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Erstes Kapitel.

Wenn man Plassans durch das Römertor verläßt, das auf der Südseite der Stadt liegt, findet man rechts von der Straße nach Nizza hinter den ersten Häusern der Vorstadt ein wüstes Stück Land, das in der Gegend unter dem Namen »der Saint-Mittre-Grund« bekannt ist.

Der Saint-Mittre-Grund ist ein längliches Viereck in ziemlicher Ausdehnung, das sich in gleicher Höhe mit dem Fußsteig der Straße hinzieht, von der er nur durch einen Streifen dürren Rasens getrennt ist. Auf einer Seite des Grundstückes, rechts, zieht sich ein Sackgäßchen hin mit einer Reihe von Hütten. Links und im Hintergrunde ist das Gebiet durch zwei von Moos zerfressene Mauern abgeschlossen, über die hinweg man die Maulbeerbäume des Jas-Meiffren erblickt, eines größeren Besitztumes, zu dem der Eingang weiter unten in der Vorstadt zu finden ist. So von drei Seiten eingeschlossen, ist der »Saint-Mittre-Grund« eigentlich ein großer Platz, der nirgends hinführt und daher nur von Spaziergängern aufgesucht wird.

Einst war hier ein Kirchhof, der unter dem Schutze des Saint-Mittre stand, eines provençalischen Heiligen, der in dieser Gegend sehr verehrt wurde. Die älteren Leute erinnerten sich im Jahre 1851 noch, die Mauern dieses Kirchhofes, der Jahre hindurch geschlossen geblieben, gesehen zu haben. Der Boden, den man seit mehr denn einem Jahrhundert mit Leichen vollstopfte, atmete den Tod aus, und man war genötigt, am anderen Ende der Stadt einen neuen Gottesacker zu eröffnen. Nachdem er aufgelassen worden, schwand der ehemalige Friedhof mit jedem jungen Jahre mehr und bedeckte sich mit einem üppigen Pflanzenwuchs. Dieser fette Boden, in den die Totengräber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne Menschenknochen aufzuwerfen, war von einer ungeheuren Fruchtbarkeit. Nach den Mairegen und den sonnigen Tagen des Juni sah man von der Straße aus die Spitzen der Gräser über die Mauern hinausragen; im Innern war ein Meer von tiefem, sattem Grün, da und dort blühten breite Blumen von seltsamem Farbenglanze. Im Schatten der eng zusammenstehenden Stengel roch man das feuchte Erdreich, das von gärenden Säften strotzte.

Eine Merkwürdigkeit dieses Grundstückes waren zu jener Zeit die Birnbäume mit den verkrümmten Zweigen und unförmigen Knoten, nach deren riesigen Früchten keine Hausfrau von Plassans Verlangen trug. Man sprach in der Stadt von diesen Birnen nur mit Ekel; aber die Vorstadtjungen waren nicht so heikel; sie erklommen des Abends scharenweise die Mauern, um die Birnen zu stehlen, noch ehe sie völlig reif waren.

Das blühende, reich sprießende Leben der Gräser und Bäume hatte bald den Tod des ehemaligen Kirchhofes von Saint-Mittre bewältigt. Der menschliche Moder wurde gierig von den Blumen und Früchten aufgesogen, und kam man an diesem Orte vorbei, so spürte man nur mehr den scharfen Duft der wilden Nelken. Wenige Sommer hatten dies zustandegebracht.

Um jene Zeit kam die Stadt auf den Gedanken, von diesem bisher brach gelegenen Gemeindebesitz Nutzen zu ziehen. Man riß die längs der Straße und des Sackgäßchens stehenden Mauern nieder und beseitigte Gräser und Birnbäume; dann verlegte man den Kirchhof. Der Boden ward bis zu einer Tiefe von mehreren Metern aufgegraben, und man warf in einem Winkel die Gebeine zuhauf, die sich in der Erde vorfanden. Die Jungen, die über den Verlust der Birnbäume untröstlich waren, spielten fast einen Monat Ball mit den Schädeln; es fanden sich Leute, die sich den schlechten Spaß machten, nächtlicherweile Schenkel- und Schienbeine an die Türglocken der Stadt zu hängen. Dieses Ärgernis, das in Plassans heute noch unvergessen ist, hörte nicht eher auf, als bis man sich entschloß, die Gebeine in einer Grube auf dem neuen Kirchhofe zu verscharren. Allein, in der Provinz werden die Arbeiten mit bedächtiger Langsamkeit ausgeführt, und die Bewohner des Ortes sahen eine Woche hindurch von Zeit zu Zeit einen einzigen Leichenkarren mit menschlichen Resten dahinziehen, als ob er Kalk führte. Das Schlimmste dabei war, daß dieser Karren Plassans in seiner ganzen Länge passieren mußte und daß er, auf dem schlechten Pflaster forthumpelnd, bei jedem Stoße Knochenstücke und Häuflein fetter Erde als Spur zurückließ. Keinerlei kirchliche Zeremonie, nur eine langsame, rohe Abfuhr. Niemals fand in einer Stadt ein so widerliches Schauspiel statt.

Mehrere Jahre hindurch blieb der ehemalige Kirchhof von Saint-Mittre ein Gegenstand des Schreckens. Am Rande einer großen Straße für alle Welt offen daliegend, blieb der Ort öde und verlassen, abermals eine Beute wilden Wachstumes. Die Stadt, die ohne Zweifel das Grundstück veräußern wollte, damit es mit Häusern bebaut werde, fand keinen Käufer; vielleicht war es die Erinnerung an den Knochenhaufen und an den vereinzelt durch die Straßen ziehenden, an einen hartnäckigen, bösen Traum gemahnenden Leichenkarren, welche die Leute zurückschreckte; vielleicht auch erklärt sich die Tatsache durch die Lässigkeit der Provinz, durch jenes Widerstreben, das sie gegen alles Niederreißen und Wiederaufbauen hat. Die Stadt behielt das Grundstück, und schließlich geriet der Wunsch, es zu verkaufen, ganz in Vergessenheit. Man unterließ sogar, das Gebiet mit einem Pfahlzaun einzufrieden; jedermann konnte ungehindert ein und aus gehen. Nach und nach gewöhnte man sich im Laufe der Jahre an diesen öden Winkel; man ließ sich auf das Gras am Raine nieder; man ging wohl auch quer über das Stück Feld, kurz: der Ort belebte sich immer mehr. Als die Füße der Spaziergänger den Rasenteppich abgenützt hatten und der festgestampfte Boden grau und hart geworden war, glich der ehemalige Kirchhof einem schlecht geebneten öffentlichen Platze. Um jede peinliche Erinnerung völlig zu tilgen, gewöhnten sich die Bewohner, fast ohne es zu merken, allmählich daran, die Benennung des Gebietes zu ändern; man begnügte sich damit, bloß den Namen des Heiligen zu behalten und legte diesen auch dem Gäßchen bei; man sagte: das »Saint-Mittre-Feld« und das »Saint-Mittre-Gäßchen«.

All dies ist schon lange her. Seit mehr denn dreißig Jahren hat das Saint-Mittre-Feld sein eigenartiges Aussehen. Die Stadt, viel zu lässig und sorglos, um das Grundstück auszunützen, hat es gegen ein geringes Entgelt an die Wagner der Vorstadt verpachtet, die daselbst einen Zimmerplatz eingerichtet haben. Heute noch liegen stellenweise Haufen von riesigen Balken, zehn bis fünfzehn Meter lang, herum, gleich umgestürzten hohen Pfeilern. Diese Balkenhaufen, diese parallel hingelegten Maste, die sich fortsetzen von einem Ende des Feldes bis zum anderen, sind die ewige Freude der Jungen. Einzelne Balken sind herabgeglitten, so daß stellenweise der Boden mit einer Art Parkett, aus runden Stücken bestehend, bedeckt ist, auf dem man nur mit dem Aufgebot halsbrecherischer Balancierkünste dahinschreiten kann. Den ganzen Tag sind Scharen von Kindern da, die sich dieser Leibesübung hingeben. Man sieht sie über die großen Bohlen springen, die schmalen Kanten entlang schreiten, rittlings dahinrutschen, all die verschiedenen Spiele treiben, die gewöhnlich mit einer Keilerei, mit Geheul und Gezeter endigen; oder auch es setzen sich ihrer je ein halbes Dutzend, eng aneinander gedrängt, auf die beiden Enden eines quer über die anderen gelegten Balkens und schaukeln sich stundenlang. Das Saint-Mittre-Feld ist ein Unterhaltungsplatz geworden, auf dem die Vorstadtjungen seit einem Vierteljahrhundert die Hosen zerreißen.

Was diesem verlorenen Winkel vollends einen seltsamen Charakter verliehen hat, ist der alte Brauch der durchziehenden Zigeuner, hier ihre Zelte aufzuschlagen. Sobald eines dieser Häuser auf Rädern, das einen ganzen Stamm enthält, in Plassans eintrifft, läßt es sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes nieder. Der Platz ist denn auch niemals leer; es findet sich stets eine dieser Banden mit ihrem seltsamen Treiben, eine Truppe von braunen Männern und furchtbar dürren Weibern, zwischen denen ganze Scharen schmutziger Rangen sich am Boden wälzen. Dieses Volk lebt ohne Scham im Freien vor aller Welt, kocht seine Suppe, nährt sich von namenlosen Dingen, breitet seine Lumpen aus, schläft, prügelt sich, küßt sich, stinkt von Schmutz und Elend.

Das öde Leichenfeld, wo einst die Drohnen allein die dickblätterigen Blumen in der stillen, schwülen Sonnenglut umsummten, ist ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt von dem Gezanke der Zigeuner und dem Geschrei der jungen Vorstadt-Taugenichtse. Eine Sägerei, die in einem Winkel die Balken des Zimmerplatzes zerlegt, liefert mit ihrem Kreischen eine beständige dumpfe Begleitung zu den hellen menschlichen Stimmen. Die Sägerei ist ganz einfach; das Stück Holz wird quer auf zwei erhöhte Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, der eine oben auf dem Balken sitzend, der andere unten, geblendet durch den herabfallenden Sägestaub erhalten eine starke und breite Säge in fortwährender auf- und absteigender Bewegung. Stundenlang neigen sich diese Männer so hin und her gleich Gliederpuppen mit der Regelmäßigkeit und Starrheit von Maschinen. Das von ihnen zu Brettern gesägte Holz ist im Hintergrunde längs der Mauer zwei bis drei Meter hoch aufgeschichtet und gleichmäßig in Kubikform gelegt. Diese Mühlsteinen ähnlichen Vierecke, die manchmal mehrere Jahre lang hier liegen bleiben, bis sie von Moos und Unkraut überwuchert werden, sind mit ein Reiz des Saint-Mittre-Feldes. Es ziehen sich zwischen ihnen verschwiegene, stille Pfade hin, die zu einem etwas breitern Wege führen, der zwischen den Holzstößen und der Mauer freigelassen blieb. Es ist dies ein verlassener Winkel, ein schmaler grüner Fleck, von welchem aus man nur schmale Streifen des Himmels sieht. Auf diesem Wege, dessen Wände mit Moos überzogen sind und dessen Boden mit einem Wollteppich belegt zu sein scheint, herrscht noch der üppige Pflanzenwuchs und die fröstelnde Stille des ehemaligen Kirchhofes. Man verspürt da den lauen, unbestimmten Hauch der Wollust des Todes, wie er aus den im Sonnenbrande glühenden alten Gräbern aufsteigt. Es gibt in der Umgebung von Plassans keinen Ort, wo man so sehr wie hier durch die Einsamkeit und Stille zur Liebe gestimmt würde. Hier ist es köstlich zu lieben. Als der Kirchhof geräumt ward, mußte man in diesem Winkel die Gebeine aufhäufen; heute noch kommt es vor, daß man, den feuchten Boden mit dem Fuße aufwühlend, Schädelstücke zutage fördert.

