Fedor von Zobeltitz
Drei Mädchen am Spinnrad
Fedor von Zobeltitz

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Der Kommerzienrat war der erste, der sich zu empfehlen wünschte, doch bat Frau von Göchhusen, noch einige Minuten verweilen zu wollen. »Elfriede ist in der Malstunde,« sagte sie, »aber Beate und Maxe ... entschuldigen Sie mich für einen Augenblick – ich begreife nicht, wo die Mädchen stecken ...«

Sie erhob sich, um die beiden zu rufen, und kaum hatte sie den Salon verlassen, so fuhr Emmingen ärgerlich in die Höhe und rief mit gedämpfter Stimme:

»Brökelmann, da hört doch alles auf! Warum haben Sie denn unsre Beredung nicht eingehalten?! Dreimal ergab sich eine glänzende Gelegenheit, Ihrer stürmischen Neigung zum Ausdruck zu verhelfen, und ich würde dann sofort eingehakt und das Meinige getan haben, um Ihnen den Sieg zu erleichtern. Stattdessen haben Sie immer wieder abgeschwenkt und von Ihrer Milchwirtschaft gesprochen und dem langen Warmuth und von wem und was nicht noch alles! Sitzen Sie immer noch in Ängsten und Bangen? Da hätten Sie mich eben nicht mitnehmen sollen. Bedenken Sie doch gefälligst, Kommerzienrat –«

»Bitte,« fiel Brökelmann mit erhobener Rechten ein, »lassen Sie mich jetzt auch einmal sprechen. Haben Sie je etwas von der schwankenden Zuständlichkeit des Subjekts gehört, wenn sich im Individuum ganz plötzlich ein Zweifel an sich selbst zu regen beginnt?«

»Nein,« erwiderte Emmingen, »das ist mir auch höchst gleichgültig. Ich stehe auf dem Standpunkt unsrer Abmachungen.«

»Die gingen von irrigen Voraussetzungen aus. Ich befand mich in einer Täuschung – in wachem Zustande, wenn auch in einem Anfluge mystischer Stimmung. Ich glaubte Fräulein Beate zu lieben, aber sie war nur Substitut für die Mutter. Ich stand unter der Eingebung eines Unbewußten, unter hellseherischer Phantasie – begreifen Sie?«

»Wie soll ich denn solchen Unsinn begreifen?« entgegnete Emmingen trocken. »Tatsache ist, daß Sie um Beate anhalten wollten.«

»Richtig. Das war mein fester Vorsatz. Aber in dem Augenblick, da ich hier eintrat, kam das geheimnisvolle Schwanken.«

»Es war nichts Geheimnisvolles dabei: Sie hatten einfach Angst.«

»Nennen Sie es so – auf das Wort kommt es nicht an. Ein Angstgefühl, meinetwegen. Aber es war wie fortgeblasen, als ich die Mutter Beates vor mir sah. Denn das war das Resultat dieser mystischen Umgehung – verstehen Sie, einer eigentümlichen psychologischen Kurve, die mich glauben ließ, die Tochter zu lieben, während mir nach sinnlicher Wahrnehmung sofort klar wurde, daß ich die Mutter meinte.«

Emmingen schüttelte den Kopf. »Ungewöhnlich verzwickt. Wenn ich grob sein wollte, würde ich sagen: ganz verrückt.«

Brökelmann lachte. »Sagen Sie es ruhig. Ein bißchen verrückt ist es wirklich. Deshalb will ich klarer werden. Sogar völlig klar: Frau von Göchhusen gefällt mir besser als Beate. Äußerlich und auch ihrem Wesen nach. Äußerlich, weil sie reifer ist und sich mehr meinen Jahren nähert. Innerlich, weil sie die Geklärtere ist. Also lassen Sie Ihre Nelke im Knopfloch, Emmingen. Ich brauche kein Zeichen mehr. Ich warte nur noch ein etwas näheres Bekanntwerden ab, und dann halte ich um sie an. Ist es nicht das Vernünftigste, lieber Freund? Paßt diese prachtvolle Frau nicht ausgezeichnet zu mir? Nicht ungleich besser als die Tochter?«

Emmingen hatte sich niedergelassen. »Ich will Ihnen nicht böse sein, Kommerzienrat,« erwiderte er, »aber eigentlich ist die Geschichte unglaublich. Sie haben vergessen, daß ich Diplomat bin und daß ich nach diplomatischen Rezepten die Sachlage vorbereitet habe. Eine doppelte Werbung ist nichts Alltägliches. Wie ich sie zu arrangieren gedachte, sollte sie ein sogenannter Schlager werden, um mich im Sinne eines gebildeten Zeitungsmenschen auszudrücken. Aber Ihr Umschwung der Gefühle hat auch mir die Gelegenheit genommen, meinen Antrag vorzubringen.«

»Die Gelegenheit wird wiederkommen.«

»Ja, natürlich, das wird sie. Immerhin ...« Man hörte nahende Schritte im Nebenzimmer, und Emmingen erhob sich wieder, um die eintretenden Mädchen zu begrüßen.

Nun wurde die Unterhaltung von neuem aufgenommen und bewegte sich im alten Geleise. Das Thema Zochin wurde abermals angeschlagen und auch von der Schönheit des Frühlings gesprochen, bis Frau von Göchhusen unvermittelt sagte:

»Maxe reist demnächst nach Oberitalien zu ihrem Vater.«

Das war Emmingen neu. Ein leichtes Zucken ging über sein Gesicht und der Ausdruck ehrlicher Bestürzung.

»Auf längere Zeit, gnädiges Fräulein?«

»Ich weiß noch nicht, Herr von Emmingen. Vielleicht nur für den Sommer – vielleicht bleibe ich auch noch den Winter über fort.«

Emmingen ruckte wieder mit Schultern und Armen: für die Kenner seiner Persönlichkeit ein untrügliches Zeichen, daß er einen unbequemen inneren Widerstand zu überwinden trachtete. Er wollte seine Überraschung nicht merken lassen, aber das Unvermögen, sie hinter einem geschickten Spiel zu verstecken, war doch größer. Und so fragte er in der Ehrlichkeit seines Empfindens denn ganz einfach:

»Sehen wir uns vor Ihrer Abreise noch einmal, gnädiges Fräulein?«

»Jawohl,« warf die Mutter ein. »Wir brauchen nichts zu überhasten. Wir hatten sowieso die Absicht, die Herren demnächst zu uns zu bitten –«

»Mama plant ein Gartenfest,« sagte Beate. »Wir hofften eigentlich auf das Blühen unsres Tulpenbaums, aber er hat es wieder beim Versprechen belassen. Nun werden wir uns mit bunten Ballons behelfen, wie es bei Eröffnung eines Sommergartens in Berlin üblich ist.«

Der Kommerzienrat meinte, es sei immer gut, an den alten Sitten festzuhalten; auf die Natur könne man sich nicht verlassen, aber die Sitte trotze den Einflüssen der Klimate. Und dann fragte Emmingen:

»Und wann dürfte die Festivität stattfinden? Ich stehe nämlich auf dem Sprunge, mir einen kleinen Erholungsurlaub zu erbitten, möchte aber um alles in der Welt nicht die bunten Ballons versäumen.«

»Setzen wir doch gleich einen Zeitpunkt fest,« sagte Frau von Göchhusen. »Also vielleicht in acht Tagen. Am Dreizehnten.«

»Charmant, gnädige Frau. Ich schwärme für die Zahl Dreizehn. Der Kampf gegen den Aberglauben ...«

Man plauderte noch ein paar Minuten, worauf sich die Herren empfahlen. Der Kommerzienrat wand sich geschickt durch den »Irrgarten der Mutter« zur Türe zurück, und zwei Minuten später standen die beiden auf der Straße, wo das Automobil Brökelmanns wartete.

»Nehmen Sie mich mit bis zu Ihrem Hause, lippescher Standesgenoß,« bat Emmingen. »Ich bin total erschöpft. Die Integrität des Gehirns ist futsch, die Seele so weich wie Ihre beste Sahne. Daß Maxe zu ihrem Vater reist, hat mir den letzten Stoß versetzt.«

Die Herren waren eingestiegen. »Sie haben noch acht Tage vor sich,« entgegnete Brökelmann. »Acht Tage sind ein Ewigkeit für einen Diplomaten Ihres Schlages. Warum wollen auch Sie plötzlich verreisen?«

»Der Einfall eines Moments. Ich reise ihr nach, wenn es nicht anders geht. Ich werde versuchen, den Vater für mich zu gewinnen. Ich werde wie ein alter Kimbrer auf die Eroberung ziehen – oder wie ein Troubadour der Provence, was sicher feiner ist, obwohl ich nicht singen kann. Und ich werde zum Ziele kommen.«

»Bravo, Emmingen! Das ist eine Energie, der ich Beifall zolle. Ich mache es ebenso. Alles Schwanken ist überwunden. Jetzt weiß ich, was ich will – Haben Sie sich nie mit Okkultismus beschäftigt?«

»Das fehlte mir auch noch!«

»Ich meine in wissenschaftlichem Sinne, nicht in spiritistischem. Es gibt da ein Kapitel von der Assoziation psychischer Zustände mit den Vorstellungen –«

»Kommerzienrat, ich habe nichts dagegen, daß es so etwas gibt, aber es ist mir absolut gleichgültig. Kommen Sie mir bitte nicht wieder mit Überweltlichem – ich glaube nicht dran. Ich glaube einfach, daß die gesunde Vernunft Sie von der Tochter zur Mutter gezogen hat.«

»Ist mir auch recht. Ich akzeptiere jede Deutung. Aber merkwürdig bleibt's doch. Als ich Frau von Göchhusen sah, kam es wie eine Erleuchtung über mich. Nein, nein – ich fange nicht wieder mit mystischen Theorien an,« warf er begütigend ein. »Ich spreche vom Tatsächlichen. Eine wundervolle Frau. Sie wird auch nichts gegen meinen Jungen einzuwenden haben. Sie hat ja selbst drei Kinder. ... Emmingen, wenn Frau von Göchhusen erst Frau Brökelmann ist –«

»Bitte sehr: Frau Baronin von Brökelmann –«

»Also meinethalben – um meiner Liebe willen laste ich mir auch die lippesche Krone auf. ... Dann, wollte ich sagen, sollen Sie einmal sehen, was Sie für einen prächtigen Schwiegerpapa an mir haben.«

Der Wagen hielt vor dem Brökelmannschen Hause in der Bendlerstraße, und die Herren stiegen aus.

»Lieber wäre mir,« antwortete Emmingen, dem Kommerzienrat die Hand reichend, »Sie nähmen sich schon vorher meiner an, falls Sie Glück haben sollten.«

»Tu ich, lieber Freund. Wenn uns die Maxe nur nicht entwischen wollte!«

»Das ist es. Das ist das Hemmnis. ... Ich geh jetzt auf mein Bureau und werde den Nervenkranken agieren, den Erholungsbedürftigen. Ich werde für alle Fälle mein Urlaubsgesuch vorbereiten. Man kann nie wissen, wozu es gut ist.«

Er nahm seinen Hut mit der gewohnten drehenden Bewegung ab und schritt gesenkten Hauptes, wie in tiefem Nachdenken, die Straße hinab.

