Fedor von Zobeltitz
Drei Mädchen am Spinnrad
Fedor von Zobeltitz

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Emmingen stand im sogenannten Kleinen Salon vor dessen Hauptanziehungspunkt: einem bronzenen Relief aus Donatelloscher Schule, als die beiden eintraten. Er neigte sich tief über die Hand, die Maxe ihm reichte, und machte vor ihrem Vater eine formelle Verbeugung.

»Verbindlichsten Dank, daß Sie mich doch noch vorgelassen haben, Herr von Göchhusen,« sagte er.

»Ich bin mit Arbeiten überhäuft, Herr von Emmingen,« entgegnete Göchhusen, mit einer Handbewegung zum Sitzen einladend. »Aber für wichtige Mitteilungen stehe ich natürlich immer zur Verfügung...«

Emmingen hatte bereits Platz genommen, fragte Maxe nach ihrem Befinden und begann eine Unterhaltung mit ihr, die zunächst an das Donatellosche Relief anknüpfte, um alsdann allerhand anderes in rascher Folge zu streifen.

Herr von Göchhusen saß dabei und verwunderte sich. Sehr eilig schien es dieser junge Mann mit seinen überaus wichtigen Mitteilungen nicht zu haben. Er war in Besuchstoilette, hatte eine Nelke im Knopfloch und den Zylinderhut neben sich auf den Teppich gestellt. Göchhusen hatte Muße, ihn ungezwungen beobachten zu können. Er kannte die Familie: es war ein gutes Haus – badischer Adel, auch im Bayrischen sässig; kein Reichtum, aber rangierte Verhältnisse; der junge Herr selbst in Erscheinung und Gehaben typisch für die moderne diplomatische Generation. Auch dieser Typus war Herrn von Göchhusen nicht fremd: es steckte gewöhnlich mehr dahinter, als man vermutete. Auf der Visitenkarte Emmingens stand hinter dem Namen »Doctor juris utriusque« in landläufiger Abkürzung: das war so eine Art Wappenverbesserung, die man sich gefallen lassen konnte. Wer ein Monokel trägt und einen über den Wirbel gezogenen Scheitel und wer auf den Sitz der Beinkleider hält und eine saubere Krawattenfältelung, braucht noch kein Schafskopf zu sein.

Das war Herr von Emmingen sicher nicht. Wenn man ihm ein paar Minuten zugehört hatte, wußte man, daß man es mit einem Menschen zu tun hatte, der nicht nur auf dem wohlfeilen Markte der Durchschnittskultur hausieren ging. Und eigentlich wunderte sich Göchhusen, daß Maxe ihm einen Korb gegeben hatte. Dann überkam ihn ein unsicheres Mißtrauen. Maxe plauderte mit augenscheinlichem Behagen und heiterer Lust am Widerspruch mit Herrn von Emmingen. Die Worte flogen, es flog auch der Witz: es lag eine stimmungsvolle Gemeinschaftlichkeit über der Unterhaltung und neben professioneller Glätte ein kameradschaftliches Verstehen wie unter vertrauten Freunden. Das Mißgefühl in Herrn von Göchhusen wuchs. Ob er sich auch dagegen sträubte: er war wahrhaftig ein wenig eifersüchtig; er hatte Angst vor einer Umgarnung seiner Maxe; das Mädel war sein und sollte ihm nicht so bald genommen werden.

Er räusperte sich und warf gelegentlich ein:

»Apropos, Herr von Emmingen, Sie haben mich neugierig gemacht. Sie ließen mir etwas sehr Wichtiges versprechen.... Darf Maxe zuhören oder –«

»Ich bitte gehorsamst,« antwortete Emmingen, »ich habe durchaus keine Geheimnisse vor dem gnädigen Fräulein.... Ich wollte mir nur zu fragen erlauben, ob Sie nicht ein Paar sehr hübsche gängige Wagenpferde kaufen möchten. Die könnte ich Ihnen nämlich nachweisen.«

Göchhusen machte große Augen. »Ist das das Wichtigste Ihrer Mitteilungen?« fragte er zurück.

»Doch nicht, Herr von Göchhusen. Es sollte dies nur die Einleitung bilden. Wenn Sie keine Pferde brauchen: darf ich Ihnen eventuell bei der Erwerbung eines neuen Automobils behilflich sein?«

»Mein Gott, das wäre doch auch keine Sache von Wichtigkeit!«

»Es käme darauf an, ob Sie ein Auto suchen oder nicht.«

»Ich suche keins.«

»Also dann... Ich las im Inseratenteil des ›Corriere‹, daß Sie am Canale Grande einen Palazzo zu verkaufen haben, und wollte ergebenste fragen, wieviel er wohl kosten dürfte.«

»Wünschen Sie ihn zu kaufen?«

»Er dürfte mir jedenfalls zu teuer sein. Aber die Möglichkeit wäre ja nicht ausgeschlossen, daß ich im Laufe der Zeit einmal einen sehr reichen Mann kennenlernen könnte, der sich darauf kapriziert, einen Palazzo grade am Canale Grande zu besitzen...«

Maxe hatte sich erhoben und war zu den Kamelien am Fenster getreten. Innerlich amüsierte sie sich, doch mit einer Beimischung von Sorge, ob der Vater genug Humor besitzen würde, die Keckheit Emmingens zu verstehen, dem natürlich nur daran lag, den Bann zu brechen, der ihn bisher von der Villa Esperanza ferngehalten hatte. Vorläufig schien Göchhusen allerdings noch keine Lust zu haben, die Spannung zu vermindern; es flog sogar etwas wie ein leichtes Wölkchen über seine Stirn, als er erwiderte:

»Herr von Emmingen, ich erkenne dankend Ihre liebenswürdige Fürsorge an. Zu Ihrer und meiner Bequemlichkeit aber gestatten Sie mir die Bemerkung, daß alles Geschäftliche durch die Hände meines Sekretärs geht. Wenn Sie also wieder einmal eine freundliche Offerte haben, so wenden Sie sich bitte nur an Herrn Holm. Er ist für Sie immer zu sprechen.«

Göchhusen erhob sich. Maxe schaute sich sorgenvoll um und sah, daß auch Emmingen aufstand und seinen Hut ergriff.

»Das Geschäftliche ist damit erledigt,« sagte er. »Sie haben gemerkt, Herr von Göchhusen, daß es nur Mittel zum Zweck war. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mir den Eintritt bei Ihnen durch einen Scherz erzwang, den Sie vielleicht nicht billigen –«

»Der jedenfalls kritisch bedenklich war,« fiel Göchhusen ein, »– als eine Lustspielwendung, die nur bei vortrefflichem Ensemble seine Wirkung haben konnte. Aber ich bin kein geschickter Gegenpart.«

»Ich war auf alles vorbereitet, Herr von Göchhusen. Ein Lustspiel hat ja auch seine ernsthaften Szenen. Gestatten Sie mir also ohne kunstreiche Dialektik den Übergang zu Seriöserem. Sie haben mir die Szene im Eisenbahnwagen übelgenommen. Der schuldige Teil daran war aber wirklich nur der Zufall, der eine seiner ärgerlichen Launen gegen mich ausspielte. Gegen das Aufstöbern heimlicher Schadenfreude von seiten unfaßbarer Gewalten kann sich auch der Klügste nicht wehren. Ich habe getan, was ich mußte: ich habe in aller Form Ihre Vergebung erbeten. Und ich wiederhole noch einmal meine Bitte, mir verzeihen zu wollen. Ich bitte auch, mir Ihr Haus nicht ferner zu verschließen. Eine Reihe Göchhusens haben mich ihrer Freundschaft gewürdigt, auf die ich sehr stolz bin. Es würde mich glücklich machen, wenn auch Sie mich näher kennenlernen wollten.«

Er schwieg. Der Blick Göchhusens flog zu Maxe hinüber. Sie stand noch vor den blühenden Kamelien, aber ihm zugewendet. Er sah eine herzliche Bitte in ihren Augen, und da strich es wie mit kosender Hand über sein Vaterherz.

Er zog seine Taschenuhr. »Halb eins,« sagte er. »Wir wollen zusammen lunchen. Herr von Emmingen, Sie werden mir immer ein willkommener Gast sein.«

Damit war der Friede wenigstens äußerlich wiederhergestellt. Im Grunde genommen, besaßen die beiden Herren viel Gemeinsames in ihrer Welt- und Lebensanschauung und in den Richtungen ihres Geschmacks, der sich gern konservativ gebärdete, aber auch an Weiten und Ausblicken seine Freude hatte. Beider Empfinden war durchaus aristokratisch, stark ausgesprochen im Abscheu vor der Verpöbelungssucht und dann wohl auch einmal ins Kleinliche verfallend, doch keineswegs illiberal, sondern getragen vom Rhythmus des modernen Lebens und von einem flotten Temperament.

Sie hätten sich also recht gut verstehen können, und Emmingen tat auch das Seinige, Herrn von Göchhusen für sich zu gewinnen. Aber es wollte ihm nicht so recht glücken. Göchhusen kam ihm durchaus liebenswürdig entgegen, lud ihn häufig zu Gaste, unternahm auch mit ihm und Maxe zuweilen gemeinsame Autofahrten in die Lombardei und Spazierritte in die Berge, hielt sich aber doch immer in einer gewissen Reserviertheit. Es war augenscheinlich, daß er ein heimliches Mißtrauen nicht überwinden konnte: daß er fürchtete, Emmingen könnte eines Tages die geliebte Tochter für sich verlangen.

Vater und Tochter standen sich ausgezeichnet. Maxe bemerkte zu ihrer Genugtuung, daß die zeitweiligen melancholischen Anwandlungen, die Reflexe trüber Erinnerung, bei ihm allgemach zum Schwinden kamen. Er war heiter und aufgeräumt, er konnte sogar ausgelassen sein. Und in solchen Stunden wunderte sich das gut beobachtende Mädchen, wie viel glückliche Frische er sich durch alle Stürme bewahrt hatte. Es steckte in dem Fünfzigjährigen noch immer eine kräftig aufbauende Rüstigkeit und der alte, starke Drang nach Mannigfaltigkeit in der Betätigung. Ruhe wünschte er sich freilich auch: »Punktualität«, wie er sich ausdrückte. Das Auslandsdasein hatte er gründlich satt. Er wollte wieder schollenfest werden im Deutschen Reiche und prüfte gemeinsam mit Maxe (auch Emmingen konnte da Rat erteilen) die ihm zugehenden Anerbietungen von Gütern und Herrschaften. Aus der Ferne ließ sich natürlich nichts Zuverlässiges beurteilen; aber man übersah doch den Stand der Preise und konnte sich dies und jenes vormerken. Zu Beginn der Erntezeit sollten die Besichtigungen vor sich gehen; dann wollte Göchhusen nach Deutschland zurück.

