Ernst von Wolzogen
Das dritte Geschlecht
Ernst von Wolzogen

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Der Baron Raoul de Kerkhove war an jenem selben Morgen auch erst gegen 9 Uhr erwacht. Er sah übernächtigt und elend aus und hatte blaue Ringe um die Augen. Gähnend kroch er aus dem Bett und schlich barfuss nach der Thür, welche sein Zimmerchen von der Schlafkammer der Frau von Robiceck trennte. Der Waschtisch stand gerade davor. Ein paar Minuten lang lauschte er, indem er das Ohr mit einiger Schwierigkeit von der Seite her der Thür näherte, ohne jedoch den geringsten Laut da drinnen zu vernehmen; dann trat er zurück, seufzte tief auf und schlug sich mit der Faust vor die Stirn.

O Himmel, wie greulich nahm sich doch das aus, was er gestern nacht unter der Wirkung des verfluchten Alkohols, den er garnicht vertragen konnte, gegen diese süsse kleine Dame unternommen hatte! Er schämte sich ehrlich. Auf dem Tische lag ihr geraubtes Bild –er setzte sich auf das Sofa und starrte solange darauf hin bis ihm die Augen übergingen. Und wieder schlug er sich mit der Faust vor die Stirn und murmelte mit geschlossenen Zähnen: »Mensch, ich glaube du bist ganz verrückt geworden!«

Er überdachte seine Lage. Nach dem brutalen Angriff dieser Nacht war es so gut wie ausgeschlossen, dass die kleine, feine Frau jemals anders als wie mit Verachtung auf ihn herabsehen würde – und er hatte sich zu seiner Qual neben ihr einquartiert! Der Anstand gebot ihm, sofort wieder auszuziehen, denn sie konnte sich unmöglich diesen Belagerungszustand gefallen lassen; aber dann musste er der Wirtin mindestens einen Monat Miete als Schadenersatz zahlen – und dazu war er augenblicklich nicht imstande. Er griff nach seiner Börse, die samt Schlüsseln, Messer und allen seinen zahlreichen Etuis, die er immer bei sich zu tragen pflegte, auf dem Tisch lag und zählte den Inhalt. Er betrug zwei Mark und ein paar Pfennige. – Nein, so ging das nicht weiter, es musste unbedingt etwas geschehen! Er sprang auf und besorgte in aller Hast und mit möglichster Geräuschlosigkeit seine Toilette. Und sobald er sein sehr bescheidenes Frühstück genossen hatte, machte er sich auf den Weg und war froh, aus dem Hause zu kommen, ohne dass Frau von Robiceck seiner ansichtig geworden war. Das gestohlene Bild trug er in seinem Portefeuille bei sich.

Er verfügte sich zunächst nach dem Hauptpostamt, denn er hatte die Eigentümlichkeit, sich alle seine Briefschaften postlagernd kommen zu lassen. Es wurde ihm ein grosser Brief mit einem Amtssiegel ausgehändigt. Im Hofe des Postgebäudes betrachtete er zunächst die Siegel, da der Poststempel auf der russischen Freimarke unleserlich war. Und als er die Umschrift entziffert hatte, verzerrte sich sein Gesicht vor Schreck und seine Hände zitterten. Dann riss er den Umschlag auf und las das Schreiben. – Da war das Verhängnis! – Ob er ihm noch einmal entrinnen könnte?

Als er das Schreiben wieder in seiner Tasche barg, sah er sich scheu um, ob er auch nicht beobachtet würde. Ganz weiss war er im Gesicht und seine Kniee zitterten; mit schwankenden Schritten schleppte er sich vorwärts durch die Marstallstrasse und durch den Hofgarten. In dessen Thor an der Galleriestrasse liess er sich in der Bude ein Glas Selterwasser geben und dann ging er weiter in den englischen Garten hinein. Bald hatte er eine einsame Bank gefunden, auf der er sich ganz erschöpft niederliess. Er trocknete sich den kalten Schweiss von der Stirn, dann schloss er die Augen und dachte nach. Nur eilige Flucht konnte ihn vielleicht noch retten; aber wie sollte er fliehen ohne Geld? Er war nicht mehr imstande, vernünftig einen Gedanken an den andern zu reihen. Die Gestalt der reizenden kleinen Frau von Robiceck drängte sich immer wieder in seine Vorstellungen mit so greifbarer Deutlichkeit hinein und eine tolle Sehnsucht krallte sich wie mit Eisenfingern um sein Herz. Er fühlte, dass er sich auch körperlich aus der Nähe dieser Zauberin nicht würde losreissen können, ebensowenig wie er sie aus seiner Fantasie verbannen konnte. Hier musste ihn das Verhängnis ereilen.

Er griff in seine hintere Hosentasche und holte ein elegantes, rotes Juchtenlederetui daraus hervor, das ganz danach aussah, als ob es eine wertvolle grosse Meerschaumspitze berge. Er knipste es auf und holte einen zierlichen, blanken Revolver mit Elfenbeingriff daraus hervor. Die Kammer war mit sechs Schuss geladen. Er spielte mit dem blitzenden Ding und versank in neues Sinnen. War es nicht am gescheidtesten, auf diese einfache Weise ein Ende zu machen, bevor die unauslöschliche Schmach ihn auch moralisch vernichtete? Wenn sie ihn hier auf der einsamen Bank im Schatten der Platanen entseelt fanden – unentstellt, nur mit einem kleinen roten Fleck an der rechten Schläfe! – Dann würden ihn seine Freunde rekognoszieren als den jungen Baron Raoul de Kerkhove, den Liebesgram und der grosse Schmerz um sein geknechtetes Vaterland in den frühen Tod getrieben hätten. Arnulf Rau würde ihm vielleicht, weil Geistliche am Grabe eines Selbstmörders nicht reden dürfen, einige tiefempfundene Worte widmen. Lilly von Robiceck, als seine Zimmernachbarin, würde gewiss eine der ersten sein, die von seinem tragischen Ende hörten und sie würde sich sagen müssen: das hättest du abwenden können, wenn du nicht dem armen Jungen so grausam die Thür vor der Nase zugeschlagen hättest! Vielleicht würde sie auch mit zu seinem Begräbnis kommen. Die andern würden jedenfalls dabei sein mit schönen Kränzen und Palmenzweigen: die Raus, Dr. Reithmeyr, Claire de Fries und vor allen Dingen Moritz Haiders Töchter – ganz in Schwarz. Martha Haider hatte so ein feines, schwarzes Seidenkleid – und sie würde weisse Rosen in der Hand haben und um ihn weinen!

Da schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch das Gehirn – den Versuch wollte er noch machen – er brachte vielleicht die Rettung. Und er legte den Revolver in das Etui zurück und machte sich auf den Weg nach dem nicht allzuweit entfernten Bankgeschäft von Moritz Haiders Töchtern. Einige Schritte vor dem Geschäft blieb er stehen, trocknete sich den Schweiss von der Stirn und holte ein paarmal tief Atem. Dann ging er, sich kräftig zusammenraffend, hinein und rief, sobald er sich überzeugt hatte, dass kein Kunde im Laden anwesend war, dreimal laut, den Strohhut übermütig über dem Kopfe schwingend: »Hurrah! Hurrah! Hurrah!«

Martha und Hildegard Haider sprangen gleichzeitig von ihren Stühlen auf und frugen was denn los sei.

»Nun, raten Sie einmal, meine lieben Damen!« versetzte er lustig, indem er mit einem raschen Griff das amtliche Schreiben aus der Tasche zog und triumphierend in die Höhe hob.

»Donnerwetter, haben Sie am Ende Ihren Prozess gewonnen?« rief Fräulein Hildegard.