Es wurde nun in den nächsten Tagen im Göchhusenschen Hause viel von dem bevorstehenden Gartenfest gesprochen. Zunächst handelte es sich um die Einladungen. Daß die neuen Bekannten: Hartwig, Brökelmann und der Superintendent, berücksichtigt werden mußten, war klar, ebenso Emmingen, den man ja wie den Kommerzienrat bereits mündlich aufgefordert hatte.

»Und Krempel?« fragte Maxe, die den Auftrag erhalten hatte, die Einladungen auszuschreiben. »Muß er denn immer dabei sein?« gab die Mutter zurück. »Er hat erst am Sonntag vor acht Tagen bei uns gegessen.«

»Das war aus Anlaß eines Gelegenheitsbesuchs, Mama. So etwas rechnet man nicht.«

»Rechnen brauchen wir bei Krempel überhaupt nicht,« warf Beate ein. »Er wird's nicht übelnehmen, wenn wir ihn diesmal auslassen. Wir haben zuviel einzelne, Herren und zuwenig Damen.«

»Bestreite ich,« sagte Maxe. »Wir allein sind drei. Martha Degenbrodt müssen wir auch einmal haben. Ebenso Tilde Vanhooven. Außerdem: dies sogenannte Gartenfest – hoffentlich regnet's nicht – ist doch auch das Abschiedsfest für mich. Am achtzehnten soll ich reisen. Da wäre es ungezogen, wenn wir Dionys nicht auffordern wollten.«

»So tu's schon,« entgegnete die Mutter ungeduldig. »Schreibe aber extra ›Bitte Überrock‹ auf die Einladungen. Einmal der Gartenidylle halber, und dann auch, weil Krempels Frack wirklich nicht mehr präsentabel ist. Bei der Einsegnung von Kätchen Vanhooven habe ich mich seiner ordentlich geschämt.«

Diese Wendung ärgerte Maxe. »Es ist richtig,« entgegnete sie, »daß sein Frack nicht sonderlich modisch und meinethalben auch ein bißchen abgeschabt ist –«

»Namentlich auf den Rabatten,« sagte Elfriede; »zu starkes Glanzlicht und hie und da, zu pastos.«

Maxe verzog die Lippen. »Es ist nicht hübsch, über einen armen Menschen zu spotten, Friede. Unter den Rabatten sitzt doch auch noch was.«

Die Mutter gab ihr einen Kuß auf den Scheitel. »Hast ganz recht, Maxe. Wir sind ungezogen. Er soll kommen, wie er will ...« Nun begann man die Einzelheiten zu besprechen. Der Tee sollte im Garten genommen werden, das Souper im Eßzimmer. Nachher vielleicht nochmals Garten: da konnte Genander beim Schimmer der bunten Ballons das Bier präsentieren.

»Wenn es nicht Grog wird,« sagte Beate. »Geehrte Herrschaften, ich will euch das Spiel nicht verderben. Aber denkt gefälligst daran, daß das Mailüfterl manchmal kühl weht. Und der Dreizehnte ist, Servatius, der letzte der gestrengen Herrn.«

»Wir müssen es darauf ankommen lassen,« erwiderte Elfriede, die in der Heimlichkeit ihres Herzens, viel für das Gartenfest übrig hatte, weil sie an die Bank zwischen den Fliederbüschen dachte, auf der nur zwei sitzen konnten. »Wir haben ja einen berufsmäßigen Gottesmann unter den Geladenen; da wird uns der Himmel vielleicht gnädig sein ...«

Mit dieser Hoffnung tröstete man sich und entwarf, da man gerade bei der Sache war, auch gleich die Tischordnung, Beate hielt es für richtig, daß der Superintendent die Mutter führte.

»Er redet immer nur von seinen Orchideen,« klagte Frau von Göchhusen, »oder tut er das nicht, so erzählt er von seiner Sammlung alter Kirchenlieder. Habt ihr nicht einen andern für mich?«

»Den Milchmann,« schlug Maxe vor. »Mama, gegen den kannst du nichts haben. Er weiß die Inschrift auf Kleists altem Grabe auswendig, die kein Mensch mehr lesen konnte, und weiß auch unter allen Bakterien Bescheid.«

Frau, Magda lachte. »Also gebt mir den Milchmann,« erklärte sie, »oder meinethalben auch den Pastor. Aber setzt als Ausgleich auf meine andere Seite den Major. Mit dem läßt's sich wenigstens plaudern.«

Ein kalter Blick Elfriedes streifte die Mutter. »Sei's so,« sagte sie. »Dann führt mich der Major, und du hast ihn links. Maxe kriegt Emmingen, Beate die Geistlichkeit, Krempel kriegt Tilde Vanhooven. Sela.«

Nun ging Maxe an ihren Schreibtisch, und füllte die Einladungen aus. Es wurde schon zu sechs Uhr gebeten, ganz unmodern: »zu Tee und Abendbrot«. Maxe erlaubte sich auch ein paar kleine Scherze. Auf der Einladung für den Kommerzienrat schob sie die Zeile ein: »Bei starkem Frost Rodeln im Park«; bei Hartwig unterschrieb sie selbst und setzte darunter: »Rekrut a.D.«; bei Emmingen fügte sie hinzu: »Wegen der feenhaften Beleuchtung des Gartens ist das Brillieren eigenen Geistes streng untersagt.« Aber der Mutter erzählte sie nichts von diesen Witzchen. Die hatte so etwas nicht gern.

Als sie die Einladung für den Doktor der Philologie und Philosophie Herrn Krempel schrieb, überlegte sie ein kleines Weilchen und ließ dann plötzlich die Feder sinken. Sie saß vor ihrem blumengeschmückten Schreibtisch am Fenster; das Fenster stand offen, auf dem Gesims reckten die Maiglöckchen ihre weißen Köpfe, darüber taumelte ein Schmetterling. Der Blick des Mädchens folgte dem seinen Rhythmus des tanzenden Falters, ihr Ohr lauschte dem Lärm der Spatzen im Lindenbaum, aber es lag im Sehen und Hören kein Wollen und kaum ein Bewußtsein. Der tanzende Falter zog Serpentinen durch die blaue Luft, die zu schwebenden weißen Bändern wurden und zu den hellen Schatten eines Morgentraums, und das Geschwätz der Spatzen verschmolz zu einer ineinanderlaufenden Litanei fremdartiger Töne. Und je starrer Maxes Blick wurde und je aufnahmeleerer, um so kräftiger wurde die fortschreitende Bewegung ihrer verängstigten armen Seele. Es kam zu Fragen und Antworten, die stürmischen Fluß annahmen, und zu einer Bitterkeit des Urteils, die alles Tatsächliche zu verschieben drohte. Was war ihr der Vater, der sie so plötzlich zu sich berief, um ihre Persönlichkeit nach seinem Gefallen zu nützen und seinem eigenen Wesen unterzuordnen? Kaum, daß sie sich seiner entsann; kaum, daß er ihr mehr galt als irgendein gleichgültiger Fremder. Und nun trat er als gebietende Macht auf und riß sie durch einen brutalen Befehl aus dem ersten Liebesleben ihres jungen Herzens ...

Das Starre im Auge Maxes verlor sich und wich einem zärtlichen Glanze. Sie dachte noch einmal an die Szene auf Pittelkos Bodenkammer zurück, und in dem künstlerischen Subjektivismus ihres Empfindens veränderte sie das hübsche Bild der Wirklichkeit und bereicherte es aus warmer Phantasie durch lyrische Klänge und poetische Ausdrucksmittel. Es wurde in den Schwingungen ihrer Seele zu einem Gedicht und zu einer kleinen Novelle, und der Kindheitsfreund mit dem schrecklichen Namen zu einem schönen Helden mit einschmeichelnder Stimme und von ritterlicher Art. ... Dann floß vergleichende Reflexion in die Phantasie, und rasche Gestaltungskraft gab ihrem Helden ein neues Gebilde. Der dionysische Krempel blieb zwar, blieb aber doch nur als Transparent, durch das die vornehmere Erscheinung des Herrn von Emmingen leuchtete. Das war auch wieder eine künstlerische Umformung, ein Suchen nach, schönerem Einklang, eine sinnliche Schnellmalerei. Emmingen war mehr Held und Ritter, aber Krempel das tiefere Gemüt ... Ach, du armer Dionys, dachte sie, wie wird dir das Herz schmerzen, wenn du erfährst, daß ich fortgehen soll! Man will nicht, daß wir uns lieben dürfen. Warum nicht? Weil wir nicht zusammenpaßten, sagt Beate, die Eisige, die alle Gefühle arithmetisch bearbeitet und die freie Macht der Liebe in Logarithmentafeln pressen möchte. Aber wir wissen es besser. Dionys, ich komme zurück, und du wirft mir treu bleiben ...

Krempel war wieder ihr Held allein und trug nicht mehr den Rittermantel Emmingens und schaute sie mit seinen runden Kinderaugen zutraulich an. Da ging ein lustiges Lächeln durch allen romantischen Stimmungszauber, und die Lebensfrische kam wieder. Sie nahm die Einladung für den Herzensfreund vor und schrieb unten hin: ›W. S. g. u.‹ Das mußte er verstehen, es war eine gebräuchliche Kürzung. Und dann wandte sie das Kartonblatt und setzte abermals die Feder an und ließ sie über die Rückseite wandern.

»Dionysos, es heißt scheiden,« schrieb sie. »Die Musik ist vertönt, das Himmelsrot ist grau geworden, selbst der Mondschein ging hin. In Pittelkos Kammer fliegen die Fledermäuse und jagen allen Märchenspuk davon. Dionysos, es heißt scheiden. Am achtzehnten reise ich zu meinem Vater und weiß nicht, wann ich wiederkomme. Am dreizehnten werden wir uns adjö sagen: vor allen Leuten, weil das den Abschied erleichtert. Ich erwarte Dich. Maxe.«

Sie überlas das noch einmal. Die Wendung: »Selbst der Mondschein ging hin« gefiel ihr nicht. Sie hätte lieber gesetzt: »Auch der Mondschein verblich«. Aber sie wollte weder streichen noch umschreiben: so ließ sie es denn, wie es war. Einen Augenblick dachte sie daran, einen Kuß auf das Papier zu drücken. Doch da schob sie ärgerlich die Unterlippe vor, denn sie glaubte ganz deutlich die Stimme Emmingens zu vernehmen: »Tun Sie das nicht, meine Gnädigste – es ist doch nur Komödie und Selbstbespieglung, Auch färbt die Tinte ab.«

Mit einer hastigen Bewegung des Unwillens schob sie das Papier in die Hülle.

Krempel korrigierte die deutschen Aufsätze seiner Klasse, als Frau Brendicke ihm die Göchhusensche Einladung in das Zimmer brachte. Er erkannte die Schriftzüge Maxes und wurde ein wenig unruhig. Das geschah unwillkürlich. Als letzte Erinnerung an die Poesie auf dem Boden Pittelkos war ein schwaches Gefühl von Unbehagen verblieben. Der Philologe in ihm verlangte ein ordnungsgemäßes Tun. Er aber hatte sich im Affekt zu etwas hinreißen lassen, das er bei Überlegung nicht vor sich selbst verantworten zu können glaubte. Gewiß hatte er die kleine Maxe von Herzen lieb. Doch er hätte dies ihr erst gestehen dürfen, wenn er sich bewußt gewesen wäre, auch mit einem Antrag durchzudringen. Und er war sich des Gegenteils klar. Er unterschätzte sich nicht in dem Frohgemut seiner Lebensauffassung; aber er baute sich auch keine Rosenhütten in der Wüste. Er hatte das Talent, Hoffnungen aus dem Wege zu gehen, die nichts als, Luftschlösser waren: eine gute und tapfere Eigenschaft, die vielleicht auch neulich ein Beisichselbstbleiben gewährleistet haben würde, wenn ihm nicht die Torheit einer eifersüchtigen Wallung die Ruhe geraubt hätte.