Er hatte mit Maxe noch nie darüber gesprochen, wie lange sie wohl bei ihm bleiben würde. Das vermied er, ließ aber dann und wann einfließen, daß er ein vertragliches Anrecht auf sie habe; immer in scherzender Weise, doch Maxe merkte, daß bei dem Scherz auch ein Grundton von Ernst zur Mitsprache kam. Es kümmerte sie vorläufig nicht, denn sie hatte ihren Vater lieben gelernt. Sie war ihm auch mit herzlicher Freude eine getreue Mitarbeiterin geworden und vergrub sich mit ihm an stilleren Abenden in die Unlast von Aktenstücken und Besitztiteln, die er aus Mexiko, mitgebracht hatte. Da war keine leichte Übersicht zu erzielen, und über den Stand der Vermögensverhältnisse hätte sie ihrer Mutter schwerlich einen abschließenden Bericht erstatten können. Aber immerhin wußte sie, daß sie ein reiches Mädchen geworden war.

Das wußte nun auch Emmingen, und er sagte sich, daß er so etwas nicht übelnehme. Er hatte seine Werbungen ausgesetzt; das Verhältnis zwischen ihm und Maxe war ein ganz freundschaftliches geworden. Bedrohungen von anderer Seite fürchtete er nicht mehr. Es hieß für ihn einfach: aushalten und nichts überstürzen. Er hütete sich vor jedem unvorsichtigen Wort; er war ritterlich, doch niemals vertraulich. Das gefiel Maxe. Ihr gefiel noch etwas anderes bei dem Freunde. Emmingen hatte an Schärfe verloren. Er war immer noch streitlustig, wenn es sich um vulgäre Wertungen handelte, er scheute dann auch nicht vor einer radikalen Durchbrechung des Hergebrachten zurück; aber die Verneinung bildete nicht mehr ein Hauptstück im Katechismus seiner Schlüsse und Ansichten. Er war zugänglicher und wahrhaftiger geworden und minder kritisch in seinen Grundstimmungen, zumal Maxe gegenüber, die diese Wandlung übrigens, wenn sie ihr auch zusagte, nur für ein Gebot der Überlegungskunst hielt. Sie war nach wie vor auf ihrer Hut.

Eines Tages, als ihr Vater den Besuch eines Agenten aus Deutschland hatte, holte sie Emmingen aus dem Grand Hotel zu einem Spaziergange ab.

»Ich muß Sie sprechen, Sieur,« sagte sie. »Ich habe einen Brief von Beate bekommen, der riesig Interessantes enthält. Sie werden Kopf stehen.«

»Das ist das einzige, auf das Sie sich nicht verlassen können, Fräulein Maxe,« entgegnete er. »Seit meiner Kindheit habe ich mich nicht mehr im Kopfstehen geübt. Aber vielleicht versuche ich es mit dem Radschlagen...« Sie schritten in vergnügtem Geplauder die Straße nach der Punta della Castagnola hinab und schlugen dann zwischen den zahlreich verstreuten Villen einen Querweg nach dem Innern ein. An einer Gruppe kleiner Felsblöcke zwischen knorrigen Oliven, die ein hoher Eukalyptus überragte, machte Maxe halt.

»Hier ist es windstill,« sagte sie. »Ich glaube, wir bekommen Regen, wogegen ich nichts haben würde... Nehmen Sie auf einem dieser steinernen Fauteuils Platz und hören Sie zu.«

Sie setzte sich auf einen der Felsblöcke, und auch Emmingen suchte sich in ihrer Nähe eine primitive Sitzgelegenheit aus.

»Hart wie das Leben,« meinte er, als er sich niederließ, »und unbequem wie die Reue. Aber es muß ertragen sein. Und nun bin ich äußerst begierig auf Ihre Neuigkeiten.«

»Raten Sie, was passiert ist?«

»Schön – ich werde raten. ... Brökelmann hat sich den ersten Korb bei Ihrer Frau Mutter geholt.«

Maxe schaute erstaunt zu dem Sprechenden hinüber. »Sind Sie Gedankenleser?« fragte sie.

»Gott sei Dank nicht,« erwiderte er lachend; »das wäre mir eine zu gefährliche Eigenschaft. Die Erklärung ist rasch gegeben, gnädiges Fräulein: auch Brökelmann hat mir einen längeren Brief geschrieben, eine Klageepistel mit Händeringen zwischen den Zeilen und hundert Stoßseufzern am Rande.«

»Was schreibt er?«

»Ich halte es nicht für indiskret, wenn wir die Briefe miteinander vergleichen. Denn unsre Interessen treffen sich. Darf ich Sie bitten, mir zunächst einmal vorzulesen, was Fräulein Beate zur Sache berichtet?« Maxe zog den Brief hervor und entfaltete ihn. »Ich Übergehe die Einleitung,« sagte sie. »Es heißt dann weiter: ›Und nun bereite Dich vor, etwas ganz Erstaunliches zu vernehmen; wenn Du einen Stuhl in der Nähe hast, halte Dich an der Lehne fest, sonst aber nimm Rückendeckung an der Wand, damit Du nicht umfällst. Gestern war Warmuth hier. Was wollte er? Er kam als Freiwerber für – nun also, für wen? – für den Kommerzienrat Brökelmann, unseren großen Milkselfmademan, und hat wohl an die zwei Stunden mit der Mama konferiert. Er soll seine Sache trefflich gemacht haben: er war ein würdiger Vertreter seines Auftraggebers. Er breitete alle guten Seiten Brökelmanns in großer Anschaulichkeit vor der Mama aus: seine unbestreitbaren Verdienste um die Milchhygiene und die Bakterienkenntnis, seine inneren Eigenschaften, seine Wohlsituiertheit und als Krönung des Aufbaus die Tatsache, daß Brökelmann in Lippe-Detmold geadelt worden ist und in Erwartung des preußischen Geheimrattitels steht. Du siehst also, daß unser Brökel noch viel bedeutender ist, als wir ihn in kläglicher Unkenntnis seiner Gesamtwürden gehalten haben. Aber bei unsrer Mutter verfing alles nicht. Sie geriet in eine heftige Gemütsbewegung, bekam einen plötzlichen Weinkrampf und schüttete dann ihr bedrängtes Herz dem geistlichen Mittelsmann aus. Sie beichtete. Selbstverständlich kann ich Dir nicht sagen, was sie alles gebeichtet hat. Jedenfalls hat sie ihm versichert, daß es ihr ganz unmöglich sein würde, jemals im Leben auch nur eine Spur von Liebe zu Herrn Brökelmann zu empfinden, und hat dann den Superintendenten ernsthaft gefragt, ob es nicht eine Sünde vor Gott und den Menschen sei, ohne Liebe zu heiraten. Natürlich mußte das der gute Warmuth auf Grund aller seiner Überzeugungen bestätigen, und tat dies mit solcher Inbrunst, daß er unbewußt in das entgegengesetzte Fahrwasser geriet und der Mama erklärte, daß die Fortsetzung seiner Mission die sein werde, Brökelmann mit aller Kraft von ihr fernzuhalten.‹ ...«

Maxe schwieg einen Augenblick, überflog rasch die nächsten Zeilen des Briefes und sagte hierauf: »Das, lieber Herr von Emmingen, ist das rein Sachliche. Was noch folgt, sind allerhand Bemerkungen, die Sie nicht interessieren werden.«

»Ich danke,« entgegnete Emmingen, sein Portefeuille ziehend; »nunmehr werde ich mir erlauben, Ihnen als Gegenstück den betreffenden Passus aus dem Briefe meines kommerzienrätlichen Freundes vorzutragen ...« Er begann zu lesen: »›Ich habe lange überlegt, ob ich die Unsicherheit meines Selbstbewußtseins in Liebessachen überwinden und direkt meine Werbung bei Frau von Göchhusen vorbringen sollte. Wären Sie hiergewesen, dann hätte ich mich mit Ihnen noch einmal darüber aussprechen können – so aber wählte ich Schafskopf den verkehrtesten Weg und befragte meinen Insterburger Schulfreund Warmuth. Nun hätten Sie Warmuth hören sollen! Er antwortete ungefähr so, als ob er einer Horde von Botokuden eine Predigt halten wollte, stritt mir ab, eindringliche Kenntnis aller Finessen der weiblichen Psyche zu besitzen, meinte, ich würde durch mein kaufmännisches Gradezu von vornherein alles verderben, und schlug mir vor, aus heißer Freundschaft zu mir erst einmal das Terrain zu sondieren. Emmingen, ich habe nie viel für meine Geburtsstadt Insterburg übriggehabt; nun aber finde ich dies Nest über die Maßen abscheulich, bloß, weil auch Warmuth da geboren ist. Herrgott, wäre ich doch so verständig gewesen, mich auch in diesem Falle auf meine eigene Kraft zu verlassen! Aber es kamen wieder ähnliche Angstgefühle wie damals, als ich um Fräulein Beate anhalten wollte, und ein gewisses mystisches Empfinden, das mich in der Regel richtig geleitet hat, wenn ich in der Milchbranche eine neue Sensation vorbereitete. Bei meiner ersten Frau ging ja die Sache ganz glatt; aber da war ich noch ein Brausekopf, und außerdem war sie froh, daß sie mich kriegte. Nun aber bin ich doch recht gesetzt geworden, und wenn ich mich sonst auch leidlich zu benehmen weiß: ich glaube, bei einer Liebeserklärung würde ich heftig stottern und in meinen Ängsten vielleicht gänzlich vom Ziele abirren. So nahm ich mir denn Warmuth noch einmal vor und bearbeitete ihn gehörig. Er sollte Frau von Göchhusen einen einfachen Besuch machen, wärmer werden und je nach Empfinden gleich Farbe bekennen oder vorsichtig zum Rückzug blasen. Und was antwortete mir der Mann? Lieber Wilhelm, sagte er mit prachtvoller Zuversicht, wenn ich eine Sache in die Hand nehme, kannst du sicher sein, daß auch ein gottgewolltes Gelingen mit mir ist; denn im Ringen mit den Widerständen hat mein Leben jene Haltepunkte gefunden, auf denen die Erfahrung zur Reife wuchs. Ungefähr so sprach er, daß er in einer halben Stunde mit froher Botschaft zurückkehren würde. Ja, prostemahlzeit! Nach drei Stunden kam er freilich wieder, aber mit einem Gesicht, als ob er Bitterwasser getrunken hätte, und fing auch gleich zu predigen an: die Gegenliebe fehle, und nur wo zwei Herzen in gleicher Eintracht sich gefunden hätten, sei die feste Gewähr für eine Gott wohlgefällige Ehe und ein glückliches Erdenleben gegeben. Ich solle die arme Frau (sagte er) nicht weiter quälen, sondern mich in der Entsagung üben, die zu allen Zeiten das Größte menschlicher Leistung gewesen sei. Er hätte der armen Frau (arme Frau, sagte er immer) das feste Versprechen gegeben, daß ich für ewig zurücktreten würde, um ihre Seele nicht in Unruhe zu stürzen und in weltlichen Kümmernissen zu verflüchtigen. Lieber Emmingen, da habe ich an mich halten müssen, um meinem Insterburger Schulfreunde nicht eine Insterburger Schultachtel zu versetzen. Wahrhaftig, ich schäumte vor Wut. Hat mir der Mensch mit seiner Salbaderei die ganze Geschichte verfahren! Natürlich habe ich nicht allsogleich mit einem vollen Erfolge gerechnet; aber ich wäre dickhäutig gewesen und hätte den Versuch wiederholt. Und nun kommt dieses lange Kirchenlicht und verbrennt alle meine Hoffnungen! Ich kann Ihnen sagen ...‹«

