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Zwölftes Kapitel.

Spangenbergs Geliebte

Feldau sah eines Abends, als er, diesmal in der äußeren Gestalt eines »Pennbruders«, in der Nähe der Bratzschen Wohnung herumschlenderte, Spangenberg das Haus verlassen. Er begab sich auf die andere Seite der Straße und bemühte sich, vor dem schnell Dahinschreitenden einen Vorsprung zu gewinnen, um ihn nach seiner neuen Gewohnheit über die Schulter hinweg beobachten zu können. Der Weg ging nach dem Königstor. Hier bestieg Spangenberg eine Elektrische und nahm auf dem Hinterperron Aufstellung. Dem Pseudo-Pennbruder blieb nichts übrig, als die schnellste Gangart, über die er verfügte, anzuschlagen, um seinem Observanten folgen zu können. Natürlich war er schon nach wenigen Minuten erschöpft, und die Gefahr, die Elektrische aus den Augen zu verlieren, rückte immer näher. Da führte der Zufall dem keuchend Dahinrasenden ein leeres Auto in den Weg. Den Wagenschlag aufreißen und mit einem Satz hineinspringen, war für Feldau das Werk eines Augenblicks. Er hatte aber in seinem Eifer nicht damit gerechnet, daß er in seinem Kostüm dem Chauffeur als ein wenig annehmbarer Fahrgast erscheinen mußte. So wandte sich der Wagenführer denn auch richtig nach dem vermeintlichen Strolch herum und sagte lachend: »Nanu!«

»Vorwärts doch!« drängte der Polizeiagent.

Aber der Chauffeur beugte sich über den Sitz, hielt dem unerwünschten Fahrgast die Faust drohend unter die Nase und stieß nur den einen drastischen und deutlichen Ausruf aus: »Nu aber 'raus!«

Feldau konnte sich natürlich nicht in lange Erklärungen einlassen, die Entfernung zwischen ihm und der Elektrischen vergrößerte sich mit jedem Moment, so sprang er denn mit einem Satz wieder aus dem Gefährt und stürmte mit Aufbietung aller seiner Kraft davon. Der Schweiß lief ihm trotz der Kälte des Tages stromweise aus allen Poren, seine Brust wogte stürmisch, das Herz klopfte ihm zum Zerspringen, und die Beine wollten fast den Dienst versagen.

Spangenberg stand noch immer auf dem Hinterperron. Feldau konnte bei dem hellen Licht der Gasglühlaternen die ihm wohlbekannte hagere Figur deutlich unterscheiden. Noch nie hatte er den Observanten um diese Zeit diesen Weg nehmen sehen. Wer weiß, ob er nicht mit Lomnitz, oder wer sonst die falschen Fünfmarkscheine verfertigte, eine Zusammenkunft hatte, ja vielleicht suchte er sogar die Falschmünzerwerkstätte auf. Dieser Gedanke peitschte Feldaus bereits erlahmende Energie gewaltsam auf, dennoch fühlte er, daß er am Ende seiner Kräfte angelangt war und in der nächsten Minute zusammenbrechen mußte. Da erblickte er in der höchsten Not einen im schärfsten Trab heranrasselnden Bierwagen. Mit einer letzten Kraftanstrengung schwang er sich auf eines der in eisernen Klammern hinten am Wagen hängenden Fässer. Zum Glück fuhr der Wagen in der Richtung der Elektrischen weiter. Der Polizeiagent war froh, obgleich der Sitz auf dem schwankenden harten Faß nichts weniger als angenehm war. Die Hauptsache war aber, daß er die vorausfahrende Elektrische, die ab und zu an einer Haltestelle eine Pause machte, im Auge behalten konnte und daß die Entfernung zwischen ihr und dem Bierwagen sich sogar noch allmählich verringerte.

Da trat ein neues Hindernis ein. Die Passanten auf der Straße waren auf den »blinden Passagier« auf dem etwas ungewöhnlichen Sitz aufmerksam geworden. Man lachte, blieb stehen und machte seine humoristischen Bemerkungen. Ja, ein paar Straßenjungen rafften Steine auf und begannen unter lautem Hallo ein Bombardement auf den Pseudo-Strolch.

Feldau fluchte. Die Wurfgeschosse flogen ihm um die Ohren, jetzt traf ihn sogar ein Stein an den Kopf, und wenn die Mütze die Kraft des Wurfes nicht geschwächt hätte, so hätte er wohl eine ernstliche Verwundung davongetragen. Das Schlimmste aber war, daß der Kutscher des Bierwagens das, was sich hinter seinem Rücken abspielte, bemerkt hatte und nun den ungebetenen Fahrgast mit einigen kräftigen, wohlgezielten Peitschenhieben zur Aufgabe seines Sitzes aufzufordern begann.