Übrigens denkt niemand mehr an die Toten, die einst unter diesem Rasen geschlummert. Bei Tage spielen die Kinder Verstecken zwischen diesen Holzstößen. Der grüne Weg bleibt unbekannt und unbenutzt. Man sieht nichts als den staubgrauen Zimmerplatz mit den umherliegenden Pfosten. Des Morgens und Nachmittags, wenn die Sonne ihre Glut herniedersendet, wimmelt das Feld von Menschen; und über all dem regen Treiben, über den Straßenjungen, die zwischen den Hölzern spielen, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihren Suppenkesseln anfachen, hebt sich das dürre Schattenbild des Sägearbeiters, der hoch auf seinem Balken sitzt, scharf vom Himmel ab, wie er sich auf- und abwärts bewegt mit der Regelmäßigkeit eines Pendels, wie um das fröhliche, neue Leben zu regeln, das hier auf dem ehemaligen Totenacker erstanden. Nur die Alten, die auf den Balken ausruhen und sich in der Abendsonne wärmen, reden noch manchmal untereinander von den Gebeinen, die sie ehemals auf dem sagenhaften Leichenkarren durch die Straßen von Plassans hatten führen sehen.

Wenn die Nacht hereinbricht, leert sich das Saint-Mittre-Feld und gleicht dann einer tiefen, schwarzen Grube. Im Hintergrunde ist nichts als der matte Schein der Feuerstellen der Zigeuner. Von Zeit zu Zeit sieht man stille Schatten durch die dichte Finsternis huschen. Im Winter hat der Ort ein besonders düsteres Aussehen.

An einem Sonntag abends, gegen sieben Uhr, verließ ein junger Mensch die Saint-Mittre-Gasse und schlich immer die Mauern entlang bis zu den Balken des Zimmerplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen des Jahres 1851, und es herrschte eine trockene Kälte. Das Mondlicht hatte die den Wintermonden eigentümliche Klarheit. Der Zimmerplatz glich diese Nacht nicht einer dunklen Höhle wie in den regnerischen Nächten; durch breite Lichtfelder des weißen Mondes erhellt, lag er, den Beschauer zu sanfter Schwermut stimmend, in winterlicher Stille und Unbeweglichkeit da.

Der junge Mensch blieb, vorsichtig sich umschauend, einige Augenblicke am Rande des Feldes stehen. Unter seiner Jacke hielt er den Kolben einer langen Flinte fest, deren zu Boden gesenkter Lauf im Mondlicht glänzte. Er drückte die Waffe fest an sich und warf einen scharf prüfenden Blick auf die Schattenvierecke, die die Bretterstöße im Hintergrunde des Feldes warfen. Es war wie ein Damebrett aus Licht und Schatten mit scharf geschnittenen Feldern. Mitten im Felde standen auf einem kahlen, grauen Fleck die Böcke der Sägearbeiter eng aneinander gereiht, einer ungeheuerlichen geometrischen Figur gleichend, die jemand mit Tinte auf das Papier wirft. Der übrige Teil des Zimmerplatzes, der aus Balken gebildete Estrich, war ein breites Bett, wo das Mondlicht schlief, kaum getrübt durch die schmalen Schattenstreifen, die die aufgehäuften Pfosten hineinwarfen. Diese im Lichte des Wintermondes in eisiger Stille daliegenden Haufen umgestürzter, unbeweglicher Mäste, die gleichsam erstarrt waren in Kälte und Schlaf, erinnerten an die Toten des ehemaligen Kirchhofes. Der junge Mensch warf auf diesen leeren Raum nur einen flüchtigen Blick; kein Wesen, kein Hauch, keine Gefahr, gesehen oder gehört zu werden. Die dunklen Flecke des Hintergrundes beunruhigten ihn mehr. Doch nach kurzer Betrachtung wagte er sich vor und durchschritt rasch den Zimmerplatz.

Sobald er sich in Schatten gehüllt wußte, verlangsamte er seine Schritte. Er befand sich jetzt auf dem grünen Wege längs der Mauer hinter den Bretterstößen. Hier vernahm er nicht mehr das Geräusch seiner Schritte; das gefrorene Gras knisterte kaum unter seinen Füßen. Ein Gefühl der Zufriedenheit schien ihn zu erfüllen. Ihm war, als müsse er diesen Ort lieben, weil er daselbst keine Gefahr zu fürchten, nur Gutes und Liebes zu suchen habe. Er verbarg seine Flinte nicht mehr. Der Weg zog sich gleich einem schattigen Graben dahin. Stellenweise glitt das Mondlicht zwischen zwei Bretterstößen hindurch und warf einen hellen Streifen auf das Gras. Dunkel und Helle lagen gleichmäßig in tiefem, traurigem Schlaf. Nichts war mit der Stille und Ruhe dieses Weges vergleichbar. Der junge Mensch durchschritt ihn in seiner ganzen Länge. An seinem Ende, dort wo die Mauern des Jas-Meiffren einen Winkel bilden, blieb er stehen und horchte, wie um zu hören, ob nicht von dem benachbarten Grundstück her ein Geräusch vernehmbar sei. Als er nichts hörte, bückte er sich, schob ein Brett zur Seite und versteckte seine Flinte unter einem Stoß Holz.

In diesem Winkel fand sich ein alter Grabstein, der bei der Übersiedlung des alten Kirchhofes hier vergessen worden und quer gelegt eine Art hoher Bank bildete. Der Regen hatte die Ränder des Steines zermürbt, und das Moos fraß sich nach und nach in ihn ein. Beim Mondschein konnte man noch einiges von der Grabschrift auf der dem Erdboden zugeneigten Fläche des Grabsteines lesen. »Hier ruht ... Marie ... gestorben ...«, den Rest hatte die Zeit ausgelöscht.

Als der junge Mensch sein Gewehr verborgen hatte, horchte er von neuem, und da er nichts hörte, entschloß er sich, auf den Stein zu steigen. Die Mauer war niedrig; er stemmte die Ellenbogen auf die Mauerkappe. Allein jenseits der Reihe von Maulbeerbäumen, die längs der Mauer stand, sah er nichts als eine mondhelle Ebene; die Felder des Jas-Meiffren dehnten sich im Mondlichte flach und baumlos gleich einem ungeheuren Stück ungebleichter Leinwand aus. In einer Entfernung von etwa hundert Metern bildete das von dem Krautgärtner bewohnte Haus mit den Wirtschaftsgebäuden einen etwas helleren Fleck. Der junge Mensch blickte gespannt nach dieser Seite hin, als eine Turmuhr der Stadt in langsamen, tiefklingenden Schlägen die siebente Abendstunde kündete. Er zählte die Uhrschläge, dann stieg er von dem Steine herab, gleichsam überrascht und ärgerlich.

Er setzte sich auf die Bank wie jemand, der sich gefaßt macht, lange zu warten. Er schien die scharfe Kälte nicht zu spüren. Eine halbe Stunde verharrte er regungslos, die Augen nachdenklich auf eine Schattenmasse geheftet. Er hatte sich in einen dunklen Winkel gesetzt; aber allmählich erreichte ihn der höher steigende Mond, und sein Kopf war hell beleuchtet.

Es war ein Bursche mit aufgewecktem Gesichte, dessen feiner Mund und noch zarte Haut die Jugend verrieten. Er war etwa siebzehn Jahre alt und von einer charakteristischen Schönheit. Sein mageres, langes Gesicht war wie von dem Daumenstrich eines mächtigen Bildhauers geformt; die hügelige Stirne, die vorspringenden Bogen der Augenbrauen, die Adlernase, das breite, flache Kinn, die Wangen mit den vorspringenden Backenknochen verliehen dem Kopfe einen eigenartigen Ausdruck von Kraft und Energie. Mit dem Alter mußte dieser Kopf einen ausgesprochen knochigen Charakter, die Magerkeit eines fahrenden Ritters annehmen. Allein in dieser Zeit erwachender Mannbarkeit, an Kinn und Wangen kaum mit einem schwachen Flaum bedeckt, wurde die Rauheit dieses Kopfes durch gewisse einnehmende Weichheiten gemildert, durch gewisse Winkel des Gesichtes, die noch einen unbestimmten, kindlichen Ausdruck haben. Die Augen von zartschwarzer Färbung, noch in die Unschuld der Jugend getaucht, verliehen diesem energischen Gesicht ebenfalls einen Zug von Sanftmut. Nicht alle Frauen würden diesen Knaben geliebt haben; denn er war weit entfernt von dem, was man einen hübschen Jungen nennt; allein das Ganze seiner Züge zeigte eine so feurige, anziehende Lebendigkeit, eine solche Schönheit der Begeisterung und der Kraft, daß die Dirnen der Gegend, diese heißblütigen Töchter des Südens, wohl von ihm zu träumen begannen, wenn er an schwülen Juliabenden an ihrer Haustüre vorbeikam.

Auf dem Grabstein sitzend, sann er und sann, ohne zu merken, daß er jetzt ganz im Mondlichte saß. Er war von mittlerer, etwas gedrungener Gestalt. Am Ende seiner stark entwickelten Arme saßen Arbeiterhände, die schon durch die Arbeit abgehärtet waren; die kräftigen Füße staken in groben Bundschuhen. Die Gelenke und die Glieder, die schwerfällige Haltung des Körpers kennzeichneten ihn als Sohn des Volkes; allein in der aufrechten Haltung seines Halses und in dem denkenden Ausdruck der Augen lag gleichsam eine stille Auflehnung gegen die Verrohung durch das Tagewerk, das ihn schon zu Boden zu drücken begann. Es mußte eine verständige Natur sein, ertränkt in der Schwerfälligkeit seines Stammes und seines Berufes; einer jener fein gearteten und auserlesenen Geister, die sich im Fleische selbst kundgeben und darunter leiden, daß sie nicht siegreich und strahlend ihre plumpe Hülle verlassen können. Trotz seiner Kraft schien er schüchtern und zaghaft zu sein; er schämte sich gleichsam unbewußt, sich so unvollständig zu fühlen und nicht zu wissen, wie er sich vervollständigen solle. Ein wackeres Kind, dessen Unwissenheit sich in Begeisterung verwandelt hatte; ein Mannesherz, unterstützt durch die Vernunft eines Knaben, der Hingebung fähig wie ein Weib und dabei mutig wie ein Held. An diesem Abend war er mit Beinkleid und Jacke von grünem Wollsammet bekleidet; ein Hut von weichem Filz, der ihm leicht auf dem Hinterkopfe saß, warf einen Schattenstreif auf seine Stirn.

