Paul Zech
Das rote Messer
Paul Zech

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Paradies und Hölle der Seelöwen

I

Aus meiner Schulzeit erinnere ich mich noch gut der Aufregung, in die wir eines Morgens versetzt wurden, als es hieß: Heute machen wir mit der Untertertia einen Ausflug nach dem Zoologischen Garten. Wollte ich nun erzählen, welches Erlebnis für mich der erste Besuch eines Zoologischen Gartens bedeutet hat, dann könnte sehr leicht mehr als ein Aufsatz daraus werden. Ich will aber nur davon sprechen, daß ich damals zum erstenmal einen Seelöwen zu sehen bekam, nachdem ich das Gewand von solch einem Tier, besser gesagt: ein Stück des gegerbten Fells als Schultornister auf dem Rücken getragen hatte, sechs Jahre lang.

Die possierlichen Späße nun, die die drei oder vier Tiere in dem Zoologischen Garten am Rande der schwarzen Stadt mit uns getrieben haben, sind unvergeßlich geblieben. Später sah ich dann noch öfter diese spaßhaftesten aller Schwimmtiere in den Zoologischen Gärten vieler Großstädte und sogar in einem Zirkus. Im Zirkus freilich machen die Seelöwen die denkbar unnatürlichsten Späße, mit den Musikinstrumenten einer Militärkapelle zum Beispiel und als Akrobaten auf einer Holzschaukel. Ihre natürlichsten Späße waren jedoch die, die sie bei der Fütterung mit den Fischen trieben.

II

Nun habe ich in Argentinien, nur ein paar Stunden Autofahrt von dem Ort, der einen Tiernamen trägt (unter »Camarones« – so heißt dieses Pueblo – muß man sich nämlich Krabben vorstellen, und in dem Städtchen Camarones nähren sich die Fischer 60 vorzugsweise vom Fang und Verkauf der Camarones), Tausende und Abertausende von jungen und alten Seelöwen die tollsten Späße treiben sehen, ohne daß ein uniformierter Dresseur dabeistand und kommandierte. Das Meer rauschte zu den Späßen der Tiere die entsprechende Musik. Zuweilen machten auch die Seelöwen selber eine ulkige Musik, und zwar auf der Instrumentalität, die ihnen der Schöpfer aller Dinge hatte wachsen lassen und die man nicht gerade bezaubernd nennen kann, immerhin klang sie naturhaft.

Das natürliche Konzert geschah auf einem Erdfleck, das heißt: auf einem Küstenstreifen von über drei Kilometer Länge, weit ab von jeder Menschensiedlung. Denn sonst hätten die Tiere ihre Späße so ungestört wohl nicht treiben dürfen. Weshalb nicht, darauf werde ich noch zurückkommen. Um bis zu diesem Punkt der Küste zu gelangen, die wie ein schmaler Gurt den Klippen vorgelagert war, mußte eine Fußwanderung von über drei Stunden hingenommen werden. Es war allerdings mehr ein Klettern als Wandern durch eine Geröll-Landschaft, die nicht eine Spur von Baum oder Strauch zeigte, von menschlichen Behausungen ganz zu schweigen.

Wir waren hier unserer drei. Und wir kamen uns wie Menschen in den Urtagen der Erde vor, wenn es zu jener Zeit überhaupt menschliche Wesen gegeben hat. Auf diesem Teil des Planeten bestimmt nicht. Was man an Knochenresten bei der Grabung nach Edelmetall gefunden hat, gehört riesigen Amphibien, Trilobiten, Ammoniten und Sauriern an, und aus jüngeren Zeiten Laufvögeln, noch größeren als sie heute vom Strauß dargestellt werden, ferner Knochen- und Lungenfischen und jener Affenart (was man allerdings erst kürzlich 61 feststellte), deren Männchen sich auf den achtern gelegenen Schwielen keine grauen Haare darüber wachsen ließen, wer zur Zeit als der Welt »Erster Unhold« anzusprechen ist; für sie gab es derlei Begriffe nicht.

Daß von diesen neofossilen Tierwesen nicht bloß die Knochen vorhanden sind (man muß hier sagen: leider!), sondern blutfrische und wohlgenährte Exemplare, das muß man mit Entsetzen in jeder Nummer der Zeitungen dieser Zeit feststellen. Zum Glück war ich schon in der siebenten Woche ohne solche Zeitungen. Denn was sich hierher verirrt, ist meist drei Monate alt, und die Nachrichten, die per Kabel verzapft werden, muten wie Legenden aus dem Paläozoikum an. So schnell verwildert hier jener hybride Schimmel, den man Zivilisation nennt. Vielleicht auch der Mensch, denn sein ziviler Anstrich ist ja nur das Produkt dieser Zivilisation. Die Seelöwen hingegen . . .?

