Ernst von Wolzogen
Das dritte Geschlecht
Ernst von Wolzogen

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Herr und Frau Arnulf Rau waren bei Reithmeyers zum Abendessen geladen. Claire de Fries hatte sich mit Frau Katja Rau bei Gelegenheit ihrer Besuche in München ziemlich angefreundet; sehr intim vermochte sie mit Frauen überhaupt nicht zu werden, denn sie fand starke Freundschaften innerhalb ihres Geschlechtes zu zeitraubend und geistig zu wenig ergiebig. Das viele Geschwätz aus reiner Freude am Schwatzen, ohne das es bei Damenfreundschaften nun einmal nicht abgeht, konnte sie nicht vertragen. Die schöne Claire war nämlich in dieser Beziehung fast noch mehr als in ihrem ernsten Interesse für die Wissenschaft eine merkwürdige Erscheinung: sie verstand wohl zu reden und sogar gut zu reden, wenn das Thema sie interessierte, sonst aber war sie äusserst wortkarg und zwar aus lauter Faulheit. Claire de Fries war körperlich wirklich unendlich faul. Die grösste Anstrengung bei ihren medizinischen Studien war für sie das lange Sitzen und Stehen, und sie entschädigte sich für dieses harte Opfer, das sie der Wissenschaft brachte dadurch, dass sie zu Hause fast immer lag. Sie war unter ihren Studiengenossinnen und auch in ihrem weiteren Bekanntenkreise fast die einzige nichtradelnde Dame – auch Frau Katja Rau radelte nicht, weil ihr Gatte es nicht liebte, und das war ein Hauptgrund, weshalb ihr die gescheidte kleine Frau mit dem üppigen dunkelbraunen Haar und den schwarzen spöttischen Augen so sympathisch war.

Auch Herrn Arnulf Rau konnte sie ihre Hochschätzung nicht ganz versagen, denn er übertraf sie noch um ein Beträchtliches an Faulheit. Wenn diesen schönen Mann seine göttliche Faulheit nicht abgehalten hätte, die weltbewegenden Ideen und die glänzenden Kunstwerke, welche fix und fertig in seinem Gehirn ruhten, durch schnöde Tinte zu fixieren, so würde er zweifelsohne nicht nur, wie jetzt schon, sich selbst, sondern auch der ganzen gebildeten Welt als ihr erster Dichter und Denker gegolten haben. Er hielt jede physische Anstrengung für eines Edeln unwürdig. »Die Heerde mag schwitzen« pflegte er zu sagen und ein berühmter Aphorismus, den er einmal improvisiert, aber niemals niedergeschrieben hatte, lautete:

»Der Eigene erhitzt sich nicht,
Der Uebermensch erschwitzt sich nicht.«

Indem er diesem Grundsatz getreulich nachlebte, hatte er es, wenn auch noch nicht zum Uebermenschen, so doch bereits zu einem stattlichen Embonpoint gebracht. Er war ein schöner Mann, das musste ihm selbst der Neid lassen: Lohengrin oder Siegfried, der sich soeben bei einem geschmackvollen Friseur Haar und Bart halblang hat schneiden lassen, aber mit den weichen Händen und wohlgepflegten Fingernägeln eines modernen Kulturmenschen. Eine gewählte Toilette von nachlässiger Eleganz und eine stets aparte, farbenfreudige Kravatte vollendeten den wohlthuenden, harmonischen Eindruck seines äusseren Menschen. Ueber den innern hätte vielleicht nur seine Frau zuverlässige Auskunft geben können, denn er äusserte nur immer Geist und niemals Charakter. Aber seine Frau verriet nichts – sie wollte ihr süsses Geheimnis für sich behalten. Und wo wäre solcher Egoismus der Liebe verzeihlicher als bei der Gattin eines Mannes, der vermöge seiner geistigen Bedeutung von rechtswegen der ganzen Welt gehört!

Es gab nur ein kaltes Abendbrot, wie es eben der unbekochte Junggeselle aus der Delikatessenhandlung holen lässt: Hummermajonnaise, feine Wurstwaren und diverse Käse. Man hatte draussen auf dem zeltüberspannten Dach gegessen und dann war man vor der Münchener Abendkühle in das Arbeitszimmer geflüchtet, vornehmlich dem grossen Arnulf zur Liebe, mit dessen Anschauungen ein Katarrh unvereinbar war. Und der Uebermensch, welcher sein wird und welcher selbst beim Tanzen nicht schwitzen wird, er wird auch von den Katarrhen der Heerde verschont bleiben.

Claire de Fries lag selbstverständlich lang ausgestreckt auf dem Divan, die kleine Frau Katja hockte auf der Lehne zu ihren Häupten und wühlte ihr mit den spitzen Fingern im Haar, während die beiden Herren sich möglichst bequem in die beiden einzigen Polsterstühle schmiegten. Alle rauchten Cigaretten, mit Ausnahme von Arnulf Rau, der sich, als Eigener, erlauben durfte von seinen eigenen Importen zu rauchen. Man war selbstverständlich im Laufe der Abendunterhaltung bereits wieder bei dem Thema angelangt, das in diesem Kreis immer noch die brennende Frage bildete, nämlich ob Reithmeyers heiraten sollten oder nicht.

»Theoretisch sehe ich natürlich vollkommen ein,« sagte Doktor Reithmeyer, nervös mit den Quasten seines Lehnstuhls spielend: »dass die offizielle Heirat für uns überflüssig ist – aber mein Gott« . . . er zuckte zur Vervollständigung des Satzes nur die Achseln.

»Theoretisch steht der Kulturmensch über der Natur,« begann Arnulf Rau nach einer kurzen Ueberlegungsfrist: »aber praktisch hat er sich dadurch in die unwürdigste Sklaverei verkauft. Herrschen heisst unterdrücken nicht wahr? Der Mensch beherrscht die Natur heisst, er unterdrückt sie. Er ersinnt Religionen und votiert Sittengesetze, kraft deren das Natürliche für sündhaft erklärt wird und die Sünde wider die Natur für sittlich. Es ist doch lediglich die kleinlichste Eitelkeit auf seine geistigen Herrscherqualitäten welche den Menschen veranlasst, sich freiwillig seiner Rechte als Ueberaffe zu begeben. Sollte es möglich sein, dass wir im Stadium des Uebermenschen aus der Klasse der Säugetiere hinauswachsen könnten, so möchte sich das jahrtausendelang währende Opfer individueller Freiheit am Ende lohnen; indessen . . . Pardon, ich langweile Sie, Frau Claire!« schloss er, zu der schönen Freundin seines Freundes gewendet, denn er hatte bemerken müssen, dass sie ein Gähnen unterdrückte.