Als die benachbarte Turmuhr die halbe Stunde schlug, fuhr er plötzlich aus seiner Träumerei auf. Er sah sich in voller Beleuchtung und schaute sich besorgt um. Mit einer hastigen Bewegung zog er sich in das Dunkel des Schattens zurück, aber er konnte den Faden seiner Träumerei nicht wiederfinden. Er fühlte jetzt, daß seine Hände und Füße froren, und die Unruhe bemächtigte sich seiner von neuem. Er klomm wieder hinan, um einen Blick nach den Jas-Meiffren zu werfen, der still und öde dalag. Als er dann nicht mehr wußte, wie er die Zeit totschlagen solle, holte er unter dem Bretterhaufen seine Flinte hervor und begann, mit dem Hahn zu spielen. Es war ein langer und schwerer Karabiner, der einst ohne Zweifel irgendeinem Schmuggler gehört hatte; an dem dicken Kolben und der starken Schwanzschraube des Laufes erkannte man die einstige Steinschloßflinte, die ein Büchsenmacher der Gegend zu einer modernen Schießwaffe umgewandelt hatte. Auf den Pachthöfen findet man noch solche Karabiner über den Kaminen hängen. Der junge Mensch tändelte mit seiner Waffe; er ließ wohl zwanzigmal den Hahn spielen, fuhr mit dem kleinen Finger in den Lauf und prüfte aufmerksam den Kolben. Allmählich flammte seine jugendliche Begeisterung auf, in die sich ein Zug von Kinderei mengte. Er legte den Karabiner an die Wange und zielte ins Leere wie ein Rekrut, der sich einübt.

Bald mußte die achte Stunde schlagen. Der junge Mensch hielt seit einer Minute seine Waffe angelegt, als eine Stimme, leise wie ein Hauch, müde und keuchend, aus dem Jas-Meiffren herüber vernehmbar wurde.

Bist du da, Silvère? fragte die Stimme.

Silvère ließ das Gewehr fallen und war mit einem Satze auf dem Grabstein.

Ja, ja, erwiderte er, ebenfalls mit gedämpfter Stimme ... Warte, ich will dir behilflich sein.

Noch hatte er den Arm nicht ausgestreckt, als der Kopf eines jungen Mädchens über der Mauer erschien. Mit seltener Behendigkeit hatte das Kind den Stamm eines Maulbeerbaumes ergriffen und war emporgeklettert wie ein Kätzchen. An der Sicherheit und Leichtigkeit ihrer Bewegungen konnte man sehen, daß sie mit diesem seltsamen Wege wohl vertraut war. In einem Nu saß sie auf der Mauerkappe. Nun nahm Silvère sie in seine Arme und stellte sie auf die Bank. Allein sie wehrte sich.

Laß doch, sagte sie mit munterem Lächeln ... Ich kann allein hinab.

Als sie auf dem Steine stand, fragte sie:

Wartest du schon lange? ... Ich bin gelaufen ... bin ganz atemlos.

Silvère antwortete nichts. Er schien zum Lachen nicht gelaunt und betrachtete das Kind mit bekümmerter Miene. Dann setzte er sich zu ihr und sagte:

Ich wollte dich sehen, Miette, und würde selbst die ganze Nacht auf dich gewartet haben. Morgen mit Tagesanbruch ziehe ich fort.

Miette hatte inzwischen die im Grase liegende Waffe bemerkt. Sie ward sogleich sehr ernst und flüsterte:

Ach, es ist also entschieden! ... da ist deine Flinte.

Sie schwiegen eine Weile.

Ja, ich gehe, sagte Silvère mit schwankender Stimme ... das ist mein Gewehr ... Ich hielt es für besser, es schon heute abend aus dem Hause zu schaffen; morgen würde Tante Dide vielleicht bemerkt haben, daß ich es wegnehme, und es würde sie beunruhigt haben. Ich will es hier verstecken, und ehe wir aufbrechen, will ich mir es holen.

Da es schien, als könne Miette die Augen nicht mehr wegwenden von der Waffe, die er törichterweise im Grase hatte liegen lassen, erhob er sich und schob die Flinte von neuem unter den Holzstoß.

Wir haben heute morgen erfahren, sagte er und nahm neben ihr wieder Platz, daß die Aufständischen von La Palud und von Saint-Martin de Vaulx im Anzuge seien und die letzte Nacht in Alboise zugebracht haben. Es ist beschlossen worden, daß wir uns ihnen anschließen. Heute nachmittag hat ein Teil der Arbeiter von Plassans die Stadt verlassen, die übrigen werden morgen zu ihren Brüdern stoßen.

Das Wort »Brüder« sprach er mit einer wahrhaft knabenhaften Begeisterung aus. Immer lebhafter werdend fuhr er mit scharf vibrierender Stimme fort:

Der Kampf wird unvermeidlich; aber das Recht ist auf unserer Seite; wir werden siegen.

Miette hörte ihm zu und blickte starr vor sich hin. Als er schwieg, sagte sie einfach:

Es ist gut.

Nach einer Weile setzte sie hinzu:

Du hattest mich benachrichtigt ... aber ich hoffte dennoch ... Nun ist's entschieden ...

Sie fanden keine anderen Worte. Der verlassene Winkel des Werkplatzes, der grüne Weg an der Mauer versank wieder in trübes Schweigen; nur der helle Mond warf den Schatten der Holzstöße rund umher auf das Gras. Die Gruppe der beiden jungen Leute auf dem Grabstein war im bleichen Mondlicht unbeweglich und stumm geworden. Silvère hatte den Arm um den Leib Miettes gelegt, und diese lehnte sich an die Schulter des Burschen. Sie tauschten keine Küsse aus, nur eine Umarmung, in der die Liebe die zärtliche Unschuld einer geschwisterlichen Zuneigung annahm.

Miette war in einen großen braunen Mantel mit Kapuze gehüllt, der bis zu ihren Füßen hinunter fiel und sie ganz bedeckte. Man sah bloß ihren Kopf und ihre Hände. Die Frauen aus dem Volke, Bäuerinnen und Arbeiterinnen, tragen in der Provence heute noch diese breiten Mäntel, deren Mode eine recht alte sein muß. Wie sie gekommen war, hatte Miette die Kapuze zurückgeworfen. Als heißes junges Blut, das im Freien lebte, trug sie niemals eine Haube. Ihr unbedeckter Kopf hob sich kräftig von der mondbeleuchteten Mauer ab. Es war ein Kind, im Begriffe zum Weibe zu reifen. Sie befand sich in jenem unbestimmten, liebenswürdigen Alter, wo das Kind zur Jungfrau wird. In diesem Alter hat jedes Mädchen die Zartheit der sprießenden Knospe, eine Unfertigkeit der Formen, die einen köstlichen Reiz hat; in der unschuldigen Schmächtigkeit der Kindheit äußern sich schon die ersten Anzeichen der vollen, wollüstigen Linien der Erwachsenen; das Weib löst sich los mit der ersten züchtigen Verwirrung, noch zur Hälfte das Aussehen des kleinen Mädchens bewahrend und unwillkürlich in jeden seiner Züge das Zeugnis seines Geschlechtes legend. Für manche Mädchen ist dies eine schlimme Stunde; sie schießen plötzlich in die Höhe, werden häßlich, gelb, gebrechlich wie allzu rasch gediehene Pflanzen. Für Miette und für alle, die blutreich sind und in der freien Luft leben, ist's eine Stunde alles durchdringender Anmut, wie sie niemals wiederkehrt. Miette war dreizehn Jahre alt. Obgleich sie schon stark war, würde man sie doch nicht für älter gehalten haben, so sehr erhellte sich ihr Antlitz manchmal in einem frohen, kindlich-unschuldigen Lachen. Sie mußte übrigens schon mannbar sein; das Weib entwickelte sich sehr früh in ihr dank dem Klima und dem arbeitsamen Leben, das sie führte. Sie war fast so groß wie Silvère, stark und strotzend von Leben und Gesundheit. Gleich ihrem Freunde war auch sie von nicht gewöhnlicher Schönheit; man konnte sie nicht häßlich finden, aber sie mußte vielen jungen Leuten mindestens seltsam erscheinen. Sie hatte prachtvolles Haar; dicht und gerade in der Stirne wurzelnd, fiel es machtvoll zurück gleich einer aufspringenden Woge, dann floß es über Scheitel und Nacken herab wie eine tintenschwarze, launische, wellige Flut. Das Haar war so dicht, daß sie es nicht zu bewältigen vermochte und es ihr eine Last war. Sie wickelte es in mehrere Knoten von der Größe einer Faust zusammen, so stark sie nur konnte, damit es so wenig Platz wie möglich einnehme, und steckte es am Hinterkopfe auf. Sie hatte keine Zeit, sich lange mit ihrem Kopfputz zu beschäftigen, aber diese riesige Haarflechte, ohne Spiegel und in aller Hast gewunden, gewann unter ihren Fingern dennoch eine ungewöhnliche Anmut. Wenn man sie mit diesem lebendigen Helm bedeckt sah, mit diesem Haufen krauser Haare, die in reicher Fülle über Schläfen und Nacken hinabflössen gleich einem Tierfell, begriff man, weshalb sie unbedeckten Hauptes ging, unbekümmert um Sturm und Wetter. Unter der dunkeln Linie des Haares hatte die sehr niedrige Stirne die Form und die goldschimmernde Farbe eines Halbmondes; die vorspringenden, großen Augen; die kurze, an den Flügeln breite, am Ende aufgestülpte Nase; die allzu starken und allzu roten Lippen: sie würden häßlich geschienen haben, wenn man sie einzeln betrachtet hätte. Allein wenn man sie in der reizenden Rundung des Antlitzes, in dem regen Spiel des Lebens sah, bildeten diese Einzelheiten des Gesichtes ein Ganzes von seltsamer und ergreifender Schönheit. Wenn Miette lachte, den Kopf rückwärts leicht auf die rechte Schulter neigend, glich sie der antiken Bacchantin mit ihrer von hellem Frohsinn geschwellten Brust, ihren runden, vollen Kinderwangen, ihren breiten, weißen Zähnen, ihren Wülsten krauser Haare, welche die Ausbrüche der Freude auf ihrem Nacken tanzen ließen, gleich einem Kranze von Weinlaub. Um in ihr die Jungfrau, das Mädchen von dreizehn Jahren zu erkennen, mußte man sehen, wie viel Unschuld in diesem hellen, geschmeidigen Lachen des reifen Weibes lag, mußte man insbesondere die noch kindliche Zartheit des Kinns und die weiche Reinheit der Schläfen sehen. Das von der Sonne angehauchte Antlitz Miettens nahm an gewissen Tagen den Schein des Bernsteins an. Ein feiner, schwarzer Flaum warf bereits einen leichten Schatten auf ihre Oberlippe. Die harte, unaufhörliche Arbeit begann bereits ihre kurzen, kleinen Hände zu verunstalten, die bei einem müßigen Leben liebliche, fette Hände einer kleinen Bürgerin geworden wären.