III

Von einigen Punkten des Höhenzuges aus konnte man sie auf dem feuchten Sand sich tummeln sehen. Sie waren dabei, sich eine Burg zu errichten. Und daß wir den Seelöwen nun immer näher und näher kamen, das nahm uns die häßlichsten Worte von der Zunge, die oft schon laut werden wollten, um die fatale Unwirtlichkeit dieser Gegend gebührend zu kennzeichnen. Dann und wann waren wir genötigt, dreihundert Meter steil hochzuklettern und im Nu zweihundert Meter wieder hinunter.

Wenn der eine oder andere von uns im Geröll ein dürftiges und womöglich noch blühendes Pflanzenwesen aufspürte, blieben wir eine ganze Weile stehen und 62 sahen den Fund wie ein Wunder an. Ich entdeckte in einem der lila geöffneten Kelche sogar eine Wespe. Welche Mühe hat dieses Wesen aufzuwenden, um die für den Tag benötigte Ration einzuheimsen, und welche Flugstrecken müssen zurückgelegt werden im Verlauf eines einzigen Arbeitstages, wenn man feststellt, daß zwischen der einen blühenden Pflanze und der zweiten oft mehr als hundert Meter liegen. Denn auf einen Quadratkilometer kommen höchstens zwanzig Pflanzen. Und alle werden auch nicht gleichzeitig in Blüte stehen. Bleibt zu sagen, daß hier nicht einmal den Wespen etwas geschenkt wird. Sauer müssen sie sich den »Puchero« verdienen.

Gewiß, auch die Menschen, die zwar nicht hier oben (das kommt noch, wie ich schon sagte), aber einige Kilometer landeinwärts ihren Rancho stehen haben, müssen riesige Strecken an Arbeit hinter sich bringen, ehe sie sich ein neues Hemd kaufen können oder gar ein neues Ackergerät. Dafür haben es die Geier, die natürlich gewachsenen und die anderen, schon der Zivilisation verfallenen um so leichter.

Die Seelöwen sind jetzt bis zur Größe von im Sand scharrenden Hühnern an uns herangewachsen. Und das Meer, das in kleinen, eiligen Wellen herangerollt kam, war nicht nur als Meer zu erkennen, sondern auch schon zu schmecken. Der Salzgeruch machte die Kehle trocken. Und dazu war auch noch unser Trinkvorrat bereits bis zum letzten Drittel eingeschrumpft.

Wie eine Mole schoben sich die Ausläufer einer Klippe bis ins Meer hinein. Und die äußerste Spitze dieser Mole war der Ort, dem wir zustrebten, um die Seelöwen aus nächster Nähe betrachten zu können.

Mitten in den Schwarm durften wir uns natürlich nicht 63 hineinwagen. Die Tiere hätten uns sicher nicht gefressen, dazu sind sie zu wählerisch in ihren Mahlzeiten, aber sie hätten wahrscheinlich nicht jene Späße getrieben, an denen wir uns ergötzen wollten. Allein dieser Späße wegen hatten wir uns der Reise unterzogen. 64 Nett war das Herumklettern auf der Mole gewiß nicht. Wir erreichten schließlich den Punkt. Und vor uns tat sich in paradiesischer Friedlichkeit der Tummelplatz einer vieltausendköpfigen Seelöwenfamilie auf. Witternd stießen einige der uns zunächst sich im Sand herumräkelnden Tiere die Nasen hoch. Der Wind jedoch meinte es gut mit uns. Er trug den Menschengeruch aufs Meer hinaus, und dort verwehte er. Wir hüteten uns, miteinander zu sprechen. Was wir uns mitzuteilen hatten, geschah durch Zeichen und selbst das nicht häufig. Jeder war auf eine andere Art mit dem beschäftigt, was ihm ergötzlich vorkam an dem Tun und Treiben der possierlichen Tiere. Es war eine Unzahl von Jungen im Schwarm. Was eine Seelöwenmutter sich von den Söhnen und Töchtern gefallen lassen mußte, darüber würde eine Menschenmutter sicher den Verstand verlieren. Der Beweis dafür, daß der Verstand einer Seelöwenmutter gleich Null und der einer Menschenmutter mit einer Eins vor mindestens drei Nullen zu bewerten ist, wird nicht so einfach und mir nichts dir nichts zu erbringen sein. In einem jedoch sind die Seelöwenmütter den Menschenmüttern zweifellos überlegen: Sie strafen ihre Kinder, wenn sie allzu aufdringlich werden, nicht mit Faustschlägen und Fußtritten, wie es leider Menschenmütter oft tun.

