die anderen Beamten befanden sich in demselben Falle. Der Friedensrichter, der Postdirektor, der Stadtkassierer, der Steuereinnehmer Herr Peirotte, hatten ihre Stellen sämtlich von der klerikalen Reaktion erhalten und konnten daher das Kaiserreich nicht mit großer Begeisterung hinnehmen. Ohne noch genau zu wissen, wie sie sich dieser Leute entledigen würden, um sich allein in den Vordergrund zu stellen, gaben sich die Rougon großen Hoffnungen hin, indem sie niemanden fanden, der ihnen ihre Retterrolle streitig gemacht hätte.

Die Lösung nahte. Als in den letzten Tagen des Monats November das Gerücht in Umlauf kam, daß ein Staatsstreich vorbereitet werde und daß der Prinz-Präsident sich zum Kaiser ausrufen lassen wolle, rief Granoux:

Gut! Wir werden ihn ausrufen, wenn er diese Lumpenkerle von Republikanern über den Haufen schießen läßt.

Dieser Ausruf Granoux', von dem man glaubte, daß er eingeschlafen sei, rief eine große Bewegung hervor. Der Marquis tat, als habe er nichts gehört; die Spießbürger aber stimmten sämtlich dem gewesenen Mandelhändler zu. Roudier, der nicht Anstand nahm, ganz laut seine Zustimmung zu geben, weil er reich war, erklärte sogar – wobei er Herrn von Carnavant von der Seite anblickte – daß die Lage unhaltbar geworden sei und daß Frankreich »durch welche Hand immer« so bald wie möglich wieder »eingerichtet« werden müsse.

Der Marquis schwieg noch immer und sein Schweigen ward als Zustimmung gedeutet. Der Heerbann der Konservativen ließ denn die Sache der Legitimität im Stich und wagte ganz laut, seine guten Wünsche für das Kaiserreich zu äußern.

Meine Freunde! sagte der Major Sicardot sich erhebend, ein Napoleon allein vermag heute die bedrohte Sicherheit der Person und des Eigentums zu schützen. Seien Sie ohne Sorge! Ich habe die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit in Plassans Ordnung herrsche.

In der Tat hatte der Major im Einvernehmen mit Rougon eine beträchtliche Anzahl von Gewehren samt entsprechendem Schießbedarf in einer Art von Stall in der Nähe der Stadtmauern verborgen; gleichzeitig hatte er sich des Beistandes der Nationalgarden versichert, auf die er zählen zu können glaubte. Seine Worte brachten eine sehr günstige Wirkung hervor. Als die friedfertigen Bürger vom gelben Salon an diesem Abend auseinandergingen, sprachen sie davon, »die Roten« zu massakrieren, wenn sie sich zu rühren wagen sollten.

Am 1. Dezember empfing Peter Rougon einen Brief von seinem Sohne Eugen; mit gewohnter Vorsicht begab er sich in sein Schlafzimmer, um den Brief daselbst zu lesen. Felicité bemerkte, daß er sehr aufgeregt war, als er wieder heraustrat. Den ganzen Tag trieb sie sich um den Schreibtisch herum. Als die Nacht hereinbrach, vermochte sie ihre Ungeduld nicht länger zu meistern. Kaum war ihr Gatte eingeschlafen, als sie den Schlüssel aus seiner Westentasche nahm und, alles Geräusch vermeidend, sich des Briefes bemächtigte. In kurzen zehn Zeilen verständigte Eugen seinen Vater, daß man vor dem Ausbruche der Krise stehe, und riet ihm, die Mutter in die Sachlage einzuweihen. Die Stunde sei gekommen, sie von allem zu unterrichten; er könne ihrer Ratschläge bedürfen.

Am folgenden Tage erwartete Felicité eine vertrauliche Mitteilung ihres Gatten, die aber nicht kam. Sie wagte es nicht, ihre Neugierde zu gestehen, fuhr fort, die Nichtwissende zu spielen und schalt im stillen auf das dumme Mißtrauen ihres Gatten, der sie ohne Zweifel für geschwätzig und schwach hielt wie die anderen Weiber. Mit jenem ehemännlichen Stolze, der einem Gatten den Glauben einflößt, daß er im Hause der Überlegene sei, hatte Peter allmählich sich an den Gedanken gewöhnt, alles Mißgeschick der Vergangenheit seiner Frau in die Schuhe zu schieben. Seitdem er sich einbildete, daß er allein die Angelegenheiten seines Hauses leite, schien ihm alles nach seinem Wunsche zu gehen. Darum war er entschlossen, des Rates seiner Gattin sich ganz zu entschlagen und trotz der Empfehlungen seines Sohnes ihr nichts zu vertrauen.