»Oh nein, durchaus nicht,«behauptete jene lächelnd. »Ich bin ganz einverstanden mit Ihnen. Es würde mich wirklich interessieren, Ihre Ansichten über die Ehe einmal ausführlich zu hören.«

»Ueber die Ehe? – Oh gern!« versetzte Arnulf Rau und dann strich er sich mit der molligen, weissen Hand durch das weichwellige Blondhaar und lehrte: »Wenn die Ehe wirklich zu den Naturnotwendigkeiten gehörte, so wäre sie der einzig sichere Beweis für das Nichtdasein Gottes, denn indem dieser Gott den Mann polygam, das Weib aber monogam geschaffen, hätte er eine dauernde Vereinigung der Beiden von vornherein unmöglich gemacht, also sich selbst als logisch denkendes Wesen desavouiert. Da nun aber alles übrige im Schöpfungsplan mit so lückenloser, logischer Konsequenz eingerichtet ist, so folgt daraus, dass die Ehe nicht unter die göttlich-natürlichen Einrichtungen zu rechnen ist.«

Er machte eine kleine Pause. Niemand sagte etwas, nur Doktor Reithmeyer lächelte unbehaglich vor sich hin.

»Die ideale Ehe existiert vielfach in der Natur,« fuhr der schöne Arnulf mit leichtgerunzelter Stirn nachdenksam fort. »Schauen Sie sich den Gockel auf dem Hühnerhof an – da sehen Sie sie. Dieser Stolz! Diese Würde! Diese Noblesse des Gockels, mit der er seinen Weibern stets die besten Bissen gönnt, zu ihrem Schutz stets kampfbereit ist und kein Wesens daraus macht, wenn er verwundet aus der Schlacht heimkehrt! Und bei den Hühnern diese stumpfsinnige Zufriedenheit, dieser gackernde Eifer der Pflichterfüllung! Da haben Sie Familienglück, Natur und individuelle Freiheit.«

»Sie sind aber doch auch nicht Muselmann geworden, lieber Freund?« warf Doktor Reithmeyer etwas übellaunig ein.

»Wir wollen doch nicht persönlich werden, lieber Freund,« entgegnete Arnulf mild.

»Ich begreife ja vollkommen,« sagte Claire de Fries: »dass die Existenz des Gockels Euren Neid erweckt, meine lieben Herren, aber ich zweifle daran, ob Ihr selbst, im gegenwärtigen Stadium Eurer Entwicklung, mit lauter Hühnern zufrieden wäret.«

»Das ist's ja eben, was mein Mann sagen will,« mischte sich Frau Katja ein. »Daraus entspringt eben die Tragödie der modernen Ehe, dass der Mann im wesentlichen Gockel geblieben ist, der grössere Teil der Frauen dagegen sich vom Huhn so weit entfernt hat, wie ungefähr der Mensch vom Affen.«

»Ganz recht,« bestätigte der schöne Mann. »Sobald die Frau etwas anderes sein will als nur die Gebärerin, die zum Lohne für ihre Mühe beschützt und gepflegt wird, überschreitet sie ihre natürliche Grenze. Wer sich aber über die Natur stellen will, der verfällt, wie ich schon bemerkt habe, unerbittlich der härtesten Sklaverei menschlicher Sittengesetze. Die Folge davon, dass sich die physischen Grundbedingungen für die beiden Geschlechter nicht, dagegen die sittlichen Anschauungen sehr stark verändert haben, ist die, dass die Sittlichkeit des Mannes durch sein Verhalten in geschlechtlichen Dingen so gut wie garnicht, die des Weibes dagegen sehr stark beeinflusst wird.«

»Beweis!« rief Frau Claire etwas geärgert.

»Muss ich den wirklich antreten?« fragte Arnulf, sich müde dehnend, und da niemand ein Wort sagte, um ihn der Mühe zu überheben, so fuhr er nach einigem Nachdenken also fort: »Die Sache ist ganz einfach. Die Liebeserregung des Mannes ist wie eine kurze, akute Krankheit, von der er um so stärker wieder aufsteht. Das Liebesfieber kann ihm wohl so heftig zusetzen, dass er der unsinnigsten Handlungen, ja selbst eines Verbrechens darin fähig ist, aber sobald er das Ziel seiner Sehnsucht erreicht hat, ist er gesund, und, was noch wichtiger ist, überhaupt nicht mehr Geschlechtswesen, sondern nur noch kraftproduzierender Organismus. Die Liebe ist ein hemmender Widerstand für die Maschine Mann; für die Frau ist sie dagegen das movens, das agens; denn die Maschine Weib ist ja darauf eingerichtet, ich möchte sagen Liebesfrüchte zu produzieren. Allerdings besitzt diese weibliche Maschine die wichtigsten Bestandteile mit der männlichen gemeinsam – ohne Kurbelstange, Schwungrad und Regulator wäre sie eben keine Maschine – sie ist daher auch fähig, ihre bewegende Kraft für andere Zwecke zu verwenden, als für den sie speziell gebaut ist; aber das geschieht stets zum Schaden der Maschine und bringt auch ein minderwertiges Produkt hervor.«

»Wird bestritten,« warf die de Fries ein.

»Aber erfolglos,« erwiderte Arnulf Rau geringschätzig. »Die wenigen Frauen, die in Kunst und Wissenschaft wirklich einigermassen Bedeutendes hervorgebracht haben, waren zumeist nicht fraulich beanlagt. – Ach bitte, meine schöne Frau Claire, bemühen Sie sich nicht,« schaltete er mit einer abwehrenden Handbewegung ein, da er bemerkte, dass die de Fries den Mund zu einem Einwurf öffnen wollte – »Sie wollen mir selbstverständlich diese unglückliche Sonja Kowalewska entgegenhalten. Eine liebestolle Mathematikprofessorin beweist ebensowenig gegen meine Behauptungen, als der Umstand, dass zuweilen Kälber mit fünf Beinen oder mit zwei Köpfen geboren werden dagegen beweist, dass Kälber einen Kopf und vier Beine haben.«

»Auf diese Art könnte ich Ihnen auch beweisen,« rief die schöne Claire, ihn fast mitleidig von der Seite ansehend: »dass der Mann das inferiore Naturprodukt sein müsse: denn es hat doch nun einmal Frauen gegeben, die auf dem ursprünglich männlichen Gebiete höchster geistiger Produktion Bedeutendes geleistet haben, wogegen noch niemals ein Mann ein Kind gekriegt hat.«

»Oh, Klärchen!« sagte Doktor Reithmeyer sanft.

Dann entstand eine Pause – denn der schöne Arnulf fühlte sich verletzt.

Seine Gattin brach das Schweigen mit einem drolligen Seufzer und dann verkündete sie mit lächelndem Pathos: »Des Mannes Liebe ist die Welt, die Welt des Weibes ist die Liebe – sagt P. A.«

»P. A.? Wer ist das?« fragte Doktor Reithmeyer unbefangen.

»Kinder, seid Ihr ungebildet!« rief Frau Katja heiter. »P. A. ist natürlich Peter Altenberg

»Peter Altenberg? Ach, der verrückte junge Wiener?«

»Verrückt? nun ja, stylistisch schon, wenn Sie wollen. Seine aufdringliche Manier kann man ja auch vielleicht verrückt nennen. Sonst aber muss ich sagen, ich liebe Peter Altenberg. Er ist wie eine Biene: er sieht nur Blüten, saugt den Saft aus ihnen und giebt ihn als Honig wieder von sich.«

»Das hast Du treffend bemerkt,« kam Arnulf seiner Gattin zu Hilfe. »Ein wenig Honig auf Buttersemmel gestrichen, ist ein hoher Genuss, einen Honigtopf bis zum Grunde auszuschlecken, eine Höllenstrafe. Ein Buch von P. A. ist ein Honigtopf, aber in kleinen Dosen genossen, bietet er exquisiten Genuss. Uebrigens ist er ungefähr der Einzige, der es so sieht wie ich.