Emmingen brach mitten im Satze ab. »Und so weiter,« fügte er hinzu. »Ist der Bericht Brökelmanns nicht eine famose Ergänzung zu dem Ihres Fräulein Schwester? Ich kann mir denken, wie die beiden Freunde aneinandergeraten sind. Natürlich hat es Warmuth von Herzen gutgemeint. Erst wollte er Brökelmann helfen und dann Ihrer Frau Mutter. Erst hat er zugeredet und dann abgeredet. Zur Schürzung des Knotens in der Komödie fehlt eigentlich nur noch, daß er sich schließlich selbst in Ihre Frau Mutter verliebt und um sie angehalten hätte. Das hätte einen gewissen dramatischen Höhepunkt gegeben, der sich freilich schon deshalb nicht ermöglichen ließ, weil der Held verheiratet ist.«

»Wer?« rief Maxe. »Warmuth? – Verheiratet – herrjeh! Seit wann?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Brökelmann hat mir davon gesprochen. Jedenfalls seit langem. Warten Sie – was erzählte denn Brökelmann? Er hat mir ein paarmal ... Ah ja, richtig! Also Warmuth hat schon als Kandidat geheiratet. Eine Gouvernante, glaube ich. Sie war von dem heiligen Feuer erfüllt, einmal eine Rolle in der Wüste zu spielen und den Heiden zu lehren. Warmuth auch – wenigstens damals. Sie bereiteten sich beide für die Missionskarriere vor – wenn man dabei von Karriere sprechen kann. Aber inzwischen füllte sich der Brotkorb daheim. Das Ansehen Warmuths wuchs; vielleicht festete sich auch die Überzeugung in ihm, daß er im eigenen Lande wirksamer tätig sein könne als in der Fremde – – jedenfalls hatte er die Lust verloren, Missionar zu werden. Sie aber hielt daran fest. Kinder waren nicht da, und so trennte man sich denn in Liebe und Eintracht.«

Maxe schüttelte den Kopf. »Es ist die Möglichkeit. ... Aber alle Welt hält den Superintendenten doch für unverheiratet!«

»Ja nun ... schließlich ist er ja nicht verpflichtet, es aller Welt auf die Nase zu binden, daß er seine Gattin seit fünfundzwanzig Jahren nicht zu Gesicht bekommen hat. Ich verstehe das: es liegt ein gewisses tragikomisches Element in der Tatsache, das ihm bei seiner Stellung, nicht angenehm sein kann. Andrerseits verheimlicht er auch diese Tatsache nicht; dazu ist er wieder zu ehrlich. Mein Gott, er spricht eben nicht davon, wenn es nicht notwendig ist! Das würde ich an seiner Stelle genau so machen ...«

»Natürlich ...« Maxe blieb einen Augenblick stumm sitzen, dann kicherte sie leise in sich hinein ... »Da geht uns also auch der dritte flöten,« sagte sie.

»Wieso der dritte?« »Es war nur das Fragment eines Selbstgesprächs. ... Ich dachte ... Wir hatten gedacht ... Emmingen, ich habe Ihnen ja schon einmal eine Andeutung, gemacht. Wir Schwestern würden ganz gern sehen, wenn Mutter sich wieder verheiraten wollte. Aus mancherlei Gründen. Und da hatten wir auch den langen Warmuth mit in das Spiel der Berechnungen gezogen ...«

Emmingen stand auf und versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Aber der Wind war dagegen. Da ließ er es, zerbrach die Papyros und warf sie in die Luft.

»Interessant,« sagte er. »Ich verstehe die Sachlage. Auch alle Voraussetzungen. Man möchte die noch junge Mutter in sicherer Hut wissen, falls die Töchter einmal von ihr gehen sollten. Und die sicherste Hut ist immer die starke Macht eines persönlichen Faktors .... Mit Warmuth war es freilich vergebliche Liebesmüh. Anders mit Numro zwei: bei Brökelmann. Da waren Aussichten gegeben. Und wer ist der dritte? ... Pardon, ich werde indiskret –«

»Der ist seine eigenen Wege gewandelt,« fiel Maxe ein. »Emmingen, ich brauche Ihnen kein X für ein U zu machen. Das war Hartwig. Aber der nahm sich die Friede ...«

»Das ist einfach köstlich,« rief Emmingen. »Ansätze zu einer Gozzischen Komödie. Erster Akt: Konspiration dreier Töchter, die ihre Mutter verheiraten möchten –«

»Die Parzen am Webstuhl des Schicksals ...« Und sie sang nach einer unmöglichen Melodie: »Drei Mädchen sitzen am Spinnrad, des Glücks und spinnen, spinnen, spinnen –«

»Durch ihre Finger, weiß und schlank, die Fäden des Schicksals rinnen,« dichtete Emmingen als Fortsetzung. »Auf einmal aber schien's vorbei – ritsch, riß der eine Faden entzwei. Da lachten die Mädchen heiter und spannen emsiglich weiter.«

Nun lachte auch Maxe. »Aber wir haben nichts mehr zu spinnen,« sagte sie.

»Abwarten, gnädiges Fräulein. Nach dem szenischen Aufbau der Komödie müßten im zweiten Akt die drei zugedachten Freier sich um die Töchter bewerben. Das wäre ein logischer Lustspieltrick. Hartwig ist darauf eingegangen. Brökelmann hat eine unvorhergesehene Drehung gemacht.«

»Vielleicht macht er noch mal eine.«

»Gar nicht unmöglich. Da er aus mystischen Prozessen und geheimnisvollen Urgründen zur Wandlungsfähigkeit neigt, so ist es nicht ausgeschlossen, daß er sich wieder zu Fräulein Beate zurückwendet. Und sich auch bei ihr einen Korb holt.«

»Kann man alles nicht wissen. ... Gehen wir ein bissel weiter, Herr von Emmingen. Der steinerne Sitz hat seine Schroffheiten. Sie hatte sich erhoben, schob ihren Arm unter den Emmingens und ging mit ihm auf dem Wege nach San Remigio zurück .... »Ja, wirklich, das kann man nicht wissen. Beate ist nicht allzuviel umworben, trotzdem sie unter uns dreien eigentlich die schönste ist. Aber sie sieht ungeheuer anspruchsvoll aus. Das schreckt ab. Sie hat auch einen gewissen Hochmut. Das Nahrungsmittel, auf dem die Größe und die Leistungsfähigkeit Brökelmanns beruht, entspricht nicht ihrer Fürnehmheit. Und wenn seine Milch auch einzig dasteht an Fettgehalt und sonstigen wertvollen Eigenschaften: Milch ist nicht Gußstahl. Ja, wenn Brökelmann Besitzer eines Eisenwalzwerks wäre! Oder ein ähnlicher Schlotbaron! ... Immerhin – Baron ist er jedenfalls, und es ist schon möglich, daß die siebenperlige Krone bei Beate der Milch die Waagschale hält.« »Das müssen wir abwarten. Ein Milchbaron hat auch seine Eigenart und kommt nicht häufig vor. ... Gott, der arme Brökelmann! Nun spötteln wir über ihn, und er verdient es wirklich nicht.«

»Spötteln wir?«

»Es klingt schon so. Aber Sie haben angefangen.«

»Dann habe ich es von Ihnen gelernt.«

»Mir scheint, als sei meine Spottlust gelinder geworden. Scheint mir ... Sie war übrigens – wenn ich mich recht beurteile – mehr Verlegenheitsausdruck als angeborenes Empfinden. Sie wissen, ich gehörte sozusagen zu den schwankenden Gestalten. Zu den Zweiseelenkreaturen, die immer zwei Schritte vorwärts springen und einen zurück, wie die Leute in Echternach. Das, genierte mich, und da klammerte ich mich an die Spottlust. Nicht als Gegenkraft der Bewegung, sondern als Entschuldigung für ihre Trostlosigkeit. Es hat etwas Beruhigendes, sich selbst belächeln zu können. Ganz entschieden, das hat es. ... Aber der Mensch kann sich ja bessern. Manchmal genügt ein unwichtiges Geschehnis, die Besserung in Aktion zu rufen; manchmal bereitet sie sich von langer Hand vor. In diesem Falle waren zwei Worte von Ihnen die Faktoren, die den Anstoß zu dem Aufsichselbstbesinnen gaben.«

»Darf ich die Worte wissen?«

»Aber ja. Sie sprachen einmal von meiner Neigung zu ›Blinkfeuern‹ – und ein andermal schrieben Sie mir – damals, auf die Einladung zu Ihrem Gartenfest –, alles eigene ›Brillieren‹ sei strengstens verboten; die bunten Ballons genügten.«

Maxe zupfte ihren Staubschleier über das Kinn. »Das waren doch nur scherzhafte Redensarten,« sagte sie.

»Ich habe sie auch keineswegs übelgenommen. I Gott bewahre! Aber sie gaben mir doch zu denken. Ich gestand mir zu: sie waren bezeichnend. Und da habe ich mir denn Mühe gegeben, in mir selbst etwas mehr Ordnung zu schaffen. Im Archiv meiner Seele sah es liederlich aus; jetzt ist es ein Shannonregister geworden. Alles liegt auf dem richtigen Fleck.«

»Sie spötteln schon wieder. Aber es schadet nichts. Es ist ganz hübsch. Gebessert haben Sie sich jedenfalls. Sie sind – wie soll ich sagen – ausgeglichener geworden. Es flackert nicht mehr soviel in Ihnen; es brennen ruhigere Flammen. Keine Blinkfeuer, sondern ein sanftes Glühlicht. Weniger Pyrotechnik und mehr Leuchtkraft.«

Emmingen zog seinen Hut. »Ich danke sehr für gütiges Urteil,« entgegnete er. »Und nun tun Sie mir einmal den Gefällen und schauen Sie freundlichst nach links hinüber. Da liegt die Parkmauer der Villa Esperanza. Die nachtmützenähnliche Spitze ist das Dach des Pavillons. Der eifelturmartige Aufsatz daneben die Höhe der Aussichtstreppe. Was krabbelt da oben herum? Sind es zwei Männer? Und winken sie nicht?«

Die Entfernung war noch zu groß, um die Leute auf der Plattform des Aussichtsturmes zu erkennen. Maxe war stehengeblieben und äugte scharf.

»Natürlich sind es zwei Männer,« sagte sie. »Sie lassen die Taschentücher wehen. Der eine ist wohl Papa. Aber der Kleinere ...«

Sie gingen weiter den Seeweg entlang, den Blick beständig auf die beiden Gestalten gerichtet.

»Herrgott,« rief Maxe plötzlich und blieb abermals stehen: mit einem Ruck, als ob »Halt« kommandiert worden wäre.

»Was ist denn los?« fragte Emmingen.

»Das rechts ist in der Tat Papa –«

»Und der links?«

»Ist Krempel.«

»Wer?!«

»Krempel,« antwortete Maxe in bestimmterem Tone. »Ich erkenne ihn am Hut und an der Figur und endlich am Taschentuch. Sein Taschentuch ist wie eine Fahne. Er hat immer so riesige Taschentücher.«

Emmingen machte aus seiner unliebsamen Überraschung kein Hehl. »Aber wie kommt denn dieser Krempel hierher?!« sagte er ärgerlich.