Miette und Silvère blieben lange stumm; sie suchten in ihren unruhigen Gedanken zu lesen und in dem Maße, wie sie sich zusammen in die Angst und in das Unbekannte des kommenden Tages versenkten, ward ihre Umarmung fester und inniger. Das Mädchen konnte indes nicht länger an sich halten; sie drohte zu ersticken und sprach in einem Satze den Gedanken aus, der beide beunruhigte.

Du wirst wiederkehren, nicht wahr? stammelte sie, indem sie sich Silvère an den Hals warf.

Silvère fand keine Antwort; die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und er fürchtete in Tränen auszubrechen wie sie. Er küßte sie wie ein Bruder, der keinen anderen Trost findet. Sie lösten sich aus der Umarmung und versanken wieder in das frühere Stillschweigen.

Nach kurzer Zeit fuhr Miette fröstelnd zusammen. Sie lehnte sich nicht mehr an die Schulter Silvère's; sie fühlte ihren Körper zu Eis erstarren. Noch am vorhergehenden Abend würde sie nicht so gefroren haben in dieser verlassenen Allee auf diesem Grabstein, wo sie schon seit einigen Jahren, in der Stille des alten Kirchhofes, so glücklich ihrer Liebe lebten.

Mich friert's! sagte sie, und schlug die Kapuze ihres Mantels herauf.

Wollen wir einen Gang machen? fragte der junge Mensch. Es ist noch nicht neun Uhr; wir können einen Spaziergang auf die Straße machen.

Miette dachte, daß sie vielleicht lange Zeit nicht wieder die Freude eines Stelldicheins haben werde, einer jener Abendplaudereien, die sie tagelang ersehnte.

Ja, gehen wir, sagte sie lebhaft; gehen wir bis zur Mühle. Ich bleibe die ganze Nacht bei dir, wenn du willst.

Sie stiegen von der Bank herab und verbargen sich hinter einem Bretterhaufen. Hier öffnete Miette ihren wattierten, mit rotem Wollstoff gefütterten Mantel und warf einen Flügel dieses breiten und warmen Kleidungsstückes über die Schulter Silvères, ihn so ganz einhüllend und in einem und demselben Kleidungsstücke an sich schließend. Sie legten sich wechselseitig einen Arm um den Leib, um so nur eins auszumachen. Als sie dergestalt zu einem Wesen verschmolzen waren, als sie dermaßen in die Falten des Mantels eingehüllt waren, daß sie jede menschliche Form verloren, setzten sie sich mit kurzen Schritten in Gang, wandten sich nach der Heerstraße und durchschritten furchtlos die mondhellen Räume des Werkplatzes. Miette hatte Silvère eingehüllt und dieser hatte sich dem Beginnen in einer ganz natürlichen Weise gefügt, als ob der Mantel ihnen jeden Abend den nämlichen Dienst geleistet habe.

Auf der Straße nach Nizza, zu deren beiden Seiten die Vorstadt erbaut war, standen noch im Jahre 1851 hundertjährige Ulmen, alte Riesen, großartige, mächtige Ruinen, welche die weise Stadtverwaltung seither durch kleine Platanen ersetzt hat. Als Silvère und Miette unter den alten Bäumen angelangt waren, deren knotige, unförmlich verschränkte Zweige ihre Schatten auf den vom Monde beleuchteten Fußweg warfen, begegneten sie zwei- oder dreimal dunklen Massen, die sich eng an den Häusern vorwärtsbewegten. Es waren Liebespärchen wie sie, dicht eingeschlossen in den Zipfel eines Überwurfes, im Dunkel des Schattens ihre stille Liebe spazieren führend.

Die Liebenden in den Städten des Südens haben diese Art spazieren zu gehen. Die Burschen und Mädchen aus dem Volke, die eines Tages Mann und Frau werden sollten, aber gern geneigt sind, sich auch schon vorher zu umarmen und zu küssen, wissen nicht, wohin sie flüchten sollen, um ungestört ein Küßchen auszutauschen, ohne sich allzusehr dem Klatsch auszusetzen. Obgleich die Eltern ihnen volle Freiheit lassen, würden sie doch, wenn sie in der Stadt ein Zimmer mieten wollten, um da allein zu sein, schon am nächsten Tage der Gegenstand des allgemeinen Ärgernisses sein; anderseits haben sie nicht jeden Abend Zeit, die Einsamkeit im Freien zu suchen. Da nehmen sie denn zu einem Auskunftsmittel ihre Zuflucht; sie gehen in die Vorstädte auf die leeren Flecke, in die Alleen der Heerstraße, kurz an alle Orte, wo es wenig Leute und viele Schlupfwinkel gibt. Und da sich alle Leute gegenseitig kennen, tun sie ein übriges an Vorsicht und machen sich unkenntlich, indem sie sich in ihre weiten Mäntel einhüllen, in denen eine ganze Familie Platz fände. Die Eltern dulden diese Spaziergänge im nächtlichen Dunkel; die Sittenstrenge der Gegend scheint darüber nicht entrüstet zu sein. Man weiß, daß die Verliebten in keinem Winkel stehen bleiben, auf den verlassenen Wiesengründen sich nicht niederlassen, und das genügt, um die Besorgnisse der Züchtigen zu beschwichtigen. Während des Spazierganges können sie sich höchstens küssen. Indessen kommt es doch manchmal vor, daß eine Dirne fällt. Dann weiß man, daß das Liebespärchen sich gesetzt hat.

Es gibt in Wahrheit nicht Reizenderes als diese Liebes-Spaziergänge. Da äußert sich voll und ganz die einschmeichelnde und erfinderische Einbildungskraft des Südens. Es ist ein wirklicher Mummenschanz, ergiebig an kleinen Freuden, die selbst dem Ärmsten zugänglich sind. Die Geliebte braucht nur den Mantel zu öffnen und bietet dem Liebhaber einen fertigen Zufluchtsort; sie birgt ihn an ihrem Herzen, in der Wärme ihrer Kleidung, wie die kleinen Bürgersfrauen ihre Liebhaber unter ihren Betten oder in den Schreinen verstecken. Die verbotene Frucht hat einen besonders süßen Geschmack. Man genießt sie im Freien inmitten von gleichgültigen Menschen die Heerstraße entlang. Was dabei köstlich ist, was diesen ausgetauschten Küssen eine ganz besondere Wollust verleiht, das ist die Gewißheit, sich straflos vor aller Welt küssen zu können; ganze Abende auf öffentlicher Straße Arm in Arm zubringen zu können, ohne Gefahr erkannt und mit Fingern gezeigt zu werden. So ein Pärchen ist eine dunkle Masse, und eins gleicht dem andern. Für den späten Spaziergänger, der diese Massen undeutlich sich fortbewegen sieht, ist's nichts weiter als die vorübergehende, die namenlose Liebe; die Liebe, die man errät, aber nicht kennt. Die Verliebten wissen, daß sie wohlgeborgen sind; sie plaudern mit leiser Stimme, sie wissen, daß sie zu Hause sind; zumeist haben sie einander nichts zu sagen; stundenlang wandeln sie selig dahin, Leib an Leib, in denselben Stoffzipfel eingewickelt. Dies ist überaus wonnig und überaus keusch zugleich. Das Klima ist der große Schuldige; das Klima allein hat wohl ursprünglich die Liebenden eingeladen, die Winkel der Vorstädte als Zufluchtsorte aufzusuchen. Wenn man in einer schönen Sommernacht einen Gang durch Plassans macht, wird man hinter jedem Stück Mauer ein Pärchen unter der Kapuze finden. Manche Orte, der Saint-Mittre-Grund zum Beispiel, sind mit diesen dunklen Dominos bevölkert, die langsam, geräuschlos aneinander vorbeihuschen in der milden, lauen Nacht. Man glaubt die Gäste eines geheimnisvollen Balles zu sehen, den die Sterne den Liebespaaren der armen Volksklassen geben. Wenn es zu warm ist und die jungen Mädchen ihre Mäntel nicht mehr tragen, schlagen sie einfach den Rock über den Kopf. Im Winter kümmern sich die Liebespärchen wenig um die Kälte. Während Silvère und Miette die Nizzaer Straße dahinschritten, dachten sie gar nicht daran, über die Kälte der Dezembernacht zu klagen.

Die beiden jungen Leute durchschritten die schweigende Vorstadt, ohne ein Wort zu wechseln. In stiller Wonne hatten sie den warmen Reiz ihrer Umarmung wiedergefunden. Ihre Herzen waren betrübt; in dem Glücke, das sie empfanden, indem sie sich aneinanderschmiegten, lag. die schmerzliche Aufregung eines Abschiedes, und es war ihnen, als würden sie niemals die Süßigkeit und die Bitternis dieser Stille erschöpfen, die ihren Gang verlangsamte. Bald wurden die Häuser seltener, sie waren am Ende der Vorstadt angelangt. Hier ist der Eingang zum Jas-Meiffren, zwei starke Pfeiler, durch ein Eisengitter verbunden, durch dessen Stäbe eine lange Allee von Maulbeerbäumen zu sehen ist. Als Silvère und Miette hier vorbeikamen, warfen sie unwillkürlich einen Blick auf diesen Grundbesitz.

Jenseits des Jas-Meiffren senkt sich die Heerstraße einen sanften Abhang hinab bis zu einer Talsohle, die einem Flüßchen, der Viorne, als Bett dient, die im Sommer ein Bach, im Winter zum reißenden Strom wird. In jener Zeit setzte die Ulmen-Allee hier sich fort und machte aus der Heerstraße eine prächtige Zufahrt, die den mit Getreide und verkümmerten Weingärten bebauten Abhang mit einem breiten Bande von Riesenbäumen durchschnitt. In dieser Dezembernacht, im klaren, kalten Mondlicht, dehnten zu beiden Seiten der Straße die frisch bearbeiteten Felder sich dahin wie weite Lagen grauer Watte, an der alles Geräusch erstirbt. Das ferne, dumpfe Gemurmel des Wassers der Viorne brachte allein ein Leben in die unermeßliche Stille der Landschaft.

Als die jungen Leute den Abhang hinabzusteigen begannen, kehrten die Gedanken Miettes zu dem Jas-Meiffren zurück, den sie soeben hinter sich gelassen hatten.

Ich konnte heute abend nur schwer abkommen, sagte sie. Mein Oheim wollte mich nicht fortlassen. Er hat sich in einen Keller eingeschlossen; ich glaube, er hat daselbst sein Geld vergraben, denn er schien heute morgens sehr erschrocken über die Ereignisse, die sich vorbereiten.

Silvère schloß sie noch enger an sich.

Fasse Mut! sprach er. Es wird eine Zeit kommen, da wir uns frei den ganzen Tag werden sehen können. Du mußt dich nicht kränken...

Ach, du hast noch Hoffnung! rief sie, den Kopf schüttelnd... Sieh! an manchen Tagen bin ich gar sehr traurig. Nicht die schweren Arbeiten bekümmern mich, im Gegenteil: ich bin oft glücklich über die Härte meines Oheims und die Schwere der Arbeiten, die er mir auferlegt. Er hat recht getan, eine Bäuerin aus mir zu machen; ich wäre sonst vielleicht auf Abwege geraten. Denn, siehst du, Silvère: es gibt Augenblicke, wo ich mich verwünscht glaube... Dann möchte ich am liebsten tot sein... Ich denke an ... Du weißt schon an wen...

