Paul Zech
Das rote Messer
Paul Zech

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Die Giftschlangen von Butantan

Wenn man in Sao Paulo auf der Straße einen Passanten anhält und ihn, höflich um Entschuldigung bittend, nach dem nächsten Weg fragt, der zur Schlangen-Stadt führt, dann ist es nicht das Kopfschütteln allein, das einem statt einer Antwort zuteil wird. Hinzu kommt auch noch der Blick, der uns alles ausdrückt, was man einem armen Irren gegenüber äußern kann. Der arme Irre ist natürlich der Fragesteller. Und mit dem serologischen Institut in Butantan . . . was hat solch ein paulistanischer Müßiggänger damit zu schaffen? Bestimmt wird er wissen, in welchem Kino dieser modernsten aller brasilianischen Großstädte der neueste Film mit Rita Hayworth läuft. Er wird, ohne geheimnisvoll mit den Augen zu zwinkern, jenes Freudenhaus nennen, wo à la Paris aufgemachte Mädchen aus Wilna und Bukarest die entsprechenden Nackttänze vor und hinter den Kulissen aufführen. Er wird vielleicht sogar auch darüber Auskunft geben können, in welcher Straße sich das italienische Konsulat und in welcher anderen sich der zionistische Ping-Pong-Club oder der deutsche Kegelverein »Alle Neune« befindet. Denn diese vielen Müßiggänger auf der Straße (sie arbeiten nebenbei auch in Kommissionen für japanischen Schund und deutsche Optik, Heereslieferungen und Einreisebewilligungen, Landverkäufe am mittleren Amazonas und Gesundbeter aus Wien, die in Dollar zahlende Patienten suchen) sind höfliche, gutangezogene, sehr geschäftig tuende, wenn auch nicht allwissende Leute. Jedoch mit Schlangen will man hier nichts zu tun haben. Schlangen in einem Hausgarten entdeckt zu haben, das bedeutet für die Hiesigen soviel wie Wanzen in einer Zwölfzimmer-Wohnung des Kurfürstendamms zu Berlin. Man hat sie, man wird geplagt davon, aber darüber sprechen und 100 womöglich danach auch noch fragen . . . armer Irrer! Und diesen verqueren Typ eines nur noch geduldeten Menschen stellen die Gringos, sofern sie als heimatlos gemachte Menschen aus Deutschland herüberkamen, in der Mehrzahl dar. Denn einmal fragen sie zuviel und zum anderen nach Dingen und Geschehnissen, worüber man hier nicht spricht. Was soll nun solch ein Mann in einer Stadt tun, worin er nicht seßhaft zu werden gedenkt, um sich schnell und eingehend zu orientieren?

Man wird antworten: »Soll er doch die Nase in die Zeitungen stecken. Und wenn er sie noch nicht ganz entziffern kann, sie sich von seinen hier schon länger ansässigen Landsleuten vorbuchstabieren lassen.«

Das wird er in diesem Fall jedoch nicht tun. Er wird weiter die Müßiggänger nach den möglichen und den unmöglichsten Dingen fragen und derjenige sein und bleiben, für den man ihn eben hält.

Mit der Schlangen-Farm in Butantan ging es mir so. Radebrechend fragte ich mich herum, stieß dabei auf Landsleute, auf Italiener, Polen, Slowaken, Serben, Japaner und französisch sprechende Neger-Gelehrte.