»Das weiß ich auch nicht. Ich habe ihn nicht gerufen.«

»Merkwürdig. Er wird Ihnen doch nicht absichtlich nachgereist sein?«

Maxe war in Unruhe, und um sie zu verbergen, wurde sie heftig. »Herr von Emmingen, und wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen: ich kann es Ihnen nicht sagen!« rief sie. »Ich weiß es nicht. Ich bin selbst erstaunt. Nachreisen ist Unsinn. Warum soll er mir denn nachreisen?«

»Man kann nie wissen. ... Vielleicht aus ... na ja!«

»Was? ... Aus Eifersucht. Genieren Sie sich nicht und sprechen Sie aus.«

»Gut. Also aus Eifersucht. Warum nicht?«

»Weil er dazu nicht kapitalkräftig genug ist, werter Herr. Die Eifersucht kann er sich allenfalls zu Hause leisten. Aber um sie bis über die Alpen zu tragen, dazu langt's bei ihm nicht. Er ist ein armer Kerl. ... Und nun möchte ich Sie um eins bitten, Emmingen –«

»Stehe zu Befehl.«

»Nein, nicht Befehl. Ich bitte bloß. Sie können sich gegenseitig nicht recht verknusen. Das habe ich schon in Zochin gemerkt. Es schwebt wirklich so etwas wie eine Atmosphäre von Eifersucht zwischen Ihnen. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie freundlich – sagen wir: wenigstens harmlos zu Krempel wären.... Ermöglicht es Ihnen Ihr Aufschwung zur Besserung, sich auch einmal harmlos zu geben?«

Auf der Stirn Emmingens breitete sich immer noch eine Wolke des Unmuts aus. Und sie blieb auch, als er antwortete: »Ich kann es ja wenigstens versuchen.«

Maxe kniff ihr rechtes Auge zu. »Das sagen Sie in einem Tone, der der guten Absicht direkt widerspricht.«

»Weil es mir nicht leicht wird, Ihren Wunsch, zu erfüllen.... Ich habe nichts andres gegen diesen Krempel als die Vertraulichkeit, mit der er Ihnen begegnet. Natürlich weiß ich, daß sie auf alter Kinderfreundschaft beruht. Das weiß ich – und ich begreife auch, daß so etwas festsitzt. Aber ich kann mir nicht helfen: es belästigt mich. Und ebenso belästigt es mich, daß er so plötzlich unter uns erscheint. Er wirkt störend auf mich ein.«

In Maxe stieg jetzt wieder der Ärger auf. »Herr von Emmingen,« sagte sie scharf, »wenn Sie sich nicht beherrschen können, so lassen Sie es gefälligst bleiben. Ich bat um eine Gefälligkeit. Bei Ihrer Weltgewandtheit kann Ihnen die Erfüllung nicht schwerfallen. Es ist der reine Mechanismus. Aber ich dringe nicht in Sie. Machen Sie, was Sie wollen ...«

Man war jetzt bis ziemlich dicht an die Parkmauer gekommen, die hier einen Bogen beschrieb und sich bis zur Seeküste hinabzog. Der Park umfaßte zahlreiche, bei den Italienern beliebte Spielereien: eine Tropfsteingrotte mit unterirdischer Wasserfahrt, Gartenhäuschen, einen Vexierpavillon, ein närrisches Mausoleum für einen römischen Helden der Einbildung und auch das Eisengerüst eines Aussichtsturms. Vom Plafond dieses Turmes grüßten Göchhusen und Krempel die Näherkommenden. Krempels großes Taschentuch flatterte noch immer wie eine Friedensfahne im Kinde.

»Was sagt Ihr zu dem unerwarteten Besuch?« rief Herr von Göchhusen, indem er die Hände als Schalltrichter um den Mund legte.

Krempel machte es ebenso. »Grüß Gott, Maxe!« schrie er von seiner Höhe herab. »Guten Tag, Herr von Emmingen. Wie geht's?!«

Maxe und Emmingen riefen und grüßten zurück und wandten sich dann landeinwärts dem Parktor zu.

»Krempels Zuruf war doch sehr freundlich,« sagte Maxe im Weiterschreiten. »Und nun schütteln gütigst auch Sie Ihre Unlust ab und seien Sie Mensch zum Menschen.«

»Also geschehe es,« erwiderte Emmingen. »Ich werde jedwede herabstimmende subjektive Zuständigkeit kraftvoll unterdrücken und mich Herrn Krempel lediglich von der Sonnenseite zeigen. Er soll von mir entzückt sein.«

Krempel erzählte:

»Maxe, ich habe ein unsinniges Glück gehabt. Du kennst meine Brendicke; ja, du kennst sie. Mit ihr spiele ich seit Jahresfrist ein Los zusammen: ein achtel Los der Königlich Preußischen Klassenlotterie. Wir sind bereits dreimal mit dem Einsatz herausgekommen und schätzten schon dies als eine hohe Gunst Fortunas, obwohl sie keine dauernden Spuren in unseren Schatullen hinterließ. Aber jetzt ist der große Schlag gefallen. Wir haben gewonnen, Maxe! Nach allen Abzügen sind uns noch neunhundertdreiundzwanzig Mark geblieben, also auf den Kopf Mark vierhunderteinundsechzig nebst fünfzig Pfennigen.«

»Kolossal. Ich, gratuliere, Krempel.«

»Danke schönstens. Nun handelte es sich um die Verwendungsfrage. Die Brendicke trug ihren Mammon sofort auf die Sparkasse. Dies erschien mir ein kleinliches Verhalten. Einem Glückgewinst gegenüber soll man die Neigung zum Aufhäufen fallen lassen. Ich habe lange überlegt. Ich dachte an eine komplette Erneuerung meiner Garderobenverhältnisse. Aber das war mir zu äußerlich. Wann wollte ich mir eine Volière kaufen mit allerhand piependem Getier. Und schließlich wollte ich bei Franz Kramhuber, einem sogenannten champion of the world, mit mächtigen Muskeln, Unterricht im Meisterringen nehmen.«

»Was?!« rief Maxe.

»Bravo,« sagte Emmingen und applaudierte mit den Daumennägeln. »Diese Idee gefällt mir. Das Psychische überwuchert in uns; die Gesetze des Physischen werden vernachlässigt. Da muß ein Ausgleich geschaffen werden.«

»Krempel,« rief Herr von Göchhusen, »bitte, treten Sie einmal vor! Mit dem ganzen Gehaben eines Meisterschaftsringers. Prachtvoll! Wenn Sie in Trikot gewickelt sind, müssen Sie einen überwältigenden Eindruck machen. Können Sie denn schon alle Kunstgriffe?«

»Nein,« erwiderte Dionys, »keinen einzigen. Ich ließ nach reiflicher Gedankenarbeit auch diese Idee wieder fallen. Und zwar kam dies so. Ein Kollege vom Joachimsthal, Doktor Duplessis, machte mich darauf aufmerksam, daß die billigen Pfingstzüge nach dem Süden wieder beginnen. Er wäre gern selber gefahren, aber er hat eine kranke Tochter zu Hause und konnte nicht fort und klagte mir nun sein Leid. Und da schoß es wie ein Blitzlicht über mich: Italien! Mit meinem Losgewinn könnte ich bis in die kalabrische Stiefelspitze – aber so lange reichen meine Ferien nicht, und da will ich mich denn mit Oberitalien begnügen. Natürlich galt mein erster Besuch der Villa Esperanza.«

»Wo wohnst du?« fragte Maxe.

»Ich bin in der Albergo Milano abgestiegen, aber dein Herr Vater –«

»Hat ihn hierher genommen,« fiel Göchhusen ein. »Selbstverständlich. Für den Sohn meines alten Pastors Krempel habe ich immer noch ein Plätzchen übrig. Leider hat er sich in eine Mansarde eingekrempelt und die Fremdenstube verschmäht, die ich ihm angeboten habe ...«

Die vier schritten den von Magnolien eingefaßten großen Hauptweg der Villa zu. Krempel fand alles wundervoll, schrie bei jeder Aussichtsstelle auf, roch an einem blühenden Vanillebusch und hatte noch nie einen Maria Paulownabaum gesehen. Maxe freute sich mit ihm, und auch Herr von Emmingen war von einer gewissen ernsten Freundlichkeit: etwas reserviert, aber doch nicht herablassend.

Man frühstückte miteinander, dann zog sich Emmingen in sein Hotel zurück, und Maxe ging mit Krempel in den Garten, um sich von ihm erzählen zu lassen, was es Neues in Berlin gebe. Sie wählten einen schattigen Platz unweit des Seeufers und legten sich unter einer großen Zeder in das Gras.

Allzuviel hatte Krempel nicht zu berichten. Er war zwar einigemal in der Regentenstraße gewesen, aber immer nur für kurze Zeit, und wußte augenscheinlich auch nichts von dem Korbe, den sich der Kommerzienrat Brökelmann geholt hatte. Maxe vermutete, daß die Schwestern ihm absichtlich nichts davon erzählt hatten, was sie eigentlich nicht richtig fand, da Krempel doch auch Teilnehmer an der großen Verschwörung war. Aber in ihrem Empfinden hatte sich mancherlei geändert; augenblicklich stand ihr Emmingen näher als der Kindheitsfreund, und so schwieg auch sie von dem Fehlschlag in der gemeinsamen Parzentätigkeit. Man konnte ja immer noch darauf zurückkommen.

Übrigens schien Krempel auch Wichtigeres erzählen zu wollen. Es fiel Maxe auf, daß er einige Male anhub: »Maxerle, was ich noch sagen wollte« – oder: »Höre, Tugendreich, ich muß dir etwas anvertrauen« – und daß er dann immer wieder mit einer gleichgültigen Wendung abschwenkte. Einmal unterbrach er sich, um ein Bambusgebüsch für Zuckerrohr zu erklären, und dann wieder, um mit einer schönen Handbewegung über die Seefläche begeistert auszurufen: »O mia bella Italia! O Lago azzurro! O grande Maggiore!«

»O – o – o!« parodierte ihn Maxe. »Dionys, du mußt nicht glauben, daß ich in der Zeit, da ich deine geistige Kontrolle entbehrte, verdummt bin. Ich bin immer noch ungemein scharfsichtig. Ich merke, daß du irgend etwas auf dem Herzen hast, was du mir gern erzählen möchtest. Es tritt aber im entscheidenden Moment eine geheimnisvolle Gegenströmung ein, die deinem Mitteilungsbedürfnis Fesseln anlegt. Warum?«

Krempel schaute wieder träumerisch über den See. »Es ist fabelhaft,« sagte er, »diese Bläue ist eigentlich nicht ganz blau. Er mischen sich grünliche Tinten hinein. Ob das Hannibal auch schon beobachtet hat? Er ist seinerzeit hier gewesen, und vielleicht hat er auf derselben Stelle gerastet –«

»Krempel!« rief Maxe, »wir leben post Christum natum, und mir fehlt jedes Interesse für Hannibal. Warum schweifst du wieder in die Vorzeit? Ich möchte wissen, was du mir zu sagen hast?«

Er warf sich im Grase herum, so daß er auf dem Bauche lag, nahm die rechte Hand Maxes und küßte sie.

»Es ist richtig,« entgegnete er, »daß ich dich etwas fragen wollte. Nämlich folgendes: denkst du noch manchmal an Pittelkos Bodenkammer zurück?«

Maxe nickte, indes auf ihren Wangen das Rosa sich langsam verdunkelte. Diese Frage ließ allerhand Deutungen zu.