Felicité war hierüber dermaßen erbittert, daß sie imstande gewesen wäre, dem Unternehmen Hindernisse in den Weg zu legen, wenn sie nicht den Sieg ebenso glühend herbeigesehnt hätte wie ihr Gatte. Sie fuhr also fort, für den Erfolg tätig zu sein, suchte aber sich zu rächen.

Ach, möchte er doch nur ordentlich Angst bekommen und einen bösen Fehler begehen! ... sagte sie sich. Dann möchte ich ihn wohl sehen, wie er demütig um Rat zu mir kommt ... dann würde ich ihm meine Gesetze diktieren.

Was sie beunruhigte, war jene Haltung eines allmächtigen Herren, die er notwendigerweise annehmen würde, wenn er ohne ihren Beistand triumphieren würde. Als sie diesen Bauernsohn – lieber als irgendeinen Notarsgehilfen – zum Gatten nahm, gedachte sie, sich seiner wie eines stark gebauten Hampelmannes zu bedienen, dessen Schnüre sie nach Belieben handhaben würde. Und siehe! jetzt, da der entscheidende Tag gekommen, wollte der Hampelmann in seiner blöden Schwerfälligkeit allein gehen. Die ganze Hinterlistigkeit, die ganze fieberhafte Tätigkeit der kleinen Alten lehnte sich dagegen auf. Sie wußte, daß Peter eines gewalttätigen Entschlusses fähig sei, gleich jenem, den er faßte, als er seine Mutter eine Empfangsbestätigung über fünfzigtausend Franken unterschreiben ließ. Das Werkzeug war gut, weil wenig gewissenhaft; aber sie fühlte das Bedürfnis, es zu leiten, besonders unter den gegenwärtigen Umständen, die viel Geschmeidigkeit erforderten.

Die amtliche Nachricht von dem Staatsstreiche traf in Plassans erst am Nachmittag des 3. Dezember, einem Donnerstag ein. Schlag sieben Uhr war die ganze Gesellschaft des gelben Salons versammelt. Obgleich man die Krise sehnsüchtig herbeigewünscht hatte, malte sich eine unbestimmte Unruhe in den meisten Gesichtern. In endlosem Geschwätz wurden die Ereignisse erörtert. Bleich und erregt wie die anderen glaubte Peter in einem Übermaße von Vorsicht den entscheidenden Akt des Prinzen Louis Napoleon vor den Legitimisten und Orleanisten entschuldigen zu sollen.

Man spricht von einer Berufung an das Volk, sagte er; die Nation wird die Freiheit haben, eine ihr beliebige Regierung zu wählen; ... der Präsident ist der Mann dazu, daß er vor dem Gebote seiner rechtmäßigen Herren sich zurückzieht.

Der Marquis allein, der seine ganze vornehme Kaltblütigkeit bewahrt hatte, nahm diese Worte mit einem Lächeln auf; die anderen waren von dem Fieber des Augenblicks ergriffen und kümmerten sich nicht darum, was nachher kommen werde. Alle Meinungen gingen in die Brüche. Roudier vergaß der Zuneigung, die er als ehemaliger Krämer für die Orleans hatte, und unterbrach Peter mit plötzlichen Ausrufungen. Alle schrien durcheinander:

Nicht reden jetzt; denken wir nur daran, die Ordnung aufrecht zu erhalten!

Die braven Leute hatten eine heillose Furcht vor den Republikanern. Indes war die Stadt durch die Nachricht von den Parisern Ereignissen nur mäßig erregt worden. Es fanden einige Ansammlungen statt vor den Ankündigungen, die am Tore der Unterpräfektur angeschlagen waren; auch wurde erzählt, daß einige hundert Arbeiter ihre Beschäftigung im Stich gelassen hatten, um den Widerstand zu organisieren. Das war alles. Keine ernste Ruhestörung schien zu drohen. Mehr Sorge verursachte die Frage, welche Haltung die benachbarten Städte und Dörfer annehmen würden, doch war noch unbekannt, in welcher Weise diese den Staatsstreich aufgenommen hatten.