Ein Taxi-Chauffeur, aus dem Banat stammend, hielt mich an und sagte: »Hallo! Sie wollen nach Butantan? Großartig! Ich habe jemand dort abzuholen. Ich fahre also hin, Sie haben nur den halben Preis zu zahlen. Fünfzig Milreis; kostet sonst hundertzwanzig. Ich fahre einen Chevrolet allerneuesten Modells. Ich fahre Sie wie einen englischen Lord, langsam, daß Sie die am Weg liegenden Sehenswürdigkeiten gratis noch mitnehmen können. Steigen Sie ein!«

Nun habe ich diesen freundlichen Mann, der ehemals sicher Anreißer einer Jahrmarktsbude war, ausnahmsweise nicht nach dem nächsten Weg nach Butantan 101 gefragt. Er hatte es mir also an der Nasenspitze angesehen, wohin ich wollte. Er hatte es mir auch angemerkt, daß ich ein noch total Grüner war. Aber er hatte in meine Brieftasche nicht hineinsehen können. Denn sonst hätte er ja wissen müssen, daß ich knapp die Hälfte von dem Geld bei mir hatte, das er forderte. Mit fünfzig Milreis muß ich drei Tage auskommen, soweit es sich um Essen, Trinken und Schlafen handelt. Der Mann war nicht auf der Höhe und sicher auch noch ein Grüner. Er mußte es mitansehen, daß ich eine Straßenbahn nahm, einen »Bond«, wie man hier sagt, der in der Richtung nach Pinheiros fuhr. Pinheiros ist die erste und die billigste Etappe auf dem Wege nach Butantan. Dem »Bond« fehlten zwar die Außenwände, aber das ist in ganz Brasilien so üblich und des angenehmen Luftzuges wegen auch zu begrüßen. Zweihundert Reis macht der Fahrpreis aus, so viel also, wie eine Schachtel Zündhölzer wert ist. Billig! Hingegen in der zweiten Klasse (so etwas gibt es hier sogar bei der Straßenbahn) hat man nur 100 Reis zu bezahlen. Dafür putzt der einfachste Nigger einem nicht einmal einen halben Stiefel. Ich hätte also, um Geld zu sparen, schließlich auch die zweite Klasse benutzen können. Aber dazu war ich wieder nicht farbig genug. In der zweiten Klasse fängt man allerdings schon mit einem hellen Ledergelb an, die ganz und gar Schwarzen sind jedoch in der Mehrzahl. Und diese Leute sehen nicht gern »Weiße« bei sich, man will »unter sich« bleiben.

Auch über die herrlichsten Autos verfügen die ganz Schwarzen, teils als uniformierte Chauffeure, teils als Besitzer und vollkommene Gentlemen, was Kleidung, Stand und Einkommen betrifft. Diese unterschiedliche Bewegung der Schwarzen im öffentlichen Verkehr 102 gehört zu den vielen Widersprüchen in Brasilien, die ich vorerst noch nicht zu lösen vermag. Ich bin in Pernambuco schon darüber gestolpert, in Bahia fiel es mir besonders auf, und in Rio, der Stadt, die sich für Gottes liebste Erdentochter hält, bin ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr herausgekommen. Ich meine, was die Bewertung der Farbigen betrifft, wenn sie Habenichtse sind und wenn sie es schon zu Millionären oder sonstigen Berühmtheiten im Familienbilder-Teil der Zeitungen gebracht haben. Ich habe natürlich auch noch über andere Dinge den Kopf schütteln müssen. Wie ein armer Irrer nun einmal an einer Sache herumknabbert, die ihm haarig und nicht bloß exotisch vorkommt. Das wirklich Exotische ist in den meisten Fällen eine Augenweide und weiter noch: ein Innen-Erlebnis.