»Gewiß,« sagte sie, »das tu ich schon.«

»Und wie wird dir dabei?«

Sie fühlte: es war so, als kröche etwas über ihr Herz. Aber sie nahm sich zusammen.

»Wie soll mir werden?« erwiderte sie gleichmütig. »Mal so, mal so. Wir wissen ja, daß wir damals im Banne poetischer Stimmungen standen.«

»Ja,« sagte er, »ich meine: wirken die zuweilen noch nach? oder sind sie blaß geworden?«

»Dionysos, das ist eine merkwürdige Frage. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, mich daraufhin einmal energisch zu prüfen. Wozu denn auch?«

»Natürlich – wozu denn auch? ...« Nun würde er lebhafter. Er hatte bisher die Hand Maxes gestreichelt. Jetzt ließ er sie los, schwang sich um sich selbst und setzte sich aufrecht hin. .... »Das ist eine sehr berechtigte Wendung. Dieses Wozu sagt alles. Es ist eine Frage an das Schicksal. Es bezeichnet die Richtung auf etwas Sachliches.«

»Du bist mir unklar.«

»Das schadet nichts.«

»Vielleicht drückst du dich aber doch ein bißchen deutlicher aus.«

Krempel atmete schwer. Es klang fast wie ein Seufzen. Er öffnete den Mund, und so blieb er einen Augenblick sitzen. Maxe sah ihn neugierig an. Und plötzlich sagte er:

»Sieh das kleine Wölkchen über der Isola bella! Wie ein rudernder Schwan. Wie der Schwan Lohengrins.«

Maxe schlug mit der flachen Hand in das Gras.

»Dionys, nun hör auf!« rief sie. »Phantasiere nicht, sondern sprich in normalen Zusammenhängen.«

»Schön, Maxe, ... Maxe, hör zu ... Maxe, denke dir« ... er neigte den Kopf wie ein sich schämender Junge und sagte leise: »Ich bin verliebt!«

Noch ein paar Sekunden starrte ihr Auge ihn an. Das dunklere Rot ihrer Wangen wurde lichter. Um die Lippen strich der Versuch eines Lächelns. Dann setzte sie sich neben ihn: mit einer energischen Bewegung, die anzudeuten schien, daß sie nun alles von ihm zu hören wünsche. »In wen?« fragte sie.

Aber er antwortete nicht, sondern fragte zurück:

»Warst du auch schon einmal verliebt?«

»Das weiß ich nicht. Und wenn ich's wüßte, würde ich es dir wahrscheinlich nicht sagen. ... Verliebt mag man manchmal sein. Aber man kann sich auch in seinen Empfindungen täuschen. ... O ja, das kann man. Schwebende Eindrücke fordern dazu auf. Da rinnen die Grenzlinien durcheinander. ... Man kann ehrliche Freundschaft für Liebe halten und umgekehrt.«

»Ich glaube, daß es so ist,« erwiderte Krempel mit trauriger Stimme.

»Warum sagst du denn das so melancholisch?« fragte Maxe.

»Weil bei mir auch noch alles durcheinander rinnt. ... Aber nicht das – – sondern das

»Sondern was? – Dionys, wenn du doch gefälligst so freundlich sein wolltest, dich zu einer logischen Gedankengliederung zu zwingen.«

»Jetzt ist aus dem Wolkenschwan über der Isola bella ein kleines Kamel geworden,« antwortete Krempel sinnend.

Maxe stand rasch auf und schüttelte die Grashälmchen von ihrem Rocke ab.

»Bleib sitzen,« sagte sie. »Bitte, bleib nur sitzen. Ich gehe inzwischen auf mein Zimmer und schreibe ein paar Briefe. Wenn du deine Gedanken gesammelt hast, kannst du mich ja rufen.«

Er hielt sie am Rocksaume fest. »Um Gottes willen, gehe nicht fort,« erwiderte er. »Nämlich ... ohne das gewonnene Los wäre ich natürlich nicht hierher gekommen. ... Aber mir lag doch auch daran, mich mit dir zu treffen – und auszusprechen. Auszusprechen – verstehst du?«

»Gewiß verstehe ich. Aber du sprichst dich ja nicht aus.«

»Weil ... Erst setz dich mal wieder zu mir. Dicht an meine Seite. Und wenn ich bitten darf: guck mich nicht an. Schau einfach über den See, während ich rede. Dann wird die Logik schon kommen. Sie ist schon da. Aber du darfst mich nicht angucken ...«

Sie nahm schweigend abermals neben ihm unter der großen Zeder Platz, faltete die Hände im Schoße und schaute geradeaus. Das kleine Kamel über der Isola bella war inzwischen zu einem verfehlten Wachtelhündchen geworden.

Krempel faltete auch die Hände. Beide Menschen sahen sehr andächtig aus.

»Es liegt so,« sagte er. »Bei Pittelko damals, wirst du dich entsinnen, sprach ich allerlei, weil ich ein bißchen eifersüchtig auf Emmingen war –«

»Und er auf dich.«

»Und er auf mich. Das kommt vor. Die Eifersucht ist eine Leidenschaft, die ... aber ich will keine Gemeinplätze verbreiten.«

»Worum auch ich ergebenst bitten möchte.«

»Und da schworst du mir bei Pittelko, wie du dich erinnern wirst –«

»Ich weiß, was ich schwor, und habe es gehalten,« fiel sie ein.

»Das ist es ja eben. Ich gebe dir diesen Schwur zurück. Wenn also Emmingen kommen sollte –«

»Ach, Krempel, laß doch Emmingen aus dem Spiel! Der gehört nicht hierher. Du bist verliebt – so hast du mir erklärt.«

»Ganz richtig – und da wollte ich mir denn zu fragen erlauben, ob du nichts dagegen hast –?«

Das Wachtelhündchen über der Isola bella war ein breiter, weißer Schleier geworden. Auf diesen Schleier hefteten sich die Augen Maxes. Sie begriff nun, warum sie Krempel nicht anschauen sollte. In dem armen Jungen regten sich Gewissensbisse.

»Nicht nur,« antwortete sie ruhig, »daß ich nichts dagegen habe: ich freue mich auch von ganzem Herzen darüber, daß du dich rechtschaffen verliebt hast.«

»Ehrenwort, Maxe?!« rief er, wandte sich ihr strahlenden Blickes zu und ergriff ihre Hände.

»Ehrenwort, du Dummchen. Vorausgesetzt, daß deine Liebe –«

»Selbstverständlich! Ich weiß schon, was du sagen willst. Ich bin ein Philister, Maxe, und kein Schürzenjäger. ... Aber ich muß nochmals auf das Damals zurückkommen, auf den Nachmittag in Pittelkos Kammer.«

»Tu es nicht, Dionys. Vertönte Musik, du weißt ja. Stimmungssache. ... Ein Kuß in Ehren – ein Kuß in Freundschaft ...« Sie sah ihn an; nun schaute sie nicht mehr fort. Auf ihrem Gesicht lag der Liebesglanz seiner Augen. ... »Du sollst noch einen dritten Kuß haben, Dionys. Komm her – es gilt deinem Glücke.«

Sie legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn. Da hielt er wieder ihre Hände fest und drückte sie stark.

»Maxe – liebe kleine Freundin,« stammelte er und rang nach vernünftigem Ausdruck, »ich bin so ... ich kann dir gar nicht sagen, wie selig ich bin. ... Bis jetzt, bis heute, bis zu dieser Stunde schwammen Wolken über meiner Seligkeit – wie der Schwan über der Isola bella – aber das kleine Kamel – nun ist es eine weiße Raupe geworden ... aber jetzt ist es ganz wolkenlos in mir – ganz. ... Ich bin gräßlich verliebt!«

»In wen?«

»Ja natürlich – diese Frage muß endlich beantwortet werden. In eine gewisse Frieda – Frieda Duplessis –«

»Woher kenn' ich den Namen?«

»Denke an das Mädchen mit dem gebrochenen Fuß –«

»Ach ja! ...« Maxe schlug sich an die Stirn ... Der Radunfall – bei unserm Gartenfest hast du das zwanzigmal erzählt. ... Frieda klingt hübsch – Duplessis auch. Französischer Ursprung?«

»Emigrantenfamilie – ja. Vater Lehrer wie ich. Also arm. Aber das schadet nichts.«

Maxe sah in die Sonne und blieb für ein kleines Weilchen stumm. Dionys betrachtete den Ausdruck ihres Gesichts und nahm dann nochmals ihre Hand, um sie an seine Lippen zu ziehen.

»Bist du mir bös?« fragte er.

Sie schüttelte fast heftig den Kopf. »Ich bitte dich – red nicht so unsinnig! Böse – wie käme ich dazu?! Ich freue mich – ich freue mich ...« Sie sprang empor und geriet in eine erregte Lustigkeit, packte Dionys an den Händen und zog ihn in die Höhe. ... »Komm her,« rief sie, »ich will dich wie einen Bräutigam schmücken!« Sie brach eine Azalie und steckte sie ihm in das Knopfloch. Dann riß sie eine Windenranke ab, die um den Zedernstamm kletterte, eine Winde mit schneeweißen Trichterblüten, die am Rande türkisblau umsäumt waren, und schlang sie ihm um den Kopf. ... »So,« sagte sie, »nun bist du schön und bräutlich. So sollte deine Frieda dich sehen. Sag, ist sie schwarz, wie ich?«

»Nein, sie ist blond. Sie hat eine Mähne wie reifer Weizen, und ihre Haarwurzeln flimmern wie Silber.«

»Da hat dein Geschmack sich verändert. Früher zog dich das Dunkle an.«

»Ist das wahr? – Ja, es ist möglich. Aber auch das Blonde hat seine Reize. Ich finde sie sehr schön, Maxe. Sie ist tannenschlank und sieht zart aus. Aber Muskeln hat sie, das ist fabelhaft.« Es strömt eine so reine Gesundheit von ihr aus. Sie wird dir gefallen.«

»Sie gefällt mir jetzt schon. Hast du kein Bild von ihr?«

»Nein ... Maxe, wir sind ja noch nicht soweit. Ich habe sie ein paarmal besucht. Sie mußte immer auf dem Sofa liegen – wegen des bandagierten Fußes. Da hab ich ihr vorgelesen. Wir waren gewöhnlich allein, wir zwei: in ihrem kleinen Zimmerchen ... Gartenhaus, ohne Großstadtgeräusche – schräge Sonnenstrahlen – und eine so feine Stimmung –«

»Ja, ja,« rief Maxe, »ich verstehe! Die Stimmung. Die Stimmung kam.«

Er nickte still.

