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Bild: Max Slevogt

Xenophon

Eine römische Sage erzählt, der König Tarquinius habe einmal die Stadt Gabii erobern wollen. Da es ihm nun mit offener Gewalt nicht gelang, so dachte er auf eine List und sandte seinen Sohn nach der Stadt. Als dieser an das Tor klopfte, fragte man von innen, wer er sei. Er sagte, der Sohn des Königs, aber er komme nicht als Feind, sondern als Freund, sein Vater habe ihn schmählich mißhandelt, und er wolle sich an ihm rächen, indem er mit all seiner Kraft ihre Stadt vor des Vaters Raubgier schütze. Die Bürger ließen ihn ein, und da er in ihren Reihen wieder und wieder aufs tapferste kämpfte, schenkten sie ihm allmählich ihr volles Vertrauen und erwählten ihn endlich zu ihrem obersten Anführer. So weit war es ihm geglückt, aber er wußte nicht, was er weiter zu tun hätte, um den Widerstand der Bürger zu brechen. Da schickte er einen vertrauten Sklaven an den Vater und ließ ihn um Rat fragen. Der König führte den Sklaven in seinen Garten, wo ein Mohnfeld in schönster Blüte stand, ging an dem Felde auf und ab und hieb die höchsten Mohnköpfe einen nach dem anderen ab. Dann sprach er: »Berichte meinem Sohn, was du mich hier tun gesehen.« Der Sklave verstand nicht, wie dies eine Antwort auf die Anfrage des Sohnes sein könne. Aber als er seinem Herrn genauen Bericht abgestattet, verstand dieser es sehr wohl. Unter nichtigen Vorwänden klagte er einen nach dem anderen von den Führern der Stadt an und wußte die Bürger dahin zu bringen, daß sie sie als Verräter töteten oder verbannten. Als die Stadt nun ihrer besten Männer beraubt worden, war es ihm ein Leichtes, sie dem Vater in die Hände zu liefern.

So meinte auch Tissaphernes, daß durch die Beseitigung der Führer die Hellenen hilflos geworden und außerstande sein würden, ihr Leben und ihre Freiheit noch ferner zu schützen. Aber es kam anders; die Nachfolger der früheren Führer vermochten noch besser als diese das Heil der Hellenen zu schirmen. Vor allen war es der Athener Xenophon, der, bisher der Menge fast unbekannt, durch seine Einsicht, nie gebrochenen Mut und kräftigen Zuspruch seine Kampfgenossen aufrecht erhielt und rettete.

Xenophon, in Athen geboren und aufgewachsen, war damals vierzig Jahre alt; er stand also in dem Lebensalter voller männlicher Reife. Als Jüngling fiel er durch seine Schönheit auf, und es muß eine solche gewesen sein, welche auf treffliche Gaben des Herzens und Geistes schließen läßt, denn als ihm einmal der weise Sokrates begegnete, hielt er ihn an und lud ihn ein, sich zu den jungen und älteren Freunden zu gesellen, die er seines täglichen Umgangs würdigte, um sie für alles Gute und Edle zu begeistern. Xenophon wurde einer von den Lieblingsschülern des Sokrates und dessen Lehren trugen dazu bei, daß aus seinen schönen Naturgaben ein edeldenkender und frommer Charakter erwuchs. Man erzählt, Sokrates habe später auch einmal Gelegenheit gehabt, ihm in großer Gefahr das Leben zu retten. In einem Kriege zwischen den Athenern und Böotiern diente Xenophon seiner Vaterstadt als Reiter, Sokrates zu Fuß. Als nun die Athener bei Delion geschlagen wurden und die Flucht ergreifen mußten, fiel Xenophon in dem verworrenen Getümmel verwundet vom Pferde und wäre von den nachdrängenden Landsleuten zertreten oder von den Feinden getötet worden, wenn nicht Sokrates ihn bemerkt, ihn eilig aufgenommen und auf seinen starken Schultern eine weite Strecke fortgetragen hätte, bis er in Sicherheit war. Zu den nächsten Freunden Xenophons gehörte der Böotier Proxenos, um zehn Jahre jünger als er. Er hatte sich von früh auf das Ziel gesteckt, dermaleinst als einer der Volksleiter zu Ansehen und hoher Stellung zu gelangen, und hatte sich deshalb von dem berühmten Redner Gorgias in der Staatsweisheit unterrichten lassen. Aber sein Lebensweg nahm eine andere Richtung. Als Kyros sich zu seinem Feldzug gegen Artaxerxes anschickte, begab sich Proxenos nach Sardes, wurde dort bald ein geehrter Gastfreund des Kyros und von ihm aufgefordert, ebenso wie andere einen Trupp von Hellenen für ihn anzuwerben. Er nahm den Auftrag an und wurde der Oberst seiner Soldaten. Für eine solche Stellung war er in mancher Beziehung wohl geeignet, aber er besaß nur die liebenswürdigen Eigenschaften eines Obersten, während ihm die ganz unentbehrliche abging, gegen die Ungehorsamen und Lässigen mit Strenge einzuschreiten. Der Führer, meinte er, tue genug, wenn er den, der seiner Pflicht nachkomme, lobe, und dem, der sie versäume, nur sein Lob versage. Und so kam es, daß er mehr die Soldaten fürchtete als sie ihn, und sich mehr scheute, sie zu erzürnen, als sie, unfolgsam zu sein. Während er bei den guten Soldaten große Liebe besaß, gaben ihm die schlechten oft Ärgernis, weil sie wußten, daß er sich leicht begütigen lasse. Proxenos war eben der gerade Gegensatz zu dem derben Klearchos.