»Was »es«?« fragte Frau Claire faul.

Und Arnulf Rau: »Mein Gott! die Welt, das Leben, alles.«

Und wieder nach einer Pause Frau Claire: »Aber Sie haben uns immer noch nicht gesagt wie Sie die Ehe ansehen; die Ehe zwischen dem Mann-Gockel und der modernen Frau.«

»Ja, meine schöne Freundin, wenn Sie mich immer anulken!« rief Arnulf Rau, indem er den Beinüberwurf wechselte.

»Oh, wie könnt' ich mir dies erlauben!« rief Claire unschuldig und schloss friedlich die Augen.

Aber der Dichter und Denker konnte sich nicht sogleich entschliessen. Er rauchte nachdenklich und betrachtete dabei seine Fingernägel. Doktor Reithmeyer erhob sich und begann ein wenig nervös auf und ab zu wandeln.

»Ich fürchte, wir werden auf diesem Wege auch nicht erfahren ob wir heiraten sollen oder nicht,« sagte er ein wenig gereizt. »Es wird am besten sein, es an den Knöpfen abzuzählen.« Er schaute an seiner rechten Rockseite hinunter: »Ja, nein, ja, nein

Frau Katja beugte sich über ihre schöne Freundin. Die hatte über ihrer seidenen Blouse ein spanisches Jäckchen mit vielen kleinen Knöpfen, und sie zählte: »Ja – nein – ja, nein – ja, nein – ja – also ja!« rief sie lustig und klatschte in die Hände.

Die schöne Claire lächelte: »Ach, liebe Katja, fragen Sie doch ihren Mann, ob er nicht meint, dass die männlichen Knöpfe den weiblichen überlegen seien.«

»Bös' sind Sie heute,« lachte die kleine dunkle Dame und küsste die grosse Freundin anmutig auf die Stirn. Und dann zwang sie ihr keckes Gesichtchen wieder zum Ernst und sagte: »Mein Mann wird einmal das Buch über die Ehe schreiben.«

Arnulf Rau streifte einen nach dem andern mit einem misstrauischen Blick. Da sie aber alle gleichmässig ernst dreinschauten, so sagte er: »Ich habe allerdings daran gedacht; doch fing ich mich im Laufe der Jahre zu überzeugen an, dass ich es anstandshalber werde unterlassen müssen.«

»Wieso anstandshalber?« fragte Doktor Reithmeyer und auch Claire öffnete neugierig die Augen.

»Nun einfach, weil die nackte Wahrheit fast jeder Ehe ästhetisch unerträglich ist,« versetzte Arnulf mit düsterer Miene. »In modern realistischen Romanen ist über die Psychologie der Ehe viel und manches nicht Unbedeutende geschrieben worden. Auch die Einflüsse der sozialen und ökonomischen Bedingungen auf denen sie beruht, hat man nicht ausser Acht gelassen; aber von den Brutalitäten des Schlafzimmers hat nur einer den Schleier fortzuziehen gewagt – Strindberg – und er hat ein unsagbar ekelhaftes Buch geschrieben.«

»Das dürfte aber auch eine ausnahmsweise ekelhafte Ehe gewesen sein, meinte Doktor Reithmeyer.

»Nicht einmal,« entgegnete der Sprecher. »Fragen Sie doch einmal Beichtväter, Aerzte, Rechtsanwälte und andere Leute, die Gelegenheit haben, hinter die Kulissen der Ehe zu sehen, und Sie werden sich mit Grausen abwenden von den schrecklichen Bildern, die sie Sie sehen lassen. Und ich behaupte, das sind keine Ausnahmen: die anscheinend harmonischesten Ehen verbergen irgendwo den Wurm in der Blüte; oh, sogar die Nerventaue geschmacklosester Banausen können oft genug nicht alles aushalten, was ihnen die Intimität der vier Wände zumutet! Es kostet zum mindesten sehr viel Geld, wenn man den plumpen Realitäten des Ehestandes aus dem Wege gehen will – reichliche Räumlichkeiten und die Möglichkeit, sich zu jeder Zeit in den nächsten Schnellzug zu stürzen. Glauben Sie mir, die furchtbaren Tragödien der Ehe ergeben sich meist aus Ursachen, die unendlich lächerlich wären, wenn sie nicht so unendlich traurig wären. Ich habe einmal ein wundervolles Weib geliebt. Sie war eben geschieden, als sie meinen Weg kreuzte. Sie hatte ihren Mann kennen gelernt, wie eben Töchter aus guten Familien ihren Gatten kennen zu lernen pflegen. Er war ein Mann von Geist, ausserordentlich tüchtig in seinem Beruf, eine stattliche Erscheinung und obendrein noch recht vermögend. Sie war ein junges, unschuldiges, unerfahrenes Ding, das verehrungsvoll zu ihm aufblickte und er war toll und trunken von ihrer Schönheit. Aber schon in der Brautnacht flösste er ihr ein solches Grauen ein, dass sie es nie mehr überwinden konnte. Dieser begehrenswerte, angesehene, bedeutende Mann war diesem zitternden Geschöpfchen gegenüber wie ein wildes Tier – ausserdem roch er aus dem Munde! Und sie musste ihm mehrere Kinder gebären! Sie hasste den Mann, sie hasste sogar die Kinder – sie kam dem Wahnsinn nahe und er liebte sie nur immer glühender, je deutlicher sie ihn ihren Hass merken liess. Es existierte für ihn kein anderes Weib auf der Welt. Er bettelte um ihre Liebe jeden Tag und erniedrigte sich vor ihr wie ein Hund. Sie konnte weinen vor Mitleid mit den Qualen, die sie ihm bereitete, aber sie hasste ihn nur umsomehr darum, weil er ihr Mitleid erzwang. Sie verlangte die Scheidung, aber er wollte sie um keinen Preis loslassen. Sie bezichtigte sich selbst der Untreue, sie drohte ihm mit der ärgsten Schande – da liess er sie endlich ziehen. Sie verzichtete auf ihre Kinder, sie nahm keinen Pfennig Geld von ihm. Elend genug verdiente sie ihr Brot mit abschreiben und übersetzen. Sie ging weit fort, um sich vor ihm zu verstecken, aber von Zeit zu Zeit spürte er sie immer wieder auf und drang bei ihr ein und winselte um Vergebung und Liebe. Sie klammerte sich an mich, um vor ihm Schutz zu finden; sie liebte mich mit einer glutvollen Hingebung, die geschürt war von dem Feuer des Hasses gegen ihren Gatten. Ich habe ihn eines Nachts durch eine Spalte der geschlossenen Vorhänge ihres Zimmers unten auf der Strasse stehen und wie einen Verrückten hinaufstarren sehen.– Da haben Sie die intime Tragödie einer Ehe, die von aussen betrachtet jedermann für eine äusserst glückliche gehalten hatte – und solcher giebt es Millionen und Abermillionen.«