»Aber gewiss habe ich meinen Prozess gewonnen,« frohlockte er, »dieses Papier hier ist eine Million wert.«

»Da legst dich nieder!« lachte Hildegard und liess sich auf ihren Komptoirsessel fallen. Und Fräulein Martha streckte ihm die Hand über den Zahltisch entgegen und rief: »Nein, das kleine Raoulche! Ich hätte nie gedacht, dass es so viel wert wäre. Na, ich gratuliere von Herzen!«

»Danke, danke,« er war ganz rot im Gesicht vor Aufregung und drückte Fräulein Martha das Schreiben in die Hand.

Sie faltete es auseinander und warf einen Blick hinein. »Aber das ist ja russisch!« rief sie drollig enttäuscht. Und dann wandte sie sich an ihren »jungen Mann«, der von seinem hohen Bocksessel neugierig auf die Gruppe herabblickte. »Ach, Herr Zirngruber, Sie haben doch russisch gelernt, können Sie uns das nicht übersetzen?«

Aber ehe Herr Zirngruber noch ein Wort geäussert, hatte Raoul de Kerkhove schon das Papier wieder an sich gerissen, »Bemühen Sie den Herrn nicht; ich kann Ihnen vorlesen.«

Er schaute in das Blatt, murmelte etwas auf russisch vor sich hin und gab ihnen alsdann folgende Uebersetzung zum Besten:

Sankt Petersburg . . .

Kanzlei des kaiserlichen dirigierenden Senats.

Euer Hochwohlgeboren werden hiermit gebührend davon in Kenntnis gesetzt, dass durch allergnädigste Entschliessung Sr. Majestät des Czaren de dato 15. August alten Stils, das Urteil des unterfertigten obersten Kassationshofes vom 7. ejusdem bestätigt wurde, kraft dessen die seinerzeit verfügte Einziehung des Vermögens Ihres verstorbenen Herrn Vaters, des Rittergutsbesitzers und Adelsmarschalls Leo Alexejewitsch Baron von Kerkhoven auf Usmaiken-Hasenpot-Masheiki-Shagori und Poswal aufgehoben und dessen Uebergabe an die rechtmässigen Erben an allerhöchster Stelle befürwortet wurde. Euer Hochwohlgeboren wollen sich zum Zwecke der Erbteilung und Erledigung noch erübrigender Rechtsgeschäfte bis zum 10. September a. c. hierselbst einfinden.

Der Kassationshof des kaiserlichen Senats,
gez. Solowjew.
       

Er faltete das Schreiben zusammen und versenkte es in seine Brusttasche. »Nun, meine Gnädigsten, wie stehe ich jetzt da?« rief er, übermütig sich in die Brust werfend.

»Sozusagen glänzend!« sagte Fräulein Hildegard und drückte ihm kräftig die Hand.

»Herrschaften, das Ereignis müssen wir feiern!« rief Raoul wieder. »Bitte, befehlen Sie, was soll ich thun? Soll ich jeder von Ihnen ein Rittergut zur Aussteuer schenken? Fräulein Martha, wollen Sie Usmaiken haben oder ziehen Sie Hasenpot vor? Fräulein Hildegard, ich kann Ihnen Shagori dringend empfehlen.«

»Darüber können wir ja später reden«, versetzte Box lustig. »Zunächst würde ich uns an Ihrer Stelle mal zu Schleich einladen.«

»Aber gewiss, mit dem allergrössten Vergnügen. Also, meine Damen, Sie sind heute abend meine Gäste. – O, der Tag ist so schön, das Wetter ist wie für die Gelegenheit bestellt. Sie sollten Ihre Bude zumachen, meine Damen, und gleich mit mir kommen.«

Box wandte sich an ihre Schwester. »Du kannst ja gern mitgehen, Martha; heut ist doch nichts mehr zu thun. Ich bleibe bis zum Mittagschluss hier. Radelt doch ein bischen mitsammen hinaus – wir haben eh nicht viel schöne Tage diesen Sommer gehabt. Sie haben doch Ihr Rad mit, Herr Baron?«

»Nein, ich bedaure unendlich. Es ist kaput; ich lasse es reparieren.«

»Schon wieder mal? Mir scheint, da sind Sie schön damit angeschmiert worden.«

»Ja, und es hat vierhundert Mark gekostet!«

»Na, vielleicht borgt Ihnen Herr Zirngruber seines.«

Der »junge Mann« war glücklich dem Rubelmillionär den Dienst erweisen zu können und der Baron versicherte ihn seines wärmsten Dankes.

»Ich werde mich gewiss erkenntlich zeigen, Herr Zirngruber,« fügte er noch hinzu, indem er dem Komptoiristen leutselig mit der Hand zuwinkte.

Der junge Mann holte seine Maschine herbei, Fräulein Martha bestieg die ihrige so wie sie war und dann setzte sich das junge Paar in Bewegung.

Sie fuhren nach Nymphenburg hinaus. Vor der Wirtschaft zum Grünwaldpark sprang Martha vom Rade und begehrte einzukehren. Die schlechte Strasse hatte ihren leeren Magen so durchgerüttelt, dass sie Hunger verspürte und die brennende Sonnenglut hatte sie durstig gemacht. Sie liessen sich zu essen und zu trinken geben und schmausten vergnüglich. Fräulein Martha war sehr guter Laune und sprudelte über von drollig vorgebrachten kleinen Neckereien. Raoul sah sie von der Seite an und seufzte leise. Sie war wirklich ein schönes Mädchen: einen Kopf hatte sie so rein und edel geschnitten wie eine antike Camee und der glatte Scheitel verlieh ihr dazu etwas Madonnenhaftes; fraulich lieb war sie und mädchenhaft frisch und flott dabei – nur etwas rot im Gesicht, feucht und erhitzt. Seltsam, er konnte sich Lilli von Robiceck nicht feucht und erhitzt vorstellen! Die ganz, ganz feinen Damen, für die man sich totschiesst, die schwitzen nicht, dachte er und er fühlte: für Martha Haider könnte ich mich nicht totschiessen. Wenn Damen ihren Ehrgeiz dareinsetzen, dass sich Herren um sie totschiessen, dann dürfen sie auch nicht immer neckisch sein!

Und als sie Hunger und Durst gelöscht hatten, griff Raoul de Kerkhove in die Tasche um zu zahlen; aber ehe er noch die Börse hervorgeholt hatte kam ihm Martha zuvor und sagte ernsthaft: »Nein, nein, Raoulche, das dulde ich nicht, dass Sie für mich zahlen! Jetzt erst recht nicht – weil ich nämlich so viel stolz bin!«

»O, fürchten Sie nichts, Gnädigste,« lachte der junge Baron verlegen: »ich bemerke eben, dass ich meine Börse zuhause vergessen habe. Es ist das erstemal, dass mir das passiert. Da sitz' ich nun da mit meiner Million!«

»O, erlauben Sie, dass ich Ihnen für 20 Mark Kredit gewähre,« scherzte das Fräulein geziert, indem sie ihrem niedlichen Geldtäschchen von Schlangenhaut ein Goldstück entnahm und es ihm mit gespitzten Fingern in die Hand gleiten liess.

»Danke, danke,« sagte der junge Herr errötend. »Rothschild fing auch damit an, dass er grossen Herren Geld pumpte. Wer weiss, vielleicht wird diese Doppelkrone für Ihre Firma der Ausgangspunkt für ein Rothschild'schesVermögen.«

»Was soll ich mit so viel Geld?« lachte Fräulein Martha. »Glauben Sie etwa, dass mich das glücklich machen würde, Sie jugendlicher Knallprotz, Sie?«

»O nein, ich weiss: glücklich allein ist die Seele, die liebt – singt der Dichter.«

Und Fräulein Martha sprang auf die Füsse und rief mit komisch verdrehten Augen in gut sächsischem Dialekt: »Hären Se auf, mir werds schwile!«

Raoul de Kerkhove beglich die kleine Zeche und dann radelten sie weiter nach dem Nymphenburger Schloss. Da hatten sie schon wieder genug, denn die Hitze war zu arg. Sie liessen die Räder am Thor stehen und verfügten sich in den Park. Auf einer Bank im Schatten mit dem Ausblick auf den Schwanenteich und das griechische Tempelchen liessen sie sich nieder.