»Und da habt Ihr Euch gefunden?«

»Das wohl. Aber nicht erklärt. Sie hat einmal meine Hand genommen und an ihre Wange gelegt. Das war alles. Aber mir hat es genügt.«

Maxe schlang noch eine zweite Winde um seinen Kopf, eine mit dunkelblauen Blüten und schwarzem Auge, und fragte dann:

»Hast du sie noch nie geküßt?«

»Nein. Das wagte ich nicht.«

»So,« sagte sie, und ein Zucken sprang um ihre Mundwinkel, »und bei mir – damals – bei mir hast du es gewagt.«

»Das war's ja eben, Maxe. Weil ich es bei dir gewagt hatte. ... Der Kuß – dieser erste Kuß, denn den zweiten gabst du mir, ebenso wie den dritten – der hatte etwas Verbindendes. Er schlang geheime Fäden um unsere Herzen. So empfand ich es – und da mußte ich erst wissen, ob du gradeso fühltest. ... Verstehst du nun, weshalb ich hierher gekommen bin?«

»O ja. Du bist ein ernsthafter Philologe. Du bist ein gründlicher Mensch. Du mußt immer deine Ordnung haben. Aber du hast sie, Dionys. Es ist alles in Ordnung. Der Kuß damals – nein, er schlang keine heimlichen Fäden. ... Liebe dein Mädchen. Liebe deine zarte starke Frieda. Liebe sie, Dionys! Und dann – will ich sie auch lieb haben ...«

Plötzlich lief sie davon. Sie lief mit flinken Füßen quer über den Rasenplatz der Villa zu. Noch einmal blieb sie stehen und winkte ihm mit beiden Händen, während ihr Gesicht lachte. Aber das Lachen war Zwang. Sie lief davon, weil sie wußte, daß sie sonst ins Schluchzen gekommen wäre. Doch wenn man sie gefragt hätte, warum ihr so zum Weinen zumute sei: sie hätte wirklich keine Antwort geben können. Sie gönnte Dionys sein großes Glück – aber es war eine erbärmliche Gönnerschaft. Sie flüchtete nicht nur vor ihm: sie floh auch vor sich selbst.

Am andern Tage hatte Maxe den Wirrwarr des Gemüts überwunden. Sie war wieder ruhig und verständig und gab Krempel sogar allerhand gute Ratschläge. Der nämlich wollte in seinem großen Glücksüberfluß schleunigst wieder nach Berlin zurückfahren, um seinen Liebeshandel in Eile zu Ende zu führen. Dagegen aber sprach Maxe wie eine erfahrene Tante, die im Geduldpredigen geübt ist, sich mit Entschiedenheit aus. Zunächst einmal sollte Dionys seinen Urlaub gehörig ausnützen. Nun war er doch schon hier unten, und die arme kleine Frieda mit ihrem gebrochenen Fuß lief ihm wahrhaftig nicht davon. Natürlich nicht: das sah Krempel ohne weiteres ein. Aber er wollte wenigstens eine Entscheidung haben; er wollte wissen, ob er der Familie Duplessis als Schwiegersohn auch wirklich willkommen sei: kurzum, er wollte schriftlich um seine Frieda anhalten. Dagegen hatte Maxe nichts; da sprach wieder die Ordnungsliebe Krempels mit, der seine Angelegenheiten ins reine zu bringen wünschte. Sie half ihm sogar bei seinem Briefe an Doktor Duplessis, der sich unter ihrer geistigen Oberleitung zu einem so vollendeten Schriftstück entwickelte, daß man ihn jedem Briefsteller für Liebende hätte einfügen können.

Und schon nach vier Tagen traf die Antwort ein. Doktor Duplessis schrieb, daß er für seinen Teil, doch ebenso seine liebe Frau, die Werbung seines verehrten Kollegen um die Hand seiner Tochter als eine Ehre betrachte. Er habe auch bereits mit Frieda gesprochen und könne Herrn Doktor Krempel ihr Jawort übermitteln. Sie freue sich von Herzen auf seine Wiederkehr, habe aber den dringenden Wunsch, daß er sich nicht in seinen Urlaubsdispositionen stören lassen solle, und fast mit den gleichen Worten, wie Maxe sie gesprochen hatte, bat er, der Kollege möge die kurze Ferienzeit nur tüchtig ausnützen. Nach seiner Rückkunft wollte man gleich die Verlobungsanzeigen drucken lassen.

Dann kamen noch einige Aufklärungen über die Mitgift. Es lägen zehntausend Mark Ausstattungsgeld bereit; außerdem erhielte Frieda zwanzigtausend Mark in bar, und dieser Summe wollte die Großmutter aus Eigenem noch achttausend Mark hinzufügen. Doktor Duplessis gab die Summen in Ziffern wieder, setzte aber jedesmal ein »geschrieben« in Klammern dahinter, zum Beispiel: »20 000 M. (geschrieben zwanzigtausend Mark) in bar«. Dadurch erhöhte sich anscheinend das Volumen und sah respektgebietend aus.

Jedenfalls freute Krempel sich unbändig darüber. Einen solchen Reichtum hatte er niemals erhofft.

»Es kommt mir überraschend,« sagte er zu Maxe. »Ich hätte sie für viel ärmer gehalten. Namentlich von der Großmutter habe ich ein solches Maß von Güte nicht erwartet. Sie sieht nicht danach aus. Maxe, jetzt heißt es, nicht übermütig werden. Wenn ich die Zinsen dieser Mitgift zu meinem Gehalt schlage und zu den Erträgnissen meines eigenen, freilich nicht nennenswerten Vermögens, dann bildet sich eine goldene Basis, die zur Protzenhaftigkeit verleiten könnte. Aber ich kann dir versichern, daß wir bescheiden bleiben werden. Wir werden dich auch künftighin nicht von oben herab behandeln, sondern dir immer gewogen sein, und um dir zu zeigen, daß wir nicht auf unsern Reichtum pochen, soll es, wenn du uns einmal zum Abendessen, besuchst, Heringssalat geben und feine Trüffelpastete.«

Natürlich mußte das frohe Ereignis auch seine Feier haben. Herr von Göchhusen nebst Fräulein Tochter luden zu einem kleinen Festmahl: außer Krempel und Emmingen noch ein anderes Paar, das seit einigen Tagen in Pallanza weilte, nämlich Tilde Vanhooven mit ihrer Mutter, der Geheimrätin. Eines Tages war Herr von Emmingen mit den beiden Damen, die gleich ihm im Grand Hotel abgestiegen waren, in der Villa Esperanza erschienen, und dieser Besuch hatte bei Maxe natürlich große Freude erregt. Die Damen wollten an die Riviera, aber Tilde hatte es durchgesetzt, daß man in Pallanza kurze Station machte, um Maxe zu besuchen. Sie war auch neugierig, den Vater ihrer Freundin kennenzulernen, und da man zudem Herrn von Emmingen im Hotel vorgefunden hatte, so wurde der Halt am Maggiore etwas verlängert, und Tilde begann ihrer Gewohnheit gemäß mit dem jungen Diplomaten sofort heftig zu flirten. Sie liebte sonst eigentlich nur die Uniformen, aber wenn keine da waren, schloß sie auch das Zivil in ihr Herz.

Das Verlobungsfestmahl nahm einen heiteren Verlauf. Tilde riß die schwarzen Augen auf, als sie die mit Blumen, Kristall und Silber geschmückte Tafel und den Schwarm der galonierten Diener sah. Maxe war ein Goldvögelchen, und da war es denn begreiflich, daß Herr von Emmingen sich ihr so beharrlich an die Fersen heftete. Um so geschmeichelter fühlte sich aber auch Tilde, daß Emmingen sie selbst keineswegs links liegen ließ, sondern mit großer Aufmerksamkeit behandelte. Sie hatte schon in Berlin, bei dem Gartenfest in der Regentenstraße, das Empfinden gehabt, daß sie ihm gut gefiele, und nun ließ sie den ganzen Apparat ihrer niedlichen kleinen Künste spielen, um die Ansätze zu verstärken und sich in der ganzen Glorie ihrer Gefallbarkeit zu zeigen. Sie war ein koketter kleiner Racker: sehr hübsch, oberflächlich, aber mit flinken Gedanken, und jeder Triumph über das Ewigmännliche bedeutete ihr eine Lebenssteigerung.

Emmingen würde sich wahrscheinlich weniger interessiert mit ihr beschäftigt haben, wenn er nicht eine Beobachtung gemacht hätte, die eine neue bewegende Kraft in ihm auslöste. Ihm fiel auf, daß Maxe plötzlich erheblich kühler zu ihm wurde, daß ihr freundschaftliches Vertrauen nachließ und ihr Wesen eine eigenwillige Herbigkeit annahm. Das machte ihn stutzig. Er sagte sich ohne weiteres, daß der Grund zu dieser Veränderung nur in seiner Vernachlässigung ihrer Person zu suchen sei. Er hatte sie in letzter Zeit wirklich ein wenig vernachlässigt: Tilde Vanhooven besaß eine große Geschicklichkeit, ihn für sich in Anspruch zu nehmen. – sie umfing ihn völlig mit dem Duftschleier ihrer süßen Liebenswürdigkeiten und wickelte ihn gründlich ein.

Also das war klar: Maxe fühlte sich zurückgesetzt.

Es kam ein Tag, da Emmingen dies auch von anderer Seite bestätigt wurde. Er hatte sich mit dem dionysischen Krempel angefreundet. Die Atmosphäre zwischen ihnen war von allen Spannungsreizen gereinigt worden: nun fanden sie sich und verstanden sich gut. Eines Nachmittags hatten sie sich in der Badeanstalt Caprera getroffen und machten dann zu zweit noch einen kleinen Spaziergang bis an den Fuß des Monte Rosso. Da sagte Krempel plötzlich ohne Einlenkung und Übergang:

»Herr von Emmingen, was haben Sie eigentlich gegen Maxe?«

Emmingen schaute den Fragenden von der Seite an, ruckte und zuckte ein wenig mit den Schultern und erwiderte: »Gar nichts. Warum? Was soll ich gegen sie haben?«

»Das möchte ich eben hören. Sie sind zu ihr nicht mehr wie früher.«

»Hat sie sich bei Ihnen darüber beklagt?«

»Nicht direkt. Aber ich spüre ihre Verstimmung.«

»Und Sie meinen, ich sei schuld daran?«

»Es kommt mir so vor. ... Ich habe doch auch Augen im Kopfe, nicht wahr? Ich habe gesehen, daß Sie Maxe die Cour gemacht haben. Habe schon in Berlin Ihr Interesse für sie gemerkt. Sie waren immer hinter ihr her. Jawohl, Herr von Emmingen. Und auf einmal erscheint Tilde Vanhooven auf der Bildfläche, und da lassen Sie Maxe fallen. So ist es.«

Emmingen lächelte nicht. Jetzt kam Ernst in die Situation.

»Eine Frage,« sagte er. »Wissen Sie, daß mir Maxe schon einmal einen Korb verabfolgt hat?«

»Nein,« entgegnete Krempel in aufrichtigem Erstaunen, »das höre ich jetzt erst von Ihnen.«

»Nun gut. Von dieser Zeit ab wurde sie zu mir freundschaftlich. Eine zweite Frage: Glauben Sie an die Freundschaft eines jungen Mädchens zu einem jungen Mann?«

»Zweifellos. Ist Maxe nicht auch mit mir befreundet?«

»Es scheint so. Aber wissen Sie ganz genau, daß in diese Freundschaft niemals ein sinnliches Moment hineingespielt hat?«

Dionys antwortete nicht. Er dachte an die dämmerungsumflorte Nachmittagsstunde in Pittelkos Bodenkammer. Da hatten sich Schwingen der Liebe geregt, und die ganze Luft war erfüllt gewesen von süßem Verlangen.

