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Durch das Land der Karduchen nach Armenien

Die Karduchen waren außerhalb ihres Landes wenig gefährlich, aber auf ihrem heimischen Boden kaum zu überwinden. Das Land starrte von Höhen an Höhen, von übereinander aufsteigenden Bergen, dazwischen lagen schmale, fruchtbare Täler mit den Dörfern, worin sie wohnten. Ihre Kampfweise war ganz auf diesen Boden berechnet. Sie waren sehr leicht gekleidet und führten keine anderen Waffen als Bogen und Schleuder. Der Bogen der Karduchen war ungewöhnlich groß, er maß von einer Spitze zur anderen drei Ellen, so daß sie ihn nur spannen konnten, indem sie ihn senkrecht gegen den Boden stemmten und auf die untere Spitze mit dem Fuß auftretend in gebückter Haltung die Sehne an sich zogen. Demgemäß waren auch die Pfeile groß und stark und der Schuß so kräftig, daß sie eherne Panzer durchbohrten und noch tief in den Leib des Feindes drangen. Wenn man ihnen zu Leibe ging, waren sie bald fortgescheucht, taten aber von fern mit ihren wohlgezielten Schüssen großen Schaden und wußten sich der Verfolgung leicht zu entziehen, da sie in ihren verworrenen Bergen jeden Weg und Steg kannten, überaus schnellfüßig waren, und wie die Katzen an den Felsen auf und ab kletterten.

Die Hellenen hätten es am liebsten gesehen, wenn die Karduchen sie in Frieden hätten durch ihr Land ziehen lassen und ihnen die nötigen Lebensmittel zu Kauf gestellt hätten. Auch konnten sie es allenfalls hoffen, denn die Gefangenen, welche von der Niederlage des Perserheeres berichteten, hatten hinzugefügt, seitdem der benachbarte Satrap einen Vertrag mit den Karduchen geschlossen, ständen sie mit seiner Provinz in freundlichem Verkehr, während die anderen Perser nach wie vor als gehaßte Feinde behandelt würden. Da die Hellenen nun gleichfalls Feinde der Perser waren und einen bitterbösen Krieg mit ihnen geführt hatten, meinten sie, die Karduchen würden sie vielleicht als eine Art von Bundesgenossen ansehen und aufnehmen, denn im Kriege gilt es oft: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Gleichwohl beschlossen sie mit aller Vorsicht in das gefährliche Land einzuziehen.

Nachdem sie den Göttern geopfert und um guten Erfolg gefleht hatten, brachen sie noch im Dunkel der Nacht auf, um ungesehen anzulangen, und erreichten früh morgens die nächsten Berge. Cheirisophos führte diesmal die Bogenschützen als Vorhut, Xenophon die Hopliten als Nachtrab. Cheirisophos kam unbemerkt über den ersten Berg, die anderen Truppen und der Troß folgten allmählich; weil aber der gangbare Pfad sehr enge war, dauerte es bis zum Abend, ehe der Nachtrab hinabgelangte. Hier fand man in Schluchten und Tälern mehrere Dörfer. Durch das Erscheinen von Fremden höchlich überrascht, kamen die Bewohner derselben aus den Häusern. Die Hellenen zeigten ihnen freundliche Gesichter und ließen ihnen zurufen, sie seien keine Feinde, aber jene gaben kein Gehör, alles floh mit Weib und Kind in die Berge. Übrigens war der Nachtrab schon beim Übergang über den ersten Berg angegriffen, einige getötet, andere mit Steinwürfen und Pfeilen verwundet, doch zum Glück waren der Feinde nur wenige gewesen.

Bild: Max Slevogt

Die Hellenen waren nun Herren der Dörfer, hofften jedoch noch immer, daß die Karduchen zum Frieden zu bewegen sein würden. In den Häusern fanden sie viele Gefäße von Erz, wertvolle Beutestücke, aber keines davon wurde geraubt. Dagegen mußten sie sich die Vorräte von Getreide und anderen Lebensmitteln aneignen; die Not zwang sie dazu, und es war niemand da, von dem sie kaufen konnten. Während der Nacht blieben sie ungestört, allein es flammten bereits auf einem Berge nach dem anderen mächtige Feuer auf, als weithin sichtbare Botschaft, daß Feinde ins Land eingebrochen seien, und als Aufforderung an das Volk ringsumher sich zu ihrer Abwehr zu versammeln.

Die Obersten und Hauptleute traten am Morgen zur Beratung zusammen und beschlossen, wie schon unlängst einmal geschehen, alles irgend Entbehrliche zurückzulassen, damit die Ausdehnung des Zuges möglichst vermindert und der Schutz desselben erleichtert würde. Allen Gefangenen gab man die Freiheit, von den Zugtieren sollten nur die kräftigsten und durchaus nötigen mitgenommen werden, wodurch zugleich die Führer der zurückgelassenen für den Kampf frei wurden. Auch brauchte man dann nicht so große Vorräte mitzuschleppen. Dies wurde dem Heere angesagt, und als es nach dem Frühmahl aufbrach, standen die Obersten an einer engen Stelle des Weges und nahmen den Soldaten alles weg, was sie wider das Verbot unterschlagen wollten.