»Nee so ene Hitze!« seufzte die schöne Martha, der es nun einmal Vergnügen bereitete, heute sächsisch zu reden. Sie konnte es auch sehr gut, denn das war eine ihrer kleinen niedlichen Spezialitäten.

Raoul sagte garnichts. Er liess den wasserblauen Blick auf dem unbewegten Spiegel des kleinen Sees ruhen. Sonnenglanz flimmerte blendend darüber und drüben durch die Binsen schwammen zwei junge Schwäne mit aufgesperrten Schnäbeln.

»Was glubschen Sie denn so, Raoulche?« weckte ihn seine schöne Nachbarin aus seinem verlorenen Sinnen.

Er war gekränkt durch ihren Spott und sagte wirklich traurig. »Ach, Fräulein Martha, können Sie denn niemals ernsthaft sein? Haben Sie denn gar kein Ohr für die schmerzliche Elegie des Lebens, die überall durch klingt, selbst aus den rauschenden Akkorden der Schönheit und der Freude?«

»I nu hären Se, das haben Se aber hibsch gesagt!« sächselte die Unverbesserliche.

»Ach Gott, Sie verstehen mich nicht!« seufzte Raoul und wandte sich gekränkt von ihr ab. »Sie spielen ja immer nur mit meinen Empfindungen. Ich weiss nicht, Gnädigste, was Ihnen das für ein Vergnügen machen kann. O freilich, ich spiele auch – aber mit ganz anderen Gegenständen!«

Und er griff in seine Hintertasche, holte das rote Juchtenetui hervor und nahm die zierliche Schusswaffe heraus. Er liess den Lauf vor ihren Augen blitzen, so dass sie erschrocken in die äusserste Ecke der Bank zurückwich. Er lachte kindisch, als ob ihre Angst ihm Vergnügen machte, und dann sprach er: »Sehen Sie, Fräulein Martha, damit spiele ich alle Tage. Ich stelle mir vor, wie es sein würde, wenn ich einmal Ernst machte. Sie gehen so leicht los diese Dinger – und ich kenne nichts Schrecklicheres als sich überflüssig zu fühlen. Ich habe jetzt so oft das Gefühl, als ob ich nicht genügte für alle die grossen Dinge, die ich mir zu thun vorgesetzt habe, als ob mich immer alle Menschen ebensowenig ernst nehmen würden wie Sie, Fräulein Martha, – und das nimmt mir den Lebensmut.«

»Wie kann man bloss so reden in Ihrem Alter und wenn man eben eine Million geerbt hat?« versetzte Martha in ihrer natürlichen Redeweise. »Gehen's zu, mit Ihrem Geld könnens genug durchsetzen – Millionen werden immer ernst genommen.«

»Man soll mich aber nicht nach meinem Geld schätzen, sondern nach meinem persönlichen Wert!« rief Raoul düster. »Ich bitte Sie, Fräulein, erbarmen Sie sich! Was wäre das für ein Leben? Wenn ich nicht die Gewissheit habe, dass ich um meiner selbst willen geliebt werde, dann können mir meine Millionen gestohlen werden.«

»Stecken Sie doch das Schiessgewehr wieder ein, Raoulche und redens net so dumm daher,« sagte Martha, indem sie ihm den Revolver aus der Hand nahm und in das Futteral zurücklegte. »Sie sind ja noch so jung. Sie brauchen doch wahrhaftig weder am Leben noch an der Liebe zu verzweifeln.«

»Nein? Glauben Sie nicht? O, sagen Sie mir Fräulein Martha . . .« er griff nach ihrer Hand und sah ihr starr in die Augen, ohne den Satz zu vollenden. Sie konnte sich nicht helfen, sie musste lachen über sein wehleidiges Gesicht und über das Wimmerl, das ihm gerade mitten auf der Nase sass.

Er wandte sich seufzend ab und starrte wieder über den flimmernden See hinweg. Lange sprachen sie beide kein Wort. Des Mittagszaubers heisses Brüten legte sich lähmend auf ihre Glieder und Gedanken – sie träumten beide mit offenen Augen. Da hatte Raoul de Kerkhove ein Gesicht: Aus des Teiches Mitte erhob sich plötzlich eine grosse weisse Wasserrose; langsam erschloss sich ihr Kelch und darin weich gebettet lag ein zarter rosiger Leib, eine Elfe fein und klein. Die beiden jungen Schwäne schwammen herzu und spannten sich vor den weissen Blütenkelch, die Ketten waren goldene Sonnenstrahlen. Und sie zogen die Blüte langsam wie einen Nachen durch die glitzernde Flut. Und wie sie sich den Ufern näherten, wurde der Nachen immer grösser und grösser und die kleine Elfe darin wuchs und wuchs und ward ein wunderschönes Weib mit reichem, aschblondem Haar und grossen, dunkelblauen Augen. Und wie die Schwäne ganz nahe dem Ufer waren, da erkannte Raoul Lilli von Robiceck. Alles Blut schoss ihm zu Herzen, seine Hände wurden kalt – vor seinen Augen purpurne Nacht – und vor übermächtigem Sehnen breitete er weit die Arme aus.

»Was ist Ihnen denn, Herr Baron?« sagte das schöne Mädchen an seiner Seite, die sein seltsames Gebahren aus ihrem wohligen Sinnen aufgeschreckt hatte.

Da warf er die ausgestreckten Arme plötzlich um ihren Leib, riss sie an seine Brust und küsste sie wild auf den Hals und unter dem Ohr.

Sie stiess einen Schrei aus; aber es war niemand in der Nähe sie zu hören. Und dann rang sie mit ihm, keuchend, wütend und befreite sich endlich mit einem starken Ruck aus seiner Umarmung.

Zornbebend stand sie vor ihm. »Was fällt Ihnen denn ein? Sie sind ja verrückt!«

Er liess sich matt auf die Bank zurücksinken, nahm den Hut ab und sagte müd', indem er sich Kühlung zufächelte: »So – glauben Sie? O, es ist wohl möglich, süsse Martha. Erbarmen Sie sich – wenn ich Sie doch liebe!«

Und Fräulein Martha blitzte ihn verächtlich an mit ihren schwarzen Augen: »Das nenne ich Frechheit, aber nicht Liebe!« Damit wandte sie ihm den Rücken und eilte mit grossen Schritten auf dem dämmerigen Waldwege davon.

Er sprang auf und holte sie ein. So schnell sie auch ausschreiten mochte, er blieb an ihrer Seite und sprach leise auf sie ein: »Fräulein Martha, hören Sie doch. Warum sind Sie denn so böse? Mein Gott, was habe ich denn gethan? Können Sie das Frechheit nennen, wenn . . . Es thut mir sehr leid – aber damit fängt doch die Liebe immer an.«

»Ach, was wissen Sie davon!« herrschte sie ihn ungeduldig an. »Lassen Sie mich, ich will nichts mehr von Ihnen wissen.«

»Oho, ich kenne die Liebe nicht? Ich?« rief er gekränkt. »Ach, wenn Sie wüssten – Sie würden nicht über mich spotten! Ich kenne die Liebe, glauben Sie mir, in allen Tonarten – nur nicht in der legitimen, natürlich.«

»Schweigen Sie still, Sie sind frivol. Ich will das nicht hören!«

»Und ich wollte Sie doch fragen, ob Sie mit mir kommen wollen nach Livland und mein Geld und meine Ehren mit mir teilen.«

Sie blieb unwillkürlich stehen und sah ihn gross an. Er nahm die Gelegenheit wahr und ergriff sie rasch bei der Hand.