Bei diesen letzten Worten erstarb die Stimme des Mädchens in einem Schluchzen. Silvère unterbrach sie in einem fast rauhen Tone.

Schweig! sagte er. Du hast mir versprochen, weniger an diese Sache zu denken. Es ist doch nicht dein Verbrechen!... Dann fügte er sanfter hinzu:

Wir haben einander sehr lieb, nicht wahr? Sind wir erst Mann und Frau, dann sollst du keine bösen Stunden mehr haben.

Ich weiß, flüsterte Miette; du bist gut, du reichst mir die Hand. Aber es ist einmal so: ich habe Angst und fühle manchmal einen Aufruhr in mir. Mich dünkt, man habe mir unrecht getan und dann drängt es mich, schlecht zu sein. Dir öffne ich mein Herz. So oft man mir den Namen meines Vaters ins Antlitz schleudert, fährt es mir wie ein Brand über den ganzen Leib. Wenn ich über die Straße gehe und die Jungen mir nachrufen: »He, da geht die Chantegreil!« so bringt mich das außer Rand und Band; ich möchte sie fassen und prügeln.

Nach einem grollenden Schweigen fuhr sie fort:

Du bist ein Mann ... trägst ein Gewehr und schießt ... du bist glücklich! ...

Sivère hatte sie ruhig reden lassen. Nach einigen Schritten sagte er mit bekümmerter Stimme:

Du hast unrecht, Miette; es ist schlimm von dir, dich dem Zorn zu überlassen. Gegen die Justiz soll man sich nicht auflehnen. Ich ziehe in den Kampf für unser aller Recht; ich habe keine Rache zu befriedigen.

Gleichviel, fuhr das Mädchen fort; ich möchte ein Mann sein und schießen dürfen. Ich glaube, es würde mir wohltun.

An Silvères Schweigen merkte sie, daß sie ihn geärgert habe. Das brachte sie zu sich. Sie stammelte in flehendem Tone:

Du zürnst mir doch nicht? Dein Fortgehen betrübt mich und bringt mich auf solche Gedanken. Ich weiß wohl, daß du recht hast, daß ich demütig sein muß ...

Sie begann zu weinen. Silvère war gerührt; er faßte ihre Hände und küßte sie.

Sei ruhig, sprach er in zärtlichem Tone; aus dem Zorn fällst du ins Weinen wie ein Kind. Du mußt Vernunft annehmen. Ich will dich nicht schelten ... Ich möchte dich nur zufriedener sehen, und das hängt hauptsächlich von dir ab. Das Drama, dessen Erinnerung Miette so schmerzlich heraufbeschworen, versetzte das Liebespaar in eine trübe Stimmung, die einige Minuten währte. Gesenkten Hauptes, in ihre Gedanken vertieft gingen sie weiter. Nach einer Weile begann Silvère wieder:

Und glaubst du etwa, ich sei glücklicher als du? Was wäre aus mir geworden, wenn meine Großmutter sich meiner nicht angenommen, mich nicht erzogen hätte? Mit Ausnahme meines Oheims Anton, der ein Arbeiter ist wie ich und mich die Republik lieben gelehrt hat, fürchten alle meine Verwandten, sich an mir zu beschmutzen, wenn ich an ihnen vorbeikomme.

Er ward allmählich lebhafter, während er diese Worte sprach; mitten auf der Straße war er stehen geblieben und hatte auch Miette zurückgehalten.

Gott ist mein Zeuge, fuhr er fort, daß ich niemanden beneide und niemanden gering achte. Aber wenn wir siegen, werde ich diesen feinen Herren doch meine Meinung sagen, wer und was sie sind. Onkel Anton weiß davon schöne Dinge zu erzählen. Wenn wir zurückkehren, sollst du sehen ... Wir werden frei und glücklich leben ...

Miette zog ihn sachte weiter. Sie setzten ihren Spaziergang fort.

Du liebst deine Republik sehr, sagte das Kind mit einem Versuch zu scherzen. – Liebst du mich ebenso.

Sie lachte; aber in ihrem Lachen lag ein Zug von Bitterkeit. Vielleicht sagte sie sich, daß Silvère sie leichthin verlasse, um in die weite Welt zu laufen. Der Bursche erwiderte in ernstem Tone:

Du bist mein Weib; ich habe dir mein ganzes Herz geschenkt. Ich liebe die Republik, weil ich dich liebe. Wenn wir einmal verheiratet sind, werden wir viel Glück benötigen, und um einen Teil dieses Glückes zu erringen, ziehe ich morgen früh fort. Du wirst mir doch nicht raten wollen, zu Hause zu bleiben?

0 nein! rief das Mädchen lebhaft. Ein Mann muß stark sein. Der Mut ist eine schöne Sache! Du mußt mir verzeihen, daß ich eifersüchtig bin. Ich möchte ebenso stark sein wie du. Du würdest mich dann noch mehr lieben, nicht wahr?

Sie schwieg eine Weile, dann fügte sie lebhaft und mit lieblicher Treuherzigkeit hinzu:

Ach, wie gern werde ich dich küssen, wenn du wiederkehrst!

Dieser Aufschrei eines liebevollen und mutigen Herzens rührte Silvère tief. Er nahm Miette in seine Arme und drückte ihr mehrere Küsse auf die Wangen. Das Kind lachte und wehrte sich nur schwach. Sie war tief bewegt und ihre Augen standen voll Tränen.

Die Landschaft ringsumher lag in tiefem Schlafe, in der unermeßlichen Stille der winterlichen Kälte. Sie waren in der Mitte des Abhanges angekommen. Links stand ein ziemlich hoher Hügel, auf dessen Gipfel im Mondlichte die Ruine einer Windmühle zu sehen war. Der Turm allein war noch übrig geblieben, und auch dieser lag auf einer Seite in Trümmern. Dies war das Ziel, das die jungen Leute ihrem Spaziergang gesetzt hatten. Seitdem sie die Vorstadt hinter sich gelassen, gingen sie geradeaus, ohne einen Blick auf die Felder zu werfen, die sie umgaben. Nachdem Silvère das Mädchen geküßt hatte, blickte er auf und bemerkte die Mühle.

Wie schnell wir gegangen sind! rief er. Da ist die Mühle. Es muß bald halb zehn Uhr sein. Wir müssen umkehren.

Miette machte ein Mäulchen.

Laß uns noch ein kleines Stück gehen, bat sie. Nur einige Schritte, bis zum kleinen Übergang.

Silvère nahm sie lächelnd um den Leib, und sie setzten ihren Abstieg fort. Sie fürchteten die Blicke der Neugierigen nicht mehr; seit den letzten Häusern der Vorstadt waren sie niemandem mehr begegnet. Nichtsdestoweniger blieben sie in ihren Mantel eingehüllt. Dieses gemeinsame Kleid war wie ein natürliches Nest ihrer Liebe; so viele glückliche Abende hatte es sie geborgen! Wären sie getrennt nebeneinander einhergegangen, sie wären sich in der weiten Landschaft so klein, so vereinsamt vorgekommen; es beruhigte sie, es machte sie in den eigenen Augen größer, daß beide zusammen nur ein Wesen bildeten. Durch die Falten des Mantels hindurch betrachteten sie die Felder, die sich zu beiden Seiten der Straße ausbreiteten, ohne jene erdrückende Wirkung zu fühlen, welche der Anblick der weiten, eintönigen Fläche auf die zarten Empfindungen der Menschen ausübt. Es war ihnen, als hätten sie ihr Haus mitgenommen, und sie genossen den Anblick der Landschaft, wie man ihn durch ein Fenster genießt; sie liebten diese stille Einsamkeit, diese breiten Felder schlummernden Lichtes, dessen Enden und Winkel der Natur, die da verschwommen auftauchten, bedeckt mit dem Laken des Winters und der Nacht, dieses ganze Tal, das sie zwar entzückte, aber doch nicht stark genug war, um sich zwischen ihre aneinander geschmiegten Herzen einzudrängen.

Sie hatten übrigens aufgehört, ein zusammenhängendes Gespräch zu führen; sie sprachen nicht mehr von anderen, sie sprachen auch nicht von sich selbst; sie gehörten ganz dem Augenblick, tauschten von Zeit zu Zeit einen Händedruck, stießen bei dem Anblick eines Winkels der Landschaft einen Ruf der Bewunderung aus, sprachen nur wenig, fast ohne zu hören, was sie sagten, gleichsam eingeschlummert in der Wärme ihrer Körper. Silvère vergaß seine Begeisterung für die Republik; Miette dachte nicht mehr daran, daß ihr Geliebter sie binnen einer Stunde für lange Zeit, vielleicht für immer verlassen sollte. So kam es, daß sie wie an gewöhnlichen Tagen, wenn ihre Zusammenkunft von keinem Abschiede bedroht war, sich in das Glück ihrer Liebe versenkten.

Sie schritten noch immer weiter. Bald kamen sie zu dem kleinen »Übergang«, von welchem Miette gesprochen hatte. Es war dies ein schmaler Querweg, der sich in die Landschaft hineinzog und zu einem Dörfchen führte, das am Ufer der Viorne erbaut war. Allein sie hielten nicht an, sondern setzten ihren Weg fort und taten, als sähen sie den Pfad nicht, über den hinaus sie nicht hatten gehen wollen. Erst einige Minuten weiter sagte Silvère:

Es muß schon spät sein; du bist wohl sehr müde?

Nein, nein, ich bin nicht müde! Meilenweit könnte ich so fortgehen.

Dann fügte sie mit einschmeichelnder Stimme hinzu:

Wenn du willst, gehen wir bis zur Klara-Wiese. Dort wollen wir dann aber wirklich kehrtmachen.

Silvère, den der gleichmäßige Gang des Mädchens einlullte und der mit offenen Augen schlummerte, machte weiter keine Einwendung gegen den Vorschlag Miettens. Sie widmeten sich wieder ihrem Glücke und gingen langsamen Schrittes weiter, den Augenblick fürchtend, wo sie den Abhang wieder hinansteigen mußten; so lange sie vor sich hingingen, war es ihnen, als müsse ihre Umarmung ewig währen; die Umkehr war die Trennung, das grausame Lebewohl.

Allmählich ward der Abhang weniger steil. Im Talgrund ziehen sich Wiesen bis zur Viorne hinab, die am Fuße niedriger Hügel dahinfließt. Das ist die Klara-Wiese, durch lebende Hecken von der Heerstraße getrennt.

Ach was! wir gehen bis zur Brücke, sagte Silvère, als er die ersten Grasstreifen sah.

Miette lachte hell auf, nahm den jungen Mann beim Kopf und küßte ihn herzhaft.

An dem Platze, wo die Hecke beginnt, hat die Allee ein Ende; sie wird durch zwei alte, riesige Ulmen geschlossen. Die Felder dehnen sich knapp an der Heerstraße dahin, kahl, gleich einem breiten Bande grüner Leinwand, bis zu den Weiden und Birken am Flüßchen. Die Entfernung von den letzten Ulmen bis zur Brücke betrug übrigens kaum mehr als 300 Meter. Die Liebenden brauchten eine gute Viertelstunde, um diesen Raum zurückzulegen. Trotz aller absichtlichen Langsamkeit erreichten sie schließlich doch die Brücke. Hier blieben sie stehen.