An diesem Tage mußte schon mehrmals ernstlich gekämpft werden, doch gab es auch längere Pausen. Am darauffolgenden trat ein Schneesturm ein, und dazu hatte man beständig einen großen Schwarm von Feinden dicht an den Fersen, welche besonders, wo die Wege sich verengten, ihnen mit Pfeilen und Steinen arg zusetzten. Um sie zurückzujagen, ließ Xenophon von Zeit zu Zeit dem Cheirisophos, der bei der Vorhut war, mit der Trompete das Zeichen zum Halten geben und machte dann mit seinen Hopliten einen Angriff gegen die Feinde, die sogleich zerstoben, aber in kurzem aufs neue hinter ihnen her waren. Anfangs konnten die Hopliten bald wieder das voranziehende Heer erreichen, doch später schien Cheirisophos das Zeichen nicht mehr zu beachten, denn der Zwischenraum zwischen beiden Teilen wurde größer und größer, und die Hopliten mußten wie auf einer Flucht immer schneller laufen, während sie beständig den Geschossen der Karduchen preisgegeben waren. Als nun abends Rast gemacht wurde, beschwerte sich Xenophon, daß Cheirisophos keine Rücksicht auf ihn genommen und seine Soldaten genötigt habe, zugleich zu laufen und zu kämpfen. Infolgedessen seien zwei der besten Männer und auch geringere gefallen, deren Leichen er nicht habe aufnehmen können. Bekanntlich hielten es die Hellenen für ein großes Unglück, wenn ein Toter nicht mit den herkömmlichen Ehren oder gar überhaupt nicht bestattet war. Cheirisophos hatte aber einen triftigen Grund gehabt, den letzten Teil seines Marsches, so schnell er irgend konnte, zurückzulegen. Er sagte: »Von den Wegweisern erfuhren wir, daß die Berge vor uns überall sonst unwegsam sind und nur der steile Pfad, den du dort erblickst, zu dem Passe führt, durch welchen wir ziehen müssen. Nun hoffte ich, wenn wir uns beeilten, würden wir oben sein, bevor die Feinde den Paß besetzt hätten, aber leider sind sie uns zuvorgekommen. Da stehen sie in großer Zahl, und ich sehe nicht ab, wie wir sie vertreiben können.« Dies mußte Xenophon gelten lassen und berichtete seinerseits: »Da uns die Karduchen fortwährend beunruhigten, legten wir ihnen hinter Büschen einen Hinterhalt und warteten da auf sie, was uns zugleich erwünschte Gelegenheit gab, ein wenig auszuruhen. Wie nun eine Schar von ihnen herankam, fielen wir über sie her und die meisten töteten wir, zwei aber ließ ich gefangen nehmen, um sie als Führer durch die Berge zu brauchen. Diese werden besser als unsere bisherigen Wegweiser wissen, ob es nicht noch einen zweiten Weg gibt.«

Die beiden Karduchen wurden vorgeführt. Man fragte den einen, ob er außer dem sichtbaren Pfade zum Passe noch einen anderen kenne. Anfangs schwieg er ganz und gar; als man ernstlicher in ihn drang, sagte er zwar allerlei, aber nichts Brauchbares, obwohl er offenbar genug wußte, um die Hellenen zu befriedigen. Nun drohte man ihm mit dem Tode, wenn er hartnäckig bliebe; doch auch das schreckte ihn nicht, man konnte nichts aus ihm herausbringen, und es war zu fürchten, daß der andere Karduche seinem Beispiel folgen würde. Es war aber für die Hellenen von der äußersten Wichtigkeit, von einem zweiten Wege Kenntnis zu erhalten, das Schicksal des ganzen Heeres hing davon ab. Sie mußten also dem anderen Karduchen den vollen Ernst ihrer Drohungen beweisen und hieben jenen vor seinen Augen nieder. Damit erreichten sie ihren Zweck. Als der andere befragt wurde, sagte er: »Es gibt einen zweiten Weg, mein Landsmann hat ihn nicht verraten wollen, weil seine Tochter mit ihrem Manne daran wohnt. Ich bin bereit, euch diesen Weg zu führen, auch für euer Vieh ist er gangbar.« Im Kriege ist es nicht anders, es muß bisweilen um des Ganzen willen grausam gehandelt werden, gleichwohl kann es einem sehr leid tun, daß der wackere Mann, der aus Liebe für die Tochter sein Leben hingab, nicht zu retten war. Auf weiteres Befragen, ob an dem zweiten Wege sich ein Berg befinde, wo sie, wenn er besetzt sei, schwer vorüber könnten antwortete der Karduche: »Allerdings, und er ist schon besetzt.«

Nun kannten die Hellenen ihre Lage. Wenn im Kriege ein schweres Wagestück durchzuführen ist, so sucht der Feldherr bisweilen den guten Erfolg zu sichern, indem er den Ehrgeiz der Soldaten ins Spiel zieht und diejenigen, die aus freiem Willen daran teilnehmen wollen, sich zu melden auffordert. So geschah es auch in diesem Fall, und es traten alsbald etwa zweitausend Freiwillige zusammen, teils Offiziere, teils gemeine Soldaten. Als es zu dunkeln begann, nahmen sie noch ein kräftiges Mahl ein und brachen dann auf, der Karduche –gefesselt, damit er nicht unterwegs entrinnen könnte –begleitete sie. Der von den Feldherren entworfene Plan war dieser: die Freiwilligen sollten die Karduchen von dem Berge am zweiten Wege vertreiben und die Nacht über dort bleiben, am folgenden Morgen aber mit der Trompete ein Zeichen geben und dann durch die Büsche nach dem Passe ziehen und die Hüter desselben angreifen; auf das Zeichen würde ein Teil des übrigen Heeres so schnell als möglich auf dem ersten Wege, dem von unten sichtbaren, aufsteigen und ihnen zu Hilfe kommen.