Sie riss sich heftig los. »Lassen Sie mich gehen. Ich verbiete Ihnen, mir zu folgen. Ich fahre allein heim.«

»O – und werden Sie Ihrer Schwester sagen, dass ich Sie um Ihre Hand gebeten habe?«

»Nein, das werde ich ihr nicht sagen – weil ich mich schäme!«

Thränen stürzten ihr plötzlich aus den Augen. Und während sie sie mit dem Taschentuch heftig fortwischte, lief sie noch rascher und stammelte aufgeregt: »Ich weiss nicht, womit ich das verdient habe. Ich habe Ihnen doch niemals Ursache gegeben, mich so zu behandeln.«

»Das haben Sie doch! Warum haben Sie mich immer nur geneckt? Ich bin doch kein Knabe mehr! Wollen Sie mich jetzt ernst nehmen?«

»Ich will überhaupt nichts mehr von Ihnen wissen. Lassen Sie mich jetzt endlich gehen.«

»Fräulein Martha, merken Sie auf, was ich Ihnen sage: zu Ihnen wird die Liebe niemals kommen. Sie laufen ihr ja davon und machen ihr von weitem Männchen wie ein Hase. Ich bedaure Sie sehr, Fräulein Martha!«

Und damit blieb er stehen, zog grüssend den Hut und liess ihr den Vorsprung.

Als er das Schlossthor erreichte, sah er sie mit ihrem Rad bereits in die Allee am Kanal einbiegen. Er schwang sich auf die Maschine des Herrn Zirngruber und fuhr langsam nach, so dass sich die Entfernung zwischen ihnen immer vergrösserte, bis er sie in der Nymphenburger Strasse ganz aus den Augen verlor. Er überlegte nun, was weiter zu thun sei. In seine alte Wohnung, die aus drei elegant möblierten Zimmern in der Schellingstrasse bestand, konnte er nicht zurückkehren, denn er hatte dem Wirt gesagt, dass er auf vierzehn Tage verreise. Der gute Mann hatte kein Arg darin gefunden, denn er hatte ja die hocheleganten Möbel des Herrn Barons zum Pfande für die noch fällige Miete. Dass die Möbel vom Tapezierer auf Borg geliehen waren, wusste er freilich nicht. In die neue Wohnung, in die er nur mit einem kleinen Koffer eingezogen war, mochte er aber auch nicht zurückkehren, denn er fürchtete sich, Frau von Robiceck zu begegnen. Er wollte erst Nachts wieder heimkehren, wodurch er zugleich die Ausfertigung des polizeilichen Meldezettels abermals um einen Tag hinausschob. O, er wollte sich doch wenigstens suchen lassen, wenn diese Schergen nach ihm fahndeten!

Er fuhr noch fast eine Stunde planlos in den äusseren Stadtteilen hin und her, bloss um die Zeit zu töten und unangenehmen Gedanken zu entgehen. Und als es ein Uhr geworden war, stellte er sein Rad im Restaurant Français ein und vergönnte sich ein gutes Diner für fünf Mark und eine Flasche Wein für denselben Betrag. Mochte das schöne Fräulein Martha mit ihrem Geld wenigstens seinen Hunger stillen, wenn sie schon seine Sehnsucht nicht stillen wollte! Nach dem Diner ging er ins Cafe Luitpold, rauchte sehr viele Cigaretten, las sehr viele Zeitungen und fragte die schwarze Pepi, bei der er Stammgast war, ob sie mit ihm nach Italien reisen wollte; er hätte eben eine Million geerbt. Die war mit tausend Freuden bereit und er schenkte ihr daraufhin drei Mark zu einem Paar neuer Handschuhe. Bei alledem war es aber erst vier Uhr geworden. Da setzte er sich wieder auf das Rad des Komptoiristen Zirngruber und fuhr nach dem Aumeister hinaus. Totmüde von der Hitze des Tages und der schlechten Nacht, versteckte er die Maschine in einem Busch, warf sich ins Gras und schlief sofort ein.

Als er erwachte, war es sechs Uhr vorbei. Er kehrte im raschesten Tempo nach der Stadt zurück. Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Und er fuhr bei der Firma Moritz Haiders Töchter vor. Er kam gerade noch zurecht, um dem Herrn Zirngruber sein Rad zurückzugeben und Fräulein Hildegard beim Ladenschluss erwischen zu können.

»Fräulein Martha ist wohl schon voraus?« erkundigte sich Raoul vorsichtig.

»Ach nö,« versetzte Box harmlos. »Die ist garnicht mehr ins Geschäft gekommen. Sie fühlt sich nicht wohl – sie kann die Hitze nicht vertragen, wissen Sie; sie hat sich etwas hingelegt.«

»O, wie ich bedaure! Erlauben Sie, dass ich Sie begleite?«

»Ja, gehen Sie nur langsam voran. Ich muss bloss den Schampus etwas bewegen und ins Wasser schicken; in einer halben Stunde treffen Sie mich daheim.«

Er bummelte langsam nach der Giselastrasse und überzeugte sich durch einen Blick in den Radstall im Hofe, dass Box noch nicht daheim war. Und er überlegte. Sollte er hinaufgehen und noch einen zweiten Sturm auf Marthas Herz unternehmen? Wenn sie sah, dass es ihm Ernst war – einem Baron mit einer Million Rubel zu widerstehen, däuchte ihm recht schwer für ein junges Mädchen. Aber anderseits blieb wieder zu überlegen, was daraus entstehen sollte, wenn sie wirklich ja sagte und er in der Gewissenhaftigkeit soweit ginge, sie thatsächlich beim Wort zu nehmen. (Raoul de Kerkhove rechnete nämlich bei seinen Ueberlegungen gewohnheitsmässig mit seinem Gewissen, obwohl ihn dieses bereits öfters im Stich gelassen hatte.) Das Mädchen war zu schön, als dass er mit seinem Temperament imstande gewesen wäre, eine kühle Vernunftehe mit ihr zu führen, und dabei wieder anscheinend so fischblütig, dass auf ein besonders überschwängliches Liebesglück auch nicht zu rechnen war. Es war also doch vielleicht am gescheitesten, die soliden Absichten auf Martha Haider fallen zu lassen; ausserdem und schliesslich war es höchst wahrscheinlich, dass sie ihn jetzt garnicht vorliess. Ueberhaupt war es doch vielleicht eine verfehlte Idee, mit dem Hintergedanken eines sofort zu erhebenden Vorschusses einen Heiratsantrag zu machen; wenigstens macht sich ein solches Verfahren in den Augen eines ästhetisch gebildeten Menschen nicht hübsch – wenn auch die Fräulein Haider als Geschäftsmädchen in Geldsachen weniger ästhetisch empfinden mochten. Er musste doch wohl suchen, seinen Zweck auf eine einfachere Weise zu erreichen. Vor dem Hause auf- und abschreitend, dachte er über dieses neue Wie noch nach, als er Box in scharfer pace, Schampus in grossen Sprüngen vornweg, um die Ecke der Königinstrasse biegen sah. Das gute Tier, das noch pitschnass war, sprang an seinem Freunde Raoulche freudig empor und wischte mit den breiten Schmutzpratzen kräftig über den eleganten hellbraunen Sommeranzug, der fast noch ebenso neu wie unbezahlt war.

Box sprang ab, schimpfte das Tier herunter und tröstete den jungen Freund über das Unglück. Dann verstaute sie ihr Rad und alle drei klommen zur Haiderschen Dachbehausung empor.

Das Dienstmädchen war nicht anwesend und Fräulein Martha öffnete selbst. Sie lächelte schief und gezwungen, da sie des jungen Barons ansichtig wurde und gab der Schwester auf die teilnehmende Frage nach ihrem Befinden nur mit einem Achselzucken Antwort, um dann sofort wieder in ihr Zimmer zu verschwinden.