Es entstand eine längere Pause, dann sagte Frau Claire, indem sie sich plötzlich aufrecht hinsetzte und dem schönen Arnulf voll ins Gesicht sah: »Was haben Sie dann mit dem Manne gemacht?«

»Ich, mit dem Manne?« fragte er verwundert zurück. »Ach so, ja – der Zufall fügte es, dass ich mit ihm bekannt wurde. Er war wirklich ein bedeutender und dabei liebenswürdiger Mensch. Er machte eine Erfindung von weittragender Bedeutung, die ihm glänzenden Gewinn eingebracht hat. Ich habe keine einzige unangenehme Eigenschaft an ihm entdecken können. Allerdings pflegte er in der Kneipe etwas doppeltkohlensaures Natron zu sich zu nehmen, aber mit einem goldenen Löffelchen aus einer goldenen Dose. Der Mann war auch ästhetisch durchaus befriedigend.«

»Und was haben Sie weiter mit seiner Frau gemacht?«

»Mein Gott! Sie wurde mir bald langweilig mit ihrer Manie, in rücksichtslosen Enthüllungen ausgestandener Leiden zu schwelgen. Dann kam übrigens das Allermerkwürdigste.«

»Aha!« rief Doktor Reithmeyer: »ich wette, sie heiratete ihren Mann zum zweitenmale.«

»Nein. Sie heiratete einen englischen Major mit einem Stelzfuss und dem Datterich in den Händen und ging mit ihm nach Canada.«

»Pfui!« sagte Claire ziemlich vernehmlich.

Der schöne Arnulf zuckte die Schultern. »Que voulez-vous, madame? c'est la vie!« Damit stand er auf, um sich ein wenig Bewegung zu machen.

Sobald er den Rücken gewendet hatte, benutzte Claire de Fries die Gelegenheit, die kleine Frau Katja bei der Hand zu ergreifen. Sie wagte sie nicht anzuschauen, aber sie drückte ihr fest die Hand in warmem, fraulichem Mitgefühl.

Es klingelte draussen und Doktor Reithmeyer verliess das Zimmer, um nachzuschauen. Es war Martha Haider, die nur auf einen Sprung gekommen war, um mit Claire das Nähere über einen geplanten Ausflug zu verabreden. Doktor Reithmeyer liess sie eintreten und sie war sichtlich peinlich überrascht, die Raus vorzufinden. Man nötigte sie zum Bleiben, aber sie wollte nichts davon wissen, da ihr junger Freund, der Baron Raoul de Kerkhove mit dem Rade auf sie warte.

»Ei, ei, ei!« neckte sie Doktor Reithmeyer, mit dem Finger drohend.

Und Martha lachte gezwungen und sagte: »Ach, was denn! das Raoulche ist so nett und so harmlos.«

Man sprach den Wunsch aus, das Raoulche heraufkommen zu lassen, und um alle Weiterungen abzuschneiden lief Doktor Reithmeyer selbst hinunter auf die Strasse. Claire bemerkte, wie Arnulf Rau nervös durch sein Haupthaar und über den Bart strich und dabei einen verstohlenen Blick nach dem Spiegel zwischen den Fenstern warf. Und sie lächelte still vor sich hin, froh, dass durch diese Unterbrechung den peinlichen Erörterungen über die Ehe ein Ende gemacht war. Sie nahm Martha unter den Arm und trat mit ihr auf das Dach hinaus. Das Ehepaar blieb stumm zurück.

Mit dem Raoulche hatte es folgende Bewandtnis. Nachdem er vor etwa acht Tagen allein mit Hildegard in den Blumensälen gewesen war, ohne ihr dennoch dadurch näher zu treten als es die strengsten Anstandsbegriffe erlaubten, war Box der Komödie bereits überdrüssig geworden. Sie hatte sich selber mit einigen gesunden Derbheiten apostrophiert und damit den Plan, diesen jungen Mann als Versuchskaninchen auf das Folterbrett zu spannen, aufgegeben. Er hatte die Eröffnung, dass sie Bankiere sei, mit Erstaunen, aber ohne den geringsten Schmerz zu äussern aufgenommen, und dann hatte sie ihm erlaubt, sie zu besuchen. Da lernte er dann auch Martha kennen, und von dem Augenblick an hatte er nur mehr Augen für das schöne Mädchen. Er lief ihr überallhin nach und war glücklich, wenn er allerlei kleine Aufträge für sie ausführen durfte. Er brachte täglich Blumen, besorgte Theater- und Konzertbillete, führte Schampus spazieren und begleitete sie mit dem Rade auf ihren Spazierfahrten. Box ärgerte sich natürlich über diese plötzliche Abschwenkung ihrer interessanten Eroberung, aber sie kam auch über diesen Aerger binnen vierundzwanzig Stunden hinweg und freute sich andererseits, dass die Schwester auf diese Weise eine Ablenkung von ihrer unglückseligen Schwärmerei für Arnulf Rau bekam. Auf Marthas Gemütszustand wirkte der junge Mann augenscheinlich wohlthätig. Seine achtungsvolle Liebedienerei schmeichelte ihr, ohne ihr jedoch irgendwie warm zu machen. Sie konnte ihre Launen an ihm auslassen und ihn dann wieder durch ihre artigen kleinen Koketterien beglücken; das war ein Spiel, das sie freute und sie sah kein Arg darin, denn der junge Mann war ja erst 24 Jahre alt und im Begriff eine Weltreise anzutreten. Arnulf Rau hatte Martha in dieser Zeit nicht wieder gesehen und zwar nicht sowohl wegen der derben Abschreckung durch ihre Schwester, als vielmehr dem verständigen Zureden der schönen Claire folgend. Sie hatte ihre Gedanken und Gefühle thatsächlich schon wieder einigermassen in der gewohnten Ordnung und befand sich in diesem Uebergangsstadium von einer Enttäuschung zu einer neuen Hoffnung, das sie schon öfters durchgemacht hatte, leidlich wohl. Nun kam diese unerwartete Begegnung mit dem doch nur halb gezwungen Aufgegebenen – und die Angst vor der Prüfung machte ihr das Blut in die Kehle steigen und liess ihre Wangen bis zu den Ohren hinauf erglühen. Sie war recht froh, dass man ihren harmlosen Kavalier zum Beistand holte und beschloss, sich für die Unruhe, die der schöne Arnulf ihr bereitet hatte, dadurch zu rächen, dass sie das Raoulche unerhört glücklich machte. Das kostete ja so wenig,

Der junge Baron kam, liess sich den Herrschaften vorstellen und absolvierte die üblichen entschuldigenden Redensarten für sein Eindringen. Man versah ihn mit Getränk und dann kam die Unterhaltung langsam wieder in Gang. Höflichkeitshalber beschäftigte man sich zunächst mit dem Gast, indem man sich nach seinem Woher und Wohin, nach seinen Studien und Aussichten erkundigte. Er begnügte sich mit denselben interessanten Andeutungen, durch die er auch Hildegard Haiders Teilnahme im Fluge gewonnen hatte, und die schöne Martha war stolz auf den Eindruck, den ihr Kavalier offenbar auch auf diese bedeutende Gesellschaft machte. Sie wagte Arnulf Rau verstohlen von der Seite anzublicken, denn sie war sehr gespannt darauf, wie der Erhabene sich zu dem jungen Fremdling mit den Wimmerln stellen würde. Und sie glaubte mit einiger Angst zu bemerken, dass ihrem Orakel die Gurgel schwoll, was immer der Fall war, wenn die kritische Potenz in ihm zur Aeusserung drängte.