Gegen neun Uhr traf Granoux atemlos ein; er kam aus einer dringlich einberufenen Sitzung des Stadtrates. Mit einer vor Erregung zitternden Stimme erzählte er, der Bürgermeister, Herr Garçonnet, habe unter mannigfachen Vorbehalten sich entschlossen gezeigt, mit den energischsten Mitteln die Ordnung aufrecht zu erhalten. Doch die Nachricht, die den gelben Salon am meisten in Aufregung brachte, war, daß der Unterpräfekt abgedankt hatte. Dieser Beamte hatte sich stracks geweigert, die vom Minister des Innern empfangenen Depeschen der Bevölkerung von Plassans mitzuteilen; er habe soeben die Stadt verlassen, versicherte Granoux weiter, und die Depeschen seien nur auf Anordnung des Bürgermeisters angeschlagen worden. Dies sei vielleicht der einzige Unterpräfekt in Frankreich gewesen, der den Mut einer demokratischen Überzeugung hatte.

Waren die Rougon über die feste Haltung des Herrn Garçonnet im geheimen beunruhigt, so konnten sie andererseits nur schwer ihre Freude über die Flucht des Unterpräfekten verhehlen, der ihnen in dieser Weise das Feld geräumt hatte. In dieser denkwürdigen Zusammenkunft wurde beschlossen, daß die Gruppe vom gelben Salon den Staatsstreich annehme und sich offen für die vollzogenen Tatsachen erkläre. Vuillet wurde beauftragt, einen Artikel in diesem Sinne zu schreiben, den die Zeitung am folgenden Tage veröffentlichen solle. Er und der Marquis machten keinerlei Einwendung. Sie hatten ohne Zweifel ihre Weisungen von geheimnisvollen Persönlichkeiten erhalten, auf die sie manchmal eine ehrfurchtsvolle Anspielung machten. Die Geistlichkeit und der Adel waren schon bereit, den Siegern ihren Beistand zu leihen, um die Republik, diese gemeinsame Feindin, zu zertreten.

Während der gelbe Salon an diesem Abend über seine künftige Haltung beriet, litt Aristides eine Höllenangst. Nie hatte ein Spieler, der sein letztes Goldstück auf eine Karte setzte, in solcher Aufregung gelebt. Der Rücktritt seines Vorgesetzten hatte ihm schon im Laufe dieses Tages viel zu denken gegeben. Er hatte ihn mehrere Male wiederholen hören, daß der Staatsstreich mißlingen müsse. Dieser ehrliche, aber geistig beschränkte Beamte glaubte an den schließlichen Sieg des Volkstums, ohne indes den Mut zu besitzen, durch seinen Widerstand diesen Sieg zu fördern. Aristides horchte gewöhnlich an den Türen der Unterpräfektur, um genau unterrichtet zu sein. Er fühlte, daß er im Dunkeln tappe, und klammerte sich an die Nachrichten, die er der Verwaltung stahl. Die Ansicht des Unterpräfekten überraschte ihn, aber er blieb nichtsdestoweniger sehr verwirrt und unentschlossen. Er fragte sich: »Weshalb geht er, wenn er des Unterliegens des Prinz-Präsidenten so sicher ist?« Da er indes einen Entschluß fassen mußte, entschied er sich dafür, seinen Widerstand fortzusetzen. Er schrieb einen sehr heftigen Artikel gegen den Staatsstreich und brachte ihn noch am nämlichen Abend zum »Unabhängigen«, um ihn am folgenden Tage erscheinen zu lassen. Er hatte eben den Abzug dieses Artikels durchgesehen und ging nach seiner Wohnung, als er durch die Banne-Straße kommend unwillkürlich den Kopf erhob und nach den Fenstern der Rougon blickte. Die Fenster waren hell erleuchtet.

Was sie da oben wohl zusammenbrauen mögen? fragte sich der Journalist neugierig und besorgt.

Eine wahnsinnige Neugierde erfaßte ihn, die Meinung des gelben Salons über die neuesten Ereignisse kennen zu lernen. Er hielt nicht viel von dem Verständnis dieser reaktionären Gruppe; allein er schwankte wieder in seinen Zweifeln; es war eine jener Stunden über ihn gekommen, in denen man bereit ist, sich selbst mit einem vierjährigen Kinde zu beraten. Nachdem er Granoux und alle anderen bekriegt hatte, konnte er nicht daran denken, in diesem Augenblicke bei seinem Vater zu erscheinen. Nichtsdestoweniger ging er hinauf und dachte, daß er ein sonderbares Gesicht machen müsse, wenn ihn jemand auf der Treppe überraschen werde. Vor der Türe der Rougon konnte er nur ein unbestimmtes Gewirre von Stimmen vernehmen.

Ich bin wahrhaftig ein Kind, sagte er sich; die Furcht raubt mir den Verstand.