Von inniger Liebe und Begeisterung für Kyros erfüllt, schrieb Proxenos nun an Xenophon und drang in ihn, gleichfalls nach Sardes zu kommen und sich dem Fürsten anzuschließen, er werde ihn diesem zuführen, und es werde ihm nicht leid tun, seiner Einladung gefolgt zu sein. Er fügte noch hinzu, den Kyros liebe er noch mehr als seine Heimat. Wenn Xenophon über einen wichtigen Entschluß in Zweifel war, pflegte er sich an Sokrates um Rat zu wenden. Das geschah auch in diesem Fall. Sokrates trug Bedenken, ob Xenophon gut tue, dem Wunsche des Freundes nachzukommen, denn Kyros hatte etliche Jahre an dem peloponnesischen Kriege zwischen Athenern und Spartanern gegen die ersteren Partei genommen und die letzteren mit großen Geldsummen unterstützt. Die Athener würden daher vielleicht Xenophons Verbindung mit dem ehemaligen Feinde übelnehmen und ihn dafür strafen. Er tue am besten, sagte Sokrates, wenn er den Gott des delphischen Orakels befrage. Xenophon begab sich daher nach Delphi, mochte aber schon mehr geneigt sein, nach Sardes zu gehen, als in Athen zu bleiben, denn er stellte die Frage an das Orakel also: »Zu welchen Göttern muß ich beten und ihnen opfern, damit ich die Reise, die ich im Sinn habe, glücklich zurücklege und glücklich wieder heimkehre?« Das Orakel nannte die Götter. Als Xenophon nun zurückkam, teilte er Sokrates mit, was er gefragt und welche Antwort er bekommen habe. Sokrates sagte: »Du hast die Frage nicht richtig gestellt, aber da du einmal so gefragt, so mache dich auf und folge dem Ausspruch des Orakels.«

Xenophon wurde in Sardes freundlich aufgenommen und begleitete Kyros auf seinem Zuge; doch bis zu dem Tage, wo Tissaphernes das Blutbad unter den Hellenen anrichtete, hatte er keine tätige Hilfe geleistet, er diente weder als Oberst noch als Hauptmann noch als Soldat, wenn er auch an allem, was dem Heere Gutes oder Schlimmes begegnete, lebhaften Anteil nahm. Durch jenes Blutbad wurde er auch persönlich sehr schmerzlich betroffen, denn sein lieber Freund Proxenos war einer der fünf Obersten, welche im Zelte des Tissaphernes überfallen und später in Sardes enthauptet wurden.