Die Zweitausend gingen unter beständig strömendem heftigen Regen auf dem zweiten Wege bergauf. Um die Aufmerksamkeit der Hüter des Passes von der Schar der Freiwilligen abzulenken, setzte sich Xenophon an die Spitze des Nachtrabs und tat, als ob er auf dem ersten Wege ziehen und den Paß einnehmen wolle. Als sie nun an eine enge und dichtbewachsene Schlucht kamen, fanden sie die hohen Felsen zur Seite derselben von den Karduchen besetzt. Diese hatten mächtige Steine und Felsblöcke zusammengeschleppt, um sie auf die Durchziehenden hinabzuwälzen. Es gab ein unausgesetztes gewaltiges Gepolter; wenn die Blöcke auf vorspringende Felsen trafen, zersprangen sie, die Stücke flogen nach verschiedenen Seiten, fielen prasselnd auf den Boden und bohrten sich tief in die Erde ein. Es wäre kaum einer von den Hellenen mit dem Leben davongekommen, wenn sie –in der Schlucht gewesen wären. Aber sie waren mit gutem Bedacht zurückgeblieben, nur ein oder der andere Hauptmann ließ sich in der Nähe der Schlucht blicken, als ob er einen sichereren Weg suchte. Als es so dunkel war, daß sie nicht mehr von oben gesehen werden konnten, zogen sie sich in das Tal zurück und nahmen ungestört ihr Abendessen ein. Die Karduchen blieben die ganze Nacht hindurch auf ihren Felsen und warfen noch immer Steine herab, wie die Hellenen aus der Ferne in ihrem sicheren Aufenthalt hören konnten.

Bild: Max Slevogt

Die Zweitausend waren unterdessen von ihrem Wegweiser zu der Höhe geleitet, welche den zweiten Weg beherrschte. Dort saßen die Karduchen behaglich um ihre Feuer, als sie plötzlich angegriffen und teils getötet, teils in die Flucht getrieben wurden; worauf die Hellenen die kalte Nacht an den Feuern zubrachten, welche jene für sich angezündet hatten. Am frühen Morgen begaben sie sich, wie es ihnen aufgetragen war, nach dem Passe. Als sie sich unter dem Schutze eines dichten Nebels unbemerkt herangeschlichen, gaben sie das verabredete Zeichen mit der Trompete und stürzten auf die Feinde zu. Diese erkannten ihre Übermacht und flohen, nur wenige von ihnen wurden getötet. Zu gleicher Zeit arbeitete sich Cheirisophos mühsam den ersten, von unten sichtbaren Weg hinauf; er war an manchen Stellen so steil, daß die Soldaten ihren Hintermännern die Lanzen hinhalten mußten, um sie an diesen in die Höhe zu ziehen. Endlich erreichten auch sie den Paß und trafen mit den Freiwilligen zusammen, welche bereits die Feinde verjagt hatten.

Der Paß war also gewonnen und in den Händen der Hellenen, aber es war noch eine andere, recht schwierige Aufgabe zu lösen, nämlich das Vieh nachzuführen. Diese Aufgabe hatte Xenophon auf sich genommen. Der Weg, wo die Zweitausend marschiert waren, eignete sich nicht zum Transport von Vieh, es mußte ein Nebenweg benutzt werden; zum Schutze des Viehes ließ Xenophon die eine Hälfte seiner Soldaten vor, die andere hinter demselben einhergehen. Nicht lange, so sah man vor sich einen Berg, der von den Karduchen besetzt und wohlgelegen war, Menschen und Vieh großen Schaden zu tun. Man mußte also die Feinde vertreiben. Bevor zum Angriff vorgegangen wurde, befahl Xenophon, wenn der Berg erstiegen wäre, sollte ein Pfad freigelassen werden, auf dem die Karduchen fliehen könnten; sie sollten nicht zu einem verzweifelten Widerstand genötigt werden, dessen Bekämpfung die Hellenen zu lange aufgehalten hätte. Solange sie aufzuklimmen hatten, wurde von oben geschossen und mit Steinen geworfen, doch wie sie den Gipfel erreichten, liefen die Karduchen davon und die Straße unten war frei. Von hier sah Xenophon, daß auf den ersten Berg, in ganz geringem Abstand, ein zweiter, gleichfalls besetzter folgte. Xenophon mußte auch diesen zu räumen suchen und außerdem darauf bedacht sein, daß die vertriebenen Feinde nicht wieder auf den ersten zurückkehren könnten. Denn die Karduchen waren wie ein Fliegenschwarm, der von der Stelle, wo er sich niedergelassen, leicht verjagt wird, doch ebenso schnell sich auf dem nämlichen Platze aufs neue einstellt. Die Straße unten aber mußte noch für längere Zeit freibleiben, weil infolge der Enge des Weges der Zug der Tiere nur langsam vorwärts kam. Er ließ also auf dem so eben eingenommenen Berg drei Hauptleute mit der nötigen Mannschaft zurück. Die Einnahme des zweiten Berges glückte ebenso wie die des ersten, und wie sich noch ein dritter zeigte, der zu nehmen war, bedurfte es nicht einmal des Kampfes, die Karduchen verließen ihn, ehe die Hellenen noch oben waren. Da erhielt Xenophon die Nachricht, daß die Feinde die Besatzung des ersten Berges überfallen und einen Teil von ihr, darunter zwei Hauptleute, niedergemacht hatten; das Leben retteten nur die, welche einen kühnen Sprung von den Felsen herab wagten. Es blieb daher nichts übrig, als den schon für gesichert gehaltenen Berg aufs neue zu erobern. Auch damit hatte die Arbeit des Tages noch immer nicht ihr Ende erreicht; so mancher wackere Mann fiel noch im fortgesetzten Kampfe. Einmal war Xenophon nahe daran, sein Leben zu verlieren. Er hatte seinen Schild einem Diener zu tragen gegeben, und wie nun von einem nahen Berge Felsstücke herabgeschleudert wurden, lief der Diener in seiner Angst davon, und Xenophon war ungedeckt; doch ein Hellene, der es bemerkte, eilte hinzu und hielt seinen Schild vor beide.