Er war im Begriffe wieder hinabzugehen, als er die Stimme seiner Mutter vernahm, die jemanden hinausgeleitete. Er hatte knapp Zeit, sich unter der kleinen Stiege zu verbergen, die nach dem Dachboden des Hauses führte. Die Türe ging auf und es erschien der Marquis, begleitet von Felicité. Herr von Carnavant ging in der Regel früher nach Hause als die kleinen Rentiers der Neustadt, ohne Zweifel, um nicht auf der Straße Händedrücke austeilen zu müssen.

Ei, Kleine! sagte der Marquis auf dem Treppenflur, indem er seine Stimme dämpfte, die Leute sind noch mattherziger, als ich gedacht; bei solchen Menschen wird Frankreich immer dem gehören, der den Mut hat, es sich in die Tasche zu stecken.

Und er fügte bitter hinzu, als rede er mit sich selbst:

Die Monarchie ist für die heutigen Zeiten entschieden zu rechtschaffen geworden. Ihre Zeit ist vorüber.

Eugen hatte seinem Vater die Krise angekündigt, sagte Felicité. Der Sieg des Prinzen Louis scheint ihm sicher.

Oh, ihr könnt kühn vorwärts schreiten; in zwei oder drei Tagen wird das Land erwürgt sein. Auf Wiedersehen bis morgen, Kleine!

Felicité schloß die Türe. Aristides war in seinem dunkeln Versteck wie geblendet. Wie ein Wahnsinniger stürmte er die Treppe hinab und geraden Weges nach der Druckerei des »Unabhängigen«. Eine Flut von Gedanken wogte in seinem Schädel. Wütend beschuldigte er seine Familie, ihn betrogen zu haben. Wie? Eugen hielt seine Eltern über die Lage auf dem laufenden und seine Mutter hatte ihn niemals die Briefe seines älteren Bruders lesen lassen, dessen Ratschläge er blindlings befolgt haben würde! Zu dieser Stunde erst mußte er zufällig erfahren, daß dieser ältere Bruder den Erfolg des Staatsstreiches als sicher betrachtete. Dies bekräftigte übrigens in ihm nur gewisse Ahnungen, denen er nur wegen dieses schwachköpfigen Unterpräfekten kein Gehör geschenkt hatte. Am meisten war er über seinen Vater erbittert, den er für dumm genug gehalten hatte, um ihn für einen Legitimisten zu halten, während er sich jetzt im geeigneten Augenblicke als Bonapartist entpuppte!

Wie viele Dummheiten hat man mich begehen lassen! brummte er dahineilend. Ich sitze ordentlich in der Tinte. Ach, welche Lehre! Granoux ist mir überlegen!

Wie ein Wirbelwind stürmte er in die Büros des »Unabhängigen« hinein und forderte mit erregter Stimme seinen Artikel zurück. Der Artikel war schon in Spalten geordnet. Er ließ die Form auseinandernehmen und war nicht eher beruhigt, als bis er selbst den Artikel vernichtete, indem er die Lettern durcheinanderwarf wie die Dominosteine. Der Verleger sah diesem Treiben mit verblüffter Miene zu. Im Grunde war es ihm recht, denn der Artikel hatte ihm gefährlich geschienen. Aber er brauchte Stoff, wenn er wollte, daß der »Unabhängige« erscheine.

Werden Sie mir statt dessen etwas anderes geben? sagte er.

Gewiß, erwiderte Aristides.

Er setzte sich an einen Tisch und begann eine begeisterte Lobrede auf den Staatsstreich zu schreiben. Gleich in den ersten Zeilen schwor er, daß Prinz Louis die Republik gerettet habe. Doch kaum hatte er eine Seite geschrieben, als er innehielt und die Fortsetzung zu suchen schien. Sein Mardergesicht drückte lebhafte Unruhe aus.

Ich muß nach Hause gehen, sagte er endlich; ich werde Ihnen den Schluß bald schicken; im schlimmsten Falle werden Sie morgen etwas später erscheinen.

Zu Hause ging er in Gedanken verloren lange hin und her. Die Unentschlossenheit hatte sich seiner wieder bemächtigt. Warum sollte er sich ihnen so rasch anschließen? Eugen war allerdings ein gescheiter Junge, aber es war immerhin möglich, daß seine Mutter die Tragweite eines Satzes in Eugens Briefe überschätzt hatte. In jedem Falle war es besser, zu warten und zu schweigen.

Eine Stunde später kam Angela in die Druckerei gelaufen; sie schien in großer Aufregung zu sein.

Mein Mann hat sich arg verletzt, sagte sie. Als er heimkam, klemmte er sich vier Finger in der Türe ein. Unter den schrecklichsten Schmerzen hat er mir diese kleine Notiz diktiert, die er Sie im Morgenblatte zu veröffentlichen bittet.