Da that der schöne Mann auch schon den Mund auf. Den strengen Blick auf die gelben Schnürschuhe des jungen Balten geheftet, begann er: »Ich glaube aus Ihren Andeutungen entnehmen zu dürfen, dass Sie sich vorbereiten zur Teilnahme am Kampfe gegen den Absolutismus.« Und da Raoul de Kerkhove ihn etwas unsicher anschaute und nicht wusste, ob er einfach ja sagen dürfe, fuhr jener fort: »Ich bin kein Spitzel, Herr Baron, in unserem Kreise können Sie ganz offen reden. Wir Alle, die wir zu der verstreuten Gemeinde der »Eigenen« uns zählen, arbeiten ja selbst auf den Umsturz hin – auf den Umsturz alles dessen, was faul, abgewirtschaftet und unwürdig ist; aber wir wollen nicht wie Ihre Nihilisten mit Dolch und Dynamit gegen die einzelnen Machthaber im Reiche der Finsternis vorgehen, sondern wir wollen sie einfach dadurch ohnmächtig machen, dass wir uns zunächst für unsere Person ihrem Machtbereiche entziehen.«

»Das thu' ich ja zunächst auch,« sagte der junge Baron: »indem ich mein armes Vaterland längere Zeit verlasse; aber das geschieht nur, weil ich fühle, dass ich noch viel zu lernen habe, bevor ich der Sache meines Volkes wirklich dienen kann.«

»Ach so, Sie wollen dienen?« rief Arnulf ironisch. »Wir wollen herrschen, Herr Baron!«

»Ich verstehe wohl nicht,« murmelte Raoul etwas unsicher.

Arnulf Rau lächelte befriedigt, als wollte er sagen: das konnt' ich mir denken – und dann leerte er sein Glas auf einen Zug und räusperte sich, wie um einen längeren Vortrag vorzubereiten.

»Die Revolutionäre von gestern waren Heerdenbefreier,« begann er: »Unsere Sozialdemokraten von heute sind die Blüte der Gestrigen. Es giebt für meinen Geschmack nichts Entsetzlicheres als den souveränen Pöbel – und ich rechne jeden zum Pöbel, der in der Heerde mitläuft. Unsere ganze Entwicklung zielt nun freilich immer mehr auf eine ekelhafte Gleichmacherei ab; Religionen, Staats- und Sittengesetze, und zu allermeist die Schulen, bemühen sich alle in der einen Richtung, den Einzelnen zum Heerdentier herabzudrücken. Die Unterschiede der Stände wollen ja garnicht mehr viel besagen, denn sie bilden unter sich doch nur wieder Heerden und unterscheiden sich untereinander nur durch den Stempel, der ihnen aufs Fell gebrannt worden ist. Was kann bei einem Kampfe der verschiedenen Heerden untereinander anderes herauskommen, als dass die grösste Heerde die kleineren besiegt – und die grösste Heerde ist natürlich die Vereinigung der Allerdümmsten und der Allergemeinsten. Was aber dann kommen wird, wenn alles in der ganz grossen Heerde aufgegangen ist, das kann man sich leicht ausmalen. Die Kultur wird zur Fratzenhaftigkeit schablonisiert werden und statt der Handvoll erbberechtigter Herrscher von heute werden Legionen Unberufener sich zu den Herrscherposten drängen und der Welt das lächerliche Schauspiel eines ununterbrochenen Kampfes zwischen lauter Hammeln geben. Die geborenen Führer aber, die Pfadfinder und Wegweiser, die Freien und Besonderen, die wird feige Angst und boshafter Neid noch weit weniger aufkommen lassen als jetzt. Man wird die wahre Freiheit blutig unterdrücken müssen, damit nur ja der breite Strom der Gewöhnlichkeit in seinem trägen Flusse nicht gehemmt werde. Und auf dieses erhabene Ziel arbeiten heute noch alle herrschenden Mächte hin mit ihren Kirchen, Schulen, Armeeen und Gesetzen. Sind Sie wirklich der Ansicht, Herr Baron, dass wir wenigen wirklich Freien und Unabhängigen an diesem Werke der Narrheit mitarbeiten sollen? Wollen Sie wirklich freiwillig Ihre Selbstherrlichkeit vernichten, damit nur ja kein betrunkener Bauer mehr die Knute zu kriegen, und kein dummes Tier von Muskelmensch länger als drei Stunden täglich Kloaken zu reinigen braucht?«

Raoul besann sich ein Weilchen, dann erwiderte er bescheiden errötend und doch nicht ohne feine Ironie: »Ich bin noch nicht so weit in Nietzsche.«

Doktor Reithmeyer lachte und seine schöne Freundin blickte freundlich lächelnd dem jungen Manne ins Gesicht; die Antwort hatte ihr gefallen.

Arnulf aber fuhr mit Gönnermiene fort: »Nun, dann gebe ich Ihnen den guten Rat, mein lieber Herr Baron, geniessen Sie den Nietzsche wie einen Poeten; für die Praxis ist er ziemlich wertlos – eine Stimmgabel, die Ihnen das a angiebt, aber die übrigen Saiten müssen Sie schon nach dem eigenen Gehör einstimmen.«

»Und darf ich fragen, Herr Doktor, welche Praxis Sie befolgen?« fragte Raoul.

»Welche Praxis? Ich? . . . nun ich . . . zunächst muss ich bemerken, dass ich nicht Doktor bin. Ein staatliches Examen zu bestehen, hätte ja für mich auch eine gewisse Aufgabe persönlicher Freiheit bedeutet, denn um Doktor zu werden, hätte ich nicht umhin gekonnt, mich mit Studien zu befassen, die ich für überflüssig oder doch minderwertig hielt. Warum also eine Zeit Verschwendung begehen, um einen Titel zu erlangen, der doch auch nur der Heerde und den Behörden gegenüber Wert besitzt. Entschuldigen Sie, lieber Freund,« wandte er sich an Doktor Reithmeyer: »ich will damit nicht Ihren Doktor herabsetzen. Ich bin überzeugt, dass die wissenschaftlichen Arbeiten, durch die Sie ihn erwarben, Ihnen Freude gemacht haben; ausserdem brauchen Sie ja auch den Staat als Ernährer. Sie werden mich nicht für kleinlich halten.«

Doktor Reithmeyer machte eine höflich abwehrende Bewegung, und dann wandte sich Arnulf Rau wieder dem Baron zu.