Er öffnete den Brief, las erst die Einladung und dann das auffordernde »W. S. g. u.« Nun kam die Rückseite heran. Er nahm die Feder, die von dem Korrigieren der Hefte her noch mit roter Tinte gefüllt war, und trug in der Handschrift Maxes ein vergessenes Komma nach. Noch während dies ganz mechanisch geschah, stieg in ihm ein sehr holdes Empfinden auf und gab seinem Gesicht eigenen Ausdruck. Es war wie lächelnde Wehmut und wie Freude im Leid. Diese paar Zeilen waren die ganze Maxe. Er las sie wieder und wieder und sah sie in jedem Worte. Sie war die kleine Poetin, die in frohem Spiel der Phantasie auch den Druck des Schweren überwand. Das mochte sie von ihrem Vater ererbt haben: daß die Mithilfe bildlicher Stimmungen allem Trüben und Undurchsichtigen das Quälende nahm.

Sie ging fort: vielleicht auf lange. Sie wußte selbst nicht, wann sie wiederkehren würde. Dionys empfand das wie eine Befreiung. Es war kein Einsturz schöner Ideale; die Notwendigkeit der Entsagung kam und glich alles aus. »Die Musik ist vertönt, das Himmelsrot grau geworden, selbst der Mondschein ging hin.« Sie hatte schon recht. Der Alltag dämmerte herauf, und an die Stelle holden Märchentraumes trat die Nüchternheit des Lebens.

Er machte am Nachmittag des Dreizehnten besonders sorgfältige Toilette, bürstete seinen schwarzen Rock eigenhändig aus, legte ein neues Vorhemdchen an und knöpfte ein Paar noch ungebrauchte Manschetten um. Er stand dabei vor dem Spiegel und ärgerte sich zum erstenmal darüber, daß seine Wäsche arg altmodisch war. Maxe kümmerte sich freilich darum nicht; doch Beate hatte neulich einmal an einem hervorguckenden Bändchen seines Chemisettes gezupft und dazu eine ironische Bemerkung gemacht. Sie war gut gemeint gewesen und hatte ihm auch nicht wehe getan; aber daraufhin war seitens der drei Mädchen ein gemeinsames Mustern seines Äußern erfolgt, und man hatte mit scherzhaften Äußerungen nicht gespart. Daran dachte er gerade jetzt, als er vor dem Spiegel stand und das unpraktische Leinengefüge des sogenannten Vorhemdchens in Ordnung brachte. Er war ein armer Schlucker, der nicht viel zurücklegen konnte: immerhin hätten seine Einnahmen zu einer Modernisierung seiner Garderobe gereicht. Aber für die äußerlichen Zutaten seiner Persönlichkeit hatte er wenig Verständnis. Für ihn lag die Sache einfach so, daß der Wäschenachlaß seines Vaters verbraucht werden mußte und nicht fortgeworfen werden durfte. Das wäre schade gewesen; die ungeheuer großen Taschentücher bestanden aus bestem Linnen, und wenn die Vorhemdchen schön gestärkt waren, deckten sie das Jägerflanell darunter wie ein weißer Panzer.

Krempel schlüpfte in seinen Bratenrock und zupfte die Röllchen vor. Ein Lächeln ging über sein Jungengesicht, so ein Lächeln der Weltverachtung. Ein auflehnender Trotzt stieg in seine Brust; es kam ihm vor, als verkörpere sich in ihm eine Gegenwirkung wider die Außenwelt. Und zugleich empfand er mit dem süßen Schmerzgefühl eines vergnügt in grausen Tod gehenden klassischen Märtyrers, daß er für das elegantere Leben verloren war. Das Gesamtbild seiner Wirklichkeit, wie es der Spiegel zurückwarf, paßte nicht einmal in den Göchhusenschen Hausstandsrahmen. Es war mit peinlicher Ordnung zusammengestellt und zurechtgelegt, aber es bot in den Einzelheiten doch gar zu viel Angriffspunkte: es war technisch verfehlt. ... Dionys sah Maxe neben sich, Arm in Arm mit ihm, Braut und Bräutigam. Da konnten die Leute etwas zum Lachen haben. Er hörte förmlich dies Lachen. Und plötzlich lachte er mit: schmetternd und höhnisch. Er war eine Mißgeburt, ein Geschöpf ohne System; war ein Widerspruch für die Gegenwart. Er hieß Dionys Krempel: das sagte alles.

Die Lust überkam ihn, die Einladung im letzten Augenblick abzulehnen, Kopfschmerzen vorzuschützen oder sonst irgend etwas. Aber das wäre gar zu kindisch gewesen. Die geordnetere Denktätigkeit kehrte zurück und zerstreute die Kümmernis des Moments.

»Frau Brendicke!« rief er in den Küchenflur. Die Brendicke erschien, blieb untern der Türe stehen und fragte: »Herr Doktor?«

»Frau Brendicke, ich möchte Ihr Urteil hören. Sie sind eine Frau von Geschmack, davon zeugt schon die Architektur Ihrer Sardellenbrötchen. Seien Sie kritisch, seien Sie streng. Ich will in vornehme Gesellschaft. Kann ich so gehen wie ich bin?«

Er stand vor ihr und legte mit Napoleonsgebärde die rechte Hand in den Ausschnitt der Weste und warf auch ein wenig den Kopf zurück.

Die Brendicke hatte zunächst ein Fleckchen auf dem schwarzen Tuchrock entdeckt: ein Staubfleckchen, das sie mit ihrem Ärmel abputzte. Hierauf trat sie etwas zurück, und ihre Miene wurde getragen und ernst und füllte sich mit ästhetischer Wertung.

»Herr Doktor,« antwortete sie, »ich kann bloß sagen: fein. Die neue Waschfrau plättet mit Spiritus auf, da kommt Glanz in das Vorhemd. Auch die Hosen sitzen nun wieder, und man sieht die Bügelfalte. Der kleine Schneider neben dem Grünkramladen versteht sein Geschäft. Herr Doktor, Sie sehen wie ein Bräutigam aus. Es ist eine Freude.«

Krempel verbeugte sich und dankte. Dann wandte er sich um und forderte auch für die Rückseite ein kritisches Wort. Die Brendicke zupfte an ihm herum und erklärte, der eine Rockschoß stände zu weit ab.

»Was haben Sie denn allens dadrin, Herr Doktor?« fragte sie, verwundert über die stark sichtbare Wölbung.

Dionys lachte. »Nichts als das Taschentuch,« entgegnete er. »Aber es ist auch danach. Väterliches Erbe; es ist wie das Laken zu einem Kinderbett. Geben Sie mir ein neues. Ich werde es zusammengefaltet lassen, dann trägt es nicht so auf.«

Das geschah, und nun machte Krempel sich auf den Weg. Er ging zu Fuß. Das tat er immer und richtete seine Zeit so ein. Die Hetze des Lebens stand im Gegensatz zu den Grundtrieben seiner Natur. Da war er wieder der Philologe: diese jagenden Beförderungsmittel störten ihn in der ruhigen Bindung seiner Gedanken.

Er ging die Tauenzienstraße hinab und schlug den Weg nach dem Kanalufer ein. Das sommerliche Grün der Bäume und Bosketts erfreute sein Auge. Er brauchte sich nicht zu beeilen und blieb hie und da am Wasser stehen, sah den Kähnen nach und den schwimmenden Enten und spürte nichts mehr von Unbehagen. Es war ein stilles Gleichmaß in ihm, und wenn er daran dachte, daß es heute den Abschied von Maxe galt, nickte er und sagte sich, daß das gut sei. »Die Musik ist vertönt«: eine Musik voll Sphären; aber sie konnte nicht ewig währen. Kontraste formen das Leben. Alles Nebeneinander hat seine Endpunkte; auch das Nacheinander muß einmal kommen. Als er weiterschritt, hemmte ein kleines Geschehnis, wie es im Straßenleben der Großstadt zuweilen sich findet, seinen Fuß. Eine Radlerin war von einem sausenden Auto zur Seite geschleudert worden und lag am Rande des Bürgersteigs. Das war eine regelrechte Verkehrsstörung; eine Menschengruppe bildete sich, die Wagen wichen aus und hielten hintereinander, von der Ecke der Lützowstraße stürmte ein Schutzmann daher.

Krempel hatte anfänglich nur mit einem Blick rascher Neugier die Unfallstätte gestreift; dann wollte er hilfsbereit hinzuspringen, dann erkannte er in der Gestürzten die Tochter eines Kollegen, und nun beeilte er sich, den Menschenring zu zerteilen. Zwei Leute versuchten, das Mädchen aufzurichten, aber das arme, blasse Geschöpfchen stöhnte laut und stieß plötzlich einen leisen Schrei aus.

Da war Krempel schon an ihrer Seite. »Was ist denn passiert, Fräulein Frieda?« fragte er. »Haben Sie sich verletzt?«

Sie nickte ihm zu und versuchte, ein freundliches Lächeln auf ihrem schmalen Gesicht festzuhalten. Doch der Schmerz kam wieder und verzerrte die Züge.

»Lieber Herr Doktor,« sagte sie und biß sich zwischen jedem Satz auf die Lippen, »bringen Sie mich nach Hause – ich glaube, ich habe den Fuß gebrochen...«

Dionys ließ die nächste Droschke halten. Aber erst hatte der Schutzmann sein Protokoll zu vollenden. Er bat um den Namen der jungen Dame. »Frieda Duplessis.« ... Die Schreibweise machte Umständlichkeiten: Fräulein Frieda mußte buchstabieren. Nun die Adresse. »Ansbacher Straße drei, Gartenhaus parterre...« Auch Namen und Wohnung Krempels wollte der blaue Mann wissen. Inzwischen hing das Mädchen am Arme ihres Helfers, und er fühlte, wie sie schwerer wurde. Der Schmerzensruf wiederholte sich.

Da wurde Krempel ungeduldig. »Nun stecken Sie Ihr Notizbuch ein,« sagte er zu dem Schutzmann, »und helfen Sie mir, die junge Dame in die Droschke zu schaffen. Aber vorsichtig. Mann des Gesetzes ... nehmen Sie den rechten Arm, ich fasse den linken...« Wieder ein Aufschrei, doch nun saß das Fräulein wenigstens im Gefährt: saß da mit totenblasser Miene und zuckenden Gliedern, und ein einsames Tränchen rann über ihre rechte Wange.

Ein Arbeiter hob das Rad mit seiner abgeschälten Pneumatik zu dem Kutscher auf den Bock; dann trottete der Gaul los.