Endlich waren die gesonderten Scharen wieder vereinigt und gelangten am Abend in ein Tal, wo es Vorräte in Menge gab und sie sich in bequemen Hütten unterbringen konnten. Sie hatten während des Tages schwere Verluste gehabt, und leider hatten sie von den Kampfplätzen abziehen müssen, ohne ihre Toten mit sich nehmen zu können. Das ging ihnen sehr nahe. Xenophon und Cheirisophos schickten daher Unterhändler an die Karduchen und boten ihnen die Rückgabe ihres Landsmanns, des Wegweisers an, wenn sie die hellenischen Leichen herausgäben. Die Karduchen gingen darauf ein, und die Hellenen hatten die Genugtuung, die Ihrigen, soweit es die Umstände zuließen, mit den üblichen Gebräuchen zu bestatten. Mit diesem Austausch hatten sie ein großes Opfer gebracht, denn statt des kundigen Wegweisers hatten sie jetzt in einem ihnen ganz fremden und von keinem Standpunkt übersehbaren Lande nur die Sonne, die ihnen nichts als die Weltgegenden wies. Sie hielten es für das Geratenste, wie bisher, so auch ferner der Nordrichtung, aus welcher der Tigris kommt, zu folgen.

Noch drei Tage verliefen unter Gefahren und Strapazen, wie sie hier von einem Tage geschildert sind. Ihr Zug durch das Karduchenland währte im Ganzen nur sieben Tage; doch in dieser kurzen Zeit hatten sie es so schwer, daß ihnen im Vergleich damit alle Kämpfe, die sie mit dem Großkönig und Tissaphernes bestanden hatten, leicht wie ein Kinderspiel erschienen. Wie erfreut waren sie daher, als sie am Rande des Karduchenlandes in die Ebene Armeniens blicken konnten!

Überstandene Gefahren ruft man sich später gern zurück; so saßen denn die Hellenen, als sie jene sieben Tage hinter sich hatten und, reichlich mit Speise und Trank versehen, ausruhen konnten, in kleinen Häuflein beisammen und erzählten sich einander von den Abenteuern, die sie erlebt, wie einer nur um Haaresbreite dem drohenden Tode entgangen, der andere gerade noch zur rechten Zeit einem Genossen zu Hilfe gekommen, was Xenophon oder Cheirisophos hier oder da gesagt, und selbst das Geringste wurde mit Interesse angehört. Und wie süß dünkte ihnen der erquickende Schlaf, dem sie sich endlich einmal in Sicherheit hingeben konnten!


Armenien war eine reiche persische Provinz. Der Fluß Kentrites bildete ihre Grenze gegen die Karduchen; doch waren die nächsten drei Meilen wüste und unbewohnt, weil die Armenier die räuberischen Einfälle ihrer Nachbarn fürchteten.

Man mußte von der Annäherung der Hellenen schon Kundschaft erhalten haben, denn jenseits des Flusses waren persische Reiter zu sehen und etwas weiter flußaufwärts, wo das Land sich hob, Fußvolk. Gleichwohl wollten die Hellenen unter ihren Augen durch den Fluß waten, denn zu umgehen war er nicht. Als sie sich nun in den etwa fünfzig Schritte breiten Fluß begaben, ging ihnen das Wasser alsbald bis über die Brustwarzen; dies allein hätte sie freilich nicht abgeschreckt, aber es hatte einen sehr reißenden Strom; wenn sie die hohen Schilde vor sich hielten, wurden diese von der Strömung zur Seite gerissen, so daß sie den Pfeilen und anderen Geschossen der Feinde preisgegeben waren, hielten sie aber die Schilde über dem Kopf, so war die Gefahr etwas geringer, doch noch immer vorhanden. Ferner hatten sie auf dem dicht mit großen schlüpfrigen Steinen bedeckten Grunde keinen sicheren Tritt. Dazu kam noch, daß jetzt am Rande des Gebirges bewaffnete Karduchen erschienen, offenbar mit der Absicht, wenn die Hellenen durch den Fluß gingen, die gute Gelegenheit wahrzunehmen und sie im Rücken anzugreifen; sie befanden sich also in der Mitte zwischen zwei Feinden. Die Verlegenheit war groß. Diesen Tag über blieben sie, wo sie waren, und ihr Nachtquartier nahmen sie an derselben Stelle wie in der vorigen Nacht; die Karduchen hatten sich abends wieder in die benachbarten Dörfer zurückgezogen. Da hatte Xenophon einen Traum: er war in Fesseln geschlagen, doch plötzlich fielen die Fesseln von selbst ab, so daß er sich wieder ganz frei bewegen konnte. Darüber wachte er auf und hatte nun den festen Glauben, die Götter würden alles zum Besten lenken. Frühmorgens geht er zu Cheirisophos, teilt ihm den Traum und seine Deutung desselben mit und beide beschließen, Opfertiere schlachten und auch auf diese Weise die Götter ihren Beschluß kund tun zu lassen. Gleich das erste Opfer fällt günstig aus, und nun sind sie voller Freude; aber wie die Götter sie retten würden, davon hatten sie keine Ahnung. Da, während das Heer das Frühmahl einnimmt, kommen zwei junge Krieger zu den Feldherren herbeigeeilt und berichten: »Wir suchten am Flusse Reisig, um Feuer zu machen, eine gute Strecke flußaufwärts von hier. Da sahen wir einen Mann, eine Frau und zwei Mädchen, die soeben durch den Fluß gegangen zu sein schienen. Also versuchten wir es mit dem Wasser und fanden, daß es dort viel ruhiger fließt als hier, und wie wir es durchwateten, reichte es uns kaum bis zum Leibe. Auch ist an dieser Stelle die Gegend bergig, von den feindlichen Reitern würden wir also wenig zu fürchten haben.« So war denn das Vertrauen der Feldherren nicht getäuscht worden. Dankbar brachten sie den Göttern sofort ein Trankopfer; auch den beiden Jünglingen füllten sie eine Schale mit Wein, ihn zum Dank für die Götter auf den Boden zu schütten. Die anderen Obersten wurden berufen und mit ihnen beraten, wie man trotz der Feinde vor und hinter ihnen –die Karduchen waren am Tage wieder auf der Höhe am Rande ihrer Berge –mit dem geringsten Verlust über den Fluß kommen könne.