Die zweite Klasse des »Bond« nach Pinheiros war überfüllt. In der ersten saßen drei Karmeliterinnen, fünf Benediktiner, ein gemütlicher Sachse mit seiner Tochter oder jungen Frau, ein Korporal der brasilianischen Bundes-Armee, der zu einer gelbverschnürten Husarenjacke weiße Lederhosen trug und im übrigen barfuß war; ich hielt ihn für einen stark gebleichten Kongoneger, es war aber ein Botokude. Mir gegenüber saß eine Dame unbestimmbaren Alters, denn ihr Gesicht bestand nur aus einem weißen, farbig lackierten Blech. Sie zeigte die spazierstockdünnen Beine bis zum Knie hinauf. Sie holte aus einer Tüte Erdnüsse, biß die Kerne wie ein Mandrill aus den Schalen und spuckte sie mir auf den Schoß. Sie hatte ganz gewiß nicht die Absicht, mir Avancen damit zu machen. So weithin reicht meine Einbildungskraft nun doch nicht. Man spuckt hier eben so, insbesondere die jungen Damen. Ich wäre in des Teufels Küche hineingeraten, hätte ich gewagt zu 103 protestieren. Ich durfte nicht einmal rauchen, das war in der ersten Klasse verboten. Das Ausspucken natürlich auch. Aber sie spuckten mehr oder weniger alle, die Nonnen, die Pater, der Soldat und sogar der Schaffner, der mit akrobatischen Bewegungen barfuß auf dem Trittbrett hin und her balancierte. Denn inzwischen hatte sich der Wagen gefüllt, und die Dame »in dem unbestimmbaren Alter« war inzwischen von den Erdnüssen auf Bananen gekommen. Für die Abnahme der Schalen diente jetzt ein auf Hochglanz zurechtgestutzter Japaner, dessen Gesicht aus einer riesigen Hornbrille und lächelnd gebleckten Pferdezähnen bestand. Ich sah ihn später in Butantan wieder, er war Chemiker in einem der Laboratorien.

Von Pinheiros nach Butantan ohne offizielle Zwischenlandung – nur nach Bedarf wird hier gehalten – fuhr ein hochmoderner, sehr bequem eingerichteter Bus. Fünfhundert Reis ist zwar schon eine Menge Geld. Aber diesen Preis, den man in einer Confiteria für eine Tasse Kaffee mit Gebäck aufwenden muß, war die Fahrt zweifellos wert. Es war ein bezauberndes Stück Landschaft, das man durchfuhr. Unter den Fahrgästen befanden sich fünf, denen man es ansah, daß sie nach Butantan fuhren, zweifellos aber nicht zu ihrem Vergnügen. Sie hatten anscheinend sehr heftig mit Schlangen Bekanntschaft gemacht. Sie waren auch nicht allein, man sah, daß sie den Beistand von Begleitern nötig hatten.

Die Leute in der frommen Kleidung waren auch mitgefahren. Ihr Ziel war aber nicht die Schlangen-Farm. Sie stiegen schon vorher aus. Man sah hinter riesig aufgegipfelten Laubbäumen eine in Schneeweiß gehaltene Kirche romanischen Stils. Und darunter leuchteten die roten Dächer von Häusern, die in der Form von zwei 104 Quadraten aufgestellt waren. Das eine Quadrat für fromme Männer, das andere für fromme Frauen.

Einer von den Männern, die so aussahen, als hätten sie es sehr eilig mit der Injektion des Gegengiftes, konnte die Schmerzen nicht mehr verbeißen. Er schrie laut auf und schlug um sich, man konnte ihn aber schnell wieder beruhigen. Der Park von Butantan war schon nahe herangekommen. Geduld, nur noch ein paar Minuten, und wir sind da. Und noch ein Schrei. Diesmal aber ging er von einer alten Niggerfrau aus. Sie war sonderbarerweise ohne Begleitung. Zwei Männer rein weißer Hautfarbe bemühten sich um sie, denn hier in diesem Bus gab es keine Klasseneinteilung auf Grund der Hautfarbe und vor allem der Vermögensverhältnisse dieser Hautfarbe. Und das ist schon wieder eine Problemstellung, die ich nicht fassen kann. Aber Auskünfte darüber einholen . . . bei wem? Nicht so viel fragen, armer Irrer! Gelten schon die Vereinigten Staaten als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dann sind hier sogar die Unmöglichkeiten unbegrenzt. Und was die Neger betrifft, die armen und krätzigen . . . nur sie allein tragen natürlich die Schuld daran, daß der Milreis nicht die Kaufkraft eines Dollars hat! Und das sagen Leute, die sich in den Zeitungen halbseitengroß abbilden lassen als die Stützen der südamerikanischen Grande Kultur! Der »Bus« mit Negern, Gemischten und Reinweißen biegt endlich in den Park von Butantan ein, der einen äußerst gepflegten Eindruck macht. Herrliche Alleen, Blumenbeete, Pergolen, Rasenflächen, Marmorbänke. Und passend zu diesem hochherrschaftlichen Park englisch-französischen Stils ist auch das Hauptgebäude des Instituts. Es könnte dem Grafen Saint-Cloud, dem Fürsten Rimini, dem Lord Shawsbury oder einem Herrn 105 Benari gehören. Ein Wiener Architekt hat es erbaut und ein Franzose den Park angelegt. Ausländer? Nein: naturalisierte Brasilianer. Die Ehre des Vaterlandes ist gerettet. Die »Idea iberoamericana« marschiert.