Vor ihnen stieg die Straße gegen Nizza die jenseitige Anhöhe hinan; sie konnten nur ein kurzes Stück sehen; die Straße macht einen halben Kilometer von der Brücke eine plötzliche Biegung und verliert sich dann zwischen den waldbestandenen Hängen. Als sie sich umwandten, sahen sie den anderen Abschnitt der Straße, den sie soeben zurückgelegt hatten und der in gerader Linie von Plassans zur Viorne führt. In dem schönen, hellen Lichte des winterlichen Mondes glich die Straße einem langen Silberbande, an welchem die Ulmen einen dunklen Saum bildeten. Rechts und links bildeten die bebauten Äcker unbestimmte, grüne, weite Flächen, durchschnitten durch dieses Band, durch diese reifweiße Straße, die einen metallischen Schimmer hatte. Ganz hinten, wo die Straße mit dem Gesichtskreise zusammenfließt, glänzten noch, gleich hellen Funken, einige beleuchtete Fenster der Vorstadt. Schritt für Schritt hatten Silvère und Miette fast eine Meile zurückgelegt. Sie warfen einen Blick auf den durchmessenen Weg, in stiller Bewunderung gebannt angesichts dieses unermeßlichen Amphitheaters, das bis zum Himmelsrande hinaufstieg und auf das Streifen bläulichen Lichtes herabflossen, wie auf die Stufen eines riesigen Wasserfalles. Dieses eigenartige Theater lag da in der Stille und Unbeweglichkeit des Todes. Nichts konnte sich an überwältigender Größe damit vergleichen.

Die jungen Leute hatten sich an das Brückengeländer gelehnt und schauten hinab. Unter ihnen floß die Viorne, durch die letzten Regengüsse angeschwollen, mit dumpfem, ununterbrochenem Geräusch dahin. Flußauf und flußab unterschieden sie in dem Dunkel der Höhlungen die dunklen Linien der Bäume an den beiden Flußufern; da und dort flimmerte ein Mondstrahl; es war wie ein Strich geschmolzenen Zinns, das leuchtete und sich bewegte wie ein Widerschein des Tageslichtes auf den Schuppen eines lebenden Fisches. Diese Lichter glitten mit einem geheimnisvollen Reiz den grau schimmernden Lauf des Flusses entlang, zwischen den unbestimmten Schatten des Laubwerks hindurch. Es war wie ein verzaubertes Tal, ein wunderbarer Zufluchtsort, wo ein ganzes Volk von Schatten und Lichtern ein seltsames Leben führte.

Die Verliebten kannten dieses Plätzchen am Flusse sehr genau; in den heißen Julinächten waren sie oft hierher gekommen, um Kühlung zu suchen. Stunden und Stunden hatten sie hier zugebracht, unter dem Weidendickicht verborgen, am rechten Ufer der Viorne, an dem Platze, wo die Klara-Wiese ihren Rasenteppich bis knapp ans Ufer ausdehnt. Sie erinnerten sich der kleinsten Erdfalten des Ufers, der Steine, auf welche man hüpfen mußte, um über die Viorne zu setzen, die damals ganz schmal war; sie erinnerten sich gewisser rasenbelegter Vertiefungen, in denen sie ihren Liebestraum geträumt. Darum blickte Miette von der Brücke aus mit einem gewissen Neide nach dem rechten Ufer hinüber.

Wenn es wärmer wäre, seufzte sie, könnten wir hinabsteigen und ein wenig ausruhen, ehe wir zurückkehren.

Die Augen noch immer auf die Ufer der Viorne geheftet, fuhr sie nach einer Weile fort:

Schau, Silvère, jene schwarze Masse dort unten vor der Schleuse ... Erinnerst du dich? Dort ist das Buschwerk, wo wir uns am letzten Fronleichnamstage niederließen ...

Ja, das ist das Gesträuch, erwiderte Silvère leise.

Hier war's, wo sie zum erstenmal gewagt hatten, sich auf die Wangen zu küssen. Diese Erinnerung, welche das Kind wachgerufen hatte, verursachte beiden ein köstliches Gefühl, eine Erregung, in welcher die Freuden von gestern und die Hoffnungen von morgen zusammenflossen. Wie im Flackerschein eines Blitzes tauchten die schönen Abende vor ihnen auf, die sie zusammen verlebt hatten, besonders jenen am Fronleichnamstage, dessen geringster Einzelheiten sie gedachten, des unermeßlichen lauen Himmels, der von den Weiden am Ufer ausgehenden Kühle, der lieben Worte, die sie sich gesagt. Und während diese Dinge der Vergangenheit mit süßer Lieblichkeit in ihren Herzen wiedererwachten, glaubten sie zugleich in das Unbekannte der Zukunft einzudringen, sich Arm in Arm und ihren Traum verwirklicht zu sehen, Seite an Seite durch das Leben dahinzuschreiten wie vorhin auf der großen Heerstraße, warm eingehüllt in ihren Mantel. Und Aug' im Aug', sich selig zulächelnd, wie verloren in der Stille der klaren Winternacht, versanken sie von neuem in wonnevolles Entzücken.

Plötzlich erhob Silvère das Haupt. Er machte sich aus den Falten des Mantels los und horchte. Miette war überrascht und tat dasselbe, ohne zu begreifen, weshalb er mit einer so hastigen Bewegung sich von ihr getrennt hatte.

Hinter den Hügeln, zwischen denen die Straße nach Nizza sich verliert, war seit einigen Minuten ein verworrenes Geräusch zu vernehmen. Es war wie das ferne Gepolter eines Karrenzuges. Die Viorne übertönte mit ihrem dumpfen Gemurmel das noch unbestimmte Geräusch. Doch allmählich ward der Lärm deutlicher; er glich jetzt dem Getrappel einer marschierenden Truppe. Dann konnte man aus dem fortgesetzten, immer mehr anwachsenden Rollen das Getöse einer Menge heraushören, die rhythmischen und taktmäßigen Windstöße eines Orkans; es war wie die Donnerschläge eines rasch heraufziehenden Gewitters, das die schlummernde Luft durch sein Herannahen aufscheucht. Silvère horchte; er vermochte diese Wetterstimmen nicht zu fassen, welche die Hügel nicht deutlich bis zu ihm gelangen ließen. Plötzlich aber bei einer Krümmung der Straße brach eine dunkle Masse hervor und die Marseillaise, mit der Wut der Rache gesungen, rauschte mit furchtbarer Gewalt in die Lüfte.

Das sind sie! rief Silvère in einem Ausbruch freudiger Begeisterung. Er begann zu laufen, klomm den Abhang hinan und zog Miette mit sich.

Links von der Straße befand sich eine mit Eichen bestandene Böschung; hierher flüchtete er mit dem Mädchen, um von der heulenden Menge nicht fortgerissen zu werden.

Als sie die Böschung erreicht hatten und im Schatten des Gesträuches geborgen waren, betrachtete das Kind, das bleich geworden war, traurig diese Männer, deren ferner Gesang genügt hatte, um Silvère aus ihren Armen zu reißen. Ihr war, als habe diese ganze Rotte sich zwischen ihn und sie gedrängt. Noch wenige Minuten vorher waren sie so glücklich, so eng vereint, so allein, so verloren in dem stillen, heimlichen Mondlichte des Abends. Und jetzt hatte Silvère den Kopf abgewendet und schien nicht zu wissen, daß sie da sei; er hatte nur Blicke für diese Unbekannten, die er seine Brüder nannte.

Mit unwiderstehlicher Gewalt stieg die Rotte den Abhang herab. Man konnte sich nichts Furchtbareres und zugleich Großartigeres denken als den Einbruch dieser etlichen tausend Männer in den stillen, eisigen Frieden der Nacht. Die Straße war zum reißenden Strom geworden und wälzte die lebenden Wogen vor sich her, die sich gar nicht erschöpfen zu wollen schienen; an der Straßenbiegung brachen immer neue dunkle Massen hervor, deren Gesang den Donner dieses menschlichen Unwetters immer stärker und stärker werden ließ. Als die letzten Scharen auftauchten, steigerte sich das Getöse zu betäubender Gewalt. Die Marseillaise erfüllte den Himmel, wie von Riesenmäulern durch ungeheure Trompeten geblasen, die sie mit der herben Schärfe von Blechinstrumenten in alle Ecken und Enden dieses Tales hinausstießen. Und die stille, friedliche Landschaft fuhr urplötzlich aus ihrem Schlafe auf und erbebte wie eine Trommel unter dem Streich der Schlägel; sie widerhallte bis in ihre innersten Tiefen und wiederholte mit dem von allen Seiten kommenden Echo die flammenden Klänge des Nationalgesanges. Und da sang nicht mehr die Rotte allein; von den Enden des Gesichtskreises her, von den fernen Felsen, von den aufgepflügten Äckern, von den Wiesen, Baumgruppen, ja von den geringsten Sträuchern schienen menschliche Stimmen hervorzudringen; das weite Amphitheater, das von dem Flusse bis Plassans emporsteigt; das riesige Auf und Nieder von Hügeln, über die das bläuliche Licht des Mondes sich ergoß, war gleichsam von einer unsichtbaren und unzählbaren Bevölkerung bedeckt, die den Aufständischen zujubelte; und in den Niederungen der Viorne, am Lauf des Wassers, auf dem geheimnisvolle Reflexe, geschmolzenem Zinn gleichend, spielten, war nicht ein dunkler Winkel, wo nicht Menschen verborgen zu sein schienen, die jeden Kehrreim mit wilder Begeisterung aufnahmen. In der Erschütterung der Luft und des Bodens schrie die ganze Landschaft nach Freiheit und Rache. Während des ganzen Abstieges dieses kleinen Heeres wälzte sich so das Volksgebrüll in schmetternden Klangwogen dahin, durchbrochen von Zeit zu Zeit durch plötzliche Aufschreie, daß die Steine davon erzitterten.

Bleich vor Aufregung schaute und horchte Silvère noch immer. Die an der Spitze marschierenden Aufständischen, die diese wimmelnde und heulende Flut hinter sich einherschleppten, die im Dunkel sich verlierend ein ungeheuerliches Aussehen hatte, näherten sich mit raschen Schritten der Brücke.

Ich dachte, ihr würdet nicht durch Plassans ziehen, flüsterte Miette.

Es scheint, daß der Feldzugsplan geändert wurde, erwiderte Silvère. Wir sollten in der Tat auf der Touloner Straße nach dem Hauptorte des Departements marschieren und dabei Plassans und Orchères links liegen lassen. Sie müssen heute nachmittag von Alboise aufgebrochen sein und abends Tulettes passiert haben.