Dann ging man an die Ausführung des gefaßten Plans. Von den Jünglingen geführt, zogen die Hellenen flußaufwärts nach der Furt, sie war etwa 1200 Schritt von ihrem Lagerplatz. Als die persischen Reiter dies bemerkten, schlugen sie dieselbe Richtung ein und blieben ihnen immer gegenüber. An der Furt brachten die Priester dem Flußgott ein Opfer, dann sang man den Päan, ein Lied zum Preise der Götter, erhob das Kriegsgeschrei und Cheirisophos mit der Vorhut trat in den Fluß. Xenophon aber und die Seinigen eilten nach dem früheren Platze zurück, als wenn sie da über den Fluß setzen wollten; dies hatte den Erfolg, den die Feldherren wünschten. Die Reiter sahen, wie Cheirisophos oberhalb durch den Fluß kam, sahen auch, wie Xenophon sich unterhalb zum Übergang anschickte, und von der Furcht ergriffen, daß sie von den beiden Abteilungen der Hellenen würden in die Mitte genommen werden, flohen sie im Galopp davon. Sobald die Schar des Cheirisophos den Fluß verlassen hatte, marschierte sie gegen die Höhe, wo das persische Fußvolk stand; dieses aber hatte nicht den Mut, sich ohne die Unterstützung der Reiter in den Kampf einzulassen, und gab gleichfalls eiligst Fersengeld. Der Troß und die Zugtiere setzten hinter Cheirisophos über den Fluß. Nun war nur noch die Abteilung Xenophons diesseits des Kentrites, und diese möglichst unversehrt durch das Wasser zu bringen, war die letzte und eine nicht ganz leichte Aufgabe. Denn die Karduchen lauerten nur auf den Moment, wo sie mit Aussicht auf Erfolg über die abziehenden Hellenen herfallen könnten. So lange nun noch ein großer Teil derselben auf dem Lande war, wagten sie sich nicht von ihrem Bergwald herab, aber als sie die meisten im Wasser sahen, waren sie schnell hinter den Zurückgebliebenen her; wie es im Sprichwort heißt: die Letzten beißen die Hunde. Aber Xenophon war darauf vorbereitet. Als ihre Pfeile schon durch die Luft schwirrten, ließ er ein Zeichen mit der Trompete geben, auf welches seine Hopliten plötzlich kehrtmachten und sich in schnellem Schritt und unter gellendem Kriegsgeschrei gegen die Verfolger wandten. Die Karduchen waren sich wohl bewußt, daß sie außerhalb ihrer Berge gegen die starken Hellenen nichts vermochten, daher machten sie von der Schnelligkeit ihrer Füße Gebrauch und flohen in die Berge. Wieder erscholl die Trompete, für die Hopliten war es das Zeichen, daß sie nun sofort in den Fluß eilen sollten, die Karduchen jedoch meinten, jene würden dadurch zu schnellerer Verfolgung der Feinde angefeuert, und beschleunigten noch ihre Flucht. So brachte der Übergang über den Kentrites, der anfangs ganz unmöglich geschienen, den Hellenen nur geringen, vielleicht gar keinen Verlust.

Bild: Max Slevogt

Nun befanden sie sich in Armenien, einem Lande ohne gefährliche Berge, aber teilweise fünftausend und mehr Fuß über dem Meere gelegen, und darum war der Winter sehr lang und kalt, der Sommer kurz. Das Korn sproßt erst zu Anfang Juni, und mit der Ernte im September stellt sich schon der Winter ein. Jetzt war es Dezember und die Hellenen sollten bald erfahren, was es um diese Zeit mit einem armenischen Winter auf sich hat.

Zunächst zogen sie acht Tage durch ebenes Land, ohne auf einen Feind zu stoßen, und kamen mehrmals in wohlhabende Dörfer, wo sie ihren Leib pflegen konnten. Weiterhin zeigte sich eines Tages eine Reiterschar, geführt von dem Satrapen Tiribazos; er stand beim Großkönig in hoher Gunst und hatte, wenn er in Susa war, das Vorrecht, ihm aufs Pferd zu helfen. Er ritt an das Lager der Hellenen heran und verlangte mit den Feldherren zu sprechen. Als sie erschienen, erklärte er sich bereit, einen Vertrag mit ihnen zu schließen: sie sollten sich verpflichten, kein Dorf zu verbrennen und keinem Einwohner Gewalt anzutun, dafür würde auch er sich jeder Feindseligkeit enthalten und dürften sie alles, was sie zum Unterhalt brauchten, aus den Dörfern entnehmen. Mehr konnten die Feldherren nicht wünschen, sie waren also einverstanden, und der Vertrag wurde abgeschlossen. Allein in betreff der Zuverlässigkeit der Barbaren hatten sie gar schlimme Erfahrungen gemacht und blieben daher auf ihrer Hut. Tiribazos folgte ihrem Zug im Abstand von einer Viertelmeile.