»Ich warte auf Ihre Antwort,« sagte Emmingen.

»Ich kann sie nicht geben. Wenigstens keine präzise. Aber ich kann Sie das Eine versichern, daß heute unsere Freundschaft von klarster Harmonie ist. Beweis dafür, daß solche Freundschaft zu den Möglichkeiten gehört.«

»Aber auch Beweis dafür, daß sie in den meisten Fällen erst auf Umwegen einzutreten pflegt. Das sagt mir auch Ihre Betonung des Wortes ›heute‹. Ich möchte glauben, daß Freundschaft immer Produkt des bewußten Geistes ist. Sie liegt dem Manne nahe, aber weniger dem Weibe, das alle schöne Größe aus dem Quell des Unbewußten schöpft.«

»Spekulative Philosophie, Herr von Emmingen. Aber sei's so. Und die Folgerung?«

»Ja, lieber Doktor, die Folgerung ist lediglich ein beglückendes Hoffen. ... Glauben Sie wirklich, daß ich Maxe der kleinen Tilde halber vernachlässige?«

»Maxe glaubt es, davon bin ich überzeugt.«

»Das ist von Wichtigkeit. Sie fühlt sich verletzt. Regt sich dabei schon etwas von Eifersucht?«

»Vielleicht nur ein Gefühl des Ärgers über die Zurücksetzung.«

»Könnte möglich sein. Aber schon dann wäre ich Maxe nicht gleichgültig.«

»Was Sie ihr auch sicher nicht sind. Sie will Sie als Freund behalten.«

»Aber ich will keine Freundschaft!« rief Emmingen heftig. Sein Stock köpfte eine Distel am Wege. Er schwieg ein kurzes Weilchen und fuhr dann in weicherem Tone fort: »Das ist absurd. Eine Liebe kann nicht durch Freundschaft erwidert werden. Ich gehe noch weiter. Ein Mädchen kann für einen Mann, von dem sie weiß, daß er sie liebt, unmöglich Freundschaftsgefühle hegen. Alles andere: Mitleid, Verachtung, offene Feindseligkeit, aber nicht Freundschaft. Der Instinkt ist dagegen. Er wird sich immer gegen das Begehren des andern richten, das sie selbst nicht zu erwidern vermag. Daraus kann sich eine Scheu in allen Abstufungen entwickeln, doch niemals Freundschaft: wenigstens solange nicht, als sie die Liebe des Mannes fühlt

Er focht wieder mit seinem Stock durch die Luft.

»Ich mache kein Geheimnis daraus, daß ich Maxe liebe,« sagte er; »auch Sie haben es gemerkt – und Maxe selber weiß es. Weiß sehr gut, daß ich heute noch ebenso fühle wie an dem Tage meiner Erklärung. Unter der Maske der Freundschaft spürt sie die tiefere Gewalt – und sie ist nicht so verderbt, sie nur als pikante Sensation zu spüren. Sie ist gesund an Seele und Nerven. Und weil sie das ist, würde sie auch nicht den unbewußten Einfluß meiner Liebe dulden, sondern mir längst gezeigt haben, daß sie den Verkehr mit mir beschränken möchte. Das kann man tun, ohne unhöflich zu sein. Aber sie tat das Gegenteil. Sie freute sich, wenn ich mit ihr zusammen sein konnte: ich war ihr immer herzlich willkommen. Und nun sagen Sie mir auch noch ganz offen, daß sie sich verletzt fühlt, weil ich sie anscheinend um Fräulein Vanhoovens willen vernachlässigt habe.«

»So sagte ich. Maxe tut mir leid. Denn, Herr von Emmingen, heute liegt alles anders als vor einem Vierteljahr. Ich will einmal auf Ihre Deduktionen eingehen. Unsre Kinderfreundschaft verdichtete sich zu einem unklaren Liebesempfinden; die Illusion der Gefühle erschien uns aber als lautere Wahrheit. Mir wenigstens – ich will nur von mir reden. Da traten Sie auf den Plan, und ich sah in Ihnen sofort den Nebenbuhler. Ein Nebenbuhler ist immer fatal. Sie werden es mir deshalb auch nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie mir damals außerordentlich ekelhaft waren.«

Emmingen blieb einen Augenblick stehen und verbeugte sich.

»Dankend zurückgegeben. Sie erschienen mir um diese Zeit gleichfalls in ungewöhnlich widerwärtigem Lichte.«

»Nun also,« entgegnete Krempel lachend, »darüber sind wir uns klar. Ich habe aber noch etwas hinzuzufügen. Ihr Dazwischentreten veranlaßte mich zu einer gesunden Revision meiner Gefühle. Und da verflog denn sehr rasch alles Illusionistische, und es blieb nur die ehrliche Freundschaft. Was ich Ihnen zu verdanken habe, Herr von Emmingen.«

Er verneigte sich abermals. »Sie nötigen mich zu einer angenehmen Entgegnung,« sagte er. »Ich bin schon seit anderthalb Jahren um Maxe herumgeschwirrt: ein armer Schmetterling, der sich nicht an die Blüte wagte. Warum nicht? Weil ich immer unsicher war; weil eine Zweierleiheit in mir regierte. Erst Ihr Dazwischentreten veranlaßte mich zu einer gesunden Revision meiner Gefühle. Da wurde das ewige Schwanken denn zu positiver Festigkeit. Was ich Ihnen zu verdanken habe, Herr Doktor Dionysos.«

Krempel gab ihm die Hand. »Da können wir uns also endgültig vertragen, Herr von Emmingen. Und for ever

»Sayons amis, Cinna,« erwiderte Emmingen herzlich.

Am Himmel drohten Gewitterwolken, und da machten sie denn kehrt, um dem Regen zu entgehen.

»Nachdem wir so,« nahm Krempel wieder das Wort, »unsrer gegenseitigen Verehrung Ausdruck gegeben haben, werden Sie auch verstehen, weshalb ich die Mißstimmung Maxes wieder in frohe Laune verwandeln möchte.«

»Wenn ich das verstehen soll, müssen Sie mir zuvörderst zugeben, daß Maxe in der Tat eifersüchtig auf Tilde Vanhooven ist.«

»Es mag sein. Lag Grund für Sie vor, sie eifersüchtig zu machen?«

»Grund? Anfänglich nein. Ich hatte gar nicht die Absicht, Fräulein Tilde gegen sie auszuspielen. Erst als ich zu merken begann, daß Maxe den Flirt augenscheinlich unliebsam beurteilte, kam Methode in das Spiel. Ja – Methode. ... Lieber Freund, glauben Sie mir, daß mir das Herz weh tut bei dem Gedanken, Maxe kränken zu müssen. Aber es muß zur Entscheidung kommen. Diese Komödie der Freundschaft ist ungesund.«

»Wenn ich helfen könnte! Vielleicht kann ich es.«

»Nein. Es muß aus dem Eigenen kommen. Ich will nicht nur Töne hören, sondern einen vollen Akkord. Deshalb habe ich mir vorgenommen, die Damen Vanhooven an die Riviera zu begleiten.«

»A–ah!« rief Krempel erstaunt. »Sie wollen abreisen?«

»Ja. ... Aber – versteht sich – es wird einen Zeitpunkt der Rückkehr geben, des Wiederzusammentreffens mit Maxe. Und das wird die Probe auf das Exempel sein.«

Nun verstand Dionys. Doch er hatte seine Bedenken.

»Werden Sie nicht in Tilde unnötige Hoffnungen erwecken?« fragte er.

»Gott bewahre. Sie ist das Flirten gewöhnt. Es dringt bei ihr kaum zum Hirnbewußtsein, geschweige denn ins Herz.«

»Das ist allerdings auch meine Meinung. Einen weiß ich, der sich über Ihre Abreise freuen wird.«

»Und das wäre?«

»Herr von Göchhusen.« Emmingen nickte. »Ich werde nicht warm mit ihm, soviel Mühe ich mir auch gebe. Er wittert Gefahr. Und tut recht daran. Aber mag er sich freuen. Wenn ich Maxes sicher bin, erobern wir ihn gemeinschaftlich. ... Lieber Doktor, ich sprach vorhin von einem beglückenden Hoffen. Das trage ich in mir – schon heute. Es wird mir schwer, abzureisen – ach, verdammt schwer! Aber ohne Abreise kein Wiederkommen, und ohne das Wiederkommen keine Gewißheit. Dann werde ich sie in ihren Augen lesen. In ihren Augen, Doktor Dionys!...«

Nun brach das Gewitter los, und die beiden Herren fielen in Laufschritt. – –

Ein paar Tage später machten Tilde Vanhooven, ihre Mutter und Herr von Emmingen ihren Abschiedsbesuch in der Villa Esperanza. Schon gelegentlich hatte Emmingen davon gesprochen, daß er den Rest seines Urlaubs an der Riviera zu verbringen wünschte, aber es überraschte Maxe trotzdem, daß er gemeinsam mit den Vanhoovens abreisen wollte. Sie war einen Augenblick ganz fassungslos und hatte das bestimmte Gefühl, daß sie blaß geworden sei. Doch das Beherrschungsvermögen war stark genug in ihr, sich über den Zustand des Moments hinauszufinden und mit gefälligem Lächeln zu erklären, wie schade es sei, daß man sich nun trennen müsse. Die Geheimrätin erzählte, daß man zuerst auf einige Tage nach Genua und dann nach Bordighera wolle, und Tilde zwitscherte in dem Hochgefühl ihres neuen Triumphes dazwischen, es sei doch gar zu reizend, daß Herr von Emmingen sich zu der gleichen Tour entschlossen habe. Sie warf dabei Maxe einen herausfordernden Brunhildenblick zu, den diese wohl verstand und der in ihrem Auge einen Funken der Gegenwehr entzündete. Dann aber sagte sie sofort: »Gewiß ist das reizend. Hoffentlich findet Ihr gutes Wetter an der See ...«

Die Wetterphrase brach allem Drohenden die Spitze ab. Doch auch für Emmingen kam ein Augenblick, der von ihm Festigkeit forderte. Bei der letzten Verabschiedung reichte ihm Maxe die Hand, und da war ihm, als fühle er einen Druck leiser Zärtlichkeit, der wie ein Versuch scheuen Sichaneignens war.

»Auf Wiedersehn, gnädiges Fräulein,« sagte er.

»Wo?« fragte sie.

»In Berlin – nicht wahr?«

»Wann werde ich wieder in Berlin sein? Sehe ich Sie nicht vorher? – Wir gehen demnächst nach Venedig.«

Nun traf sein Blick in ihrem Auge auf eine Bitte. Und vielleicht wäre er schwach geworden, wenn der bittende Ausdruck nicht auch eine Bejahung gefordert hätte – wie eine Selbstverständlichkeit. Sie lag in der unmerklichen Senkung der Lider und einer leichten Bewegung des Kopfes.

Er zog die Schultern hoch. »Gnädiges Fräulein,« entgegnete er, »ich muß mit meinen Tagen rechnen. Mein Urlaub geht zu Ende, und ich fürchte, ich werde ihn nicht verlängern können. Ich möchte aber auch gern noch auf einen Sprung nach Monte Carlo. Da will ich mich mit Brökelmann treffen...«

Ihre Augen verkleinerten sich. Ein zuckendes Lächeln bog ihren Mund und formte sich zu einer Linie des Hochmuts.