Die Spitze des Zuges war jetzt bei den jungen Leuten angelangt. In dem kleinen Heere herrschte mehr Ordnung, als man von einer solch undisziplinierten Rotte erwartet haben würde. Die Kontingente jeder Stadt, jeden Dorfes bildeten besondere Abteilungen, die einige Schritte voneinander entfernt einhermarschierten. Diese Abteilungen schienen einzelnen Anführern zu gehorchen. Die Eile, mit der sie jetzt den Abhang hinabstürmten, hatte sie übrigens zu einer festen Masse von unüberwindlicher Stärke vereinigt. Es mochten an 3000 Mann beisammen sein, die ein Windstoß der Raserei in einer Masse dahinfegte. In dem Schatten, den die hohen Böschungen die Straße entlang warfen, unterschied man nur undeutlich die seltsamen Einzelheiten dieses Bildes. Allein in einer Entfernung von fünf bis sechs Schritten von dem Gebüsch, unter dem Silvère und Miette sich geborgen hatten, fiel die Böschung links flach ab, um für einen Fußpfad längs der Viorne Raum zu schaffen, und der Mond warf, durch diese Vertiefung hereingleitend, einen breiten Lichtstreifen auf die Straße. Als die ersten Aufständischen diese Stelle erreichten, wurden sie plötzlich von einer Helle beleuchtet, deren grelle Weiße die geringsten Kanten der Gesichter und Trachten mit einer seltsamen Deutlichkeit abzeichneten. In dem Maße, wie die Kontingente vorbeizogen, sahen die ihnen gegenüber stehenden jungen Leute sie in immer neuen Abteilungen aus dem Dunkel auftauchen.

Als die ersten Männer in die Helle eintraten, schmiegte sich Miette unwillkürlich an Silvère, obgleich sie sich in Sicherheit, selbst vor Blicken geschützt wußte. Sie legte dem jungen Manne den Arm um den Hals und lehnte das Haupt an seine Schulter. Das blasse Gesicht von der Kapuze des Mantels eingerahmt, stand sie da, die Augen starr auf das Lichtviereck gerichtet, das diese seltsamen Gestalten rasch durcheilten, durch die Begeisterung bis zur Verzückung umgewandelt, den Mund weit offen und erfüllt von dem Racheschrei der Marseillaise.

Silvère, den sie an ihrer Seite beben fühlte, neigte sich jetzt zu ihrem Ohr und nannte ihr die einzelnen Kontingente, wie sie an ihnen vorbeikamen.

Die Kolonne marschierte in Reihen zu acht Mann. Voran schritten große Burschen mit breiten Köpfen; sie schienen eine herkulische Kraft und den kindlichen Glauben von Riesen zu haben. Die Republik mußte an diesen Leuten unerschrockene und blind gehorchende Verteidiger haben. Sie trugen große Hacken geschultert, deren frisch geschliffene Schneiden im Mondlichte schimmerten.

Das sind die Holzschläger aus den Wäldern des Seillegebirges, sprach Silvère. Man hat aus ihnen eine Sappeurabteilung gebildet. Auf einen Wink ihrer Anführer marschieren diese Leute bis Paris und schlagen auf ihrem Wege die Tore der Städte ein, wie sie die alten Eichen der Gebirgsforste fällen.

Mit Stolz sprach der junge Mensch von den derben Fäusten seiner Brüder. Als er nach den Holzschlägern eine Rotte Arbeiter und sonngebräunter, bärtiger Männer kommen sah, fuhr er fort:

Das sind die Leute von La Palud. Es ist das erste Dorf, das sich erhoben hat. Die Männer in der Bluse sind Arbeiter, die die Korkeichen bearbeiten; die anderen, die in den roten Jacken, sind Jäger und Köhler aus den Schluchten des Seillegebirges ... Die Jäger kannten deinen Vater, Miette. Sie haben gute Gewehre, die sie geschickt zu handhaben verstehen. Wenn alle so bewaffnet wären! ... Leider fehlt es an Flinten. Sieh, die Arbeiter haben nur Stöcke! ...

Miette schaute und horchte stumm. Als Silvère von ihrem Vater sprach, stieg ihr plötzlich das Blut in die Wangen. Flammenden Gesichtes betrachtete sie die Jäger mit einem Grollen und einer seltsamen Teilnahme in der Miene. Von diesem Augenblicke an schien das fieberhafte Frösteln sie zu beleben, das die Gesänge der Aufständischen verbreiteten.

Die Kolonne, die jetzt die Marseillaise wieder anstimmte, setzte ihren Abstieg fort, wie gepeitscht durch die scharfen Stöße des Mistral-Windes. Nach den Leuten aus La Palud kam eine andere Rotte von Arbeitern, unter denen man zahlreiche Bürger in Röcken sehen konnte.

Das sind die Männer aus Saint-Martin-de-Vaulx, sagte Silvère. Dieses Dorf hat sich fast gleichzeitig mit La Palud erhoben. Die Arbeitgeber haben sich da den Arbeitern angeschlossen. Es sind reiche Leute unter ihnen, die ruhig zu Hause leben könnten und die ihr Leben in der Verteidigung der Freiheit auf das Spiel setzen. Solche Reiche muß man lieben ... Auch da fehlt es an Waffen, man sieht kaum einige Jagdflinten. Siehst du die Männer mit roten Armbinden? Das sind die Anführer.

Doch Silvère konnte mit seinen Erklärungen nicht nachkommen. Die Kontingente stiegen rascher den Abhang herab, als er mit seinen Worten ihnen folgen konnte. Er sprach noch von den Leuten aus Saint-Martin-de-Vaulx, als schon zwei Abteilungen das Lichtviereck durchschritten hatten.

Hast du diese gesehen? fragte er. Die Aufständischen von Alboise und von Tulettes sind jetzt vorbeigekommen. Ich habe den Schmied Burget erkannt. Sie müssen sich heute erst der Truppe angeschlossen haben. Wie sie laufen! ...

Miette neigte sich jetzt vor, um den kleinen Rotten, die der junge Mensch ihr zeigte, länger mit den Blicken folgen zu können. Das Frösteln, das sie ergriffen hatte, stieg ihr bis in die Brust und faßte sie an der Kehle. In diesem Augenblicke erschien eine Abteilung, die zahlreicher und besser geschult schien, als die anderen. Die Aufständischen dieser Abteilung trugen fast sämtlich blaue Kittel, die durch rote Gürtel festgehalten wurden; sie sahen fast uniformiert aus. Mitten unter ihnen kam ein Mann zu Pferde, mit einem Säbel bewaffnet. Der größte Teil dieser improvisierten Soldaten hatte Gewehre, Karabiner oder alte Musketen der Nationalgarde.

Diese kenne ich nicht, sagte Silvère. Der Mann zu Pferde muß der Befehlshaber sein, von dem man mir erzählt hat. Er führt die Kontingente aus Faverolles und den benachbarten Dörfern. Die ganze Kolonne sollte so ausgerüstet sein.

Er fand kaum Zeit, Atem zu holen.

Ah, da sind die Bauern! rief er.

Hinter den Leuten aus Faverolles kamen kleine Gruppen von zehn bis zwanzig Mann. Alle trugen die kurze Jacke der Bauern aus dem Süden. Laut singend schwangen sie ihre Sensen und Heugabeln; einige hatten nur breite Schaufeln. Jeder Weiler hatte die streitbaren Mannen entsendet.

Silvère, der die einzelnen Gruppen an ihren Anführern erkannte, zählte sie mit fieberhaft hastiger Stimme her.

Da ist das Kontingent von Chavanoz, sagte er. Acht Mann im ganzen, aber handfeste Leute; mein Onkel Anton kennt sie. Da ist Nazères, da Poujols. Alle sind da, kein einziger ist weggeblieben. Da ist Balqueyras! Schau, der Herr Pfarrer tut mit; man hat mir schon von ihm erzählt; er ist ein guter Republikaner.

Silvère berauschte sich allgemach. Jetzt, da die einzelnen Rotten kaum eine Handvoll Leute zählten, mußte er sich sputen, sie aufzuzählen, und diese Eile machte ihn warm.

Ah, Miette, fuhr er fort, welch schöne Mannschaft! Rozan! Vernoux! Corbière! Und es kommen noch mehr, du sollst sehen. Diese haben nur Sensen, aber sie werden den Feind niedermähen, wie das Gras ihrer Wiesen. Da Saint-Eutrope! Mazet! Gardes! Marsanne! die ganze Nordseite des Seillegebirges. Wir werden siegen! Das ganze Land ist mit uns. Betrachte nur einmal die Arme dieser Männer: hart und schwarz wie Eisen! Es nimmt kein Ende: da ist Pruinas! Roches-Noires! die letzteren sind Schmuggler, sie haben Karabiner. Jetzt wieder Sensen und Heugabeln, neue Bauernabteilungen. Castel-le-vieux! Sainte-Anne! Graille! Estournel! Murdaran!

Die Stimme drohte ihm schon zu versagen, als er endlich aufhörte, diese Männer aufzuzählen, die ein Wirbelwind zu erfassen und zu entführen schien in dem Maße, wie er sie nannte. Mit erregtem Gesicht, gleichsam größer geworden an Wuchs, zeigte er mit nervöser Gebärde die einzelnen Abteilungen. Und Miette folgte dieser Gebärde. Sie fühlte sich von der in der Niederung sich fortschlängelnden Straße angezogen wie von den Tiefen eines Abgrundes. Sie mußte sich an den Hals des jungen Menschen klammern, um nicht die Böschung hinabzugleiten. Eine Art Taumel stieg von der durch Lärm, Mut und Glauben berauschten Menge auf. Diese im Mondlicht gesehenen Gestalten, diese Jünglinge, diese reifen Männer, diese Greise, die die verschiedenartigsten Waffen schwangen, mit den verschiedenartigsten Gewändern bekleidet waren, angefangen von dem Bauernkittel bis zu dem städtischen Rock des Bürgers; dieser schier endlose Zug von Köpfen, die die Umstände und die ungewohnte Zeit zu unvergeßlichen Bildern der Tatkraft und der fanatischen Begeisterung gestalteten, nahmen schließlich vor den Augen des jungen Mädchens das Schwindel erregende Ungestüm eines reißenden Stromes an. In manchen Augenblicken schien es ihr, als würden sie nicht mehr gehen, sondern durch die Marseillaise getragen werden, diesen rauhen Gesang mit den fürchterlichen Klängen. Sie konnte die gesungenen Worte nicht unterscheiden; sie hörte nichts als ein fortdauerndes Grollen, das von dumpfen Tönen zu hellen anschwoll, scharf wie Spitzen, die man ihr stoßweise in das Fleisch treiben würde. Dieses Geheul der Empörung, dieser Ruf zu Kampf und Tod mit seinem zornigen Rütteln, seiner glühenden Sehnsucht nach Freiheit, seiner wunderbaren Mischung von Gemetzel und hehrer Begeisterung traf sie unaufhörlich und bei jedem gewaltigen Aufschrei des Rhythmus immer tiefer ins Herz und verursachte ihr die wollüstige Pein einer jungfräulichen Märtyrerin, die unter den Geißelhieben sich lächelnd aufrichtet. Von der rauschenden Flut fortgetragen, wälzte noch immer die Menge sich dahin. Der Zug, der kaum einige Minuten dauerte, schien den jungen Leuten kein Ende nehmen zu wollen.