Zu einem Schloß gehören auch die entsprechenden Nebengebäude. Hier sind es die Pferdeställe, die Unterkunftsräume für alle möglichen Arten von »Versuchskaninchen«, der Teilausschnitt eines zoologischen Gartens fast. Nur die großen Attraktionen fehlen. Das liegt aber nicht an der Leitung des Instituts. Denn zur Schau werden hier nur die Giftschlangen herausgestellt. Nicht etwa, um den Besuchern von Butantan das Gruseln beizubringen, sondern um zu zeigen, was man hier zum Wohl der Menschheit leistet. Die Leistung ist enorm, ich erkenne sie gern an, auch wenn ich daran erinnern muß, daß man diese Wissenschaft immerhin aus Europa bezogen hat, dem man jetzt, speziell auf geistigem Gebiet, überlegen sein will. Natürlich nimmt man auch noch mit, was der Exodus der Kultur aus Mitteleuropa an lebenden Kapazitäten heranschwemmt. Man richtet ihnen gern ein stilles Kämmerlein ein, damit sie ihre Arbeiten hier fortsetzen können. Man braucht ja nicht dafür zu zahlen, das besorgen die Komitees von USA. Brasilien allerdings hat wenig Vorliebe bei den zum Auswandern Gezwungenen gefunden. Der gemütliche Sachse, der mit im »Bus« fuhr und seiner jungen Frau oder Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Haar aus dem Gesicht strich, war Fabrikant für kunstseidene Damenstrümpfe. Die Arbeit leisteten ihm Negerinnen. Billig, willig und weit davon entfernt, Forderungen an einen höheren Lohn zu stellen. Er lebte erst drei Jahre in diesem Land. Und dies war schon seine dritte Reise von Sao Paulo nach Butantan. Wie ich 106 später bemerkte, reizten ihn besonders die abgehäuteten Kostüme der Schlangen, die von den Bäumen in den Schlangendörfern herunterhingen gleich schmarotzenden Orchideenranken. Er trug sich wahrscheinlich mit der Absicht, diesen hier nutzlos herumhängenden Dreck aufzukaufen und industriell zu verwerten. Wer hier auf solche Ideen kommt, ist allemal ein gemachter Mann. Und den bringt auch nichts so leicht aus der Fassung.

Von den Schlangen, die sich hier tummeln oder zu ganzen Bündeln verknotet auf dem Rasen herumliegen, um dann und wann angezapft zu werden, muß man wissen, daß die gefährlichsten Arten in den Dschungeln der Flüsse zu Hause sind, in den Bananenpflanzungen und auf den Zuckerrohrfeldern, überall dort, wo sich Menschen mühen müssen, durch ihrer Hände Arbeit zu Lohn und Brot zu kommen.