»Amüsieren Sie sich gut,« antwortete sie. Das war alles.

Der Besuch war fort. Herr von Göchhusen rieb sich die Hände.

»Maxe,« sagte er, »da findet sich etwas. Una combinazione nennt es der Italiener. Das ist hier nicht anders. Es gehen zärtliche Schwingungen durch die Luft, als sei sie mit Reflexen vielhundertjähriger Hochzeitsreisen geladen. Und selbst der Wind weht wie verhaltene Leidenschaft über die Flur.«

Maxe stand an den Blumen und knipste eine verwelkende Blüte ab. »Ich verstehe dich nicht, Papa,« erwiderte sie, ohne sich umzuwenden.

Er lachte. »Emmingen und deine Freundin Tilde – merkst du nichts? Tildes Augen reden eine ganze Ars amandi. Das versteht sie. Und er ist wie verwandelt, seit sie hier ist – wie verändert. Magie der Anziehung. Aber sie passen ganz gut zusammen – nicht?«

»Sehr gut.«

Göchhusen schritt noch immer auf und ab. »Na – nun sind wir ja mal wieder unter uns,« fuhr er fort. »Weißt du – Emmingen ist zweifellos ein netter Mensch – ich habe gar nichts gegen ihn – aber war doch immer ein fremdes Element im Kreise. Und dann wurde ich bei ihm nie den Verdacht los, daß er es auf dich abgesehen haben könnte. Er guckte dich manchmal so merkwürdig an.«

»Jetzt aber bist du über diese Sorge hinaus?«

»Jawohl. Gott sei Dank. Ich hätte dich ihm auch nicht gegeben. Kein Gedanke. Hartwig will mit Elfriede ins Ausland. Und Emmingen kann über kurz oder lang nach Guatemala oder Honduras kommen oder in ähnliche schöne Gegenden, wo man unsre jungen Diplomaten die Sporen verdienen läßt. Dann hätte ich dich auch verloren.«

»Die Gefahr ist ja nun beseitigt, Papa. Sie lag auch nie vor.«

Ihre Stimme klang müde. Und als sie sich bald daraus in ihr Zimmer zurückzog, fühlte sie, daß diese Müdigkeit zugenommen hatte. Um ihre Stirn lag ein bleierner Druck, dazu kam eine lastende Schwere in allen Gliedern.

Am Abend ließ Herr von Göchhusen den Arzt kommen. Er stellte ein leichtes Fieber fest, das er auf Erkältung zurückführte, und empfahl nichts als Bettruhe.

Nun blieb Maxe zwei Tage im Bett und hatte Zeit, nachzudenken. Sie tat es auch redlich und versuchte sich aus dem trüben Gemenge grauer Stimmung zu einem Wahrheitsgehalt durchzuarbeiten. Aber alle Resultate blieben in Anschauungen stecken. Sie kam zu dem Schluß, daß die Männer im allgemeinen nicht viel taugten, und fand zugleich, daß dieses Urteil doch ein wenig einseitig sei. Dionys war treulos gewesen: das stand fest. Aber er hatte gewissermaßen darum gebeten, treulos sein zu dürfen. Sie hatte darüber ein Tränchen vergossen: das war so unwillkürlich gekommen. Doch wenn sie sich in aller Ehrlichkeit die Frage vorlegte, ob der Gedanke einer Verheiratung mit ihm sich aus der Innerlichkeit des Herzens drängte, so mußte sie nein antworten.

Eine so direkte Frage wagte sie gar nicht, wenn sie an Emmingen dachte. Da hätten sich unliebsame Erwägungen wie absperrende Kulissen vor die Beantwortung geschoben. Denn diesem Manne hatte sie bereits einen Korb in aller Form Rechtens erteilt. Warum eigentlich? Weil sie es Krempel zugeschworen hatte. Als sie in der Abwicklung ihrer Gedanken an diesen Punkt gelangte, wurde sie ärgerlich. Jener Schwur war im Grunde genommen eine große Albernheit gewesen. Dionys hatte ihn ihr ja auch zurückgegeben – natürlich: weil er inzwischen eine andere gefunden hatte und nicht mehr eifersüchtig zu sein brauchte. Es schien doch klar zu sein, daß die Männer nicht viel wert sind. Sie huschen hin und her und haben Herzen wie die Magnetnadeln. Das sah man ja auch an Emmingen. »Es ist eine Gemeinheit,« sagte sich Maxe, »daß er mich sitzen läßt, weil ihm die Tilde besser gefällt ...«

Aber während abermals das salzige Wasser in ihre Augen schoß, fand sie doch den Mut der Gerechtigkeit, sich zu korrigieren. Er hatte sie ja gar nicht sitzen lassen. Er war eigentlich im vollen Rechte. Sie hatte ihn abgewiesen. Konnte sie sich noch darüber beklagen, daß er sich Tilde zuwandte? ... Dann kochte fast so etwas wie eine grimmige Wut in ihr auf. Es war geradezu schamlos, wie diese Tilde sich den Männern an den Hals warf. Ihre Koketterie war mänadenhaft. Einen Augenblick stand Maxes Denkprozeß still und blieb an diesem Ausdruck haften. Mänadenhaft war unrichtig – aber es kam nicht darauf an. Sie lachte bitter auf. Das konnte eine gute Ehe werden. Diese ewig ungestüme Tilde und der korrekte Emmingen. Nach vier Wochen fuhren die beiden aufeinander los, und nach acht Wochen kratzten sich die Augen aus. Notabene: sie kratzte, er litt nur. Wahrscheinlich litt er schweigend. Der arme Emmingen! Er lief blindlings in sein Verhängnis ...

Dagegen war nichts mehr zu machen. Es gab auch keinen festen Standort, von dem aus sie ihm hätte helfen können. Herrgott, sie wußte sich ja selbst nicht zu helfen! Sie wollte nach antiker Art eine wundervolle Größe in der Beurteilung aller dieser Menschlichkeiten finden – aber die Größe gelang ihr nicht. Wahrhaftig, sie fühlte sich jämmerlich klein. Sie weinte und schalt sich wegen dieser dummen Heulerei. Sie wollte ihr Dasein in neues Werden versetzen und sich in alles vergessende Arbeit stürzen – aber sie konnte nicht einmal arbeiten. ... Was sie in die Hand nahm, verpfuschte sie. Da hatte man nun der Mutter einen Glücksfaden spinnen wollen. Sogar mehrere Fäden: sie waren ritzratz gerissen. Und die Fäden des eigenen Glücks? Ach du lieber Gott: sie hatte als Klotho nur Stückwerk gesponnen, als Lachesis Nieten aus der Losurne des Lebens gezogen, als Atropos die Sonnenuhr in die Schatten des Zweifels gestellt. Sie war keine Herrscherin über ihr Schicksal.

Sie war ein Schaf. So war das Endresultat ihrer Betrachtungen, daß sie sich selber ein Schaf nannte. Nicht einmal Schäfchen: sie wählte kein Diminutiv. Rundheraus erklärte sie sich für ein vollendetes Schaf. Sie hätte Dionys festhalten können und auch Emmingen, und hatte beide davonziehen lassen. Zu dumm! Aber nun war es geschehen: der eine hatte schon sein neues Glück, der andere jagte ihm nach. Man mußte sich fügen.

Am dritten Tage erklärte sie ihrem Vater, nun sei sie wieder ganz gesund. »Aber etwas fehlt mir doch noch, Papa,« sagte sie, »ich muß mir Arbeit schaffen. Manchmal schreibe ich ein bißchen süßen Unsinn in Versen und manchmal in Prosa. Das ist keine Arbeit. Ich werde mich von nun ab des Hausstands annehmen.«

Göchhusen erschrak. »Maxe, der geht ja auch so ganz gut,« antwortete er. »Nächster Tage wollen wir nach Venedig. Die Schwestern und Hartwig treffen am Fünfzehnten ein. Der Palazzo am Kanal hat einige vierzig Zimmer. Ich muß die meisten meiner Leute mitnehmen. Drüben sind auch noch welche. Das Ganze wird dir über den Kopf wachsen. Laß es doch beim alten.«

»Nein, Papa. Es fehlt die Oberaufsicht. Es herrscht keine Disziplin. Von jetzt ab werde ich mich um alles kümmern. Ich will dir die Hausfrau ersetzen. Dazu bin ich da ...«

Und so geschah es denn auch. Maxe ging energisch zu Werke. Es sauste plötzlich ein Donnerwetter durch das Haus: bis hinab in die unteren Regionen. Da gab es Wesen, die sich dawider empörten: sie flogen an die Luft. Ein neues Leben fing an. Sichtbar begann sich die Ordnung auszudehnen. Was Chaos gewesen war, einte sich allgemach zu einem hübschen Komplex von Kräften. Der Haushalt wurde zu einem wohlgefügten Kunstwerk. Maxe stand früh auf und war überall zu sehen. Wo ihre helle Stimme zu hören war, wurden die Bewegungen flinker. Sogar die alte Pacchita verlor ihre mexikanische Faulheit. Die »Baronessa« war von gefürchteter Strenge. Sie schien hundert Augen zu haben; ihr Blick tauchte in alle Tiefen. Sie sah jedes Staubatom und jedes Spinnengewebe; sah erblindetes Silber und welkende Blumen; sah den Leuten sogar auf die Finger und litt nicht, daß etwas an ihnen hängen blieb. Darüber freute sich namentlich Herr Holm, der Sekretär. Er hielt das Rechnungswesen in Ordnung, konnte aber der Verschwendung nicht steuern. Jetzt wurden ihr ökonomische Grenzen gezogen.

Diese kräftige Inanspruchnahme ihrer selbst tat Maxe wohl. Sie kam nicht mehr zu grüblerischem Sinnieren. Das wollte sie auch nicht. Krempel wunderte sich: diese kleine Maxe war doch ein tapferes Kerlchen. Sie beschämte ihn. Er steckte viel mehr im Gefühlsmäßigen. Seit er Tag für Tag mit seiner Frieda glühende Briefe wechselte, wuchs seine Sehnsucht nach Berlin. Er lag Maxe in den Ohren: sollte er nicht doch einfach zurückreisen und den Rest des Urlaubs schießen lassen? – Sie lachte ihn aus und fand sogar Worte fröhlichen Spotts. Da raffte er sich zusammen und erklärte Maxe, sie sei ihm leuchtendes Vorbild. Hierauf arbeitete er in fiebernder Eile seine letzte Route aus, denn er hatte sich in Pallanza schon arg verzögert: Mailand, Verona, Mantua, Padua, Venedig. Dort wollte er Maxe Addio sagen und dann nach Berlin rasen und in die Ansbacher Straße, in jenes Gartenhaus, in dem sein Glück wohnte. Wenn er von der Ansbacher Straße sprach, begann er zu jodeln, als liege sie zwischen Bergen und Gletschern. Über er jodelte nur, weil aus den Tiefen des Gemüts die Freude zum Jubel drängte. Zuweilen sang er auch Arien, die jeder Melodie entbehrten, und auf einsamen Spaziergängen überraschte er sich selbst bei gänzlich unvermittelten Luftsprüngen und einem gelegentlichen känguruhartigen Hüpfen. Da war ihm die Freude in die Beine geschossen und klopfte an die Gelenke.


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