Hildegard sah ihr kopfschüttelnd nach und sagte zu Raoul, indem sie ihn über die Schwelle treten liess: »Komisches Mädl, immer ist sie gleich ganz auseinander, wenn ihr was fehlt. Ueber Mittag hat sie kein Wort zu mir gesprochen, als ob ich an ihren Kopfschmerzen Schuld wäre! Und wie ich von Ihrem unerhörten Dusel anfing, sagte sie blos, ich sollte sie zufrieden lassen – Sie wären ein kleines Greuel. Nu bitt ich Sie, warum sollen Sie auf einmal ein Greuel sein? Nehmen Sie Platz, Herr Baron!«

»Das frage ich mich auch. Danke!« Der junge Mann setzte sich in einen bequemen Korbsessel, zog langsam die Handschuhe aus und lächelte fein.

Box setzte sich, die Beine übereinanderschlagend, ihm gegenüber und sagte: »Warum lächeln Sie denn so fein, Herr Baron? Haben Sie ihr vielleicht was gethan?«

»Dass ich nicht wüsste«, gab er heiter zur Antwort: »Sagen Sie, Gnädigste, glauben Sie auch, dass Geldborgen unbedingt immer die Freundschaft zerstört?«

»Wieso?«

»Nun, Fräulein Schwester hat mir zwanzig Mark geliehen – vielleicht bin ich deswegen ein Greuel in ihren schönen Augen geworden.«

»Aber, Herr Baron,« lachte Box, »mit solchen Kleinigkeiten geben Sie sich ab in Ihren jetzigen Verhältnissen?«

»Nicht wahr? es ist lächerlich! Aber denken Sie, ich bin thatsächlich nicht imstande gewesen, 1 Mark 50 Pfennig auszulegen! Ich habe etwas leichtsinnig gewirtschaftet und meine regelmässige Rente ist erst in 14 Tagen fällig. Wie soll ich es machen, um morgen nach Petersburg abzureisen? Wären Sie vielleicht in der Lage, mir tausend kleine Märkchen zu leihen?«

»Tausend Mark? Soviel kostets doch nicht bis Petersburg.«

»Nein, nicht ganz. Aber Sie wissen, Gnädigste, in Wirballen fängt der Orient an; man muss immer Backschisch bereit halten. Ausserdem versteht sich, dass ich in Petersburg nobel auftreten muss als künftiger Adelsmarschall und Erbherr auf Usmaiken, Hasenpot, Mosheiki, Shagory und Poswol.«

»Erben Sie denn wirklich die ganze Kiste?«

»Hm, das nicht. Ich muss mich mit meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder auseinandersetzen, aber als Majoratsherr führe ich den Titel von allen. Ich glaube, diese Sicherheit dürfte Ihnen genügen. Uebrigens kann ich Ihnen ja auch mein hiesiges, ganz neues und elegantes Mobiliar – wie sagt man doch? – lombardieren.«

»Das ist eine weitläufige Geschichte,« erwiderte Box geschäftsmässig. »Sie brauchen doch gleich Geld und da ist es am einfachsten, Sie geben mir einen Wechsel auf kurze Sicht, sagen wir drei Monate; bis dahin können Sie doch Ihr Geld haben, nicht wahr?«

»Oh gewiss. Ich sage Ihnen ja, in vierzehn Tagen ist die Rente fällig, und überhaupt, wenn ich erst in Petersburg bin, kann ich mir leicht Geld verschaffen.«

»Also schön!« rief Box sich erhebend und ging an ihren Schreibtisch. »Aber tausend Mark habe ich nicht bar im Hause. Wenn Ihnen vielleicht mit fünfhundert gedient ist? Wenn Sie morgen zu mir ins Geschäft kommen wollen, gebe ich Ihnen einen Check auf die Vereinsbank.« Sie schloss ein Fach ihres Schreibtisches auf und holte eine kleine Geldkassette hervor. »Oh weh!« rief sie, »ich sehe eben, ich habe nicht einmal fünfhundert bei mir. Richtig! ich hab' ja vergessen . . . . . ich werde vorläufig dreihundert schreiben. Ist es Ihnen so recht? Das übrige machen wir morgen; Sie brauchen doch wohl nicht mit dem allerfrühesten Zuge zu reisen.«

Raoul hatte sich gleichfalls erhoben. »Oh, danke sehr, ganz wie es Ihnen passt. Ich muss ja auch hier noch meine kleine Wirtschaft auflösen und meine Verbindlichkeiten begleichen, denn ich werde vor einem halben Jahre schwerlich hierher zurückkommen können.«

Da Box ihm den Rücken kehrte, konnte sie sein langes enttäuschtes Gesicht nicht sehen. Und während sie ein Wechselformular heraussuchte und schrieb, spazierte er im Zimmer auf und ab und besichtigte die zahlreichen hübschen Nippes und Kunstgegenstände, mit denen es angefüllt war. Da war auch eine mit Silber und Elfenbein ausgelegte Kassette indischer Arbeit mit Schubfächern, welche er noch nicht kannte; ein Schlüsselchen steckte darin. Er schloss neugierig auf und zog den Kasten heraus. »Oh, was haben Sie für reizende Beinchen!« rief er plötzlich überrascht.

Hildegard Haider schaute unwillkürlich an sich herunter, ob sich vielleicht ihr Gewand beim Hinsetzen in die Höhe geschoben habe und dann wandle sie sich nach ihm um. »Ach so! Papas Sammlung – hab' ich Ihnen die noch nicht gezeigt?«

»Nein, Sie verzeihen meine Neugierde – sehr interessant!«

»Bitte, wollen Sie Ihren Namen hier querüber schreiben.«

Er trat an den Schreibtisch und setzte mit flottem Schwung seinen Namenszug auf den Wechsel. Dann überflog er den Inhalt des Papiers und fand als Summe, die er schuldete, 305 Mark 50 Pfennig angegeben.

Box bemerkte seine Verwunderung und klärte ihn auf. »Bitte, alles geschäftsmässig. Ein Drittel Prozent Provision und sechs Prozent Zinsen auf drei Monat, die bei etwaigem Protest einklagbar sind. Hier, bitte, Ihre drei Bläulinge.«

Der junge Baron verbeugte sich dankend und steckte die Banknoten ein. Dann wandte er sich wieder der historischen Pfeifenstopfersammlung zu und Box erklärte ihm die Bedeutung einiger besonders rarer Stücke.

»Merkwürdig,« sagte er nach einer Weile tiefsinnig, »dass sich die Fantasie so viel mit den Beinen der Damen beschäftigt! Es ist doch nur der Reiz des Verhüllten. Wenn durch das Radfahren einmal die Sitte des Röcketragens gänzlich überwunden werden sollte, so müssten die langen Gewänder eigens für die Balletmädchen wieder erfunden werden, und es würde gewiss nicht einmal einem alten Major einfallen, sich mit so einem Beinchen die Pfeife zu stopfen.«

»Sehr wahrscheinlich und vortrefflich bemerkt,« sagte Box lachend. »Ich glaube sogar, die Kleiderfrage hat noch eine weitere Bedeutung. Wenn wir erst alle Hosen tragen, ohne uns auffällig zu machen, dann würde ich auch die Börse besuchen können. Es ist den Männern garnicht übel zu nehmen, finde ich, dass sie einem Geschlechte die Gleichberechtigung nicht zuerkennen wollen, das immer etwas zu verhüllen hat und dazu soviel bunte Lappereien braucht. Wir sind ja nicht einmal vor Gott gleich, denn in der Kirche können wir unsere Vogelnester und was wir uns sonst noch für merkwürdige Gebäude auf den Kopf spiessen, nicht herunter kriegen, um dem Herrn unsere Ehrerbietung zu bezeigen. Wir verlangen sogar vom lieben Herrgott, dass er aus Galanterie ein Auge zudrückt. Solange wir aber auf Galanterie Anspruch machen, bekennen wir uns selbst als das schwächere Geschlecht; ergo – pfeife ich auf die Galanterie!«