Es war keine Vergnügungsfahrt. Fräulein Frieda freilich war stiller geworden und klagte nicht mehr. Die Preisgebung ihres Schmerzes mochte ihr peinlich sein. Aber daß sie litt, sah Krempel ihr an. Er hatte sie auf einem Vereinsabend der Lehrer des Joachimstals kennengelernt, und es hatte ihn interessiert, zu hören, daß sie sich einen modernen Sonderberuf geschaffen hatte. Sie gab jungen Mädchen »Bewegungsunterricht« und hatte für ihre Kurse eine Turnhalle gemietet. Da war Krempel neugierig geworden und hatte gebeten, sich die Geschichte einmal ansehen zu dürfen. Das war ein hübsches Bild gewesen: ein Bild voll Anmut und spielender Grazie. Ein Mann saß in einer Ecke und fiedelte auf seiner Geige alle möglichen Tänze herunter; er hatte langes, strähniges Haar und ein Biergesicht und eine ganze Milchstraße von Fettupfen auf seiner Weste: den Mann durfte man nicht ansehen. Aber wie die Kinder, hell gekleidet und je nach den Gruppen mit verschiedenfarbigen Schleifen im Haar, in Reihen abschwenkten, sich neigten und beugten, zu kleinen Quadrillen formierten und Sterne und Kreise bildeten, wie sie Arme und Köpfchen bewegten, den Oberkörper drehten und wendeten und die Füße setzten: das alles war reizend. Es war keine regelrechte Tanzstunde, denn die Kinder lernten keine der üblichen Tänze: es waren in der Tat nur Bewegungsspiele, und Fräulein Duplessis achtete streng darauf, daß die Kleinen sich dabei nicht in alberne Ziererei verloren. Das, was sie wollte, verstand Krempel recht gut: es sollte eine Schule für weibliche Grazie sein. Fräulein Frieda hatte ihm das mit kurzen Worten erklärt. Die Schwerfälligkeit steckt uns im Blute; steckt vielfach auch in der deutschen Frau. Die Natur hat uns nicht gegeben, was sie als Geschenk einer holden Göttin den Romanen in die Wiege legte: die Grazie der Bewegung. Das freie und schöne Spiel der Glieder will erlernt sein, die volle Anmut des Sichgebens, die freilich nur eine Äußerlichkeit ist, doch aber eine, die man in der Werkstatt des Lebens einer Frau nicht missen möchte. »Und auch des Mannes,« hatte Dionys Krempel damals hinzugesetzt; »er kommt nie aus dem Mechanismus heraus, er lebt mit den Händen in den Hosentaschen. Er weiß nicht, wo er die Arme lassen soll, und in seinen Füßen liegt das Blei der Grobheit. Ich bedaure, daß ich kein kleines Mädchen bin und nicht auch bei Ihnen Bewegung erlernen konnte. Denn ich bin der Typus des Ungewandten...«

Seitdem hatte er Frieda Duplessis nicht wiedergesehen. Und nun saß sie blaß und mit schmerzverzogenem Profil neben ihm in der holpernden Droschke und dachte sicher nicht an die Grazie der Form. Ihr schmales, feines Gesicht trug den Ausdruck des Leidens. Unter dem blonden Stirnhaar furchte es sich; da lagen zwei schwere Falten. Die Augenlider waren ein wenig gesenkt, und Krempel fiel es auf, daß sie lange, fast weißliche Wimpern hatte wie die Rispen an einer Weizenähre. Ihm fiel auf dieser mühseligen Fahrt mancherlei auf: ihr fest zusammengepreßter Mund mit sehr roten Lippen, die in den Winkeln ein flaumiges Glanzlicht zeigten; ihr Ohrläppchen, das klein und rund war und in der Mitte eine winzige Vertiefung hatte; und ihr Kinn, das in seiner kräftigen Formung wie ein Symbol der Überlegenheit war.

Sie war ein schmächtiges Mädchen und durchaus keine Schönheit. Sie war nicht das, was den Männern gefällt; sie hatte im einzelnen ihrer Züge unverkennbare Reize, doch störte in der Gesamtheit «die Unregelmäßigkeit. Man hätte sie für sechzehnjährig halten können und auch für zehn Jahre älter; sie bot gewissermaßen keine Anhaltspunkte der Beurteilung, sie hatte zuviel Unfertiges. Aber der Zug des Leidens verschönte sie.

Dionys sprach wenig mit ihr während der Fahrt, weil er sie der Antworten überheben wollte. Einmal versuchte er, ihren gebrochenen Fuß auf das Rückpolster des Wagens zu legen. Aber das ging nicht an: der Schmerz war zu groß. Krempel war froh, als die Droschke hielt. Er bezahlte, rief den Portier, das Rad abzuladen, und half dann dem Mädchen aus dem Wagen. Ach du lieber Gott, war das eine schwierige Arbeit! Er fühlte, wie bei jeder Bewegung ihr ganzer Leib schütterte und die Muskeln sich krampfhaft spannten. Sie konnte nicht gehen, und er mußte mit ihr noch über den Hof des Hauses und eine Treppe hinauf. Der Portier sollte helfen; aber der Mann roch nach Schnaps. Da sagte er ihr: »So ist's nicht möglich, Fräulein Frieda. Ich werde Sie tragen...« Und ohne die Antwort abzuwarten, umschlang er sie vorsichtig, hob sie empor und trug sie über den Hof und die Parterretreppe des Gartenhauses hinauf.

Er hatte geglaubt, dies schmächtige Geschöpf müßte federleicht sein. Doch sie war schwer. Als er oben war, perlte der Schweiß auf seiner Stirn. Er behielt sie in den Armen, während er klingelte. Das Dienstmädchen öffnete und schrie auf. Eine Tür klappte, eine alte Frau erschien und schrie ebenfalls. Das war die Großmutter: Krempel wußte es. Der Doppelschrei wirkte wie ein Stichwort auf dem Theater. Wieder klappte eine Tür: Doktor Duplessis kam, und hinter ihm wurde das lange, hagere, bestürzte Gesicht seiner Gattin sichtbar.

Nun war es anfangs merkwürdig. Keiner half schweigend. Die vier Personen schrien durcheinander und sprudelten unbeendete Sätze hervor. Der Schreck machte sie hilflos. Dazwischen rief Frieda: »Bringt mich zu Bett! Ich habe den Fuß gebrochen...« Krempel gab ein paar erklärende Worte; hinter ihm stand der Portier mit dem Fahrrad. Es folgte ein neuer Aufschrei, ein »Herrgott im Himmel!«, ein französischer Fluch, ein Durcheinanderhuschen. Dann sagte Doktor Duplessis, indem er seine Brille fester setzte: »Diese Autos. Es ist bare Unvernunft. Gestern ist ein Schuljunge beinahe gerädert worden. Hier vor dem Hause. Man muß den Bürgersinn wecken. Ich gehe sofort zur Polizei. War es ein Bedag oder ein herrschaftliches Automobil?«

Er harrte gar nicht der Antwort. Frieda wurde fortgeschafft, und plötzlich stand Krempel allein in dem halbdunklen Korridor. Der Humor regte sich in ihm. Man hatte sogar das Dankeschön vergessen. Er suchte nach einem Spiegel und fand ihn auch; glättete vor dem düsteren Glase sein Haar, zupfte den Rock zurecht, setzte den Hut auf und wollte gehen. Aber da kehrte Herr Duplessis zurück, in fahriger Aufgeregtheit, die Brille auf die Stirn geschoben.

»Lieber Kollege,« sagte er, »es ist eine böse Sache. Eine Knochensplitterung, so etwas. Diese Autos! Gestern war ich Zeuge, daß ein Junge von zwölf, dreizehn Jahren beinahe gerädert wurde – vor unserm Hause! Ich werde einen Artikel veröffentlichen. Es geht nicht so weiter. Man muß sich zusammentun.«

»Ist nach dem Arzt telefoniert worden?« fragte Krempel.

»Nein,« antwortete Doktor Duplessis fast verwundert. »Wir haben gar kein Telephon. Wir haben auch keinen Arzt. Bei uns ist nie jemand krank.«

»Aber es muß doch einer geholt werden!«

»Das wäre wohl nötig. Selbstverständlich. Wissen Sie, wo der nächste wohnt?«

»Er wird zu finden sein. Soll ich ihn suchen?«

»Hören Sie, Kollege, dies wäre wirklich... Ich kann ja nicht fort. In meiner Stube sitzt der kleine Berstelmeier, dem gebe ich Nachhilfestunden. Kein Intellekt – ein Hirn wie eine verschlossene Türe. Und die unregelmäßigen Verben sind doch kein Himalaya! Wenn's nicht der Berstelmeier wäre! Der Sohn von dem Schulrat. Ich habe ihm immer gesagt, er soll den Bengel einfach ein Handwerk erlernen lassen. Der Junge hat Interesse für die Mechanik. Ich bitte Sie –«

Jetzt lugte das lange, hagere Gesicht der Frau Duplessis durch die nächste Tür: ein Gesicht mit verwischten Zügen und den Schatten grauer Alltagssorgen.

»Herr Doktor Krempel,« sagte sie, »darf ich auf einen Augenblick bitten. Frieda möchte Sie gern sprechen. Wir haben sie zu Bett gebracht – – aber es geht schon. Die Großmama sitzt neben ihr...«

Dionys trat in ein schmuckloses Stübchen. Aus den Kopfkissen winkten die Augen des Mädchens ihm zu: ein freundliches Kornblumenblau unter weißblonden Wimpern. Auch ihre Hand reckte sich ihm entgegen.

»Ich danke Ihnen von Herzen,« sagte sie. »Sie waren so lieb zu mir. ... Sie haben mich getragen – und ich bin keine leichte Last. Ich wiege mehr, als man glaubt...«

Ein wehes Lächeln ging um ihren Mund. Dionys sah: es war hohe Zeit daß der Arzt kam. In dieser unpraktischen Familie vergaß man das Notwendigste. Er antwortete etwas Gleichgültiges: es trieb ihn fort. Doktor Duplessis folgte ihm auf den Korridor und hielt ihn noch einmal fest.

