Ernst von Wolzogen
Das dritte Geschlecht
Ernst von Wolzogen

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Der Prinz Cloppenburg-Usingen war der liebenswürdigste, sympathischste Mensch von der Welt. Seine Laune schien immer ebenso rosig zu sein wie sein Teint, und seine gutmütigen Augen strahlten immer in ungetrübter Helle wie die eines Kindes, das soeben von einem langen gesunden Schlaf erwachte. Niemand hatte ein scharfes Wort aus seinem Munde gehört, niemand eine brutale Regung jemals an ihm wahrgenommen. Mit seinem feinen Geist und schlagfertigen Witz war er ein überall gern gesehener Gesellschafter und mit seinem glücklichen Humor half er sich auch über den einzigen Schmerz seines sonst so beneidenswerten Daseins hinweg, dass er kein grosser Künstler war. Er hatte die militärische Karriere sehr bald aufgegeben, um ganz und gar seiner Leidenschaft für die Künste zu leben. Sein Vermögen war gross genug, um es ihm zu ermöglichen, sich das Leben ganz nach seinem Behagen einzurichten, ohne übertriebenen Luxus, und um in bescheidenen Grenzen den Mäcen zu spielen. Er hielt sich weder Pferde noch Wagen und das jeu liess ihn ebenso kalt wie die Weiber. Für die Tausende, die er auf diese Weise schon erspart, hatte er sich eine recht eigenartige kleine Bildergalerie angeschafft, die auf seine Etagenwohnung in der Prinz-Regentenstrasse und seine Villa am Chiemsee verteilt war. Ausserdem hatte er einen jungen Schauspieler auf seine Kosten ausbilden lassen, zwei junge Maler nach Italien und Paris geschickt, der verlassenen Braut seines Kammerdieners eine Schneiderstube eingerichtet, alle Sammlungen zu Denkmälern nationaler Geistesgrössen mit Beiträgen bedacht und sehr vielen guten Freunden Geld geliehen mit der freudigen Zuversicht, es nimmer wiederzusehen. So musste man wirklich sagen, dass er für seine jungen Jahre schon viel Gutes und Nützliches geleistet hatte und in Anbetracht dieser Leistungen konnte es ihm wohl nachgesehen werden, dass die Verslein, die er hatte drucken lassen, lediglich von einer gewissen Reinlichkeit des Empfindens, seine Manuskript gebliebenen Kompositionen nur von einem befriedigend absolvierten Studium der Harmonielehre zeugten und dass endlich seine Gemälde niemals fertig wurden.

Prinz Cloppenburg-Usingen feierte heut seinen dreissigsten Geburtstag. Mit seinem vollwangigen Babygesicht und dem spärlichen blonden Bärtchen auf der puppenhaft geschwungenen Oberlippe hätte man ihn schliesslich auch für zweiundzwanzig halten können, wogegen er der Sicherheit seines Auftretens und der Ruhe seines Gebahrens und Urteilens nach auch ein Fünfziger hätte sein können. Der Prinz war heute wirklich ärgerlich und nervös, obwohl ihm das ein flüchtiger Beobachter nicht angemerkt hätte. Er hatte seinen dreissigsten Geburtstag besonders festlich begehen wollen und war nur zu diesem Zwecke von seiner Villa am Chiemsee in die Stadt gekommen; aber er hatte mit seinen Einladungen kein Glück gehabt. Die meisten seiner Freunde und Freundinnen waren bereits am Land, und da das Wetter just ausnehmend schön war, hatte sich niemand von ihnen entschliessen mögen, seiner kleinen Fete wegen in die Stadt zu kommen. Da hatte er denn im letzten Augenblick an die kleine reizende Frau von Kobiceck gedacht, die immer einige mögliche Herren an der Hand hatte und an Arnulf Rau, den er eigentlich nicht ausstehen konnte, der aber durch seine beredt vorgetragenen Paradoxe in geistreicher Gesellschaft immerhin eine gute Figur machte. Auch dem grossen Arnulf hatte er in der Verlegenheit anheimgestellt intressante Freunde oder Freundinnen mitzubringen. Fest zugesagt hatte ausser diesen auf den Ärmel eingeladenen nur sein Freund, der Graf Rimsky mit seiner Saisongattin Rosi Ungerer.