Feldau biß die Zähne zusammen und suchte mit schnellen Bewegungen den Hieben auszuweichen, von seinem Sitz aber rührte er sich nicht.

Da endlich – es war die höchste Zeit, denn der herkulisch gebaute Kutscher war schon im Begriff, den Wagen anzuhalten, um sich des hartnäckigen Fahrgastes mit der Gewalt seiner kräftigen Fäuste zu entledigen – sah Feldau, wie Spangenberg an der eben erreichten Haltestelle am Albertplatz die Elektrische verließ. Mit einem Sprung war er wieder auf den Beinen, und erleichternd aufatmend folgte er dem ahnungslos Vorausschreitenden.

Man befand sich im Osten der Stadt. Nachdem Spangenberg den Albertplatz passiert hatte, bog er in die Albertstraße ein. Hier verschwand er in einem der ersten Häuser. Vorsichtig schlich sich auch der Pseudo-Strolch in den Flur, und hier lauschte er, leise die Treppe hinaufhuschend, welches Stockwerk Spangenberg betreten würde. Er bemerkte, daß der Observant an einer Wohnung des zweiten Stockwerkes die Klingel zog. Nach einer Weile stieg Feldau hinauf. Auf dem Schild, das neben der Korridortür befestigt war, stand lakonisch: »Witwe Merten«. Der Hoffnung, die Falschmünzerwerkstatt entdeckt zu haben, mußte sich der Polizeiagent wieder einmal begeben.

Wer aber war die Witwe Merten? Und was führte den ehemaligen Zuchthäusler zu ihr? Traf er hier mit Lomnitz zusammen? Oder handelte es sich bloß um eine Liebesaffäre?

Auf alle diese Fragen konnte Feldau vorläufig die Antwort nicht erhoffen. Denn jetzt hieß es aufpassen, um festzustellen, wer inzwischen die Wohnung der Witwe Merten aufsuchen und ob Spangenberg das Haus allein verlassen werde.

Eine halbe Stunde war der Pseudo-Strolch in der Nähe des Hauses auf- und abpatrouilliert, als er eine Frauengestalt aus dem Hausflur treten sah. Ob sie aus der Mertenschen Wohnung gekommen war, konnte er zwar nicht wissen, dennoch hielt er es für richtig, die Frau in Augenschein zu nehmen. Sie war noch jung, etwa dreißig Jahre alt, hatte ein hübsches, sympathisches Gesicht, einen frischen Teint und große dunkle Augen. Der Polizeiagent prägte die Einzelheiten der unbekannten Persönlichkeit in seinem Gedächtnis ein und begab sich wieder auf seinen Posten. Volle zwei Stunden mußte er, bebend vor Frost in seinem leichten Kostüm auf der Straße warten. In der ganzen Zeit hatte außer einigen Kindern und Dienstmädchen niemand sonst das Haus verlassen oder betreten.

Endlich erschien Spangenberg wieder; er kehrte direkt und zu Fuß in seine Wohnung zurück.

Am anderen Tage begab sich Feldau in seiner Dienstmann-Tracht nach der Albertstraße zurück. Bei einem Budiker in der Nachbarschaft trat er ein, ließ sich ein Glas Bier geben, und begann mit dem behäbigen Wirt ein Gespräch. Auf Umwegen kam er auf die Witwe Merten zu sprechen. Was er von dem geschwätzigen Budiker vernahm, war wohl angetan, ihn zu interessieren. Die Witwe lebte mit ihrer erwachsenen Tochter Elise zusammen. Das junge Mädchen sei früher Modistin gewesen, habe aber nicht mehr nötig, sich die schönen weißen Fingerchen mit der Nadel zu zerstechen. Seit drei Jahren sei sie die Freundin eines reichen Bankiers, eines Junggesellen, dem das Haus gehöre. Dennoch sei Elise Merten ein braves Mädchen, und nur die bitterste Not – ihre Mutter war längere Zeit krank gewesen – habe sie veranlaßt, den Bewerbungen des Bankiers Gehör zu schenken.

Auf die Frage, ob die beiden Frauen viel Verkehr hätten, antwortete der Wirt, soviel er wisse, führten Mutter und Tochter ein zurückgezogenes Leben. Außer mit dem Bankier ging Elise Merten mit niemand aus, und bei ihr selbst verkehre, soviel er wisse, nur noch ein Verwandter, ein Neffe der Merten, über den er aber nichts näheres zu sagen wisse.