Am folgenden Tage erschien der »Unabhängige« fast ganz mit »vermischten Nachrichten« angefüllt; an der Spitze des Blattes aber war folgende Notiz zu lesen:

»Ein bedauerlicher Unfall, der unserem ausgezeichneten Mitarbeiter Herrn Aristides Rougon zugestoßen, wird uns durch einige Zeit seiner Artikel berauben. Es wird ihm schwer fallen, unter den augenblicklichen ernsten Verhältnissen Stillschweigen zu beobachten; doch wird sicherlich keiner unserer Leser an seinen patriotischen Wünschen für das Wohlergehen Frankreichs zweifeln.«

Diese vieldeutige Notiz war von Aristides reiflich erwogen worden. Der letzte Satz konnte zugunsten einer jeden Partei ausgelegt werden. In dieser Weise sicherte sich Aristides nach dem Siege einen ungetrübten Wiedereintritt in sein Blatt durch eine Lobrede auf die Sieger.

Am folgenden Tage zeigte er sich in der ganzen Stadt mit dem Arm in der Binde. Infolge der Notiz eilte seine Mutter erschrocken herbei; doch weigerte er sich, ihr seine Hand zu zeigen und sprach zu ihr mit einer gewissen Bitterkeit, die die alte Frau sogleich aufklärte.

Es wird nichts sein, sagte sie, indem sie ihn beruhigt verließ. Du bedarfst nur der Ruhe, fügte sie einigermaßen spöttisch hinzu.

Der »Unabhängige« hatte es ohne Zweifel diesem vorgeblichen Unfall seines Redakteurs und der Abreise des Unterpräfekten zu danken, daß er nicht behelligt wurde wie die meisten demokratischen Blätter der Provinz.

Der 4. Dezember verlief in Plassans in verhältnismäßiger Ruhe. Am Abend fand eine Kundgebung des Volkes statt; doch das bloße Erscheinen der Gendarmen genügte, die Ansammlung zu zerstreuen. Eine Gruppe von Arbeitern hatte von Granoux die Mitteilung der aus Paris eingelangten Depeschen gefordert; doch dieser weigerte sich hochmütig. Die Leute zogen ab und riefen: »Es lebe die Republik! Es lebe die Verfassung!« Dann wird wieder alles ruhig. Der gelbe Salon besprach lange diesen harmlosen Spaziergang des Volkes und erklärte sich schließlich mit dem Gange der Dinge hoch befriedigt.

Beunruhigender ließen sich die Tage vom 5. und 6. Dezember an. Man bekam allmählich Nachricht von dem Aufstande der benachbarten kleinen Städte. Der ganze Süden des Bezirks griff zu den Waffen; La Palud und Saint-Martin-de-Vaulx hatten sich zuerst erhoben und die Dörfer Chavanos, Nazères, Poujols, Valqueyras, Vernoux mitgerissen. Der gelbe Salon erschrak ernstlich. Die Leute ängstigte vornehmlich die Tatsache, daß Plassans vereinsamt inmitten dieses Herdes der Empörung lag. Es war vorauszusehen, daß aufrührerische Banden die Gegend durchziehen und allen Verkehr unterbrechen würden. Granoux erzählte mit verstörter Miene, der Herr Bürgermeister sei ohne Nachrichten. Leute wußten zu erzählen, das Blut fließe in den Straßen von Marseille, und eine fürchterliche Revolution sei in Paris ausgebrochen. Der Major Sicardot war entrüstet über die Mattherzigkeit dieser Spießbürger und rief, er sei bereit, an der Spitze seiner Leute zu sterben.

Am 7. Dezember, einem Sonntag, erreichte der Schreck seinen Höhepunkt. Im gelben Salon, wo eine Art reaktionäres Komitee dauernd tagte, versammelte sich von sechs Uhr ab eine Menge schreckensbleicher, angstbebender Menschen, die leise untereinander flüsterten wie in einem Totenzimmer. Man hatte im Laufe des Tages erfahren, daß eine Bande Aufständischer, etwa dreitausend Mann stark, in Alboise, einem drei Stunden entfernten Dorfe, sich angesammelt habe. In Wahrheit wurde nur erzählt, daß diese Bande, Plassans links lassend, nach dem Hauptorte des Bezirks zu marschieren beabsichtige; allein dieser Feldzugsplan konnte ja auch geändert werden und übrigens genügte es diesen feigen Rentenbesitzern, die Aufständischen in einer Entfernung von einigen Kilometern zu wissen, damit sie sich einbildeten, daß rohe Arbeiterfäuste sie schon an der Kehle faßten. Sie hatten schon am Morgen einen Vorgeschmack von der Empörung gehabt; als nämlich die wenigen Republikaner in Plassans sahen, daß sie in der Stadt nichts Ernstliches unternehmen könnten, hatten sie beschlossen, zu ihren Brüdern in La Palud und Saint-Martin-de-Baulx zu stoßen; eine erste Gruppe war gegen elf Uhr, die Marseillaise singend und einige Fensterscheiben einwerfend, durch das römische Tor abgezogen. Herrn Granoux war ebenfalls ein Fenster eingeworfen worden, und er erzählte dieses Ereignis schreckensbleich seinen Gesinnungsgenossen.