Bild: Max Slevogt

In der Nacht, welche dem Unglückstage folgte, lag Xenophon, von tiefer Trauer und Sorge erfüllt, eine Zeitlang schlaflos auf dem Boden, dann verfiel er in unruhigen Schlaf und träumte, es blitze und donnere, und der Wetterstrahl schlage in sein väterliches Haus und setze es in helle Flammen. Erschreckt fährt er auf, und wie er gemäß seiner Frömmigkeit gewohnt ist, bei allem Auffälligen an das Walten der Götter zu denken, sieht er in dem Traum ein Zeichen von dem Allbeherrscher Zeus. Aber deutet es auf Glück oder Unglück? Der Brand des Hauses scheint auf Unglück zu weisen, doch das aus dem Dunkel hervorbrechende Licht verspricht Hilfe in der Not, und so schüttelt er die tatenlose Verzweiflung ab und spricht zu sich: »Was hilft das Liegen! Die Nacht rückt vor, mit dem Tage werden uns die Feinde angreifen, und da ist keiner, der auf Abwehr sinnt, alles liegt da, als wenn jetzt Zeit wäre, die Hände in den Schoß zu legen. Worauf oder auf wen soll ich warten? Ich muß selbst handeln.« Er springt auf und ruft die Hauptleute des Proxenos zusammen. Zu diesen spricht er: »Ich kann nicht schlafen, ihr werdet es auch nicht können, denn in welcher gefahrvollen Lage befinden wir uns! Von dem Großkönig haben wir nichts als grimmige Rache zu erwarten; kamen wir ja hierher, um ihn vom Throne zu stoßen. Aber gleichwohl scheint mir die Lage nicht der Art, daß wir an unserer Rettung ganz und gar verzweifeln müßten, denn die Götter sind von den Barbaren durch den Bruch des beschworenen Friedens beleidigt worden und werden daher mit uns sein. Auch können wir Frost und Hitze besser ertragen als die weichlichen Perser und sind überhaupt nach der Götter Willen von besserem Stoff. Zögern wir darum nicht, sofort Hand ans Werk zu legen. Auf uns kommt alles an, die Soldaten werden unserem Beispiel folgen. Wenn sie uns mutlos sehen, sind sie feige; wenn wir aber selbst nichts versäumen, was zu unserer Rettung dient, und die anderen ermuntern, dasselbe zu tun, so werden sie sich der Feigheit schämen und es uns gleichtun.« Die anderen Hauptleute stimmten Xenophon zu, aber einer war, der anders dachte. Es war ein Böotier, namens Apollonides. Der sagte, es sei Wahnsinn, die Rettung von etwas anderem als von der Gnade des Großkönigs zu erwarten, und wollte die Schwierigkeiten aufzählen, auf die man sonst stoßen würde. Aber Xenophon fiel ihm ins Wort und sagte: »Du Tor, hast Augen und Ohren, kannst aber nicht sehen noch hören. Sind wir nicht bei dem Versuch, mit dem König in Frieden zu leben, ins größte Unglück geraten? Und wie er uns die Waffen abfordern ließ, und wir statt dessen ihm auf den Leib rückten, tat er nicht alles, um einen Vertrag zustande zu bringen? Ihr Hauptleute, dieser Mann ist nicht wie ein Hellene gesonnen, er macht unserem tapferen Hellas Schande. Ihn dürfen wir nicht länger unter uns dulden, er gehört unter den Troß, da mag er das Gepäck tragen.« Ein Hauptmann fügte hinzu: »Apollonides ist auch weder ein Böotier noch überhaupt ein Hellene, sondern ein Barbar aus Lydien, wie ihr an seinen durchbohrten Ohren sehen könnt.« So war es in der Tat, und man jagte ihn weg.

Xenophon fuhr fort: »Vor allem müssen wir an die Stelle der gemordeten oder gefangenen Obersten und Hauptleute andere wählen, damit das Heer wieder ein kräftiges Haupt habe. Denn durch Zucht und Ordnung wird ein Heer stark, Unordnung und Zuchtlosigkeit führen stets ins Verderben. Darum laßt uns sogleich die noch übrigen Obersten und Hauptleute versammeln und die Wahl vornehmen.«

Es war jetzt Mitternacht, die Hauptleute gingen durch das Lager, beriefen die Genossen und führten sie zu dem Platz, wo Xenophon sie erwartete; es waren ihrer etwa hundert. Xenophon wiederholte zuerst, was er in dem kleineren Kreise gesprochen, und da seine Worte auch in dem größeren allgemeinen Anklang fanden, forderte er auf, die Lücken in der Leitung des Heeres auszufüllen und die Wahlen später von den Soldaten bestätigen zu lassen. Jenes geschah sofort; für die fünf fehlenden Obersten wurden ebenso viele Nachfolger gewählt, und zwar jeder durch die Hauptleute der Schar, welche er kommandieren sollte; an Stelle des Proxenos wählte man Xenophon. Dann wurde auch die Zahl der Hauptleute bis zu dem früheren Bestande ergänzt. So weit war man nun einig, und mit Anbruch des Tages wurden alle Soldaten durch einen Herold aufgefordert, zum Versammlungsplatz zu kommen. Doch ehe die Versammlung begann, stellte man um das Lager her Vorposten aus, sie sollten, wenn sich etwa Feinde blicken ließen, es eiligst melden.