»Sie fragen nach meiner Praxis: nun – ich betrachte und verachte! Das scheint Ihnen vielleicht wenig, aber es bedeutet immerhin etwas, wenn Sie bedenken, dass ich durch meine Betrachtung in Wort und Schrift auch andere zum verachten anrege – zum verachten des Banausentums, der Philisterei, der absurd gewordenen Autorität, zum verachten jeder Engherzigkeit, jedes Schemas, jeder gedankenlosen Gewohnheit. Die Verachtung wird eine innerliche Befreiung, und je mehr Verächter ich schaffe, desto mehr Freie schaffe ich – und diese Freien finden leicht genug die Kraft und den Mut, sich den Gesetzen der Heerde zu entziehen. Die Gewalthaber der Heerde haben keine Gewalt über uns; wir sind selbst Herrschende, weil wir jeder für sich allein stehen. Wenn wir nur wollten, so fänden wir jeder eine Heerde, über die wir unsern Herrscherberuf praktisch ausüben könnten, denn die Masse schaut immer ehrfürchtig zu dem auf, der da vermag allein zu stehen.«

»Also wollen Sie doch wieder Herren und Knechte?« fragte der Baron.

»Selbstverständlich! Das ist die Ordnung der Natur: Fresser und Gefressene! Aber gegenwärtig herrschen die Unfreiesten von Allen, und die wenigen starken Intellekte, die vielleicht unter ihnen sind, erheucheln die Unfreiheit, weil sie fürchten, der Heerde sonst ein gefährliches Beispiel zu geben. In Zukunft aber werden die Freien die Herrschenden sein und sie werden es verschmähen, der Heerde den Zustand der Freiheit vorzugaukeln. Sie werden ehrlich zu ihr sprechen: Ihr seid Sklaven und habt zu gehorchen – und, glauben Sie mir,. sie werden glücklich sein, gehorchen zu dürfen.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte Raoul ganz kleinlaut.

»Gewiss! Ich bin sogar überzeugt, dass schon heute der wahrhaft Freie eine ungeheure Macht ausüben könnte – aber er müsste auf einem Königsthron geboren sein! Ein König, der aller Furcht spottet, der den Mut hätte, der gefährlichste Freigeist in seinem Reiche zu sein und dem es ein himmlisches Vergnügen bereitete, seinem Parlament, seinen Ministern, seinen Bischöfen und Generälen ins Gesicht zu lachen.«

Doktor Reithmeyer wiegte den Kopf wohlgefällig hin und her: »Der lachende König« – ein herrliches Schlagwort! Was meinst Du dazu, Claire?«

»Ich?« versetzte das schöne Weib, indem sie zu ihrem Freunde trat und sich leicht an ihn lehnte. »Ich würde mich ohne Zweifel in ihn verlieben.«

»Ich auch!« rief Frau Katja voll fröhlicher Ueberzeugung.

Aber Martha fragte mit weichem Augenaufschlag: »Möchten Sie denn nicht selbst König sein?«

»Ich weiss nicht, ob es sich der Mühe lohnen würde,« versetzte Arnulf Rau mit leichtem Achselzucken. Aber dann warf er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn die Anderen nicht beobachteten, dem schwärmenden Mädchen einen Feuerblick zu.

Der kleine Raoul fühlte sich offenbar bedrückt von der überlegenen Sicherheit des blonden Hünen, dennoch wagte er einen schüchternen Einwurf: »Aber das würde ja doch wieder zum Absolutismus führen.«

»Gewiss,« versetzte Herr Arnulf lächelnd: »zum Absolutismus des Geistes. Kennen Sie ein höheres Ideal?«

Der junge Mann schwieg verlegen.

»Und wie denken Sie sich die Stellung der Frau in Ihrem idealen Reiche?« erkundigte sich Claire de Fries mit schlauem Lächeln. »Glauben Sie, dass der absolute Geist auch im absoluten Gockel leben wird?«

»Die Frau wird mehr als je durch Schönheit herrschen,« erwiderte er und küsste ihr galant die Hand. »Uebrigens, meine Damen, um diese Frage ein für allemal abzuthun: ich kenne nur einen Zweck, ein wirkliches Ziel der Frauenemancipation: Mütter für freie Söhne heranzubilden. Gegenwärtig gehört die Frau noch zu den hemmenden Mächten, weil sie die Hüterin des blinden Glaubens und der schwachen Vorurteile ist und weil es immer noch ihr Bestreben ist, ihren bedeutenderen Söhnen die Flügel zu stutzen, aus Angst, sie könnten bei ihrem Fluge zu Schaden kommen. Wir brauchen aber freie Mütter für freie Söhne. Darum haben Sie mich auf Ihrer Seite, wenn Sie für die Befreiung Ihres Intellektes kämpfen. Aber ich bin Ihr erbitterter Gegner, wo Sie die Unterdrückung Ihres Geschlechtes anstreben.«

»Bravo, Verehrtester!« rief Doktor Reithmeyer: »vollkommen meine Ansicht; mir ist nichts fataler, als dieses unglückselige dritte Geschlecht.«

»Das dritte Geschlecht?« rief der schöne Arnulf anmutig lächelnd: »den Ausdruck haben Sie von mir.«

»Nein, Pardon, ich habe ihn auch schon anderswo gelesen.«

Arnulf zuckte die Achseln: »Ja, ja, so geht's! Man hat immer seine Vorschreiber. Nun, ich werde mich auch darüber zu trösten wissen. Das dritte Geschlecht lässt mich sonst kalt, wie jeden Mann überhaupt. Gott sei Dank, dass Sie, meine schönen Anwesenden nicht dazu gehören.« Er verbeugte sich gegen Claire und Martha und nickte auch flüchtig seiner Frau zu. Dann trat er zu Katja und bat sie, ihm ihr Tuch, das über der Lehne eines Stuhles hing, zu leihen, denn er wollte noch ein wenig frische Luft schöpfen und fürchtete sich zu erkälten, da er sich warm geredet hatte. Der schöne Arnulf wusste genau, dass man über ihn sprechen würde, sobald er der Gesellschaft den Rücken gewendet hätte und es war eben der feine Zweck seines Hinausgehens, diesen erschütterten Gemütern und lebhaft angeregten Geistern Gelegenheit zu geben, sich ungestört über die Bedeutung seiner Persönlichkeit klar zu werden. Und so geschah es auch. Raoul de Kerkhove hatte zwar schon viel gelesen und als russischer Student oft Gelegenheit gehabt, in geheimen Konventikeln leidenschaftliche Brandreden junger Feuerköpfe anzuhören, aber diese ruhige, formell und geistig abgerundete Beredsamkeit eines gereiften Mannes war ihm etwas Neues, und dazu hatten ihn manche seiner Ideeen als kühn und originell frappiert. Er erkundigte sich bei Doktor Reithmeyer des Näheren nach dem imposanten Herrn. Doktor Reithmeyer geleitete den jungen Mann unter irgend einem Vorwande in das Nebenzimmer, da er sich in Gegenwart von Frau Katja doch nicht gern über ihren Gatten aussprechen wolle.