Raoul de Kerkhove drehte nachdenklich eines der feinsten von den Porzellanbeinchen in den Fingern herum und sprach: »Sagen Sie, Gnädigste, es würde mich sehr interessieren: können Sie sich Fräulein Hildegard Haider als Gattin vorstellen?«

»Oh ja, warum nicht?« versetzte sie, ohne Besinnen. »Ich kann mir nur meinen Mann schlecht vorstellen.«

Etwas zaghaft begann Raoul: »Sie würden wohl nur auf einen älteren Herrn reflektieren, der schon – wie soll ich sagen . . . . .«

»Na, ich danke, Sie sind sehr freundlich! Ich habe gar kein penchant für Ruinen. Amüsanter denke ich mir jedenfalls einen frischen, fröhlichen Kriegszustand mit einem jungen Kerl, mit dem man sich ordentlich abraufen kann. Wissen Sie, es ist ja leicht möglich, dass mir das Bankgeschäft einmal keinen Spass mehr macht. Dann heirate ich einfach einen anständigen Kollegen und lasse ihn das Geschäft besorgen, während ich mich amüsiere. Das wäre die Vernunftehe. Wenn ich aber aus Liebe heiraten würde – nö, da ist garnichts zu lachen, Herr Baron! – wenn ich aus Liebe heiraten würde, dann würde ich meine Befriedigung darin suchen, mir den Mann erst mal ordentlich zu erziehen. Die Männer sind nämlich garnicht so schlecht, wie wir meistens denken – sie müssen nur in gute Hände kommen.«

»Sie würden also, sozusagen, aus Liebe zur Sache eine Stellung als Erzieherin annehmen wollen – in einem Hause ohne Dame. Originell! Merkwürdig!« Dabei kratzte Raoul nachdenklich mit dem Nagel an einem kleinen schwarzen Pünktchen auf dem Beinchen herum.

»Lassen Sie doch das sitzen,« rief Box lachend. »Das geht nicht ab; das soll ja ein Floh sein!«

»Ach nein!« rief Raoul drollig und errötete wie ein junges Mädchen. Er wollte das Beinchen wieder in den Kasten zurücklegen, aber dabei entglitt es seinen Fingern, fiel auf den Tisch und zerbrach. »Oh Gott! jetzt habe ich Ihnen das schöne Beinchen zerbrochen!« rief er ganz unglücklich.

Und sie schalt ihn gutmütig: »Oh, Sie ungeschickter Peter, Sie!«

»Ich bin untröstlich, Gnädigste,« stammelte er ganz kleinlaut. »Schelten Sie mich nur nach Belieben, ich habe es gewiss verdient. Ich war immer so ungeschickt mit allem, was ich im Leben anpackte. Allerdings habe ich noch keiner Dame ein Bein zerbrochen – nicht einmal das Herz! Wenn Sie befehlen, schiesse ich mich zur Strafe auf der Stelle tot.«

Und mit raschem Griff holte er das bewusste Juchtenetui aus der Hintertasche hervor und entnahm ihm die elegante kleine Mordwaffe. Mit einer theatralischen Gebärde richtete er den Lauf gegen seine Stirn.

Box zeigte sich nicht besonders erschrocken. »Jessas na, Sie Schlankl – dass i net lach!« rief sie gutmütig, indem sie ihm einfach den Revolver aus der Hand nahm.

»Geben Sie mir den Tröster zurück,« bat er trübselig lächelnd. »Sie glauben nicht, was für ernsthafte Unterhaltungen wir beide schon miteinander gepflogen haben, mein blanker kleiner Freund und ich. Sehen Sie, mein Unglück ist meine zarte seelische Konstitution. Sie ist nicht robust genug, um die Last des Mitleids mit so vielen Millionen unglücklicher Brüder und Schwestern, die darauf drückt, zu tragen.«

»Ach Gott, faseln Sie doch nicht!« rief Box ungeduldig. »Mitleid ist die traurigste aller Leidenschaften. Für einen jungen Mann gehört sich ein bischen gesunder Egoismus.«

»Das ist es ja eben,« seufzte er: »zu dem kann ich mich nicht aufschwingen. Ich bin eine hingebende Natur; ich glaube immer, ich wäre ein sehr sympathisches junges Mädchen geworden. Es ist mein Unglück, als Mann geboren zu sein!«

»Hoho! bei mir ist es gerade umgekehrt,« lachte Box.

»Nicht wahr? ich habe auch immer gefunden, dass wir uns wunderbar ergänzen.«

»Das wollte ich damit gerade nicht sagen.»

»Aber es ist Thatsache – effektiv! Ihr Liebesbedürfnis sucht nach einem Objekt zur Erziehung – das meinige nach einer starken Hand!«

Seine hellen Aeuglein blickten feucht an ihr vorbei und sie spitzte gespannt die Ohren, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Als aber mehrere Minuten verstrichen ohne dass etwas kam, hielt sie es für angemessen, ihn mit einem kräftigen: »Na, und?« zu ermuntern.

Der junge Baron zuckte leicht zusammen und beorderte den in die Ferne abgeschweiften Blick zurück. Knietief seufzte er auf und dann sprach er: »Ach, Fräulein Haider, bedenken Sie, bitte, ich soll jetzt nach Livland zurückkehren, von wo ich geflohen bin vor dem schmerzlichen Gefühl der Vereinsamung, ich soll jetzt die Bewirtschaftung meiner immensen Ländereien allein auf meine Schultern nehmen, eine Verantwortung tragen, der ich nicht gewachsen sein werde. Und ausserdem – unsere Beamten! Man wird mir die Haut über die Ohren ziehen!«

»Na, dann heiraten Sie doch eine vernünftige Frau, wenn Sie sich allein Ihrer Haut nicht wehren können,« sagte Box und gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter.

Er bemühte sich zu strahlen und erwiderte: »Sie haben das erlösende Wort gesprochen, Fräulein Haider, aber wo soll ich die Richtige für mich finden! Eine gewöhnliche Frau darf es nicht sein – kein Weib im engeren Sinne, denn ich gehöre ja selbst dem schwachen Geschlecht an. Wissen Sie, ich habe überhaupt erst eine vernünftige und starke Frau kennen gelernt auf meinen Weltfahrten – und das sind Sie selbst, Fräulein Haider. Ich weiss nicht, ob ich wagen darf . . . .«

»Herrgottsaxendi! Wollen Sie mir am Ende einen Heiratsantrag machen?« platzte Box heraus, indem sie sich auf den nächsten Stuhl warf und ein ungeheuer vergnügtes Gesicht machte. Er rückte sich einen Stuhl an ihre Seite und rieb verlegen seine Handflächen an seinen Knien.

»Sehen Sie,« sprach er traurig, »das ist mein Unglück: Sie nehmen mich auch nicht ernst, Sie lachen mich aus.«

»Ach Gott, sein Sie mir deswegen nicht böse«, erwiderte sie sehr freundlich. »Die Sache kommt mir nur so überraschend. Ich, als Baronin und Adelsmarschallin!«

»Warum nicht? Ich sagte Ihnen schon, dass ich Sie mir am liebsten vorstelle als Amazone, hoch zu Ross mit dem Cylinder auf dem Kopf!«

»Hm, ja. Der Cylinder könnte mich reizen«, lachte sie. »Und wenn man bedenkt, was für lächerliches Kroppzeug sich manchmal aufs hohe Pferd setzt – da könnte ich am Ende auch mit konkurrieren. Aber nehmen Sie mir's nicht übel, die Sache hat doch einen komischen Beigeschmack. Sie sind doch heute noch furchtbar jung und ich bin dreiunddreissig!«

»Das ist nur äusserlich«, lächelte er trübe: »Innerlich bin ich ein Greis gegen Sie. Man wird früh alt, wenn man über das grosse Leid der Menschheit so ernsthaft nachdenken gelernt hat, wie ich.«