Die Schlangensiedlung, auf einen Raum von zwei oder drei Hektar verteilt, die einzelnen Bezirke durch Wassergräben und Gitter voneinander getrennt, macht zunächst den Eindruck eines riesigen Zeltlagers für Liliputaner. Oder man ist geneigt, die kleinen, halbkugelförmigen Häuser aus Stein für Termitenbauten zu halten. Ich sah einmal solch eine Massensiedlung von Ameisenburgen. Harmlos natürlich im Vergleich zu der Schlangenstadt. Denn was hier an »Gift bei sich führenden« Arten versammelt ist, wird in der ganzen Welt wohl nicht seinesgleichen haben. Man kann die Biester in Augenschein nehmen und sich sogar angrinsen lassen von diesen immerbösen und heimtückischen Augen. Man kann sogar dem Schauspiel beiwohnen (allerdings mit den entsprechenden Nerven nur), wenn sie einen Hasen einspeicheln und hinunterwürgen, eine Stunde lang, bis er dort sitzt, wo ihn die 107 Säfte in die chemischen Urbestandteile zerlegen. Man kann dem gleichen Vorgang mit einem Frosch als Opfer beiwohnen, mit Hühnern und Meerschweinchen. Alles muß noch bei lebendigem Leibe sein und 108 von warmem Blut. Kaltblütler oder gar das Fleisch von vorher getöteten Tieren verschmäht die Schlange. Sie soll unter Umständen aber auch Bananen verzehren. Aber das wird wohl eine Sage sein.

Die Schlange ist auch in der Gefangenschaft der Mörder, der sein Opfer zunächst mit den Augen bannt, ihm sozusagen das Hirn lähmt und das große Erschrecken bis in den letzten Zipfel der Nerven hinunterjagt. Und das ist nicht etwa von der Wirkung, die ein Hammerschlag bei jenen Geschöpfen auslöst, die einen Messerstich zu empfangen haben und danach die Aufteilung des Fleisches in Corned Beef . . . Ich wohnte einmal einer Hinrichtung bei und sah die Wirkung des blinkenden Messers auf den Delinquenten. Auch dieses Blinken, zehn Sekunden vor dem Zuschlagen, lähmte das Gehirn des Delinquenten. Der Kopf war, als man ihn mit einem Strick herunterbog, schon eine hundertmal gestorbene Sache, ehe er wirklich starb. So auch bei den Tieren, die man den Schlangen zutrieb.

Es hatte sich inzwischen ein junger Mann aus dem Institut eingefunden, der mir die einzelnen Reptile der Reihe nach vorführte und ihre mehr oder minder große Gefährlichkeit erklärte. Am häufigsten vorhanden waren hier die grünbraun-schwarzgelb gesprenkelten Yararacas, die Yararacusus, Coitaras, Urutus, Geisacas und Cascavelas, schwarzweißrot gebändert, gelbbraun gefleckt, dunkel- und hellgrün oder stahlblau gefärbt. Die letztgenannte Art ist die gefährlichste aller in Südamerika vorkommenden Giftschlangen. Wir Deutschen, obwohl wir Schlangen nicht zu dem bei uns jagdbaren Wild zählen und schon gar nicht zu den Haustieren, kennen sie unter dem Namen Klapperschlange. In der Tat setzt das Reptil, wenn es gereizt wird und zum 109 Angriff übergeht, ein Geräusch erzeugendes Instrument in Bewegung, das am Schwanzende sitzt. Es ging mir durch und durch, dieses Geräusch, obwohl ich es zum erstenmal hörte und nicht in Gefahr schwebte, gebissen zu werden. Die Bisse der Klapperschlange (bleiben wir schon bei dem deutschen Namen) sind unsichtbar, das heißt, sie hinterlassen nicht jene kleinen roten Punkte, sie verursachen zunächst auch keine Schmerzen und werden in den meisten Fällen als nicht vorhanden angesehen; man wiegt sich in dem Glauben, die Bisse seien in die Luft gegangen oder wirkungslos von der Haut abgeprallt. Bis dann nach einiger Zeit plötzlich ohne Voranmeldung Krämpfe und Lähmungen eintreten, Erstickungsanfälle und Delirien. Sogar die Wirkung des Serums ist nicht immer mit ausreichender Sicherheit zu bestimmen. Oft treten Monate nach der Behandlung noch Rückfälle in Erscheinung, die zur Erblindung oder gar zum Irrsinn führen können.