Aha! dachte Feldau. Der »Neffe« ist sicher kein anderer als Spangenberg. Seine weiteren Erkundigungen in einigen anderen Geschäften der Nachbarschaft bestätigten lediglich die Mitteilungen des Budikers.

Alle sprachen mit Sympathie von Elise Merten, die ein stilles, bescheidenes Leben führe und sich durchaus zurückhaltend und anständig benehme.

Feldau ergänzte das, was er gehört hatte, bei sich selbst. Allem Anschein nach war Spangenberg der Geliebte der Elise Merten, dem sie wahrscheinlich die weicheren und ehrlicheren Empfindungen ihres Herzens widmete. Wie alle Mädchen dieser Art empfand sie für den Mann, dem sie Liebe zu heucheln gezwungen war, weil er ihr eine behagliche Existenz bereitete, keine wärmere Empfindung, sondern im Gegenteil, Widerwillen, wenn nicht Haß. Mit um so innigeren, hingebenderen Gefühlen hing sie wohl an dem Mann, den sie selbst frei gewählt und auf den sie alle besseren Regungen ihrer Seele konzentrierte.

Natürlich wurde die Wohnung der Witwe Merten in der nächsten Zeit aufmerksam beobachtet. Es ergab sich aber nichts, das auf irgend welche Beziehungen der beiden Frauen zu der Falschmünzerangelegenheit hingedeutet hätte.

Außer Spangenberg und einem eleganten älteren Herrn, der in einem Privatautomobil vorzufahren pflegte, und der als der Bankier und Hausbesitzer rekognosziert wurde, suchte niemand die Wohnung der Witwe Merten auf.

Dennoch gab Kommissar Weigand Feldau den Auftrag, mit Elise Merten persönlich Verbindung anzuknüpfen.

Der Polizei-Agent suchte also im Dienstmanns-Kostüm die Wohnung der Witwe mit einem schönen Blumenstrauß auf.

Frau Merten öffnete ihm die Tür und führte ihn, als er erklärt hatte, daß er einen persönlichen Auftrag für Fräulein Merten habe, in das Wohnzimmer. Das Zimmer war komfortabel eingerichtet; die Freigebigkeit des Bankiers war unverkennbar und kam auch in dem eleganten Morgenrock, den Elise Merten trug, zum Ausdruck. Die Freundin des Bankiers war eine Blondine von hohem und sehr schönem Wuchs. Ihr Gesicht zeigte sympathische und hübsche Züge. Der Polizei-Agent bewunderte im stillen Spangenbergs Geschmack und sein Glück bei den Frauen.

Diesmal hatte Feldau die Hilfe seiner eifersüchtigen Braut nicht in Anspruch genommen. Er richtete, während er dem erstaunten Fräulein die duftigen Blumen überreichte, seinen Auftrag mündlich aus. Er sei, so berichtete er, von einem elegant gekleideten Herrn, der seinen Namen nicht genannt habe, auf der Straße angerufen worden. Der Unbekannte habe ihm Namen und Adresse von Fräulein Merten angegeben und ihn beauftragt, den Blumenstrauß dem Fräulein zu überbringen.

Er – der Unbekannte – habe Fräulein Merten am Fenster von der Straße aus gesehen und ein lebhaftes Interesse für sie gefaßt. Er bitte sie, die Blumen als ein Zeichen seiner Verehrung freundlichst anzunehmen, und lasse sie bitten, ihm doch für den nächsten Nachmittag, fünf Uhr, eine Zusammenkunft im Café Reichskrone zu gewähren.

Aber Elise Merten schien sehr wenig von der ihr dargebrachten Huldigung erbaut. Wahrscheinlich hatte sie öfter derartige Annäherungsversuche, die wohl nicht immer rücksichtsvolle Formen einhielten, zu verzeichnen. Sie zog ihre Stirn in Falten; über das freundliche, hübsche Gesicht breitete sich ein Schatten und die schön geformten Lippen kräuselten sich hochmütig. Der Herr solle sich nicht bemühen, sie gäbe sich kein Rendezvous mit unbekannten Herren und auch die Annahme des Blumenstraußes müsse sie strikte ablehnen.