Box erwiderte nichts. Sie sass da und nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. Ihre dunklen Augen glänzten, die Ueberraschung hatte eine leichte Röte auf ihren weissen Teint hingehaucht. Sie sah entschieden hübsch und mädchenhaft aus in dieser Verfassung. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf und sie packte ihn am Handgelenk und rüttelte ihn sanft. »Nu erklären Sie mir aber bloss, Sie kleiner Schäker,« sagte sie: »wie kommen Sie dazu, mich auf einmal mit einem seriösen Antrag zu beehren, wo Sie doch offenbar meiner Schwester viel energischer den Hof gemacht haben?«

»Ja, wie soll ich Ihnen das erklären?« versetzte er leise. »Fräulein Martha schien mir ursprünglich – ich möchte sagen, näher zu liegen für mich; aber gerade ihrer Jugend gegenüber habe ich es um so schärfer empfunden wie alt ich eigentlich bin, und trotzdem hat sie immer nur Spott für mich gehabt.«

»Ach, das ist nur so ihre Manier; sie meint's nicht so schlimm!«

»Ja, aber mit dieser Manier tötet sie den Ernst der Gefühle bei den Menschen, die sie durch ihre Schönheit anzieht.«

Box blickte überrascht zu ihm auf. »Ich fürchte, da haben Sie ein wahres Wort gesprochen. Sie sind überhaupt gar nicht so dumm, Raoulchen. Wenn ich wüsste, dass ich wirklich meiner Schwester nicht in die Quere komme . . . . Hm.«

»Oh, Sie machen mir also Hoffnung?« Der junge Mann erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen.

Sie stand gleichfalls auf und holte mit ihrer Rechten ein wenig aus, als ob sie einschlagen wollte. Dann aber hielt sie zögernd inne und sagte: »Ich will es mir doch noch ein wenig überlegen. Drängen Sie mich nicht so, Sie stürmischer junger Mann!«

Er zog seine Hand wieder zurück und seufzte herzbeweglich.

Sie sah ihm lächelnd in die Augen und dann legte sie ihre Hände auf den Rücken und sagte mit drollig ungeschickter Koketterie: »Na, dann dürfen Sie mir einen Kuss geben zur Probe. Der verpflichtet ja noch zu nichts, was?«

»Oh, Sie sind sehr freundlich«, versetzte er errötend und dann legte er die Arme zaghaft um ihre Schultern und küsste sie, ohne sie jedoch irgendwie respektlos an sich zu drücken, geschwind auf den Mund.

»Oh, hat es Ihnen nicht gefallen?« versuchte er zu scherzen, da sie sich mit dem Aermel über die Lippen wischte.

»Offen gestanden – nicht besonders«, lachte sie vergnügt. »Aber das soll mich nicht abschrecken, ich verspreche es Ihnen. Ich bilde mir auch nicht ein, dass ich das Küssen besser verstehe wie Sie, und man lernt ja auch noch alle Tage zu.« Und nun reichte sie ihm die Hand und drückte die seine kräftig.

»Wollen wir jetzt zu Schleich gehen?« sagte er.

»Nein, lassen wir es lieber heut bleiben. Martha kommt ja doch nicht mit und mit einem jungen Herrn allein soupieren gehen kann ich doch jetzt nicht. Sie müssen verstehen, dass Sie mich mit Ihrem Antrag plötzlich um meine Selbständigkeit gebracht haben. Gestern wäre ich noch um Mitternacht mit Ihnen allein in den englischen Garten gegangen, aber heute fühle ich mich verpflichtet, mich zu benehmen wie ein anständiges, reiferes Mädchen aus guter Familie. Jessas, muss das übrigens fad sein! Aber gehen Sie nur jetzt und holen Sie sich morgen Vormittag Ihren Check und meine Antwort. Adieu, Barönchen!«

Er ging noch nicht gleich, er druckste noch über etwas. Plötzlich zog er mit einem raschen Entschluss einen Ring vom Finger und sagte: »Meine teure Hildegard – Sie gestatten mir Hildegard, – nicht wahr? – ich möchte Ihnen so gerne für das zerbrochene Beinchen eine Art Ersatz . . . es ist ein Andenken an meine selige Mutter. Bitte, nehmen Sie das auf jeden Fall – ich meine, auch wenn Sie morgen nein sagen sollten.« Und er steckte der leicht Widerstrebenden einen einfachen Goldreif von etwas unmoderner Arbeit mit einem grossen Türkis an den Goldfinger.

»Na, wenn Sie durchaus wollen, dann bedanke ich mich recht schön«, sagte Hildegard komisch verlegen.

Er nahm nun endlich zögernd seinen Hut, blickte im Zimmer umher als ob er zum Abschied sich noch alles recht genau einprägen wollte, machte ein paar Schritte und blieb bei ihrem Schreibtisch stehen, als ob er sich nicht trennen könnte. Hildegard Haider stand am Tisch vor dem Sofa und wandte ihm den Rücken. Sie war ganz ernstlich verlegen und so rot, wie nur irgend ein gewöhnliches junges Mädchen, welches fürchtet oder hofft, im nächsten Moment beim Kopf gekriegt zu werden. Raoul dachte aber nicht an solche Unziemlichkeiten, sondern benutzte vielmehr ihre Unaufmerksamkeit, um den Wechsel, der noch auf der Schreibtischplatte lag, zusammenzufalten und gemütlich zu sich zu stecken.

Sie hörte das Papier rascheln und wandte sich um. »Was machen Sie denn da? Das ist ja mein Wechsel; den müssen Sie mir doch hier lassen.«

»Wieso? Ach, entschuldigen Sie«, versetzte er, blöde dreinschauend: »Ich wusste nicht . . . . ich habe noch nie einen Wechsel unterschrieben.« Und er legte das Papier wieder hin.

»Ach Gott, Sie liebe Unschuld!« scherzte sie: »Jetzt will er mit meiner einzigen Sicherheit durchbrennen!« Und damit ergriff sie ihn keck bei beiden Schultern und schob ihn lachend zur Thür hinaus.

Sobald sie die Entreethür hinter ihm ins Schloss fallen hörte, lief sie in Marthas Zimmer hinüber und rief schon von der Schwelle aus der mit einem Buch am Tisch sitzenden zu: »Denk' Dir bloss, süsse Pflanz, das Raoulche hat mir eben einen Heiratsantrag gemacht!«

Die schöne Martha verfärbte sich und warf sich gegen die Sofalehne zurück: »Dir einen Antrag?« rief sie mit ungläubigem Staunen.

Und Box trat an den Tisch heran und sagte ärgerlich: »Na, weist Du, in dem Tone brauchst Du das gerade nicht zu sagen. Ich möchte wissen, warum er mir keinen Heiratsantrag machen soll?«

»Weil er mir heute auch schon einen gemacht hat«, erwiderte Martha prompt.

»Was, Dir auch?« Box musste sich setzen. »Na, und Du?«

»Ich hab' ihn natürlich furchtbar abfahren lassen.«

»Das finde ich gar nicht natürlich, das finde ich sogar furchtbar dumm! Glaubst Du denn, dass er Dich wirklich liebt?«

»Er hat es wenigstens geschworen«, gab Martha achselzuckend zurück. »Er hat einen Revolver herausgezogen und hat gesagt, er schiesst sich tot . . . . .«

»Sakra! Bei mir hat er auch den Revolver herausgezogen«, fiel ihr Box gekränkt in die Rede. »Na, und dann?«

»Dann wurde er frech.«

»Frech? Wieso, bitte?«

»Er kriegte mich zu packen und drückte mich so wütend an sich und küsste mich wie ein Toller.«

»Der Elende! Das hat er bei mir nicht gethan!«

Und die beiden Schwestern sassen sich einander gegenüber, schlugen beide die Arme unter und blitzten sich gegenseitig mit zornigen Augen an.

»Dreihundert Mark hab' ich ihm pumpen müssen!« knirschte Box.