»Wenn man wenigstens die Nummer des Automobils wüßte,« sagte er. »Es muß endlich einmal ein Exempel statuiert werden. Da haben wir einen Antilärmverein, einen Verein gegen das Hutabnehmen, einen Verein gegen –«

»Alles mögliche,« fiel Krempel ein. »Auch einen Verein der Joachimsthaler. Bei der nächsten Sitzung können Sie mir weiter erzählen, Kollege. Jetzt habe ich Wichtiges zu tun: ich hole Ihnen den Arzt.«

Er war schon an der Tür. »Ja natürlich,« rief Doktor Duplessis ihm nach. »Sie sind sehr freundlich, Kollege. Ich würde ja selbst gehen, aber der Schlingel, der Berstelmeier ...«

Krempel hörte schon nicht mehr. Herrgott, waren das Menschen! Kreuzbrave Leute, aber ohne Einheitspunkte, ohne Konzentration. Der Typus des zerstreuten Gymnasialprofessors in den »Fliegenden Blättern« war nichts gegen diesen Duplessis. Und ähnlich war auch die Frau: die verkörperte Nebensächlichkeit, die sich in Kleinlichem aufrieb. Schließlich die Großmutter: eine Rechnungsratswitwe, für die das ganze Leben ein Rechenfehler gewesen war. Und in dieser Kleinwelt ohne Schwingungen war ein so prächtiges Mädelchen wie Frieda aufgewachsen. ... Während Krempel die Straße hinabstürmte und nach dem Schilde eines Arztes suchte, fuhren die Gedanken in Sprüngen durch sein Hirn. Merkwürdig, wie schwer diese Kleine war! Er fühlte sie noch auf seinen Armen; er hatte doch Kräfte, aber eine Treppe höher hätte er sie nicht tragen können. Es war geradezu ein Phänomen. Sie war spinnenschlank, doch mit starken Muskeln. Sie mußte viel Sport treiben. Es konnte spaßig sein, mit ihr einmal ringen zu dürfen. ... Und indes Dionys Krempel den Kopf hin und her fliegen ließ, um endlich den gesuchten Medizinmann zu finden, rang er im Geiste mit Frieda Duplessis. Sie hielten sich an den Händen; ihre Finger, kühl und schlank, umklammerten eisern die seinen. Ein Gelenk knackte. Dann umfaßte sie ihn. Hui, hatte dieser Mädchenleib Spannung! Aber er gab energische Gegenwehr: er hob sie in die Höhe; ihre Füße schwebten in der Luft; ihre junge Brust lag an seinem Gesicht. Nun wollte er sie werfen. Eitles Bemühen: sie kam ihm zuvor, und ihre Arme rundeten sich um seinen Hals – fester und fester, wie zwei Schlangen, die sich ineinanderringeln. Nun sah er auch ihr Gesicht: von feinmattem Scharlach übergossen bis zum Lichtblond des Stirnhaars und zu den Ohrläppchen, und auf der Oberlippe, in den Winkeln des Mundes, silberflaumige Fleckchen. Und dann... »Na endlich,« sagte Krempel halblaut vor sich hin. Das Bild! war fort, er rang nicht mehr. Er sah ein Schild mit der Inschrift: »Dr. med. K. Biesenthal, prakt. Arzt.«

Den suchte er auf: er rang nicht mehr. Er kicherte in sich hinein. Es dünkte ihn lustig, daß er auf den Oberarmen noch einen leisen Druck verspürte. Da hatte Frieda Duplessis geruht, und vielleicht war das Physische zu Psychischem geworden und hatte sich zu einem Scherz der Phantasie geformt. Verrückt, diese Idee eines Ringkampfs! Er war kein Ringer, war auch kein großer Turner; er tanzte wie ein Bär und würde bei den »Bewegungsspielen« eine üble Figur abgegeben haben. Wie kam er dazu, mit Frieda Duplessis einmal ringen zu wollen? –

Er klingelte bei Doktor Biesenthal. Der hatte keine Sprechstunde. Mit innerlichem Schimpfen zog Krempel wieder von dannen und suchte weiter. In der Kleiststraße fand er einen neuen Arzt: Doktor Seligmann. Den traf er in Hut und Paletot, denn er wollte gerade das Haus verlassen, und als er hörte, um was es sich handelte, riet er ihm, zehn Minuten weiterzugehen, zu Professor Curtius: der sei Chirurg und wisse mit gebrochenen Füßen besser Bescheid als er.

Krempel flog jetzt mehr als er ging. Auch der Professor hatte keine Sprechstunde mehr, aber Krempel drang doch bis zu ihm vor und entwarf eine so leidenschaftliche Schilderung des Unglücksfalls, daß der Chirurg sein Besteck zusammenpacken ließ.

Gott sei Dank! – Als Dionys wieder auf der Straße stand, bemerkte er zu seiner Verwunderung, daß schon die elektrischen Lampen flammten und das junge Grün der Bäume am Straßendamm weißlich färbten. Er sah auf die Uhr. Angenehme Bescherung! Zu sechs war er geladen, und jetzt ging es auf acht. Er zog die Schultern hoch, als wollte er sich auf der Stelle entschuldigen: Samariterdienst steht über jeden materiellem Wertung.

Nun beeilte er sich. Einen Wagen nahm er nicht; er schritt nur kräftiger aus. Zu spät kam er ja doch. Maxe würde das Mäulchen verziehen. Aber nur im Schmollen. Nie arme kleine Frieda hatte es auch verzogen, das hübsche rote Mäulchen mit den silbernen Flimmerwinkeln: aber im Schmerz...

Das Gartenfest bei den Göchhusens stand auf der Höhe der Entwicklung, als Dionys eintraf, Maxe empfing ihn gnädig und belobte ihn, als er von dem Grund seiner Verspätung erzählte. Dann bekam er Tee und Kuchen, doch sollte er nicht zuviel genießen, da das Souper in naher Aussicht stünde. Er las kein Abschiedsweh in ihren Augen, und das beruhigte ihn. Er wollte kein Aufwühlen, keine Erregung. Die Notwendigkeit bedingte ein resignierendes Hinnehmen.

Es war ein prächtiger Abend. Vegesack hatte den Illuminator gespielt und sich selbst übertroffen. Die bunten Ballons leuchteten allerwege. Sie hingen wie große gelbe Apfelsinen im Tulpenbaum und schauten mit blanken Augen aus den Bosketts. Hie und da in den Ecken hatte man es bei zartem Verdämmern belassen, und auf her Bank in den Fliederbüschen, auf der immer nur zwei sitzen konnten, war es fast dunkel. Dies war gegen den Willen Vegesacks geschehen, der sich gerade an diesem Platze eine Papierlaterne im türkischen Muster überaus reizvoll gedacht hatte; aber Elfriede hatte sie entfernt. Nicht überallhin gehört eine festliche Beleuchtung. Schon war es zu Gruppenbildungen gekommen. Das Einglas des Herrn von Emmingen leuchtete beharrlich in der Nähe Maxes Und störte wie neulich das logische Empfinden Krempels. Unter der großen Linde stand der Major von Hartwig und beschrieb Elfriede und dem Fräulein Vanhooven in fröhlichen Worten eine überraschende Generalinspektion, die am Vormittag auf dem Bezirksbureau stattgefunden hatte. Das Lachen der jungen Damen klang hell und lustig, das der kleinen Vanhooven wie ein übermütiger Triller. Sie war ein hübscher Schwarzkopf und galt unter den Freundinnen für leutnantstoll; sie äugte immer nach buntem Tuch; dieser Major war eine Neuheit im Kreise, und sie kokettierte gleich frisch mit ihm los. Elfriede merkte es wohl und amüsierte sich darüber: nun war sie des Mannes sicher.

Das war sie seit gestern. Da hatten sie wieder nebeneinander gemalt; im Treptower Wäldchen, natürlich zwischen Birken und Wasser. Sie suchten ihnen Standplatz immer allein, und Birkenmüller richtete es voll ahnender Seele so ein, daß die übrigen Mitglieder seiner Schule sich in weitem Kreise um sie verteilten. Pärchen störte er nie; das tat er prinzipiell nicht: er achtete die Wesenspunkte und tiefsten Lebensbedingungen seines fliegenden Ateliers, dem ein Künstlerkollege den Spottnamen »Verlobungsschule« gegeben hatte. Während er in seiner hellen Jacke und der farbigen russischen Bluse darunter, über die ein bunter Schlips wehte, von Staffelei zu Staffelei eilte und seine kritischen Bemerkungen machte, korrigierte er bei seinem Pärchen nur selten. Wozu auch? Er stellte die Liebe über die Künstlerschaft. Immerhin besser, man zog, sich auf die Urelemente des Lebens zurück, als daß man den Reigen der Farbenklexer vermehrte. Aus Elfriede konnte vielleicht noch etwas werden; der Major war ein Stümper. Er sprach gut und malte schlecht. Er redete sich auch langsam in das Herz des Fräuleins hinein: das hatte der kundige Birkenmüller nach dem dritten Beisammensein gemerkt, und von da ab sperrte er sie von den übrigen ab. Sie sollten zu zweit sein.

Elfriede, wie ging es nun zu? – Es kam, wie es gewöhnlich geschieht, wenn zwei sich liebgewinnen. Es kam zu dem alten Prozesse, der mit seltsamen Wallungen im Herzen beginnt, mit einer Umsetzung des Empfindens und ganz neuen Bewegungen des Innern. Und dann veräußerlichte sich diese Bewegung in einer beredten Sprache der Augen, in einem weichen Tonfall der Stimme, die unbewußt zärtliche Klänge annahm und einen melodischen Fluß, in einem Ausscheiden alles Harten und Eckigen, in dem Bestreben, sich auch in dem ganzen Gehaben gegenseitig zu gefallen. Elfriede hatte vollkommen recht, als sie den Schwestern gestanden hatte, sie wüßte, daß sie geliebt werde, ohne daß zwischen ihm und ihr auch nur ein Wort von Liebe gesprochen worden wäre. Er hatte sich zunächst in ihr Haar verliebt, dessen »verlorenen Ton« sie immer wieder durch das verläßliche Medium der Teerseife zu ergänzen verstand; denn nun trat zu dem Gewicht der Sauberkeit ein bemühendes Kokettieren. Und dann ging das Verlieben weiter: auch ihrerseits. Die doppelte Neigung für die Kunst führte längst nicht mehr die lauteste Sprache im Duo der Herzen. Es gab sicherere Gewinste, auf die man sich verlassen konnte. Und als gestern im Treptower Wäldchen ein hilfreicher Wind ihr den Hut vom Kopfe gerissen und Hartwig geholfen hatte, ihn wieder zu befestigen, mit einer Ungeschicklichkeit, die der Verlängerung der Minute diente, mit einem zarten Rühren seiner Finger auf ihrer Wange, mit Farbenwechsel und Augenspiel: da wußte sie mit voller Bestimmtheit, woran sie war. Er hätte ja gestern schon sprechen können: im Treptower Wäldchen, zwischen Birken und Wasser. Worauf wartete er noch? – Vielleicht, daß heute das Wort zur letzten Wendung fiel. Elfriede war entschlossen, ihm entgegenzukommen. Nicht Tilde Vanhoovens halber, vor deren auffordernden Kohlenaugen ihr nicht angst war; sondern allein wegen der Mama. Da mußte Klarheit geschaffen werden und eine Deutlichkeit, die kein Fragen mehr zuließ. Es mußte endlich zur Entscheidung kommen. Nach dem Abendessen ging man ja noch einmal in den Garten – und zwischen den Fliederbüschen stand eine Bank, auf die nur zwei sich setzen konnten...

»Gnädigste Frau,« sagte der Kommerzienrat, »Sie müssen nicht alles aufs Wort nehmen, was Warmuth äußert. Es ist viel Kanzelrethorik dabei und das Bedürfnis, den Effekt zu nützen. Alle Redner machen es so, geistliche wie weltliche, womit ich gar nicht sagen will, daß dabei ein Unrecht unterschlüpfe. Denn wer redet, wünscht sich auch einen geeigneten Resonanzboden. Aber wenn dieser Pastor behauptet, daß die Völker einmal kulturmüde werden können, so fordert das doch gehörigen Widerspruch heraus. Die Kultur ist das ewig Fortschreitende, lieber Freund, und alles Zurückgehen Einfalt.«

»Standpunkt eines liberalen Bezirksvereins,« entgegnete der Superintendent. »Brökelmann, mit dir ist nicht zu streiten. Du mißverstehst immer, wenn es dir in den Kram paßt. Ein Verlangen nach Ruhe in der unaufhaltsamen Flucht der Erscheinungen ist etwas Naturgemäßes.« »Ist Rückschritt,« rief Brökelmann.