Aber Kriminalkommissar Weigand, dem Feldau Bericht erstattete, gab trotz dieser Zurückweisung die Hoffnung nicht auf, in der Rolle eines Bewunderers – die er selbst spielen wollte – die Bekanntschaft der Geliebten des Spangenberg zu machen. Er war Frauenkenner genug, um zu wissen, daß schöne Frauen an solchen in der Aufwallung eines Augenblicks gefaßten Entschließungen nicht immer konsequent festhalten, sondern daß sie nicht selten im letzten Moment sich eines andern besinnen. Für Schmeicheleien war ja das schöne Geschlecht im allgemeinen sehr empfänglich und die weibliche Neugier und Sensationslust pflegte dem Reize eines in Aussicht stehenden galanten Abenteuers nur schwer widerstehen zu können.

Am wenigsten durfte man von Mädchen von der Art Elise Mertens unbesiegbare Sprödigkeit und eine auf moralischen Bedenken beruhende strenge Unzugänglichkeit erwarten.

Pünktlich um fünf Uhr nahm Kommissar Weigand an einem der runden Tischchen des Café Reichskrone Platz und zehn Minuten später sah er eine hochgewachsene, hübsche und ebenso geschmackvoll wie elegant gekleidete Blondine eintreten, die – der Beschreibung nach – wohl Elise Merten sein konnte. Seiner Sache sicher war Weigand, als er kurz darauf den ihm ja bekannten Spangenberg das Lokal betreten sah. Er selbst deckte sich durch ein vorgehaltenes Zeitungsblatt, hinter dem er die beiden neuen Gäste beobachten konnte, ohne selbst ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Langsam schritt Spangenbergs Geliebte den Mittelgang hinunter, sich überall forschend und suchend umblickend. Natürlich hütete der Kommissar sich, die zum Rendezvous Geladene zu begrüßen, denn auf den Fersen folgte ihr, getreu wie ihr Schatten, Spangenberg als Kavalier und Beschützer.

Kommissar Weigand lächelte in sich hinein. Die Sprödigkeit und Zurückhaltung der Freundin des Bankiers hatte er zwar unterschätzt, aber eine rechte Evanatur war sie trotzdem. Sicherlich sollte das Erscheinen der Blondine in Begleitung ihres Seladons einen Protest darstellen, den sie sich, eitel wie alle Evatöchter, nicht hatte versagen können. Sie wollte dem kecken, ihr noch unbekannten Verehrer eine Lektion erteilen und ihm » ad oculos« demonstrieren, daß sie nicht »so eine« sei und daß sie nicht daran denke, jedem sich ihr nähernden zudringlichen Menschen, und mochte er auch noch so elegant und galant sein, ein Rendezvous zu gewähren.

Die beiden Gäste nahmen endlich Platz, zur stillen Befriedigung des Kriminalkommissars, an einem Tisch, den er bequem übersehen konnte. Es interessierte den heimlich Beobachtenden nicht wenig, zu sehen, wie die beiden Ahnungslosen sich zu einander verhielten.

Spangenberg spielte in tadelloser Weise den aufmerksamen Ritter und Verehrer. Er zog seiner Begleiterin selbst den Mantel aus, obgleich der Kellner hinzugetreten war, um den Beiden bei Abnahme der Garderobe behilflich zu sein, er fragte, welchen Stuhl sie vorziehe, und nachdem sie sich nebeneinander gesetzt hatten, ruhte sein Blick voll Zärtlichkeit und Anbetung auf ihr. Auch sie legte durch ihr ganzes Benehmen das herzliche Verhältnis an den Tag, das die beiden zweifellos verband. Sie zog, als Spangenberg eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte, den Streichholzständer heran und rieb selbst ein Zündholz an, das er mit höflichem Dank in Empfang nahm. Dann sprachen sie lebhaft miteinander, und als der Kellner die bestellten Getränke gebracht hatte, schien er sich aufmerksam zu erkundigen, wie es ihr mundete. Während des Gesprächs legte sie verschiedene Male ihre Hand auf die seine und fuhr liebkosend über seinen Handrücken hin; dabei suchten ihre Blicke sich zärtlich und blieben mit verliebtem Ausdruck an einander hängen. Kurz, ihr ganzes Verhalten gegeneinander war so, daß man sie für ein in den Flitterwochen lebendes junges Ehepaar halten konnte.

Auch in diesen vom unerbittlichen Leben mißhandelten und abgehärteten, abgestumpften Herzen schien noch ein Funken von Poesie, der Hauch besserer Empfindungen zu leben, die diese Unglücklichen für Stunden dem Bewußtsein ihrer moralischen Verkommenheit, der Trostlosigkeit ihrer Zukunft enthoben.


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