Die Gesellschaft des gelben Salons war in lebhafter Angst. Der Major hatte seinen Diener ausgesendet, um genaue Erkundigungen über den Marsch der Aufrührer einzuholen; man erwartete die Rückkehr dieses Mannes und erging sich inzwischen in erstaunlichsten Vermutungen. Die Versammlung war vollzählig; Roubier und Granoux saßen schier regungslos in ihren Sesseln und warfen einander Jammerblicke zu, während hinter ihnen die erschrockene Gruppe der Kaufleute im Ruhestande schwere Seufzer ausstieß. Vuillet schien nicht allzusehr erschrocken und dachte über die Maßregeln nach, die er ergreifen werde, um seinen Geschäftsladen und seine Person zu schützen; er erwog, ob er sich in seinem Speicher oder in seinem Keller verbergen solle, und neigte dem Keller zu. Peter und der Major schritten im Salon auf und ab und tauschten von Zeit zu Zeit eine Bemerkung aus. Der ehemalige Ölhändler klammerte sich an seinen Freund Sicardot, um bei diesem Mut zu schöpfen. Er, der seit so langer Zeit die Krise erwartete, suchte sich jetzt eine feste Haltung zu geben, obgleich die Aufregung ihm die Kehle zuschnürte. Was den Marquis betrifft, so war er geschniegelter und heiterer als je und plauderte in einem Winkel mit Felicité, die sehr aufgeräumt schien.

Endlich ward geläutet. Die Herren erschraken, als hätten sie einen Flintenschuß gehört. Während Felicité hinausging, um zu öffnen, herrschte Grabesstille in dem Salon; die bleichen, angstvollen Gesichter wandten sich der Tür zu. Der Diener des Majors erschien auf der Schwelle; er war völlig außer Atem und rief seinem Herrn zu:

Herr Major! In einer Stunde werden die Aufständischen hier sein!

Das wirkte wie ein Donnerschlag, Alle fuhren schreiend empor und streckten die Hände gen Himmel. Es währte einige Minuten, bis man sich verständlich machen konnte. Man umdrängte den Boten und bestürmte ihn mit Fragen.

Tausend Teufel, jammert doch nicht so! schrie der Major. Ruhe, oder ich stehe für nichts!

Alle sanken auf ihre Sessel zurück und stießen schwere Seufzer aus. Jetzt erst konnte man einige Einzelheiten erfahren. Der Bote war dem Trupp der Aufständischen bei Tulettes begegnet und hatte sich beeilt, zurückzukehren.

Es sind mindestens dreitausend, meldete er. Sie marschieren in Bataillonen wie die Soldaten. Ich glaube, auch Gefangene bei ihnen gesehen zu haben.

Gefangen! schrien die entsetzten Spießbürger.

Ohne Zweifel, sagte der Marquis mit seiner dünnen Stimme; man hat mir erzählt, daß sie die Leute verhaften, die wegen ihrer konservativen Gesinnungen bekannt sind.

Bei dieser Nachricht erreichte die Bestürzung des gelben Salons ihren Höhepunkt. Einige Bürger erhoben sich und erreichten verstohlen die Türe; sie dachten wohl, es sei die höchste Zeit, ein sicheres Versteck zu suchen.

Die Kunde von den Verhaftungen, welche die Aufständischen bewerkstelligten, schien Felicité zu erschrecken. Sie zog den Marquis beiseite und fragte ihn:

Was machen denn diese Leute mit ihren Gefangenen?

Sie schleppen sie als Geiseln mit sich, erwiderte Herr von Carnavant.

Ah! rief die Alte mit eigentümlicher Betonung.

Sie beobachtete mit nachdenklicher Miene die seltsame Schreckensszene in ihrem Salon. Allmählich drückten sich die Spießbürger; bald blieben nur Vuillet und Roudier, denen die Nähe der Gefahr einigen Mut wiedergab. Auch Granoux blieb in seinem Winkel sitzen; seine Beine wollten ihn nicht tragen.