Der premier venu war der grosse Arnulf Rau – und wen brachte er mit? Seinen lieben Freund, den Baron Dr. Raoul de Kerkhove, von dem Lilly von Robiceck heute Morgen erst dem Prinzen gegenüber behauptet hatte er sei ein kleiner Ekel.

Dreiviertel Stunden sassen die beiden Herren nun schon bei dem Prinzen und hatten ihm bereits den ganzen Salon mit dem Rauche seiner teuersten Cigarren und Cigarretten erfüllt, seine Bilder betrachtet, seine antiken Möbel und modernen objets d'art bewundert, ohne dass die Entréeglocke das Nahen eines neuen Gastes angekündigt hätte. Die Köchin des Prinzen war in Verzweiflung und hatte schon zweimal den Kammerdiener Luigi, einen fixen Italiener, der drei Sprachen sprach und mit zärtlicher Liebe an dem Weinkeller seines Herrn hing, hereingeschickt, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass das Essen verdürbe und dass sie immer noch nicht wüsste, wieviel Couverts aufgelegt werden sollten.

Trrrr . . .! endlich schnarrte das elektrische Läutewerk und Luigi fuhr wie ein Blitz aus der Thür, um zu öffnen. Das Gespräch verstummte und mit gespannter Erwartung blickten die drei Herren nach der Schwelle des Vorzimmers, dessen Flügelthüren geöffnet waren. Gleich darauf erschien Graf Rimsky, Premierleutnant im schweren Reiterregiment. Er war sehr echauffiert und wischte sich noch beim Eintreten die Stirn mit dem Taschentuch.

»Allein?« rief ihm der Prinz entgegen.

»Allerdings. Ich bedaure sehr, aber . . . . .« Er brach ab, trat näher und verbeugte sich militärisch vor den beiden ihm fremden Herren. Der Prinz erledigte die Vorstellung und dann zog ihn Graf Rimsky, mit einer Entschuldigung gegen die beiden Gäste, in das Vorzimmer hinein und führte ihn am Arm bis ans Fenster.

»Ja was ist denn, warum bringst Du denn Deine Rosi nicht mit?« fragte der Prinz im Flüsterton.

»Ach, hol der Teufel das verdammte Frauenzimmer!« gab der Graf ebenso leise zurück. »Sie hat mir eben eine Szene gemacht, weil ich ihr erklärt habe, dass ich in diesem Sommer keine Toilette mehr bezahle. Sie ist schauderhaft anspruchsvoll geworden seit sie merkt, dass es mit mir Mathäi am letzten ist. Die Ratten verlassen das Schiff.«

»Was heisst denn das? Schon wieder neue Schwierigkeiten?«

»Aber, Cloppenburg, frag doch net so dumm! Du kennst Dich doch aus mit meinen Verhältnissen. Heut hat mich der Oberst cotamert; c'est fini – ich muss meinen Abschied nehmen.«

»Also doch!«

»Mein Papa hat an den Prinzregenten selbst geschrieben. Ich muss also auf höheren Befehl meinen Hinauswurf beantragen.«

»Armer Kerl! und dann?«

Der Graf zuckte die Achseln, »'n' sais pas – Weinreisender werden – Versicherungsagent oder Kunstmaler – c'est tout égal!«

»Hm – kann ich was für Dich thun?«

»Wenn Du Dich nicht ruinieren willst – nein. Es handelt sich immerhin um einige 60 000. Ich habe schon mit einem Rechtsanwalt gesprochen: wir treffen ein Abkommen mit meinen Gläubigern, indem ich mich verpflichte 80 Jahre alt zu werden und mir meine Schulden allmählich von meinem Einkommen abziehen zu lassen. Glänzende Idee, was? Aeh bäh, il faut prendre la chôse en philosophe. Gratulir' Dir übrigens herzlichst zum Geburtstag, mein Lieber!«

»Danke Dir! Hast Du wirklich daran gedacht?«

»Natürlich! Wir waren ja voriges Jahr auch so fidel beisammen. Was sind denn das für schöne Leut' da drin?«

Der Prinz lächelte ein wenig trübe und raunte ihm ins Ohr: »Der blonde Geschwollene ist einer der sich selbst genügt. Er kommt mir vor wie einer, der zu seinem Standbild sitzt. Und der kleine à l'aire melancholique giebt sich für einen Neffen des Fürsten Krapotkin aus und markiert den Nihilisten.«