Als die Hellenen in der folgenden Nacht sich unter freiem Himmel gelagert hatten, wurden sie von dem ersten Schneefall betroffen. Da sie nun am nächsten Morgen nichts Verdächtiges gewahrten und überdies der tiefe Schnee keinen Überfall fürchten ließ, begaben sie sich in den nächsten Dörfern unter Dach und Fach. Doch in der Nacht darauf wollten einige Soldaten zahlreiche Feuer in der Nähe bemerkt haben, daher dünkte es den Feldherren nicht sicher, daß das Heer über die Dörfer verstreut wäre, sie zogen es wieder zusammen und kampierten im Freien. Aber diesmal kam der Schnee in noch viel größeren Massen herunter, Menschen und Waffen lagen in ihm wie vergraben, und die Zugtiere konnten vor Frost kaum die Glieder rühren. Die Soldaten blieben unter dem Schnee liegen, sie hatten es da wärmer als in der freien Luft; Xenophon aber stand auf, nahm eine Axt und spaltete Holz, teils um sich durch die Arbeit zu erwärmen, teils um Feuer zu machen. Seinem Beispiel folgten andere und so brannten bald viele Feuer.

Bild: Max Slevogt

Nach den Beschwerden dieser Nacht wurden die Truppen wieder über die nahen Dörfer verteilt. Abends sandten die Feldherren eine kleine Schar unter Führung eines zuverlässigen Kundschafters in die Gegend, wo man früher die Feuer der Perser gesehen haben wollte. Es war kein Feuer zu bemerken, man traf aber auf einen Mann mit persischem Bogen und Köcher und einer Streitaxt. Auf die Frage, von wo er komme, antwortete er, er sei ein Perser und komme vom Heer des Tiribazos, um sich Speise zu verschaffen. Er wurde weiter gefragt, wie groß das Heer und zu welchem Zwecke es bestimmt sei. Der Mann gab Auskunft über dessen Zahl und verriet, daß der Satrap einen wichtigen Engpaß in den nahen Bergen besetzen wolle. Es war also von den Barbaren dasselbe betrügerische Spiel gespielt worden wie früher; ein Glück, daß die Hellenen ihnen gleich von Hause aus nicht getraut hatten. Die Kundschafter nahmen den Perser mit sich, und auf seine wiederholte Aussage beschlossen die Feldherren, dem Tiribazos zuvorzukommen. Eine Abteilung des Heeres brach auf und wurde von dem gefangenen Mann in die Gegend des Passes geführt. Als sie über einen Berg gingen, sahen die Bogenschützen und Schleuderer zur Seite desselben das Lager der Feinde und stürzten, ohne auf die Hopliten zu warten, unter großem Geschrei auf die Barbaren zu, worauf diese sich sogleich zu schleunigster Flucht wandten, ähnlich, wie, wenn der Löwe bloß sein Brüllen hören läßt, alle schwächeren Tiere davon laufen. Wenige der Barbaren fielen, aber man erbeutete zwanzig Pferde und das prächtige Zelt des Satrapen, in welchem sich Ruhelager mit silbernen Füßen und kostbare Trinkgeschirre vorfanden, auch seine Bäcker und Mundschenken wurden gefangen. Der zurückgebliebene Teil des Heeres vereinigte sich nun mit dem vorausgeschickten, und man beeilte sich, den Bergpaß zu besetzen, bevor die Feinde sich wieder sammelten. Am folgenden Tage gelang dies und die Gefahr war beseitigt.

Nach weiteren drei Tagemärschen erreichte man den Euphrat, der hier, nahe seinen Quellen, leicht zu durchwaten war, das Wasser ging nur bis zur Mitte des Leibes. Sehr viel schwieriger war es, durch den tiefen Schnee zu waten, der sich weit und breit über die Gegend hinstreckte. Wer die Erfahrung gemacht, wie anstrengend und peinlich es ist, auch nur eine Viertelstunde lang über ein Schneefeld zu wandern, wo man bei jedem Schritt bis über die Knie einsinkt, mag sich vorstellen, was eine ganze Tagereise unter solchen Umständen und zumal bei strenger Kälte sagen will. Schon am ersten Tage waren viele Tiere und Sklaven, auch dreißig Soldaten im Schnee stecken geblieben und umgekommen. Dazu gesellte sich am dritten Tage ein heftiger Nordwind, von dem auch die kräftigeren Hellenen fast bis zum Erfrieren gequält wurden. Ein Wahrsager riet, dem Boreas, dem Gotte dieses Windes, ein Opfer zu bringen, es geschah, und allen kam es vor –es war höchst wahrscheinlich Täuschung –daß seine Wut dadurch gemildert wurde.

Bild: Max Slevogt

Als die Nacht einbrach, lagerten sie sich auf dem Schneefelde. Die, welche zuerst ankamen, fanden noch reichliches Holz, das sofort in Brand gesetzt wurde. Die Nachzügler drängten sich gleichfalls an die Feuer, doch wollten die früher angekommenen sie nur zulassen, wenn sie ihnen ein Stück Brod oder anderes Eßbares geben konnten; die Lebensmittel fingen schon an, auf die Neige zu gehen. Wie der Schnee unter den Feuern schmolz, konnten die Leute die Tiefe des Schnees messen, der nicht weniger als sechs Fuß hoch lag.