Meiner Treu, mir ist's lieber so, sagte der Major, als er die Flucht der übrigen Anhänger sah. Diese Feiglinge ärgerten mich schon zu sehr. Seit zwei Jahren reden sie davon, daß sie alle Republikaner der Gegend erschießen lassen wollen und würden heute nicht den Mut haben, eine Rakete um zwei Sous vor ihnen abzubrennen.

Er nahm seinen Hut und wandte sich zur Türe.

Kommen Sie, Rougon, die Zeit drängt! sagte er.

Felicité schien auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Sie warf sich zwischen die Türe und ihren Gatten, der sich übrigens nicht sonderlich beeilte, dem schrecklichen Major zu folgen.

Ich will nicht, daß du gehest! schrie sie, eine tiefe Verzweiflung heuchelnd. Ich werde niemals zugeben, daß du mich verläßt. Die Halunken würden dich töten!...

Der Major blieb verwundert stehen.

Verdammt! brummte er; jetzt fangen gar die Weiber an zu winseln... Kommen Sie, Rougon!

Nein, nein! fuhr die Alte fort, eine immer größere Angst zur Schau tragend; er soll Ihnen nicht folgen: ich werde mich an seinen Rock klammern.

Sehr überrascht von dieser Szene, beobachtete der Marquis neugierig Felicité. War das dieselbe Frau, die soeben so heiter geplaudert hatte? Welche Komödie spielte sie? Peter aber tat, als wolle er trotz dem Widerstände seines Weibes mit aller Gewalt gehen.

Du sollst nicht gehen! wiederholte die Alte und faßte ihn am Arme.

Dann sagte sie zum Major:

Wie können Sie an Widerstand denken? Jene sind dreitausend und Sie bringen nicht hundert mutige Männer zusammen! Sie werden sich ganz unnütz abschlachten lassen.

Das ist unsere Pflicht, sagte Sicardot ungeduldig.

Felicité brach in Tränen aus.

Wenn sie ihn töten, wenn sie ihn zum Gefangenen machen, fuhr sie fort, indem sie ihren Gatten fest anschaute; mein Gott, was soll denn aus mir werden, allein in dieser verlassenen Stadt?

Aber glauben Sie denn, rief der Major, daß wir weniger eingesperrt werden, wenn wir den Aufständischen gestatten, ruhig in die Stadt einzudringen? Ich schwöre Ihnen, daß nach Verlauf von nur einigen Stunden der Bürgermeister und alle städtischen Beamten im Loch sitzen werden, von Ihrem Gatten und den regelmäßigen Gästen dieses Salons nicht zu reden.

Der Marquis glaubte ein flüchtiges Lächeln auf den Lippen Felicités zu sehen, während sie mit entsetzter Miene entgegnete:

Sie glauben?...

Bei Gott, ja, fuhr Sicardot fort; die Republikaner sind nicht so dumm, daß sie ihre Feinde in ihrem Rücken lassen. Morgen sind alle Beamten und gutgesinnten Bürger aus Plassans verschwunden.

Bei diesen Worten, die sie in sehr geschickter Weise herbeigeführt hatte, ließ Felicité den Arm ihres Gatten fahren. Peter machte Miene, wegzugehen. Dank seiner Gattin, deren geschickte Taktik ihm übrigens entging und von deren geheimem Einverständnis er keine Ahnung hatte, war ihm plötzlich ein ganzer Feldzugsplan enthüllt worden.

Wir müssen die Sache überlegen, ehe wir einen Entschluß fassen, sagte er dem Major. Meine Frau hat vielleicht nicht ganz unrecht, wenn sie uns beschuldigt, daß wir die Interessen unserer Familien außer acht lassen.

Nein, gewiß, Ihre Frau hat nicht unrecht, rief Granoux, der die Schreckensrufe Felicités mit dem Entzücken des Feiglings vernommen hatte.

Der Major stülpte sich den Hut auf den Kopf und sagte entschieden:

Ob recht oder unrecht, was liegt daran? Ich bin Kommandant der Nationalgarde, ich sollte schon auf dem Bürgermeisteramte sein. Gesteht wenigstens, daß ihr Angst habt und mich verlaßt. Guten Abend denn!

Er legte die Hand an die Klinke, als Rougon ihn mit lebhafter Gebärde zurückhielt.

Hören Sie mich, Sicardot, sagte er.

Und er zog ihn in einen Winkel, weil er sah, daß Vuillet die breiten Ohren spitzte.