»Ist eine notwendige Pause in der Entwicklung. Weltflucht ist Sehnen nach Verinnerlichung. Ich habe eine Freundin, die sich vor langen Jahren der protestantischen Mission im fernen Orient angeschlossen hat. Sie schreibt zuweilen, und schreibt glückliche Briefe. Die Wildnis ist ihr ein Festsaal, die Einsamkeit ein Weg zur Wahrheit.«

Frau von Göchhusen schüttelte den Kopf. »Für mich war das nichts,« entgegnete sie lächelnd. »Aber das soll kein prinzipieller Widerspruch sein. Wenn ich die Einsamkeit suchen will, finde ich sie auch in den Geräuschen der Welt.«

»Unbestreitbar,« sagte der Superintendent. »Es geht mir genau so. Und das schied mich von meiner Freundin. Aber deshalb verstehe ich sie doch. Der Drang nach einem dauernden Bestande war das Gemeinsame. Nur im Suchen danach teilten sich die Wege. Das begreift Brökelmann nicht. Brökelmann, du hast ja auch Gäule, da du Kommerzienrat bist. Wenn deine Gäule ewig galoppieren sollten, würden sie bald umfallen. So kann auch ein Fortschritt ermüden, der nur um des Fortschreitens willen da ist.«

»Die Technik hilft uns,« versetzte Brökelmann beharrlich. »Ich habe Automobile, und die rennen, ohne müde zu werden.«

»Aber sie müssen gefüttert werden,« rief Warmuth erbost. »Mit Benzin oder Elektrizität oder was weiß ich. Und da kommt denn der Standpunkt der Ruhe, der sich selbst bei Leblosem nicht entbehren laßt. Es gibt kein Perpetuum mobile. Es wird nie eins geben. Wir brauchen zuweilen den Rückstand das Verschnaufen, das In-uns-gehen, geistige Verdauung, Frieden zur Weiterbildung.«

»Schrumm,« sagte der Kommerzienrat.

Die vier saßen in Korbstühlen unter dem nie blühenden Tulpenbaum, der heute mit gelben Ballons geschmückt war: Frau Magda, Beate, Brökelmann und Warmuth, und das Gespräch flog hin und her, und das Thema wechselte oft. Die Schulfreunde aus Insterburg krakeelten viel miteinander. Sie hatten sich lieb und zankten sich immer. Brökelmann war der Verteidiger der notwendigen Materie, die die Maschine der Zeit heizt, Warmuth glitt gern mit geölten Sohlen über einen ethischen Idealismus. Er war ein langer Mann mit abfallenden Schultern und etwas kurz behosten Beinen, in die er beim Sitzen Knoten schlug. Im glattrasierten grauen Gesicht lebte eine regsame Mimik, in den Augen neben viel Gutmütigkeit viel Opposition. Diese Augen waren zur Nase ein wenig schief gestellt, und dadurch bekam die obere Gesichtshälfte etwas Schalkhaftes, während die untere mit dem stark umfalteten Munde wie ein bedeutsames Arbeitsfeld wirkte. Er war eine originelle Erscheinung, und die hinderte ihn an der Erreichung der Hofpredigerwürde, obschon man ihm von oben wohlwollte. Eine Oberhofmeisterin war einmal bei ihm gewesen, als es sich darum handelte, der jüngsten Prinzessin Konfirmationsunterricht zu erteilen. Da hatte er erwidert, er wüßte nicht so recht, ob er es gut machen würde, denn Oberhofmeisterinnen und Prinzessinnen hätte er bisher nur aus Märchen kennengelernt. Aber er würde es versuchen und es ging auch vortrefflich. Hofprediger wurde er trotzdem nicht. Man sagte, eine hohe Dame müßte immer lächeln, wenn sie sein Gesicht auf her Kanzel sähe. Und in der Kirche lächelt man nicht.

Die Unterhaltung verblieb noch ein Weniges bei dem Abstrakten, wie Warmuth es liebte. Brökelmann fuhr weiter das schwere Geschütz der Kultur auf, und der Superintendent focht dagegen mit den Waffen des Übergeistigen. Beate beteiligte sich lebhaft an dem Gespräch und setzte den langen Warmuth durch ihre kecken Paradoxen in Verlegenheit, während Frau von Göchhusen sich ziemlich still verhielt. Sie war heute hell gekleidet und sah jugendlicher aus als sonst. Aber Beate hatte keine Freude an dieser Jugendlichkeit ihrer hübschen Mutter. Eine heimliche Sorge zehrte an ihr, und sie mehrte sich, wenn sie sah, daß der Blick Magdas zuweilen zu dem Major von Hartwig, hinüberflog und daß dann das Auge leuchtender zu werden schien. Es war nicht mehr daran zu zweifeln, daß die Mama dem Manne Neigung entgegenbrachte – und nun kam Elfriede ihr mit der Eroberungslust des eigenen Herzens zuvor und kaperte den Geliebten. ... Schade – es war alles so hübsch eingefädelt gewesen; und es war fraglich, ob etwas so rasch sich wiederfinden würde. Mit dem Superintendenten war wirklich nicht zu rechnen, und der Kommerzienrat – nun ja, der konnte schon an die Angel kommen, aber ob bei dem die Mama auch zubiß? – Unter andern Verhältnissen vielleicht, denn er war wirklich ein Mann, vor dem man Respekt haben mußte, der auch sonst mancherlei Gefallbares besaß; doch zwischen ihm und ihr blieb immer noch der Major stehen, konnte auch bleiben, wenn Elfriede ihn längst ihr eigen nannte. Wer kennt das Frauenherz aus! ...

Es war jetzt Zeit zum Souper; man hatte eigentlich nur noch auf Krempel gewartet. Genander kam und vermeldete, daß angerichtet sei; er schwebte heute beständig zwischen Garten, Wohnung und Küche, wo Lina das Regiment führte und Johanna gegen ihren Kommandoton rebellierte.

Die Stimmung bei Tisch setze gleich fröhlich ein, da Frau von Göchhusen schon bei dem Vorgericht die Reste ihres Cap Constanzia (letztes Kellervermächtnis ihres Mannes) präsentieren ließ. Sie war glücklich, daß sie den Major rechts neben sich hatte, und plauderte unaufhörlich mit ihm, nur dann und wann den Superintendenten mit einer kargen Bemerkung abspeisend. Hartwig kam ein wenig in Verlegenheit. Er hätte sich gern etwas lebhafter Elfriede gewidmet, fand aber kaum Zeit dazu: die Herrin des Hauses nahm ihn fast völlig in Anspruch. Elfriede konnte sich nicht dagegen wehren; ihr leidenschaftliches Herz zuckte, sie wurde unruhig und unüberlegt, und in einer Wallung des Ärgers, deren Sinnlosigkeit sie selbst nicht fühlte, sagte sie leise zu ihrem Nachbar:

»Ich bin Ihre Tischdame, Herr von Hartwig!«

Erst als sie diese paar Worte gesprochen hatte, empfand sie, daß sie sich in törichter Abhängigkeit von einer augenblicklichen Verärgerung zu einer Ungezogenheit hatte hinreißen lassen, und wurde rot. Der Major aber neigte sofort den Kopf, um eine unauffällige Antwort geben zu können. Dieser Ausruf Elfriedes, der wie ein heftiger Zusammenstoß von Gegensätzen klang, war entscheidend für ihn. Er gab ihm den vollen Glanz des Erkennens und eine unumstößliche Gewißheit. Er war für ihn kein Ausfluß launenhafter Verstimmung – nein, gar nicht –, sondern viel mehr die Wirkung einer unwiderstehlichen Macht, die sich in naivster Unverkennbarkeit äußerte, und da sprang in seinem hellen Auge eine Tür zum Glück weit auf.

»Ich weiß es, Elfriede,« antwortete er ebenso leise, »aber ich ... Nachher – nachher spreche ich mit Ihnen ... ich warte ja nur darauf ...«

Sie nickte mit kurzer Bewegung und warf sofort eine Bemerkung in das, Gespräch gegenüber. Sie war plötzlich von bezaubernder Liebenswürdigkeit und fast lauter Unterhaltungslust. Ihr Blick sprühte umher; alle Tyrannei dunkler Stimmung war geschwunden; der Jubel ihres Herzens drängte sich ungestüm auf die Lippen, und in Seele und Ohr klang hundertmal das Wort »Nachher« wieder. Nachher also – nachher! Sie wußte auch, wo. Zwischen den Fliederbüschen im Garten stand noch immer die Bank, auf der nur zwei sitzen konnten. Und sie würde schon Zeit finden zu einer Aussprache unter zweien. Es war ja nicht viel, was gesagt zu werden brauchte. ...

Der Kommerzienrat plätscherte in flutendem Fahrwasser. Heut war er glücklich. Frau von Göchhusen entzückte ihn mehr denn je. War das eine Frau! Ganz sein Geschmack. Von so frischer Ursprünglichkeit, so quellig klar, so gar nicht verwickelt. Das hatte er gern. Komplikationen schaffte das Leben zur Genüge; bei einer Frau liebte er die unverfälschte Natur als Grundstock alles Empfindens. Er hatte mit ihr auch ein paar Worte über seinen Jungen gewechselt. Da war so etwas wie melancholische Wärme in ihr Auge getreten. Sie war die »Mädelmama« geblieben; ein Sohn war ihr versagt gewesen. Und gewiß: sie hätte gern einen Jungen gehabt. Dann hatte sie sich alles mögliche über den kleinen Brökelmann erzählen lassen und reges Interesse bekundet, und auch zugestimmt auf die Frage des Kommerzienrats, ob er ihr den Buben einmal zuführen dürfe. Daß er gut erzogen worden sei, werde Krempel bestätigen.

Der saß neben Tilde Vanhooven, die er seit langem kannte. Zu Ostern war er bei der Einsegnung ihrer Schwester Käte gewesen. Und nun kam etwas heraus, was sein Optimismus als besondere Gunst des Zufalls begrüßte. Er erzählte zum fünften Male im Laufe des Abends von seinem Rettungswerke am Lützower Ufer: nicht aus Renommisterei, sondern weil es ihn lockte, immer wieder von Frieda Duplessis zu sprechen.

»Frieda Duplessis?« fragte Tilde. »Ist das die ... nämlich Käte hatte bei so einer Bewegungsstunde ...«

»Die ist es,« fiel Krempel freudig ein.

»Ja – Bewegungsstunde,« fuhr Tilde fort. »Freiübungen und Hoppsen und so etwas. Unterricht im Schick. Eine neue Erfindung zur Hebung der äußeren Benehmigung. Aber bei Käte schlug es nicht gut an. Sie sprang schließlich über jeden Stuhl und zappelte wie ein Maikäfer. Sie hatte zu viel Beweglichkeit bekommen.«

Krempel lachte. Dann wurde er rasch wieder ernst und schilderte alle Vorzüge des Systems Frieda Duplessis, bis es Fräulein Tilde langweilig wurde. Das merkte er und begab sich auf ein anderes Thema. Aber es dauerte nicht lange, so schwenkte er wieder zur Frage der Bewegung zurück und fragte ohne vermittelnden Übergang:

»Können Sie ringen?«

Tilde Vanhooven machte eine verwunderte Miene.

»Ringen?« wiederholte sie.