Die meisten Bisse werden von der Yararaca versucht. Dieses Reptil gehört zu den kleineren Arten; es erreicht selten eine Länge über einen Meter. Es ist von mausgrauer Farbe, mit einem backsteinfarbenen Muster auf der Rückenpartie versehen. Sein Lieblingsaufenthalt sind die Baumwollfelder, die Maispflanzungen, die Bohnenäcker und der Gemüsegarten hinter dem Haus. Also überall dort ist diese Plage zu Hause, wo sich die Plantagen-Arbeiter mit dem Unkrautjäten mühen müssen, meist nacktbeinig oder in Alpargatas. Die Schlange greift ohne Ursache den Menschen nicht an, sie ist eher menschenscheu zu nennen; tritt einer aber ohne Absicht ein sich sonnendes oder schlafendes Reptil, dann wehrt es sich ganz instinktiv seiner Haut. Und so ist es auch erklärlich, daß 60 Prozent aller von den Schlangen 110 gebissenen Menschen jene armen Teufel von Landarbeitern sind, die nur mit ihrer Arbeit beschäftigt sind und nicht auf ihre Umgebung achten können. Nicht überall haben die Herren Estancieros genügend Serum zur Hand, um schnell die Injektionen vornehmen zu lassen. Teils geschieht es aus Nachlässigkeit, teils um die Unkosten zu verringern. In einigen Staaten der brasilianischen Union sind die Administrationen der großen Landgüter von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, immer Serum vorrätig zu halten. Aber auch das verhindert nicht, daß immer dann, wenn Menschen gebissen werden, das entsprechende Gegengift »gerade unterwegs ist und jeden Tag eintreffen kann«. Bis es dann endlich eintrifft, ist das Opfer bereits verscharrt. Und wenn das Einscharren nur oberflächlich geschah, haben die schwarzen Geier dem Kadaver den Rest gegeben.

Sind in der Schlangenstadt Besucher, die sich auch dafür interessieren, wie man den Reptilien das Gift entzieht, dann bedarf es nicht erst umständlicher Eingaben an die Direktion, um den Wunsch erfüllt zu bekommen. Die Wissenschaftler und Techniker bis zum Wärter sind stolz auf diese Anlage, und aus diesem erhebenden Gefühl heraus, Dienst an der Menschheit zu verrichten, demonstrieren sie auch gern und ausführlich. In unserem Fall war es ein ehemaliger französischer Arzt, der einer kriminellen Sache wegen in die Welt hinaus flüchten mußte, um hier schließlich eine subalterne Anstellung zu finden. Die Arbeit scheint ihm Freude zu machen. Er läuft in einem sauberen weißen Laboratoriumskittel herum, mit einem langen Holzstab in der Hand. An der Spitze des Stabes ist eine stählerne Klammer angebracht. Mit diesem Stab bewaffnet, fährt er in das Schlupfloch des einem 111 ländlichen Backofen ähnlichen Schlangenhauses hinein und angelt zunächst einmal ein Exemplar der größten Sorte heraus. Sobald er das Reptil mit der Klammer fest hat, greift er mit der bloßen Hand zu. Der unbedingt sichere Griff sitzt knapp unterhalb des Kopfes. Und so bringt er das Tier, das sich um sein Bein herumringelt, bis an das Gitter heran. Er zeigt uns, wie man das Reptil dazu bringt, das Maul aufzureißen. Mit einer 112 Pinzette geht er bis an den Giftzahn heran. Ein junger Mann ist ihm dabei behilflich, er hält die Glasschale, und Tropfen um Tropfen sickert das Gift aus den Drüsen heraus durch die beiden hohlen Beißzähne in die Schale. Es ist ein gelblich-trüber Saft. Zehn, zwölf Tropfen gibt die Schlange her. Nach zwei, drei Tagen hat sie das gleiche Quantum wieder vorrätig.