Xenophon hatte wie zu einem Feste seine schönste Rüstung angelegt, seine Augen strahlten von mannhafter Zuversicht und mit weithin schallender Stimme hob er also an:

»Soldaten! Was unser Vertrauen auf die Schwüre der Barbaren uns eingetragen, seht ihr an dem schrecklichen Geschick, das uns betroffen. Von nun an müssen wir sie stets als Feinde bekämpfen und so den Tod der Gemordeten rächen, dann dürfen wir auf den Beistand der Götter und auf unsere Rettung hoffen.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so nieste ein Soldat. Nun galt das Niesen den Hellenen als ein Götterzeichen, daß das eben Gesprochene in Erfüllung gehen werde. Daher atmeten die verzagten Krieger wieder etwas freier auf, und Xenophon schlug vor, Zeus dem Retter, von dem das Zeichen gekommen, zu geloben, daß, sobald sie wieder in Freundesland seien, sie ihm und den anderen Göttern Dankopfer bringen würden. Alle stimmten freudig zu, beteten und sangen ein Loblied.

Hierauf sprach Xenophon weiter: »Unsere Hoffnung beruht auf gutem Grunde. Wir sind den geschworenen Eiden treu geblieben, während die Barbaren meineidig waren und den heiligen Vertrag brachen. Die Götter werden es nicht ungestraft lassen, sie werden ihren Zorn auf die Feinde werfen und uns beistehen, sie können die Großen klein und die Kleinen groß machen und, wenn sie wollen, uns aus aller Not erretten.

»Und dann –macht euch keine übertriebene Vorstellung von der Macht der Perser. Dem Großkönig zum Trotz wohnen die Mysier und das kleine Volk der Pisidier in seinen Landen als freie Männer in vielen großen und blühenden Städten. Sind wir etwa schlechter als Mysier und Pisidier? Denket doch an unsere Vorfahren und an die ruhmvollen Siege, die sie über die Barbaren erfochten. Die Perser kamen mit einem gewaltigen Heere und wollten Athen vernichten, aber die kleine Schar der Athener trat ihnen tapfer entgegen und trieb sie in schimpfliche Flucht. Und darauf zog Xerxes heran mit einem Heere so zahllos wie der Sand am Meer. Und was geschah? Unsere Vorfahren überwältigten sie zu Wasser und zu Lande, wovon noch heute das aufgerichtete Siegesmal zeugt, am herrlichsten aber die Freiheit der Städte, in welchen wir geboren und aufgewachsen sind, denn wir erkennen keinen anderen Herrn über uns als die ewigen Götter.

»Auch macht ihr euren Vorfahren keine Schande. Noch vor kurzem standet ihr den Nachkommen jener Barbaren gegenüber; ihre Zahl war viele Mal größer als die eurige, aber mit der Götter Hilfe schlugt ihr sie, daß sie wie Spreu vor dem Winde zerstoben, nicht einmal euren Anblick ertrugen sie. Und damals kämpftet ihr, um Kyros, einen Fremden, auf den Thron zu setzen. Wie viel tapferer und freudiger werdet ihr jetzt sein, wo es den Kampf um eure eigene Rettung gilt.

Bild: Max Slevogt

»Mit mannhaftem Mut müssen wir unser Leben zu bewahren streben; wenn dies aber nicht möglich ist, rühmlich zu sterben und auf keinen Fall den Barbaren untertan zu werden. Glaubet nur, diejenigen, welche im Kriege um jeden Preis ihr Leben retten wollen, sterben meistens eines feigen und schmählichen Todes; wer aber bedenkt, daß der Tod allen Menschen gemein und unentrinnbar ist, und lieber mit Ehren sterben als in Schande leben will, erreicht eher das Alter und fühlt sich, so lange er lebt, glücklicher.

»Freilich dürfen wir es im Dienste an uns nicht fehlen lassen. Unsere neuen Führer müssen noch sorgsamer und vorsichtiger sein als die früheren, und die Soldaten noch folgsamer als bisher. Davon hängt gar viel ab. Wenn jeder auf seine Nebenmänner achtet und nichts geschehen läßt, was gegen die Ordnung und den Befehl ist, dann werden die Feinde am sichersten um ihre Hoffnungen betrogen werden.«

Von der tapferen Tat kann man mit Recht sagen: »selber dem Feigen erzeugt sie den Mut«, aber eine feurige, von Herzen kommende und zu Herzen gehende Rede vermag auch viel. Vor der Gewalt dieser kräftigen Ansprache schwand die Verzagtheit, welche die Soldaten befallen hatte, sie machte einem neuen frischen Mut Platz und der Hoffnung, daß das Glück, wie so oft, auch jetzt dem Tapferen beistehen werde.

Die neuen Wahlen erhielten die einstimmige Bestätigung der Soldaten. Von nun an waren die leitenden Führer und Berater des Heeres Xenophon und der Spartaner Cheirisophos, und zwar jener noch mehr als dieser. Die übrigen Obersten trugen zur Wohlfahrt und endlichen Errettung der tapferen Zehntausend am meisten bei, indem sie sich den Vorschlägen jener beiden freiwillig unterordneten.

Bild: Max Slevogt


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