Das entsetzliche Schneefeld begleitete die Hellenen auch den nächsten Tag, und es blieben viele unterwegs liegen. Als Xenophon mit dem Nachtrab kam und sie so elend sah, fragte er seine Leute, ob sie nicht ein Mittel wüßten, sie zu erfrischen. Da sagte ein älterer Soldat, was die Ärmsten quäle, sei der Heißhunger; wenn man ihnen zu essen gäbe, würden sie wieder zu Kräften kommen. Xenophon sah sich nun um, wo etwas Eßbares zu finden war, und als er ihnen dies reichen ließ, wurde wirklich ein Teil der Elenden gerettet und sie konnten weiter marschieren.

Am Abend kam Cheirisophos mit der Vorhut zu einem Dorfe, das mit einer festen Mauer umgeben war und ein zur Nachtzeit geschlossenes Tor hatte. Vor der Mauer standen gerade Frauen und Mädchen, die aus der Dorfquelle Wasser schöpften. Die fragten ihn, woher sie kämen, und er antwortete, sie kämen vom Großkönig und wollten zum Satrapen, worauf jene sagten, der sei nicht im Dorfe, sondern eine gute Strecke davon. Als die Frauen heimkehrten, gingen die Hellenen mit ihnen durch das Tor und nahmen in den Hütten Quartier. Die anderen mußten die Nacht im Freien zubringen, bei strengem Frost von dem Feuer wenig erwärmt und mit leerem Magen, was einigen von ihnen das Leben kostete. Tags darauf entdeckten einige Müde eine Stelle im Tal, die, weil hier eine warme Quelle zutage trat, von Schnee frei war; sie stürzten darauf zu und warfen sich auf den Boden, wo sie von dem heißen Brodem angenehm umspült wurden. Als Xenophon mit dem Nachtrab vorbeikam, redete er ihnen dringend zu, weiterzugehen, denn dicht hinter ihnen seien Feinde. Diese nämlich benutzten die Not der Hellenen, fielen über die gefallenen Zugtiere her und zankten dann um ihren Besitz unter lautem Geschrei. Da Xenophons Zureden nichts fruchtete, schalt er die Ermatteten heftig und schlug sogar einige. Sie aber sagten, er möge sie töten, doch weitergehen würden sie nicht. Der Lärm der streitenden Feinde kam immer näher, da befahl Xenophon seinen noch kräftigen Soldaten, die Feinde zu vertreiben. Die Kranken an der Quelle unterstützten den Angriff, indem sie aus Leibeskräften schrien und mit den Lanzen an die Schilde schlugen. So gerieten jene in Furcht und beeilten sich, durch den Schnee in einen entlegenen Teil des Tales zu entkommen. Ehe Xenophon die Kranken verließ, versprach er ihnen, daß sie so bald als möglich von ihren Kameraden sollten abgeholt werden.

Die Hellenen hatten bis dahin unter den größten Mühsalen und Entbehrungen ihren Mut aufrecht erhalten oder ihn doch, wenn er durch ganz unerwartete schreckliche Ereignisse erschüttert war, bald wieder gewonnen. Aber unter den Qualen eines harten Frostes schien ihre ganze mannhafte Natur bei vielen bis zur Mutlosigkeit hinzuschwinden. Man muß indes bedenken, daß mehr als alles andere große Kälte selbst unter den günstigsten Umständen entnervend auf die Menschen wirkt, und hier sind es nun die Söhne eines Ländchens, wo man von übermäßiger Hitze oft, aber von Frost nur selten und sehr mäßig betroffen wird, und jetzt waren sie der grausamen Kälte eines Hochlandes im Dezember preisgegeben. Und dazu, wie wenig war ihre Kleidung auf solche Wintertage eingerichtet! Die Hellenen trugen unter dem Rock kein Hemde, hatten keine Hosen noch Strümpfe noch Handschuhe. Höchstens führten sie, aber bei weitem nicht alle, einen großen viereckigen Umwurf von Wollenzeug mit, den sie als Mantel brauchten. Man kann sich daher eher wundern, daß so viele von ihnen sich in diesen Tagen rüstig und mutig zu erhalten wußten, als daß eine immer noch mäßige Zahl von ihnen den Qualen erlag und entweder um das Leben oder den Mut kam.

Bild: Max Slevogt

Auch die nächste Nacht mußte Xenophon mit den Seinigen im Freien ohne Feuer und Speise zubringen. Gegen Morgen sandte er seine jüngsten Soldaten auf den Weg des vorhergegangenen Tages zurück, mit dem Befehl, die Kranken aufzunehmen und nachzuführen. Da wurde so mancher gefunden, der über Nacht gestorben war, so daß sie ihm nur den Liebesdienst erweisen konnten, ihn an der Stelle, wo er lag, zu begraben. Als Xenophon sehen ging, ob die Soldaten seine Befehle getreulich ausführten, kam er noch eben zu rechter Zeit, um einen Hellenen von einer wahrhaft barbarischen Roheit abzuhalten. Er fand ihn, wie er für einen Kameraden, der ihm zur Seite lag, ein Grab bereitete. Aber plötzlich regte dieser ein Bein, und Xenophon schrie entsetzt auf: »Er lebt ja noch!« worauf der Soldat ruhig erwiderte: »Meinethalben mag er zehn Leben haben, ich will ihn nicht weiter schleppen.« Da ergrimmte Xenophon und nötigte ihn durch heftige Schläge, seine Last weiterzutragen.