Und noch etwas haben die nicht verprügelten Seelöwenkinder den Kindern der zivilisierten Menschen voraus: man braucht den Seelöwenkindern nämlich die Fortbewegung nicht erst allmählich beizubringen, viele Monate oder gar Jahre lang, nein, wenige Stunden schon nach dem Verlassen des Mutterleibes sind sie rüstig und munter im Wasser tätig, mit den gleichen eleganten Bewegungen wie die alten Geschöpfe. 65 Sie wußten sofort, was die zurückflutende Welle ihnen schuldig war, von der sie sich ein Stück weit ins Meer hinaustragen ließen, und die andere, die wiederkehrte und sie zurück auf den Ausgangspunkt trug. Meistens aber lagen sie in der Sonne, warfen sich mit den Mäulern kleine Muscheln zu, einen drollig zappelnden Fisch oder ein Bündel Tang.

Die Alten wiederum ließen sich den Buckel stundenlang von der Sonne rösten, oder sie pufften sich 66 gegenseitig in die Seite, teils aus Liebe, teils um einander den Platz an der Sonne streitig zu machen.

Vier Stunden fast hockten wir auf der Klippe herum, so tief mit den Gedanken bei den Tieren, als säßen wir in einem Theater, auf dessen Bühne ein Schelmenstück von Shakespeare gespielt wird. Schließlich waren es ja nicht die Seelöwen allein, deren Munterkeit uns so fesselte. Da war auch noch der Himmel, der sich von zartweißen Wolkengebilden tragen ließ. Und in diesen Himmel hinein zirkelten große Vögel ihre Kreise, bald enger und bald weiter, um sich dann mit einer jähen und phantastischen Wendung in die Flut hinunterzustürzen. Mit einem Fisch im Schnabel stiegen sie wieder empor und kreisten hoch oben weiter mit gleichmäßigen, ruhigen Flügelschlägen.

IV

Als wir endlich aufbrachen, wie gerädert von dem langen Stillsitzen auf den harten Steinen, kam es uns so vor, als seien wir Eindringlinge auf einem Eiland gewesen, das den Menschen nicht zugehört, das einzig jener Tierwelt vorbehalten ist, an deren uns als Spiel erscheinender alltäglicher Lebensart wir uns ergötzen.

Allerdings . . . der Mensch bricht, ohne eine Spur von Einsicht aufzubringen, in die friedlichsten Gefilde ein und zerstört deren ursächlichsten Sinn, wenn der Erwerbstrieb ihn auf die Reise schickt. Davon habe ich einen heftigen Begriff bekommen, nachdem ich dieses Paradies der Seelöwen hier habe erleben dürfen und knapp acht Tage später die Hölle der Seelöwen. Auch das gibt es natürlich.

Die Hölle befand sich tiefer nach Süden hinunter, kurz 67 vor dem Ziel unserer Reise in die Gegend des Pueblo Loberia. Lobo heißt eigentlich Wolf, aber man nennt im Argentinischen auch die Seelöwen so. Und den Ort benannte man nach dem schier unglaublichen Massenvorkommen der Seelöwen an jener Stelle der Küste. Man sagt, daß es Norweger waren, die zuerst auf den Gedanken gekommen sind, dem munteren Treiben der Tiere nicht zuzuschauen in romantisch bewegter Verzückung wie ein weltfremder Schriftsteller, sondern diese Gelegenheit auszunutzen und eine »Industria argentina« anzulegen, nachdem die Walfischfängerei nicht mehr rundum den Mann und die Firma nährte. Loberia ist der Schlachthof der Seelöwen. Mehr als zwanzigtausend Stück fallen in jeder Saison, das heißt in den zweimal im Jahre stattfindenden Paarungszeiten, dem wüsten Massenmorden zum Opfer. Die regungslos auf dem Strand herumliegenden Weibchen werden mit Holzkeulen erschlagen. Und nur die den Weibchen nachstellenden Bullen, die behender und wendiger sind, erledigt man mit der Schrotbüchse. Abertausend von schneeweißen Knochengestellen liegen, über meilenlange Strecken der Küste verstreut, auf den Sandhügeln herum, dazwischen die Kadaver der noch nicht abgelederten Tiere. Und die Schlächter waten bis zu den Knöcheln in Blut herum, obwohl der heiße Sand es schnell auffängt. Es ist die grausamste Art, Tiere in das Räderwerk der industriellen Verwertung hinüberzubefördern, die ich je in meinem Leben sah. Ich habe mich fragen müssen, welch ein Unterschied zwischen Schafen und Schweinen und einem Seelöwen besteht, dergestalt, daß Schafe und Schweine betäubt werden müssen, ehe sie dem Messer anheimfallen, während dem Seelöwen diese Art von »Humanität« von 68 Gesetzes wegen nicht zugestanden wird. Vielleicht liegt es daran, daß das Schlachthaus der Seelöwen mitten in der Wildnis liegt, dort, wo man die Zivilisation noch nicht auf Brillantringen am kleinen Finger trägt oder in der Bügelfalte und den Puder kiloweise im Gesicht.

 


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