Die Drüsen produzieren das Gift nicht am laufenden Band. Daher ist es auch zu verstehen, daß nicht alle Bisse von der gleichen Wirkung sind. Es kann vorkommen, daß von ein und derselben Schlange an einem Vormittag drei, vier Leute gebissen werden. Der vierte Biß ist der am wenigsten gefährliche, denn in diesem Fall floß nur wenig in die Bißwunde. Allerdings, so erklärte der Franzose, kommt es auch auf die Blutzusammensetzung des Gebissenen an. Der eine Mensch verträgt bis zu drei Tropfen, ohne Gefahr zu laufen, an dem Gift sterben zu müssen, bei dem anderen genügt schon der Bruchteil eines Tropfens, um ihn nach wenigen Minuten für die Ewigkeit fertigzumachen.

Von den großen Schlangen kommt der immer lächelnde Vorführer zu den allerkleinsten Reptilen. Die Klammer des Stabes holt sie aus dem Bau heraus, und die das jeweilige Exemplar griffsicher umspannende Hand schleudert die Vipern in einem hohen Bogen wieder zurück. Zwischendurch brennt der Mann – vielleicht ist es jetzt schon das siebente Mal in der kurzen Zeit – die Zigarette an, läßt sie in den Mundwinkel hinuntersinken, und bald raucht er sie wieder kalt. Seine Bewegungen sind von einer phantastischen Ruhe. Dennoch besteht dieser moderne Schlangenbeschwörer, sieht man ihn sich etwas genauer an, von oben bis unten aus einem heftig vibrierenden Nervenbündel. 113 Auf die Frage des gemütlichen Sachsen, ob es auch vorkomme, daß sich die Schlangen gegenseitig beißen und vergiften und welches Serum man dann anwende, gab der Wärter zunächst keine Antwort. Man sah nur, daß es in seinem Gesicht heftig zuckte. Und erst dann, nachdem er in ein Bündel jener herrlich gezeichneten Korallenschlangen hineingegriffen hatte und mit Mühe ein Exemplar hatte herauszerren können, sagte er, ohne sich jedoch an den Fragesteller direkt zu wenden: »Der Giftvorrat in einer einzigen Drüse dieser Viper genügt, um einem Joch Ochsen die Beine vom Leibe zu reißen. Aber das Gift von einem Dutzend dieser für moderne Damenschuhe wie geschaffenen Reptile würde nicht ausreichen, einen Mirikina davon abzubringen, die Nase in alle Töpfe hineinzustecken . . .«

Das war nun sehr grob und sehr deutlich gesagt. Aber der biedere Mann aus Plauen verstand es trotzdem nicht, oder er wollte es hier vor den fremden Leuten nicht verstehen. Mirikinas sind nämlich kleine Affen, von den hiesigen Leuten oft als Haustiere gehalten; leider haben sie die üble Angewohnheit, das immer erfahren zu wollen, was sich im Innern eines Gegenstandes befindet. So wie Kinder, die wissen wollen, wie eine Uhr innen aussieht, der Brummkreisel oder das Schaukelpferd. Ein anderer Besucher fragte darauf den Wärter, ob er trotz der bewundernswerten Geschicklichkeit, mit den Schlangen umzugehen, dennoch schon einmal gebissen wurde.

Wieder dauerte es eine Weile, bis der geplagte Mann antwortete. Und schließlich kam er dem Wunsch des Fragestellers nach und sagte: »Ja, mein Herr! Weshalb soll ich nicht gebissen werden? Es passiert mir zu gewissen Zeiten sogar häufig. Wozu aber haben wir hier 114 die Sera? Schnell hat man sie zur Hand und dazu auch noch die spezialisierten. Ein wenig Fieber nachher. Na ja, man macht eben alle Phasen der Folgen einer Vergiftung durch. Bloß nicht die letzte Kurve, die steil abfällt. Und dann wäre noch zu sagen, daß so ziemlich jeder Beruf seine speziellen Unfälle hat. Eine Bleivergiftung, eine Schlagwetterexplosion oder der Sturz von einem Wolkenkratzergerüst herunter sind ja auch nicht von schlechten Eltern. Das Abschneiden von Coupons ist allerdings wesentlich einfacher . . .«

Er spielte noch ein wenig herum mit den Schlangen, reizte sie und drückte den sich aufrichtenden Kopf einer riesigen Urutu ein paar Minuten lang in das Gras, damit die Wut dort unten sich austobe, und schloß damit die Demonstration ab.