Hier erklärte er ihm mit leiser Stimme, daß es ein Gebot der Vorsicht sei, hinter den Aufständischen einige energische Männer zurückzulassen, die in der Stadt die Ordnung wiederherstellen könnten. Weil der tollkühne Kommandant dabei beharrte, seinen Posten nicht verlassen zu wollen, machte er sich selbst erbötig, sich an die Spitze der Reservetruppen zu stellen.

Geben Sie mir, sagte er, den Schlüssel der Scheune, wo Sie die Gewehre und den Schießbedarf in Verwahrung haben, und geben Sie fünfzig Leuten von unseren Anhängern den Befehl, sich nicht zu rühren, bis ich sie rufe.

Sicardot willigte schließlich in diese Vorsichtsmaßnahmen ein. Er vertraute dem Rougon den Schlüssel der Scheune an; er sah ein, daß für den Augenblick jeder Widerstand nutzlos sei, aber er wollte dennoch mit seiner Person einstehen.

Während dieser Unterredung flüsterte der Marquis mit schlauer Miene einige Worte in das Ohr Felicités; ohne Zweifel beglückwünschte er sie zu ihrer List. Die Alte konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Als sie sah, wie Sicardot ihrem Gatten zum Abschiede die Hand reichte und sich zum Gehen anschickte, rief sie ihm mit verstörter Miene zu:

Sie verlassen uns wirklich?

Niemals wird ein alter Soldat Napoleons sich durch den Pöbel einschüchtern lassen, erwiderte er.

Er war schon auf dem Flur, als Granoux ihm nachschrie:

Wenn Sie aufs Rathaus gehen, verständigen Sie den Bürgermeister von den Vorgängen. Ich eile nach Hause, um meine Frau zu beruhigen.

Felicité hatte sich zum Ohr des Marquis geneigt und flüsterte ihm mit geheimer Freude zu:

Meiner Treu, es ist mir lieb, wenn der Major sich fassen läßt. Er ist gar zu tollkühn.

Mittlerweile hatte Rougon den Granoux wieder in den Salon zurückgeführt. Roudier, der aus seinem Winkel die ganze Szene still beobachtet und mit energischen Zeichen seine Zustimmung zu den vorgeschlagenen Vorsichtsmaßnahmen ausgedrückt hatte, trat jetzt zu ihnen. Als der Marquis und Vuillet sich ebenfalls erhoben hatten, sprach Peter:

Da wir allein sind unter friedfertigen Leuten, schlage ich Ihnen vor, daß wir uns verbergen, um der sicheren Haft zu entgehen und dann frei zu sein, wenn wir die Stärkeren sind.

Granoux mußte sich zurückhalten, um ihm nicht um den Hals zu fallen; Roudier und Vuillet atmeten wieder auf.

Ich werde Ihrer demnächst wieder bedürfen, meine Herren, fuhr der Ölhändler mit wichtiger Miene fort; uns ist es eben vorbehalten, die Ordnung in Plassans wieder herzustellen.

Zählen Sie auf uns! rief Vuillet mit einer Begeisterung, die Felicité beunruhigte.

Die Zeit drängte. Die seltsamen Verteidiger von Plassans, die sich verbargen, um ihre Stadt besser verteidigen zu können, beeilten sich, ihre Schlupfwinkel aufzusuchen.

Als Peter mit seiner Frau allein geblieben war, empfahl er ihr, nicht den Fehler zu begehen, das Haus zu verrammeln, und wenn man nach ihm fragen sollte, zu antworten, daß er eine kleine Reise unternommen habe. Als sie die Unwissende spielte und einigen Schrecken heuchelte, erwiderte er ihr auf ihre Frage, was denn vorgehe, in schroffem Tone:

Das geht dich nichts an, laß mich unsere Angelegenheiten allein führen, es ist besser so.

Einige Minuten später eilte er durch die Banne-Straße. Auf der Promenade Sauvaire angekommen, sah er eine Bande bewaffneter Arbeiter aus dem alten Quartier hervorbrechen, welche die Marseillaise sangen.

Alle Wetter! es war die höchste Zeit, dachte er. Die Stadt erhebt sich.

Er beschleunigte seine Schritte nach dem römischen Tor zu. Hier trat ihm kalter Schweiß auf die Stirne, als er sah, mit welcher Langsamkeit der Torwart ihm öffnete. Kaum auf der Heerstraße angelangt, bemerkte er beim Mondlicht am andern Ende der Vorstadt die Aufständischen heranziehen, deren Gewehre im Mondschein blinkten. Im Laufschritt erreichte er das Sankt-Mittre-Gäßchen, und hier betrat er das Haus seiner Mutter, wo er seit vielen Jahren nicht gewesen.


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