Miette war allerdings nur ein Kind. Bei der Annäherung der Bande war sie erblaßt und hatte sie ihr entschwundenes Jugendglück beweint; aber sie war ein mutvolles Kind, eine feurige Natur, die die Begeisterung leicht hinriß. Die Erregung, die sie allmählich erfaßt hatte, schüttelte sie jetzt am ganzen Körper. Sie ward zum Jüngling. Gerne würde sie eine Waffe ergriffen haben und den Aufständischen gefolgt sein. In dem Maße, wie sie die Flinten und Sensen vorbeiziehen sah, wurden ihre weißen Zähne länger und schärfer zwischen ihren roten Lippen gleich den Zähnen eines jungen Wolfes, der Lust hat zu beißen. Und als sie hörte, wie Silvère in immer hastigerem Tone ihr die Dörfer und Weiler aufzählte, schien es ihr, als werde der Schritt der Kolonne bei jedem Worte des jungen Mannes sich noch beschleunigen. Bald war es ein Wirbelwind, eine Menschenwolke, von einem Orkan dahin gefegt. Alles drehte sich um sie. Sie schloß die Augen. Dicke, heiße Tränen flossen über ihr Gesicht.

Auch Silvère war dem Weinen nahe.

Ich sehe die Männer nicht, die heute nachmittag Plassans verlassen haben, sagte er.

Er suchte das Ende der Kolonne zu erkennen, das sich noch im Dunkel verlor. Dann rief er plötzlich siegesfreudig aus:

Ha, da sind sie! ... Sie tragen die Fahne; man hat ihnen die Fahne anvertraut!

Er wollte die Böschung hinabspringen, um seine Genossen einzuholen; allein in diesem Augenblicke machten die Aufständischen halt. Kommandoworte flogen die Kolonne entlang. Die Marseillaise erstarb in einem letzten Grollen, und man hörte nichts weiter als das unbestimmte Gemurmel der noch nicht zur Ruhe gekommenen Menge. Silvère horchte und konnte die Befehle verstehen, die von Abteilung zu Abteilung gingen und die Leute von Plassans an die Spitze der Kolonne beriefen. Da jede Abteilung sich am Rande der Straße aufstellte, um die Fahne vorbeikommen zu lassen, stieg der junge Mann, Miette mit sich ziehend, die Böschung wieder hinan.

Komm, sagte er; wir werden früher als sie jenseits der Brücke sein.

Als sie sich oben zwischen den bebauten Äckern befanden, liefen sie bis zu einer Mühle, deren Schleuse das Flüßchen absperrt. Hier setzten sie über die Viorne auf einem Steg, den die Müller über den Bach gelegt hatten. Dann eilten sie quer durch die Klara-Wiese, immer laufend, immer Hand in Hand, ohne ein Wort zu wechseln. Die Kolonne bildete auf der Straße eine dunkle Linie, der sie die Hecken entlang folgten. In dem Fliedergesträuch gab es mehrere Lücken; durch eine solche Lücke sprangen Silvère und Miette auf die Straße hinab.

Trotz des Umweges, den sie gemacht hatten, kamen sie fast gleichzeitig mit den Aufständischen vor Plassans an. Silvère tauschte mit einigen Leuten Händedrücke; man hätte glauben mögen, daß er von dem Anmarsche der Aufständischen erfahren habe und ihnen entgegen gekommen sei. Miette, deren Angesicht durch die Kapuze halb verborgen war, wurde neugierig betrachtet.

Ei, das ist ja die Chantegreil, sagte ein Mann aus der Vorstadt; die Nichte Rébufats, des Gärtners vom Jas-Meiffren.

Woher kommst du denn, Landstreicherin? schrie ein anderer.

In seinem Taumel hatte Silvère nicht daran gedacht, was für eine Figur seine Geliebte angesichts mancher Späße machen werde. Miette schaute ihn verwirrt an, wie um bei ihm Schutz und Hilfe zu suchen. Allein noch ehe er den Mund hatte auftun können, erhob sich eine neue Stimme in der Gruppe, die roh rief:

Ihr Vater ist auf den Galeeren; wir wollen die Tochter eines Diebes und Mörders nicht unter uns haben.

Miette war furchtbar bleich geworden.

Ihr lügt, murmelte sie; mein Vater mag getötet haben, aber er hat nicht gestohlen.

Da Silvère, noch bleicher und noch mehr zitternd als sie, die Fäuste ballte, sagte sie:

Laß nur; das geht mich an! ...

Dann wandte sie sich zu der Gruppe und wiederholte laut:

Ihr lügt, ihr lügt! Niemals hat er jemandem auch nur einen Sou genommen. Ihr wißt es wohl. Warum beschimpft ihr ihn, da er nicht hier sein kann, um sich zur Wehr zu setzen?

Sie hatte sich in stolzem Zorne aufgerichtet. Ihre feurige, halbwilde Natur schien die Beschuldigung wegen Mordes ziemlich gleichmütig aufzunehmen; die Beschuldigung wegen Diebstahles aber brachte sie zum äußersten. Man wußte dies, und eben deshalb schleuderte die Menge in ihrer blöden Bosheit dem Kinde immer wieder diese Beschuldigung an den Kopf.

Der Mann, der ihren Vater einen Dieb genannt, hatte übrigens nur wiederholt, was er seit Jahren erzählen hörte. Die grollende Haltung des Kindes stimmte die Arbeiter zu spöttischer Heiterkeit.

Silvère ballte noch immer die Fäuste und die Sache drohte eine schlimme Wendung zu nehmen, als ein Jäger aus dem Seillegebirge, der einstweilen, bis man weiter marschieren würde, sich auf einen Randstein niedergesetzt hatte, dem Mädchen zu Hilfe kam.

Die Kleine hat recht, sagte er. Chantegreil war einer der Unseren. Ich habe ihn gekannt. Seine Sache ist nicht völlig aufgeklärt worden. Ich habe seine vor Gericht gemachten Aussagen immer für wahr gehalten. Der Gendarm, den er auf der Jagd mit einem Flintenschuß niedergestreckt hat, hatte ihn selbst schon aufs Korn genommen. Man muß sich doch wehren, nicht? Aber Chantegreil war ein ehrlicher Mann; er hat nicht gestohlen.

Wie es in solchen Fällen ist, genügte das Zeugnis des Wilderers, um Miette noch mehr Verteidiger finden zu lassen. Auch andere Arbeiter wollten jetzt Chantegreil gekannt haben.

Ja, ja, es ist wahr, sagten sie. Er war kein Dieb. Es gibt in Plassans Halunken, die man statt seiner auf die Galeeren schicken müßte. Chantegreil war unser Bruder. Laß gut sein, Kind!

Noch niemals hatte Miette über ihren Vater Gutes reden gehört. Gewöhnlich wurde er vor ihr als Landstreicher, als Missetäter behandelt; jetzt fand sie mutige Herzen, die Worte der Verzeihung für ihn hatten und ihn für einen ehrlichen Mann erklärten. Da zerfloß sie in Tränen, da fand sie die süße Rührung wieder, in die vorhin die Klänge der Marseillaise sie versetzt hatten. Sie sann nach, wie sie sich diesen für die Unglücklichen eintretenden Männern dankbar erweisen könnte. Einen Augenblick dachte sie daran, allen diesen Männern die Hand zu drücken, nach Art der Burschen. Allein ihr Herz fand besseres als dies. Neben ihr stand der Fahnenträger. Sie berührte den Schaft der Fahne und sagte in einem flehenden Tone, in dem ihre ganze Dankbarkeit sich ausdrückte:

Gebt mir die Fahne, ich werde sie tragen.

Die Arbeiter begriffen mit ihrem einfachen Sinn das Kindlich-Erhabene dieses Dankes.

Ja, ja, riefen sie. Die Chantegreil soll die Fahne tragen.

Ein Holzschläger bemerkte, daß sie bald ermüden, nicht weit kommen werde.

Oh, ich bin stark! rief sie, indem sie die Ärmel ihrer Jacke zurückstreifte und ihre Arme zeigte, die schon so stark waren wie die eines erwachsenen Weibes.

Als man ihr die Fahne reichte, sagte sie:

Wartet einen Augenblick!

Sie zog rasch den Mantel aus, wandte die Innenseite nach außen und warf ihn so wieder um ihre Schultern. Sie erschien jetzt im bleichen Lichte des Mondes eingehüllt in einen weiten Purpurmantel, der ihr bis zu den Füßen herabfiel. Die Kapuze, durch den Rand ihres Haarwulstes festgehalten, saß wie eine Art phrygischer Mütze auf ihrem Haupte. Sie ergriff die Fahne, drückte den Schaft an ihre Brust und stand aufrecht da, umwallt von dem roten Banner, das hinter ihr flatterte. In dem halb gen Himmel gerichteten Haupt eines begeisterten Kindes mit dem krausen Haar, mit den großen, feuchten Augen, mit den in einem Lächeln erschlossenen Lippen sprach sich stolze Energie aus. In diesem Augenblicke verkörperte sie die jungfräuliche Wahrheit.

Die Aufständischen jubelten ihr zu. Diese mit einer lebhaften Einbildungskraft begabten Südländer wurden ergriffen und begeistert durch die plötzliche Erscheinung dieses großen, vom Scheitel bis zur Sohle roten Mädchens, das die Fahne krampfhaft an seine Brust drückte. Einzelne Rufe wurden in der Gruppe laut:

Bravo, Chantegreil! Es lebe die Chantegreil! Sie bleibe bei uns! Sie wird uns Glück bringen!

Noch lange hätte man ihr zugejubelt, wenn nicht der Befehl zum Weitermarsch erteilt worden wäre. Und während die Kolonne sich in Bewegung setzte, drückte Miette Silvère, der sich neben sie gestellt hatte, die Hand und flüsterte ihm ins Ohr:

Ich bleibe bei dir, hörst du?

Statt aller Antwort erwiderte Silvère ihren Händedruck. Er nahm ihr Anerbieten an. Er war tief bewegt und überließ sich der nämlichen Begeisterung wie seine Gefährten. Miette war ihm so schön, so groß, so heilig erschienen! Während des ganzen Abstieges sah er sie vor sich, strahlend, in purpurner Herrlichkeit. Jetzt verwechselte er sie mit einer anderen angebeteten Geliebten, mit der Republik. Gern wäre er schon in Plassans angekommen, um seine Flinte schultern zu können. Allein die Aufständischen erstiegen nur langsam den Abhang. Es war der Befehl erteilt worden, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Die Kolonne rückte zwischen den Ulmen vor gleich einer Riesenschlange, an der jeder Ring ein eigentümliches Zittern zeigt. Die eisige Dezembernacht war wieder still geworden; die Viorne allein schien etwas lauter zu murmeln.

Sobald die ersten Häuser der Vorstadt erreicht waren, lief Silvère voraus, um seine Flinte vom Saint-Mittre-Feld zu holen, das noch im stillen Mondlichte dalag. Als er wieder zu den Aufständischen stieß, waren sie eben bei dem Römertor angekommen. Miette neigte sich zu ihm und sagte mit einem kindlichen Lächeln:

Mir ist, als wäre ich in der Fronleichnamsprozession und als trüge ich die Fahne der heiligen Muttergottes.


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