»Aeh, pfui Teufel, das ist ja interessant,« lachte Graf Rimsky schon wieder ganz in seinem gewohnten, lustig mokanten Ton: »Kommen keine Damen?«

»Doch! Die kleine Robiceck hat zugesagt.«

»Die Lilly? Ah, scharmant! Ich lebe wieder auf.« Der junge Graf hakte sich in den Arm des Prinzen, um sich wieder in den Salon führen zu lassen, als Luigi aufgeregt auf seinen Herrn zulief und ihm mit lebhafter Gestikulation auf italienisch mitteilte, dass die Köchin erklärt habe, sofort das Haus verlassen zu müssen, wenn nicht subito, subito gespeist werde.

»Va bene,« beschied ihn der Prinz achselzuckend: »fa venire la zupa. E quando vengono le signore – eh! c'e la sua colpa se fanno aspettarsi.«

Luigi flitzte davon und die beiden Herren gingen wieder in den Salon. Wenige Minuten später öffneten sich die Flügelthüren zum Esszimmer und man setzte sich zu Tisch. Von den ursprünglichen acht Couverts waren zwei bereits wieder entfernt und in Erwartung der Frau von Robiceck mit einer eventuellen Freundin waren die beiden Plätze an den Schmalseiten der kleinen Tafel freigelassen worden.

Ein geschmackvoller Broncelüster, an dem, durch bunte Glaskelche angenehm gedämpft, ein Dutzend Glühlämpchen brannten, goss mildes Licht über die gediegene Pracht der Tafel. Schweres altes Silber, dezent verziertes Porzellan und entzückende alte Gläser, sowie das einzige Schmuckstück, eine venezianische Vase mit Blumen, gaben der Tafel das Gepräge vornehmen Geschmackes. In der Blumenvase steckte ein grosser Strauss Mohnblüten von einer ungewöhnlich grossen brennendroten Art und dunkelrote Rosen und Nelken waren reichlich über das glänzende Damasttuch hingestreut. Das Speisezimmer war nicht gross und hatte ausser einem entzückend fantastischen Büffet aus hellem Holz, erfunden von Hans v. Berlepsch, und zwei antiken Truhen nur die notwendigen Tische und Stühle an Möbeln aufzuweisen. Die Wände zeigten als einzigen Schmuck zwischen den Fenstern eine grosse Stickerei von Hermann Obrist, einen fantastischen goldenen Blütenbaum auf graubraunem Seidenuntergrund darstellend, und auf der gegenüberliegenden Wand einen grossen Mondaufgang im Moor des Worpsweder Meisters Otto Modersohn.

Die Suppe wurde schweigsam und doch ohne Andacht genossen. Es wollte keine rechte Stimmung aufkommen, weil alle vier Herren unter dem Eindruck des verfehlten Anfangs der Festlichkeit standen. Die Unterhaltung setzte sich ganz langsam in Gang, knarrend von gesuchten Phrasen wie ein schlecht geöltes Räderwerk. Während man noch die hors d'oeuvre erwartete schänkte der Prinz vino santo ein und bemerkte dazu, dass er diesen edlen Tropfen noch niemals ohne Anwesenheit von Damen genossen habe. »Ich finde,« fuhr der Prinz fort: »dass ein näheres Eingehen auf das andere Geschlecht der Ruhe des Philosophen und der freien Entwickelung der Künstlerseele nicht zuträglich sei; aber als Tafelschmuck sind mir hübsche Damen einfach Bedürfnis. Wo man nur zum Zwecke der Sättigung isst, stören sie; aber wo man mit ästhetischen Aspirationen speist, gehören sie unbedingt dazu, – hab' ich Recht meine Herren?«

»Ohne Zweifel,« antwortete Graf Rimsky im Namen der Gäste. »Sie sind schon aus dem Grunde unentbehrlich, weil wir Mannsleute sonst bei jeder festlichen Tafelsitzung unfehlbar dem Suff und der cochonerie verfallen würden.«

Arnulf Rau spielte mit seinen weissen Fingern in seinem Kinnbart und warf wohltönend den Satz hin: »Ich möchte wohl wissen, ob die neuen Weiber in ihren Konvivien dem Suff und der cochonerie entgehen werden.«

»Was verstehen Sie unter neuen Weibern?« erkundigte sich der schwere Reiter.