Die drei Damen blieben allein zurück. Und während Claire und Katja die Diskussion über die aufgerollte Frauenfrage noch eine Weile fortsetzten, sass Martha mit grossen Augen träumerisch dabei und lächelte still vor sich hin, ohne der Unterhaltung viel Aufmerksamkeit zu schenken. Was war er doch für ein Mann und wie verschwanden sie alle neben ihm! Das war ihr einziger Gedanke.

Da erschien Arnulf Rau in der offenen Balkonthür und rief: »Ach, Fräulein Haider, kommen Sie doch mal her! Helfen Sie mir den eigenartigen Zauber dieser Hinterhausstimmung geniessen!«

Gehorsam wie ein kleines Mädchen erhob sich Martha und ging zu dem Vergötterten auf das Dach hinaus. Claire bemerkte wohl das bitterliche Lächeln, das um Frau Katjas Lippen zuckte, während ihre Blicke dem schönen Mädchen folgten. Sie zog das kleine verblühte Frauchen neben sich auf den Divan, legte ihren Arm schwesterlich um sie und sprach: »Warum ertragen Sie das so ruhig, liebe Katja?«

»Ruhig?«

»Na, wenn es Sie ärgert, revoltieren Sie doch – und es muss Sie doch ärgern! Selbst wenn ich nicht eifersüchtig wäre, ich würde mich doch gegen die Geschmacklosigkeit empören, die darin liegt, dass ein Mann im Beisein seiner Frau mit seinen galanten Abenteuern renommiert.«

»Ich kenne sie ja alle, er verschweigt mir ja nichts – er ist in diesem Punkte wirklich die Offenheit selber,« versetzte die kleine Frau, nur schlecht volle Gemütsruhe heuchelnd.

»Und wie ertragen Sie das?«

»Oh, ich habe mich daran gewöhnt, ihm mit rein psychologischem Interesse zuzuhören.«

»Wirklich?«

»Ach Gott, wissen Sie, liebe Claire, man thut halt sein Möglichstes. Er fühlt sich doch nun einmal so gross und objektiv dabei und nimmt als selbstverständlich an, dass ich in den sieben Jahren unserer Ehe mich allmählich doch zu seinem Standpunkt aufgeschwungen haben müsste. Wenn ich nicht den Glauben in ihm erhielte, so würde ich viel eher in Gefahr kommen, ihn wirklich zu verlieren.«

»Diese Gefahr besteht jetzt nicht, glauben Sie?«

Frau Katja lächelte diesmal wirklich mit ruhiger Sicherheit. »Nein, diese Gefahr besteht jetzt wirklich nicht. Er kommt immer wieder zu mir zurück von seinen kleinen Ausflügen auf verbotenes Jagdgebiet. Er ist ja, Gott sei Dank, viel zu faul, um so eine Geschichte bis dahin zu verfolgen, wo sie unangenehm aufregend wird. Sie glauben nicht, wie glücklich mich seine Faulheit macht! – Und dann ausserdem – jedesmal, wenn er mit seinem etwas ramponierten Herzen wieder zu meinen Füssen kuschen kommt, bringt er so etwas liebenswürdig Weiches mit und bemüht sich so redlich um meine Gunst, dass ich nie etwas anderes thun kann, als ihn zur Strafe ein bischen ausspotten. Und das hilft ihm immer seine Gewissensbisse rasch kurieren.«

»Und wie lange hält denn solch ein Aufschwung seiner ehelichen Gefühle vor?« fragte Claire neugierig.

»Oh, immer bis zum nächsten Mal,« lachte Frau Katja leichtsinnig.

Kleine Pause. Sie hörten draussen auf dem Dache Arnulfs schönes Organ zum Flüstern abgedämpft.

Claire deutete da hinaus und fragte leise: »Na, und diese Geschichte da, macht die Ihnen auch keine grössere Sorge?«.

Frau Katja zuckte die Achseln.

Und Frau Claire fuhr eifrig fort: »Aber er hat dem Mädchen schreckliche Dummheiten in den Kopf gesetzt – und sie ist in dem Alter, wo man sich hartnäckig an jede Hoffnung klammert. Sie wird sich nicht so leicht abschütteln lassen. Dass sie ganz weg in ihn ist, müssen Sie doch bemerkt haben.«

»Ach, lassen sie doch das«, bat Frau Katja gequält. »Er kommt schon wieder; er weiss zu gut, dass er keine Frau wieder findet, die ihn so versteht und mit der sich so bequem leben lässt wie mit mir.«

»Sie müssen ihn doch sehr lieben.«

»Ja wie sollte ich denn nicht! Ich habe kein Kind und niemand sonst, der meinem Herzen nahe steht. Ich bin verblüht und kann keinen Anspruch darauf machen, in der Welt sonst irgend eine Rolle zu spielen. Ich habe nur meine offenen Augen und meinen guten Verstand.«

»Aber da müssen sie doch sehen, was in ihr . . .«

»Ach bitte lassen Sie das! Er hat seine kleinen Eitelkeiten, er posiert etwas vor den Leuten und er leistet nicht, was er vielleicht leisten könnte – das sehe ich alles sehr wohl, aber ich weiss auch besser als Ihr alle, wie viel in Wirklichkeit in ihm steckt. Er ist ein ungemein umfassender Geist; er zieht so viele Dinge in den Bereich seiner Anteilnahme, dass ihm die Begrenzung auf ein Schaffensgebiet und mässige Erfolge mit mittleren Leistungen nicht genügen können. Er fühlt und will nur das Höchste, warum soll er darauf nicht stolz sein? Er braucht ja den Beifall der Menge nicht, und mir bietet er doch so unendlich viel! Glauben Sie mir nur, ich führe ein so reges, reiches geistiges Leben durch ihn – nein, ich habe wirklich allen Grund, zufrieden zu sein!«

Die schöne Claire sass eine kurze Weile nachdenklich da, dann ergriff sie plötzlich mit Wärme Frau Katja's Hand und drückte einen raschen Kuss darauf. »Sie sind wirklich eine kluge Frau«, sagte sie, »und eine feine Lebenskünstlerin. Aber ich glaube, eine Frau, die Ihr Talent und ihre Klugheit nicht hat, die sollte auch nicht heiraten.«

»Wenn Sie ihn lieben, dann heiraten Sie ihn ruhig«, flüsterte Frau Katja der schönen Freundin ins Ohr. »Sie sehen doch, wie er leidet durch Ihre Weigerung – und er ist so ein guter Mensch. Wenn Sie ihn wirklich lieben, können Sie das ja doch nicht lange mit ansehen.«

Und während drin die beiden Frauen also miteinander tuschelten, stand draussen auf dem Dache Arnulf Rau mit dem Shawl seiner Gattin um den Hals und mit Fräulein Marthas fieberheisser Hand zwischen seinen beiden. In einer Gastwirtschaft in der Nähe liess ein Männerquartett vierstimmige Weisen ertönen; es waren frische Stimmen und in dieser Abendstille, durch die Entfernung gedämpft, klangen sie weich und rein zusammen. Der Wiederschein der elektrischen Strassenlampen erhellte den dunkeln Himmel über der friedlichen Grossstadt und die Sterne blickten bleich wie vielgewanderte Münzen – oder wie abgeleierte Lyrik, die dennoch mit ihrem leichten Klingklang immer wieder zu wirken versteht, wenn sie nur im Menschenherzen die rechte Stimmung findet. Und Martha Haiders Herz war breiweich wie lockeres Erdreich nach langem Regen, jedes Samenkorn musste darin aufgehen, seien es Brennesseln oder brennende Gladiolen! Sie wagte nicht ihm ihre Hand zu entziehen und ihre Ohren sogen begierig sein Flüstern ein.