»Jawohl. Wie die Ringkämpfer, bloß harmloser. Ich kann es auch nicht, denke es mir aber sehr hübsch. Das müßte in den Schulen eingeführt werden. Überhaupt viel mehr körperliche Übungen – auch bei den Mädchen.«

»Dionys, Sie haben eine wahre Wut für den Bewegungszauber bekommen. Seit wann?«

»Seit mir das Bewußtsein aufgegangen ist, daß wir im Sitzen verkümmern. Tildchen, wieviel wiegen Sie?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe mich lange nicht wiegen lassen. Jedenfalls wenig bei meiner Spillrigkeit.«

»Sehen Sie wohl. Sie können so spillrig bleiben, müßten aber noch einmal soviel wiegen. Es fehlt Ihnen an Muskeln und an Substanz der Knochen. Daran fehlt es Ihnen.«

Nun wurde Fräulein Tilde ungemütlich. »Sie sind ein abscheulicher Krempel,« erwiderte sie. »Sagen Sie mir flugs etwas Netteres, sonst beschwere ich mich bei Maxe. Die hat auf meine Einladung geschrieben, daß Sie mein Tischnachbar sein und mich ausgezeichnet unterhalten würden. Aber davon merke ich nichts ...«

Maxe hörte, daß ihr Name genannt wurde, und schaute flüchtig zu den beiden herüber. Es war ihr vorhin schon aufgefallen, daß Krempel weder bleich noch kummervoll aussah, wie sie eigentlich erwartet hatte, und nun hörte sie ihn ganz vergnügt mit Tilde Vanhooven plaudern. ›Er hat sich gut in der Gewalt, der arme Kerl,‹ sagte sie sich; ›ich hätte ihn nicht für einen so gewandten Schauspieler gehalten. Aber ich will ihm auch zeigen, daß ich mich beherrschen kann ...‹ Und sie nahm das angefangene Gespräch mit Herrn von Emmingen wieder auf, ohne daß es ihr schwer fiel.

Er »brillierte« heute nicht so wie sonst. Er schien sich die Mahnung Maxes zu Herzen genommen zu haben. Sie merkte das schon zu Beginn der Unterhaltung, und es reizte ihre Spottlust.

»Was haben Sie, Herr von Emmingen?« fragte sie. »Sie sind heut nicht auf der Höhe. Sie werfen nicht so mit Glitzerfunken um sich, wie ich es bei Ihnen gewöhnt bin; Sie haben auch Ihre Mocquerie in die Tasche gesteckt. Entweder ist das ein erhöhtes Raffinement, oder Sie haben meine schnoddrige Bemerkung auf der Einladungskarte übelgenommen.«

»Weder das eine noch das andere, gnädiges Fräulein. Übelgenommen in keiner Weise, denn der Witz war gut, und für derlei habe ich immer etwas übrig. Aber auch die Wendung mit dem erhöhten Raffinement trifft nicht zu. Ich weiß schon, was Sie damit sagen wollen, indes – es fehlt mir heute an Hebeln der Kräfte, mich so zu geben, wie Sie es augenscheinlich wünschen.«

»Und wie wünsche ich es?«

Herr von Emmingen warf einen raschen Blick über die Tafelrunde, als wolle er sich davon überzeugen, daß jeder wie mit seinen Nachbarn so mit sich selbst beschäftigt sei, und antwortete hierauf in dem gedämpften Tone, den er gern in der Unterhaltung zu zweien bevorzugte:

»Das will ich Ihnen sagen. Nur bitte ich, gütigst davon Notiz zu nehmen, daß ich diesmal nicht den Kern der Wahrheit mit diplomatischer Schlagsahne umquirle: daß ich also ganz aufrichtig sein will. ... Wir feiern heute Abschied, nicht wahr? Sie wissen ganz genau, wie schwer mir dieser Abschied wird – ah, jawohl, das wissen Sie! Und da kam eine prickelnde Neugier: wie wird sich der Mann zu dem Gegebenen stellen? Die Neugier wurde zu einer Art despotischen Wunsches: Sie würden nicht ungern gesehen haben, wenn ich eine komödiantische Leistung geboten hätte. Ich glaube sogar, daß Sie das voraussetzten, denn ein gewisses Raffinement im Lebensspiel trauen Sie mir ja zu. Aber wie ich schon sagte: mir fehlt heute die Kraft des Umgestaltens. Ich bin wirklich und ehrlich traurig ...«

Das war ein gefährliches Thema, das Maxe heraufbeschworen hatte. Sie nahm in der Verlegenheit eine überflüssige Bratenscheibe und nippte an ihrem Glase.

»Sie sind ein Menschenkenner,« erwiderte sie, »das ist zweifellos. Nur ist Ihr Gesichtswinkel nicht immer der richtige – und auch Ihre Prämisse ist falsch. Sie erklären einfach: ›Sie müssen wissen, wie schwer mir dieser Abschied wird‹, und dann kommen die Folgerungen. Aber bitte: woher muß ich das wissen?«

Er blieb ernst. »Weil es im Frauenherzen ein unfehlbares Vermögen des Erkennens und Verstehens gibt, sobald ein Kontakt von andrer Seite eintritt: der Wunsch, erkannt und verstanden zu werden.«

»Das ist eine kühne Behauptung, Herr von Emmingen. Sind wir denn hellseherisch?«

»Ja. In Fragen des Herzens gewiß. Sie haben nur die eine große Welt, in der alle ihre Dramen und Lustspiele sich abspielen, ein Gebiet ihrer freien Taten und seinen Verstellungen, ihrer stolzen Wahrheiten und kleinen Lügen – eine Welt unvergleichlicher Ausdehnung und schönster Konzentration: ihr Herz. Das ist auch ihr Kult – und im Kult der Jahrtausende ist es von so subtiler Verfeinerung geworden, daß es die zarteste Gegenwirkung spürt.«

»Hübsch gesagt. Also eine Membrane, die bei jeder Schallwelle erzittert. Herr von Emmingen, es ist auch ein versiegeltes Buch, in dem kein Unberufener zu lesen versteht.«

»Natürlich nicht, aber die Berufenen.«

»Es können sich Leute berufen dünken, die es nicht sind.«

»Gewiß, die schalte ich aus. Die gehen uns auch nichts an: die Grobhändigen und Kurzsichtigen, die kein verschlossenes Buch zu öffnen und keine Geheimschrift zu lösen verstehen ...«

Maxe fühlte: wenn das Gespräch so weiter ging, konnte es zu Verwicklungen kommen, die es Emmingen leicht machen würden, sie als Mittel für seine Zwecke zu nützen. Und das wollte sie vermeiden. Ein Sieg war ja ausgeschlossen, aber auch der Vormarsch sollte ihm erschwert werden. Sie griff das Wort »Geheimschrift« auf, um einen Stützpunkt für die Wendung der Unterhaltung zu gewinnen.

»Als Diplomat sind Sie natürlich in der Entzifferung von Schlüsselschriften geübt,« sagte sie. »Ist das nicht zuweilen sehr schwer? Nehmen Sie an, Sie fangen eine Depesche mit drei unlesbaren Worten auf. Wie macht man es, um ihren Sinn zu erraten?«

Er wußte sofort, daß sie vom Wege abbiegen wollte, und fügte sich ohne weiteres. Eine Gelegenheit, sich im Verfolge des Abends wieder an das Grundthema heranzupirschen und es zu wenigstens vorläufigem Abschluß zu führen, würde sich schon finden.

Er wurde jetzt unbefangen und gab die gedämpfte Tonart auf. Man konnte von rechts und links zuhören: es machte nichts.

Genander präsentierte das Eis. Emmingen dankte und nahm nur eine von den Waffeln, die Johanna reichte, zerbröckelte sie und sagte:

»Auf unsrer Gesandtschaft spielen chiffrierte Depeschen keine Rolle. Wohl aber im Ausland – weil man da vorsichtiger sein muß. Man hat da ganze Systeme – und auch eigene Chiffreure, die sich auf die Kunst der Entzifferung verstehen. Denn natürlich kommt es vor, daß ein liebenswürdiger Windzug zuweilen ein Telegramm oder eine Notiz, die für ein andres Kabinett bestimmt ist, auf den eigenen Schreibtisch weht –«

»Und das sind dann gewöhnlich immer Dinge von Wichtigkeit.«

»Ja. Manchmal freilich auch absichtliche Irreführungen. In Bukarest fing man im vorigen Jahre Streifbandsendungen aus Serbien auf, Zeitungskonvolute – Blätter mit angestrichenen Buchstaben –, und da witterte man anfänglich allerhand Verschwörungen, bis sich herausstellte, daß das Ganze ein schlechter Scherz war, eine dumme Fopperei.«

»Was heißt das: Blätter mit angestrichenen Buchstaben?«

»Die sinnfälligste Art heimlicher Verständigung: man unterstreicht oder durchstreicht in einem beliebigen Journal bestimmte Worte oder Buchstaben, die sich nach einem vorhanden Schema zu Sätzen zusammenfügen lassen. Bei kürzeren Mitteilungen bedarf es nicht einmal eines Schemas: der Sinn ergibt sich von selbst.«

Maxe war froh, daß sie die Klippe der Gefahr glücklich umschifft hatte, und verblieb bei dem Gegenstand. Sie nahm ihr Menü und schob es Emmingen zu.

»Machen Sie mir das einmal vor,« sagte sie.

Er nickte und zog ein Crayon aus der Westentasche. Einen Augenblick zögerte er. Wieder umkreiste sein Blick in rascher Beobachtung die Tafelrunde, dann neigte er den Kopf und begann auf dem Menü zu streichen.

»Ich betonte schon,« sagte er, »es ist eine sinnfällige Art der Verständigung, eine sehr naive. Aber sie hat den Vorzug der Klarheit, der unter Umständen nicht zu verachten ist. ... Ich brauche nur die ersten drei Zeilen ...«

Während er so sprach, schrieb er noch etwas auf das Blatt und schob es Maxe wieder zu. Sie prüfte es lächelnd. In den drei ersten Zeilen waren verschiedene Buchstaben durchstrichen; dann hatte Emmingen eine Verbindungsklammer gemacht und dahinter das Wort »Maxe« geschrieben. Ihr Auge glitt zunächst über das Ganze:

Kaviar – Lachs }
Frühlingssuppe , Maxe!
Seiblinge

Die Fortsetzung des Menüs enthielt keine Striche.

»Kinderleicht,« sagte Maxe. »Das erste Wort habe ich schon: es heißt ›Ich‹.«

Nun stellte sie die durchstrichenen Buchstaben der zweiten Zeile zusammen: »lie«. Da fuhr ihr ungestüm das Blut in die Wangen. Diese verdächtige Silbe »lie« ersparte ihr die weitere Entzifferung. Sie brauchte die dritte Zeile kaum noch zu lesen; ihr war, als höre sie den Ausruf: »Ich liebe Sie, Maxe!« – sehr sanft gesprochen, kein elementarer Aufschrei, ein feines und schmeichlerisches Werben; die Werbung eines Kulturmenschen, der seine Gefühle in fester Dressur hält.

Aber auch sie ließ sich nicht überrumpeln. Es toste zwar ein wenig hinter dem dunklen Gekraus ihrer Stirne: im Wechsel der Erfahrungen fehlte ihr noch das sichere Urteil. War das nicht ein plumper Überfall? Eine Unverschämtheit oder ein liebenswürdiges Spiel? Eine originelle Gelegenheitsmache? Sollte sie verstimmt tun oder lachen über diese Menüerklärung, dieses drollige Geständnis zwischen drei Gerichten? – Drollig war es schon – und da lachte sie. Es war etwas Besonderes und Lachenswertes. Sie machte zur Nebensache, was Hauptsache war: so war es richtig.