»Ich nur zwanzig!« triumphierte Martha. »Und Du bildest Dir ein, die Männer zu kennen? Oh ja . . ., an Schmarrn, meine Liebe!«

»Und Du, meine Liebe«, gab Box scharf den Hieb zurück, »wirst überhaupt nie einen kriegen. Du frozzelst sie ja alle weg. Mit dieser Manier ertötest Du einfach den Ernst der Gefühle bei allen Menschen, die Du durch Deine Aeugeleien anziehst.«

»Das ist wohl meine Sache, was ich mit meinen Augen mache!« entgegnete Martha frostig. »Ich brauche mich nicht von Dir schelten zu lassen, wenn ich einen Mann nicht mag. Bitte, nimm Du ihn nur, ich gönne ihn Dir gerne.«

So kränkten sich die beiden Schwestern noch eine rechte lange Weile an, und als die Köchin kam, um ihnen zu melden, dass das Abendbrot bereitstehe, fand sie sie noch beide mit roten Köpfen bei der Lampe einander gegenüber sitzend; das Fräulein Martha gar mit Spuren von Thränen in ihren schönen Augen.

Martha war vor Aufregung nicht imstande, viel zu geniessen und Hildegard machte ihrer Empörung dadurch Luft, dass sie der Köchin erklärte, der vorliegende Schlangenfrass sei ungeniessbar. Sie würgte ihn aber dennoch hinunter und sobald sie ihrem Magen etwas geboten hatte, fand sie auch ihren guten Humor einigermassen wieder und machte bereits Anstalten, das ganze Abenteuer von der komischen Seite auf zufassen – als die Entreeglocke ertönte.

»Wer kann denn so spät noch kommen?« brummte Box und schaute nach der Uhr. Ihre intimen Freundinnen waren alle in der Sommerfrische. Sie horchte gespannt nach der Thür. Da trat das Mädchen herein und meldete mit wichtiger Miene, dass ein Herr die beiden Damen allein zu sprechen wünschte. Er hatte gesagt: in amtlicher Eigenschaft. Die beiden Schwestern sahen einander ratlos an, aber dann entschied Box, dass der Herr vorgelassen werden sollte.

Ein älterer Herr mit einem behaglichen Bauch und militärischem Gesichtsschnitt trat herein und verbeugte sich respektvoll an der Thür.

»Sie wollten uns sprechen, mein Herr?« sagte Box. »Bitte, womit können wir Ihnen dienen?«

»Sind wir allein, meine Damen?« fragte der Unbekannte, und als Box bejate, wandte er sich nach der Thür um und überzeugte sich, dass das Mädchen sie hinter ihm geschlossen hatte. Dann trat er einen Schritt näher und sagte leise: »Könnten wir nicht in das Zimmer nebenan treten? Es giebt Dienstmädchen, welche gern an den Thüren horchen.«

Martha wurde aufgeregt. »Oh Gott, mein Herr, was wollen Sie denn von uns?« fragte sie ängstlich.

Und der Dicke erwiderte mit einem vertrauenerweckenden und vorsichtig gedämpftem Tone: »Erschrecken Sie nicht, meine Damen – mein Name ist Sedlmeyer – Kriminalkommissar. Ich komme in amtlichem Auftrag.«

Nun wurde auch Box blass. Aber sie nahm sich zusammen und liess den Beamten in das Wohnzimmer treten.

Er machte von der Aufforderung, Platz zu nehmen, Gebrauch und dann holte er aus einem dicken, mit Papieren vollgestopften Portefeuille zwei Kabinetphotographien heraus, die er den Damen vorwies. »Ich glaube mich nicht zu irren«, sagte er höflich, »wenn ich diese Bilder für die Ihrigen halte!«

Es waren unzweifelhaft die Photographien von Hildegard und Martha Haider, wohlgelungene Aufnahmen. Box gab die Thatsache zu. Martha vermochte kein Wort hervorzubringen, denn sie hatte Herzklopfen vor Aufregung. Ihr Bild in den Händen der Kriminalpolizei!

»Sein Sie ganz ruhig, meine Damen, ich werde Ihnen sofort den Zusammenhang erklären«, fuhr der Beamte fort, indem er in seinen Notizen blätterte, »ich habe diese beiden Photographien heute in einem Garçonlogis in der Schellingstrasse beschlagnahmt, welches ein gewisser Baron Raoul Kerkhove bewohnte. Der Herr ist gestern Nachmittag abgereist, unbekannt wohin. Diese beiden Bilder standen auf seinem Schreibtisch und da die Fräulein Haider der Polizei bekannt sind – selbstredend nur vorteilhaft bekannt –« (er verbeugte sich galant) »so nahm ich an, dass die Damen mit dem Herrn näher bekannt und vielleicht imstande sein möchten, mir einige Auskünfte über ihn zu erteilen.«

Und nun ergab sich aus Frage und Antwort, dass der junge Baron, der das grosse Leiden der Menschheit auf seiner Seele mit herumschleppte, sowohl von der russischen als auch von der deutschen Polizei verschiedener Universitätsstädte eifrig gesucht werde wegen Hochstapelei, Wechselprotesten und Schwindeleien aller Art. Er war weder Baron, noch Doktor der Philosophie, noch Gutsbesitzer. Er hiess einfach van Kerkhoven und war ein Kaufmannssohn aus Dorpat. Das Abiturientenexamen hatte er thatsächlich absolviert und sich dann auf mehreren Universitäten studienhalber aufgehalten. Er hatte überall denselben Schwindel mit dem Prozess um die Millionen-Erbschaft verübt und nicht nur zahlreiche Geschäftsleute um erhebliche Summen geprellt, sondern es sogar fertig gebracht, den Rektor der Universität, an der er zuletzt studierte, zu einem Darlehen von sechstausend Mark zu bewegen! Hier in München hatte er bei verschiedenen angesehenen Geschäftsleuten Kredit gefunden unter der Vorspiegelung, dass er sich demnächst mit einer der beiden Inhaberinnen der Bankfirma Moritz Haiders Töchter verloben werde – eine Behauptung, die um so eher Glauben gefunden hatte, als man ihn mit den beiden Damen fortwährend zusammen und überhaupt in der besten Gesellschaft verkehren sah. Eine Anfrage von seiten der russischen Gesandtschaft bei der Münchener Polizei hatte weitere Erhebungen veranlasst und heute sollte die Verhaftung stattfinden.

Diese überraschenden Eröffnungen bewirkten, dass Fräulein Martha in Thränen ausbrach. Ein Verbrecher hatte sie geküsst! Box aber fasste die Sache mehr praktisch auf.

»Vor einer Stunde sass der Mensch auf demselben Stuhl, auf dem Sie jetzt sitzen, Herr Kommissar. Er pumpte mich um dreihundert Mark an und hinterliess mir als Sicherheit einen Heiratsantrag sowie diesen Ring mit dem blauen Steinchen. Bitte, nehmen Sie ihn zu den Akten. Mit den dreihundert Mark wird er jedenfals trachten, sich möglichst schleunigst aus dem Staube zu machen. Ich würde an Ihrer Stelle sofort die Bahnhöfe beobachten lassen. Es ist doch immerhin möglich, dass er noch nicht fortgekommen ist.

Der Kommissar bedankte sich und machte sich eiligst auf den Weg.

»Merkwürdig«, sagte Box späterhin zur Schwester, »wie ist es möglich, dass ein so gebildeter, gescheiter und offenbar wohlerzogener Mann ein so gewissenloser Schwindler sein kann?«

»Nu, hab' ich es nicht gleich geahnt mit meinem weiblichen Instinkt?« triumphierte Martha. »Ich habe ihm blos zwanzig Mark gepumpt. Wer ihn überschätzt hat, das bist Du, Schwesterchen!«

 

 

Herr van Kerkhoven ward nicht mehr gesehen, auch weder die zwanzig noch die dreihundert Mark.


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