»Atmen Sie auch diese wundervolle Harmonie der Stimmung mit solcher Wollust ein?« raunte er. »Was ist das für ein Geschwätz von poetischen und unpoetischen Dingen! Nicht wahr, mein liebes Fräulein, Sie fühlen wie ich? Dem liebenden Verständnis löst sich das scheinbar Widersprechendste in reine Stimmung auf. Besteht denn noch ein Unterschied für Sie in diesem Augenblick zwischen der Poesie eines Bergsees im Abendglühn mit Kuhglockengeläut und Wiesenduft, und dieser Hinterhausaussicht auf enge Höfe, Gärtchen, Dächer, Telephondrähte und blasse Sterne? Die Sänger da drüben mögen recht öde Kerle sein, aber zwingen sie uns nicht ihr Lied in die Seele wie nur irgend eine liebeskranke Nachtigall? Sehen Sie da unten das erleuchtete Fenster, den Flickschuster vor seiner Lichtkugel am Tischchen über die Arbeit gebückt – stört er Ihnen etwa die Stimmung? Dieser Flickschuster würde mir fehlen, wenn er nicht da wäre. Und da drüben im Garten die Magd mit ihrem Schatz! Sehen Sie nicht ihre weisse Schürze im Schatten leuchten? Sie hat beide Arme um seinen Hals und glaubt ihm alles, was er ihr sagt. Nein, wenden Sie sich nicht ab: Die Liebe ist schön in allen ihren Formen, ausser . . . . .«

Er brach ab, denn er empfand, dass es besser sei, nicht ausführlich zu werden. Und dann schwiegen sie beide eine längere Weile. Der Tenor des Quartetts schmetterte ein hohes b hinaus, ein Hund in der Nachbarschaft fühlte sich dadurch verletzt und heulte schmerzlich auf. Und dann wurde es plötzlich ganz, ganz still. Nur wie fernes Wogenbrausen schlich das gedämpfte Geräusch der Stadt gleichsam an den Ufern der grossen Stille dahin. Und drunten in den schwarzen Schatten des Gärtchens küssten sich die Hausmagd und der Chevauxleger – oder vielleicht war es auch ein schwerer Reiter; sein Pallasch klirrte wie er sein Mädel an die Brust zog.

Da schlang plötzlich Arnulf Rau seinen Arm um Martha Haider, presste sie wild an sich und flüsterte ihr glühend ins Ohr: »Küss' mich, Mädchen, küss' mich!«

Aber sie stemmte ihre beiden kleinen Fäuste gegen seine Brust und stiess ihn heftig zurück. Ihre Augen flammten, ihre Lippen bebten, doch sie vermochte kein Wort herauszubringen. Mit raschen Schritten eilte sie zur Thür, blieb stehen, presste die Hand auf den Busen und rang nach Atem. Dann fuhr sie sich glättend über den Scheitel und trat ins Zimmer hinein. »Wir haben so lachen müssen«, rief sie, »da ist ein Hund, der heulte immer, wenn der Tenor so hoch singt.«

Doktor Reithmeyr und Raoul de Kerkhove hatten sich eben wieder den beiden Damen zugesellt und einige Sekunden später kam auch Arnulf Rau wieder herein. Er hüstelte und hielt sich den Shawl seiner Gattin fest um den Hals zu. Martha nahm hastigen Abschied; sie müsse durchaus heim, denn sonst beunruhige sich Box über ihr langes Ausbleiben. Der junge Baron bedankte sich für die freundliche Aufnahme, und dann machten sich die beiden davon.

Die beiden zurückbleibenden Paare sassen noch beinahe zwei Stunden beisammen, ohne dass gerade abnorm viel Geist produziert worden wäre.

Es war etwas nach Mitternacht, als Herr Arnulf und Frau Katja heimgingen. Er nahm so grosse Schritte, dass die kleine Frau an seinem Arm fast traben musste und als sie schon nahe an ihre Behausung gekommen waren, neckte sie ausser Atem: »Na, du loser Mensch, hast Du der schwarzen Madonna heute endgiltig den Kopf verdreht? Was hattet Ihr denn so angelegentlich zu flüstern da draussen?«

»Ach, lass' mich zufrieden mit dem Frauenzimmer«, knurrte Arnulf. »Sie ist eine dumme Gans! Rechenmaschine, ohne einen Funken von Poesie. Sie soll nur hinter ihrem Kontobuch sitzen bleiben und sich nicht einbilden, für den Verkehr mit feiner organisierten Intellekten reif zu sein.«

Und auf dem letzten Treppenabsatz kicherte Frau Katja ihrem Hünen lustig zu: »Na, wer ist nun Deine Beste, sag's!«

Und er gab lustig zurück: »Ach Du dummes Ding, schon wieder einmal geschwollen vor Eitelkeit, was? Da – da – Du bist meine Einzigste, da hast Du's!« Und er küsste sie dreimal heftig auf das schmachtende Mündchen und dann hob er die leichte Last auf und trug sie vollends die Stiege hinauf. – – – –

Claire de Fries war sehr müde als die letzten Gäste gegangen waren und legte sich sofort ins Bett. Doktor Reithmeyr wollte noch etwas lesen und blieb im Wohnzimmer zurück, aber die Schlafstubenthür hatte sie offen gelassen, damit die frische Luft von der Balkonthür aus hereinstreichen könnte. Und als er etwa eine halbe Stunde gelesen hatte, hörte er sich beim Namen rufen. Er ging hinein und setzte sich zu ihr auf den Rand ihres Bettes.

Sie nahm seine Hand und streichelte sie und dann sagte sie langsam und bedächtig: »Ich habe es mir jetzt überlegt, lieber Freund, ich will Dir nun doch den Willen thun.«

»Du willst?! – Ach, Claire, Liebste, endlich mein vor aller Welt!« jubelte er überglücklich.

»Ja, weisst Du«, sagte sie, »es ist ja nur, weil mich Dein schöner Arnulf mit seinen Rohheiten über die Ehe so erbost hat; blos dem zum Possen möchte ich jetzt versuchen, ob wir nicht auch in der üblichen Façon eine rechte Ehe führen können.«

Und er riss sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und stammelte dazwischen ganz überglücklich: »Ach, Du mein Weiberl, mein Weiberl! Red' blos net gar so g'scheidt daher! Blos lieb haben, verstanden – blos lieb haben!«


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