Als der Nachtrab wieder beisammen war, führte ihn Xenophon zu den Dörfern, in deren einem sich Cheirisophos schon am Abend vorher hatte unterbringen können, die Dörfer wurden durch das Los zwischen den einzelnen Scharen verteilt. Die dortigen Häuser waren von einer Einrichtung, wie die Hellenen sie bisher nicht gesehen, doch pflegen die ärmeren Leute in Armenien ihre Wohnungen auch jetzt noch so anzulegen. Die Dorfleute wohnten nicht auf, sondern in der Erde, hier hausten sie in Gemeinschaft mit ihren Ziegen, Schafen, Rindern, Hühnern. Den Zugang zu dem Wohnraum gewährte den Menschen eine Leiter, auf welcher sie durch eine brunnenartige Öffnung hinabgelangten, die Tiere gingen auf einem sanft geneigten gegrabenen Hohlweg aus und ein. Solche Erdhöhlen bieten wie unsere Keller den Vorteil, daß sie im Sommer kühler, im Winter wärmer als die Luft draußen sind. Die Dorfbewohner waren wohlhabend, sie konnten den Gästen soviel Weizen, Gerste und anderes Getreide liefern, wie sie begehrten. Sie hatten auch eine Art von Bier, ein Getränk aus Gerste bereitet, auf welchem oben noch ganze Körner schwammen, so daß es nur mit Hilfe eines hohlen Rohrs bequem zu genießen war. Seltsam war die Art, wie sie ihren Gästen zutranken. Der Armenier zog einen großen mit Gerstenwein gefüllten Krug an sich heran, beugte sich hinüber und schlürfte daraus einen tüchtigen Schluck wie der Ochse aus dem Eimer, und in gleicher Weise mußte der Hellene den Trunk erwidern.

Am folgenden Tage besuchte Xenophon die anderen Dörfer, wo die Hellenen Quartier genommen, und fand sie überall aufs beste versorgt. Die freundlichen Einwohner bewirteten sie sehr reichlich, auf allen Tischen lag Fleisch von Lämmern, jungen Ziegen, Kälbern, Schweinen, Vögeln, und dazu Weizen- und Gerstenbrod. Hier hatten die Hellenen auch Gelegenheit, zu tüchtigen Pferden zu kommen. Es war gerade die Zeit, da der jährliche Tribut an den Großkönig abzusenden war, wozu auch eine gewisse Zahl von Pferden gehörte. Als Xenophon erfuhr, daß sie für den König bestimmt seien, gab er sein bereits abgetriebenes Pferd dem Schulzen seines Dorfes, um es zu mästen und dann seinem Gotte zu opfern, der Schulze war nämlich ein Priester des Sonnengotts, und dafür nahm er sich eins von jenen jungen munteren Tieren; sie waren kleiner als die persischen Pferde, aber feuriger. Auch die anderen Befehlshaber erhielten jeder ein frisches Pferd. Mit seinem Schulzen war Xenophon sehr gut Freund, er speiste mit ihm und versicherte, daß ihm nichts zuleide geschehen solle; die Hellenen würden ihm sogar alles bezahlen, was sie von ihm erhielten, wenn er sie als Wegweiser bis zum nächsten Volke begleiten wolle. Der Schulze sagte nicht nur dies zu, sondern verriet auch den Ort, wo ein großer Vorrat von Wein vergraben war. Xenophon sprach mit seinem Wirt durch einen Dolmetscher, die Soldaten mußten sich durch Gebärden und Zeichen verständlich zu machen suchen.

Da die Truppen auf die letzten großen Strapazen einer etwas längeren Erholung bedurften, so blieben sie acht Tage in den Dörfern. Dann brachen sie wieder auf. Nach dem Rate des Schulzen wurden die Hufe der Pferde und Zugtiere mit ledernen Säckchen umgeben, damit sie auf den Schneefeldern nicht wieder, wie es früher geschehen, bis zum Leibe einsänken. Der breitere Auftritt leistete denselben Dienst wie bei schwachem Eise das Brett, welches man hinauflegt, um die Last des Körpers über eine größere Fläche zu verteilen. Cheirisophos, der Führer der Vorhut, hatte den Wegweiser bei sich; er war nicht, wie sonst die fremden Wegweiser, gefesselt, denn man konnte ihm das Vertrauen schenken, daß er die Hellenen nicht im Stiche lassen würde. Aber am dritten Marschtage schalt ihn Cheirisophos, weil er sie nicht zu reichen Dörfern führte. Der Schulze versicherte, in dieser Gegend gebe es keine, was auch wahrscheinlich richtig war, doch Cheirisophos hielt es für bösen Willen, wurde immer heftiger und schlug ihn endlich. Die Folge war, daß der Schulze in der Nacht davon ging. Zum ersten und letzten Mal während des ganzen Zuges veranlaßte dies Hader zwischen den beiden Feldherren, da Xenophon es scharf tadelte, daß Cheirisophos ohne Grund den wohlwollenden Wegweiser geschlagen und dann, nachdem er ihn so gekränkt, nicht die Vorsicht gebraucht hatte, ihn zu fesseln, um ihn auch wider seinen Willen bei sich zu behalten. Die Hellenen hatten die Unbesonnenheit des Cheirisophos zu büßen, denn sie mußten sich nun auf dem letzten Teil des Weges durch Armenien, zu dem sie sieben Tage brauchten, ohne kundigen Führer durchschlagen.

Bild: Max Slevogt


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