Viele Besucher blieben noch einige Zeit an dem einen oder anderen Zwinger stehen. Gewiß hatten sie genug gesehen und erfahren. Aber das Unheimliche, das von dieser Tierart ausgeht, hielt sie noch gebannt. Nach einer indianischen Sage sind die Schlangen die von dem Sonnenvogel ausgerissenen Haare des Teufels Taschan Huana. Seitdem läuft er kahlköpfig herum, und wer gute Augen hat und nicht schreckhaft ist, kann den Kopf manchmal in einer Lagune schwimmen sehen.

Ich entschloß mich noch zu einem kurzen Besuch der Laboratorien. Denn in diesem Institut werden ja nicht nur die Gegengifte für Schlangenbisse hergestellt. Es gibt Abteilungen, die die entsprechenden Sera gegen Diphtherie, Pocken, Starrkrampf, Typhus und (versuchsweise) auch für das Gelbfieber herstellen. Die wichtigste Abteilung ist jedoch die ophiologische. Sie allein hat das Institut in der wissenschaftlichen Welt berühmt gemacht. Hier sah man Schrank an Schrank in 115 Glasgefäßen die Gifte der verschiedensten Reptilien in kristallinischer Form, einige von hellroter, andere von bernsteinbrauner und noch andere von hellvioletter Farbe. In dieser Form halten sich die chemisch reinen Gifte jahrzehntelang.

Eine andere Seite des Raumes wird von hohen Regalen eingenommen. Hier werden die zum Versand fix und fertig vorbereiteten Sera in Flaschen aller Größen aufbewahrt. Dazwischen sieht man Präparate anderer giftbergender Geschöpfe jenes Herrn und Meisters, der Gut und Böse nach der Devise: »So habt ihr, was ihr wollt!« in die Welt hineingesetzt hat. Von den zehn Zentimeter langen Tausendfüßlern bis zur Tarantel und von der Vogelspinne, dem Skorpion und Stachelrochen bis zu dem herrlich gezeichneten Nachtfalter Machacui, der mit einem Giftstachel bewehrt ist und den Schläfer, den er damit heimsucht, aus Erdenträumen in die des Himmels hinüberführt.

Vom Rand eines Regals hingen drei sauber präparierte Häute der größten aller südamerikanischen Giftschlangen herunter, der Surucucú, die nicht mehr allzuhäufig vorkommt. Sie hat sich in die tiefsten Wälder des Amazonas zurückgezogen, nachdem sie die Menschen gesehen und genug von ihnen erfahren hat. Man kann es verstehen, wenn man die Farben betrachtet, mit denen die Surucucú sich zu schmücken versteht. Selbst die trockenen Häute zeigten noch ein wundervoll leuchtendes Lachsrot, bedeckt mit gelben und samtschwarzen Zickzack-Figuren. Im lebenden Zustand mißt die Schlange nicht unter 2,50 Meter. Man hat auch schon Exemplare von über drei Meter Länge fangen können. Ich hätte noch mancherlei über das Leben der Giftschlangen erfahren können, hatte aber an dem, was ich 116 gesehen und gehört, reichlich genug zu schleppen. Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, habe ich allerdings nicht zu sehen bekommen. Ich bin schließlich ja auch nicht nach Butantan hinausgefahren, um die auf dem Büchermarkt noch fehlende Biographie der Urmutter aller Schlangen zu schreiben.

 


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