»Niedlich,« sagte sie und faltete das Kartonblatt zusammen. »Aber gar zu leicht. Geheimnisse, die es bleiben sollen, darf man sich auf diesem Wege nicht anvertrauen.«

»Antworten Sie mir, und Sie werden doch sehen, daß es schwerer ist, als Sie glauben.«

»Das Schwere liegt nur in der Antwort selbst, Herr von Emmingen ...« Sie wurde wieder unruhig. Herrgott, der Mann forderte doch keine Gegenerklärung! – Sie schielte mit raschem Aufblick zu Dionys Krempel hinüber: der schien Tilde Vanhooven soeben eine sehr lustige Geschichte zu erzählen, denn im Schwarz ihrer Augen blitzte lautere Fröhlichkeit.

»Wollen Sie meinen Bleistift?« fragte Emmingen und legte seinen goldnen Crayon neben ihren Teller.

Sie nahm ihn und zugleich das Menü ihres Nachbars. Der fröhliche Krempel weckte den Übermut auch in ihr: der Normalstand fand sich wieder. Mit einem Scherz ließ sich am besten antworten. Sie strich in den Worten »Kaviar – Lachs« das i und ch und bei »Seiblinge« die ersten drei Buchstaben. Die »Frühlingssuppe« bedeckte sie gänzlich mit Bleistiftschwarz und setzte eine kräftig entwickelte 8 daneben. Dann machte auch sie eine Verbindungsklammer und schrieb Emmingens Namen dazu.

»Voilà,« sagte sie und gab ihm das Blatt.

Er rückte sein Monokel zurecht und überschaute das Rätsel:

Kaviar – Lachs }  
8 Frühlingssuppe , Herr von Emmingen!
Seiblinge  

Die Lösung war nicht schwer. »Ich achte Sie, Herr von Emmingen!« ... Sein schmalschläfiger, kluger Kopf neigte sich verbindlich.

»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Allerdings – diese Antwort ist eine Selbstverständlichkeit –«

»Sollte es auch sein. Aber zugleich eine Versicherung unverminderten Respekts.«

Frau von Göchhusen winkte Beate mit dem Kopfe. Ein Stühlerücken entstand.

Emmingen steckte die Speisekarte in seine Brusttasche. »Eine kluge Antwort,« sagte er, »aber doch nur ein Gedankending.«

»Da Sie Antwort haben wollten, war es die einzige, die ich geben konnte.«

Man stand auf. Genander, Johanna und der Lohndiener zogen die Stühle zurück.

»Letzte Wallfahrt in den Garten, meine Herren!« rief Beate. »Da gibt es Kaffee und Pilsener. Aber ich bitte zu beachten, daß der Tag Servatius noch nicht zur Rüste gegangen ist. Die Paletots hängen im Korridor.«

Emmingen bot Maxe den Arm. Sie fühlte einen wärmeren Druck, und im Aufschauen erschrak sie. Ihr Nachbar sah blaß aus. Das Gesicht war grau, der Ausdruck skeptischer Selbstbespöttelung wie fortgefegt und abgelöst von einer drückenden Wucht des Ernstes.

»Letzte Frage,« sagte er. »Was Sie da vorhin lesen konnten in dieser kindischen Geheimschrift, die ... also, darf ich das noch einmal wiederholen, wenn ich annehmen kann, daß eine bessere Zeit für mich gekommen ist?«

Jetzt war die Antwort noch schwerer. In Maxe regte sich ein eigenes dunkles Gefühl, nahe verwandt dem Mitleid. Daß der Mann sie lieb hatte, stand außer Frage, und das Bewußtsein, geliebt zu werden, senkt immer eine weiche Stimmung in das Herz. Aber die wollte sie nicht herrschend werden lassen – um Gotteswillen nicht! Jede Nachgiebigkeit konnte zur Gefahr werden! er sollte hören, daß sein Werben aussichtslos war.

»Herr von Emmingen,« entgegnete sie, »ich habe meiner Antwort nichts zuzufügen. Nichts – gar nichts. Ich bitte, begnügen Sie sich damit.«

Das verstand er. »Merci,« sagte er kurz. Vor ihm schritten Brökelmann und Beate. »Kommerzienrat,« fuhr er fort, »ich kalkuliere, Sie stürzen sich in eine Wallung des Leichtsinns. Oder Ihr Leichtsinn ist Spekulation. Die Abendkühle herrscht unter dem Tulpenbaum. Wollen Sie ihr auf die Gefahr hin trotzen, daß sich der Trotz in Rheuma wandelt?«

Brökelmann fühlte sich heute gewaltig jung. Er spürte Höhenflug und streifte die Gebundenheit des allzu Irdischen ab.

»Oho,« erwiderte er und wandte ein wenig den Kopf zurück, »Emmingen, ich bin nicht verzärtelt wie ein Legationssekretär, der sich erst den Schal um den Hals legen muß, wenn er ein Fenster öffnet. Ich bin auch meiner Konstitution nach Plainairist.«

Nun war wieder der Ton leichten Scherzes angeschlagen und blieb. Maxe scherzte mit. Es war doch gut, daß man gelernt hatte, alle Triebkraft des Empfindens bei Gelegenheit maskieren zu können. Das half über Konflikte hinweg und wurde zum glatten Führenden des Augenblicks.

Man ging über den Balkon in den Garten zurück. An der Balustrade des Balkons verweilten Frau von Göchhusen und der Major von Hartwig noch eine kurze Weile und sahen zu, wie sich die kleine Gesellschaft unter den Bäumen verteilte.

»Ein hübsches Bild,« sagte der Major. »Da stehen Ihre drei Töchter – sind Sie nicht glücklich, gnädige Frau? – Nein, heute nicht ganz. Es wird Ihnen schwer, sich von Fräulein Maxe zu trennen.«

»Ja, lieber Hartwig, das wird es. Mir wohl schwerer als ihr, denn sie ist jung und springt leicht über die Schroffheiten des Lebens fort. Diese jungen Mädchen sind wie fröhliche Ponys, die keine Hindernisse kennen oder wenigstens ihrer Fährlichkeiten sich nicht bewußt sind. Das geht heidi über Gräben und Mauern, immer in der Karriere. Unsereiner ist maßvoller geworden – oder muß es sein. Die Schwere kommt mit den Jahren und nimmt allgemach zu.«

»Und liegt oft genug doch nur in der Einbildung. Ich respektiere Ihren Abschiedsschmerz, liebe Frau Magda: er ist natürlich. Aber pardon, wenn ich über den Rest des Klagegesangs lächle. Man braucht Sie nur anzusehen, um die Disharmonie zu fühlen. Sie sind wirklich noch zu lebensfrisch, um von Daseinsschwere sprechen zu können.«

»Ich habe genug durchmachen müssen, lieber Freund.«

»Das weiß ich. Weiß aber auch, daß die Tüchtigkeit Ihres Wesens Ihnen über alles Widerwärtige fortgeholfen hat. Und aus allem Unglück ist doch noch ein Glück verblieben: Ihre drei Mädchen – ein Tripelglück, ein harmonischer Dreiklang. ... Maxe geht weg. Die Notwendigkeit will es. Ja, du lieber Gott, die Notwendigkeit. ... Beate und Elfriede werden auch nicht ewig bei Ihnen bleiben können – sie werden sich ein eigenes Glück suchen. Stört das das Ihre? Sie können ruhig Ja antworten, aber –«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich würde mit Nein antworten,« fiel sie ein. »Ich habe mich immer dagegen gewehrt, die Kinder schutzlos in die Welt zu lassen – und ich weiß, sie haben mir das oft verdacht. Sie wollten ihre bequeme Freiheit haben und faßten den Begriff der Freiheit nach ihrer Art auf. Etwas anderes ist es, wenn sie sich verheiraten. Als Mädelmama mußte ich immer darauf gefaßt sein, einmal einsam zu bleiben. Aber ich werde auch die Einsamkeit zu tragen wissen.«

Hartwig stand so, daß sein Gesicht im Schatten lag. Dennoch sah Magda, daß sich in seinen Zügen ein Ausdruck zu regen begann, der aus Tiefen des Herzens kam, und da zuckte ihr eigenes Herz.

»Verzeihung, wenn ich widerspreche,« sagte er. »Das von der Einsamkeit – das glaube ich nicht. Eine Frau von so regem geistigem Leben kennt keine Einsamkeit. Und dann: der Kreis Ihrer Kinder erweitert sich doch und damit vergrößern sich auch Ihre Daseinsinteressen. Und endlich: Sie selbst, Frau Magda. Daß Sie ein Durchschnittsglück mit lauer Genügsamkeit der persönlichen Freiheit nicht vorziehen werden, das begreife ich. Aber es kann doch auch einmal anders kommen ...«

Sie mußte die Augen senken. Sie hielt seinen Blick nicht aus: er drang zu tief und suchte nach Antworten, vor denen sie sich fürchtete. Unten riefen die Kinder. Der Kaffee war da. »Herr von Hartwig,« erscholl die Stimme Elfriedes, »Genander möchte Auskunft haben. Hier steht er mit einem ganzen Tablett voll Schnäpsen. Wollen Sie einen Mixt? Halb Kognak, halb Marnier, Ihre alte Mischung!«

»Ich bitte gehorsamst,« sprach der Major über die Balustrade, »mischen Sie selbst, Fräulein Elfriede. Was Sie wollen, auch wie ...« Und dann wandte er sich an Frau von Göchhusen zurück. ... »Ja, liebe Frau Magda,« fuhr er fort, die Worte von vorhin wiederholend, »es kann doch einmal anders kommen. Keine Scheinhaftigkeit, sondern ein ganzes Glück – und damit eine neue Festlegung des Lebens, die der Einsamkeit auch die letzte Schlupftür schließt.«

Er küßte ihre Hand und gab ihr den Arm, um sie in den Garten zu führen. Der Kommerzienrat nahm sie sofort mit lauten Worten in Empfangs und geleitete sie wieder zu den Korbstühlen unter dem rätselhaften Tulpenbaum, in dem noch immer die apfelsinengelben Ballons als einzige Blüten leuchteten. Brökelmann ärgerte sich, daß der lange Superintendent unentwegt seinen Spuren folgte und auch nicht von der Seite der Hausherrin weichen wollte. Ja, Brökelmann ärgerte sich. Er hätte gern einmal ein Viertelstündchen allein mit der liebenswürdigen Frau geplaudert, um sie ein paar anregende Tiefblicke in sein Gemüts- und Seelenleben tun zu lassen. Denn nun schien ihm der Weg vorgezeichnet, und er wollte mit klingendem Spiel dem Ziele entgegenrücken. Nicht in der Überhastung, sondern mit Vorbedacht; doch auch mit kluger Ausnützung aller gegebenen Vorteile. Frau von Göchhusen sollte ihn zunächst einmal kennenlernen. Für sie war er vorläufig weiter nichts als der Kommerzienrat Brökelmann, ein Milchhändler im Großen. Wie er innerlich aussah, das wußte sie noch nicht. Aber wie soll man das Innere nach außen wenden, wenn man beständig einen langen Theologen zur Seite hat, der an aller menschlichen Größe mäkelt und aus jeder Äußerung metaphysische Wurzeln ziehen will? –


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