»Nun, das dritte Geschlecht, das eben im Begriff ist sich heranzubilden.« Und da der Graf nähere Aufklärung wünschte gab der schöne Arnulf folgende Ausführungen zum Besten: »Ich fasse unter dem Ausdruck »das dritte Geschlecht« alle die Frauenexistenzen zusammen, welche aus natürlicher Veranlagung oder unter dem Druck der Verhältnisse dazu gelangen, sich nicht mehr als Geschlechtswesen mit engumschriebenen Pflichten und Gerechtsamen, sondern einfach als Mitmenschen zu empfinden. Es hat ja immer zahlreiche Frauen gegeben, die auf die Erfüllung ihrer besonderen weiblichen Bestimmung verzichten mussten und denen dieser Verzicht auch nicht schwer wurde, weil weder das sinnliche Bedürfnis noch der mütterliche Instinkt besonders scharf bei ihnen ausgebildet war. Diese Neutra von Natur mussten sich aber in früheren Zeiten in das Schema des Frauendaseins einfügen, weil Gesetz und Sitte ihnen die Teilnahme an allen für Reservatrecht der Männlichkeit gehaltenen geistigen und physischen Kraftbethätigungen verboten. Sie huschten wie graue Motten unbeachtet durchs Dasein und auf ihrem Grabstein war nur zu lesen, dass sie Tanten gewesen. Die Entwickelung unserer ökonomischen Verhältnisse zum brutalen Kapitalismus hat es mit sich gebracht, dass die Armee der Tanten einen ungeheuren Zuwachs von freiwilligen und gepressten Bataillonen erhalten hat. Die Männer sind selten mehr im Stande, in den Jahren wo die Liebe die Pärchen zusammenführt, zu heiraten, und die proletarische Familie, welche ungefähr 93 Prozent der Bevölkerung ausmachen soll, kann keine Drohnen ernähren – folglich müssen die Millionen von Weibern, die keine Versorgung in der Ehe finden, sich durch die Arbeit auf eigene Füsse stellen. Die Mehrzahl von ihnen wird freilich die Sehnsucht nach der Ehe nicht los und bleibt Weib. Sie empfindet sich voll Groll als Sklaven der Arbeit und weiss ihre individuelle Freiheit nicht zu schätzen. Eine Minderheit aber, die immer ansehnlicher wird, lernt durch die Arbeit Befriedigung finden – und das sind die Rekruten des dritten Geschlechtes. Die heutige zielbewusste Frauenemanzipation bezweckt die Revolutionierung der Tanten. Sie werden unzufrieden gemacht, man impft ihnen den Kulturdünkel ein und treibt sie mit der Peitsche des Ehrgeizes in den Konkurrenzkampf mit dem Manne auf allen Gebieten hinein. Das dritte Geschlecht soll zum lebendigen Beweis für die geistige Ebenbürtigkeit von Mann und Frau herhalten.«

»Glauben Sie an diese Ebenbürtigkeit?« fragte Graf Rimsky.

»Nein – selbstverständlich nicht,« lächelte Arnulf Rau »Die Damen liefern den stärksten Beweis dagegen; denn da der Anschein der geistigen Konkurrenzfähigkeit hauptsächlich von denen erweckt wird, die sich erst ihres Geschlechtes entäussern mussten, so ist es klar, dass das zweite Geschlecht an sich mit dem ersten nicht konkurrieren kann.«

»Bravo, das leuchtet mir ein!« rief der Graf lebhaft. »Meiner Erfahrung nach sind die Weiber von Natur überhaupt nur in zwei grosse Gruppen eingeteilt: die Hübschen und die Garstigen. Für die Hübschen ist die Liebe und die Macht, die wir ihnen durch die Galanterie einräumen – und – na überhaupt alle Herrlichkeiten der Welt; für die Garstigen ist die Arbeit und die Frömmigkeit. Aus diesem Grunde bin ich für Beibehaltung der Religion und des Kapitalismus.«

Die drei andern Herren lohnten diese geistreiche Ausführung durch herzliches Gelächter, in welches der Herr Premierleutnant gutlaunig einstimmte.

Dann wagte sich Raoul de Kerkhove mit der schüchternen Bemerkung hervor, dass heutzutage denn doch schon eine erhebliche Menge hübscher Frauen unter den Amazonen des dritten Geschlechts zu finden seien.

»Na, aber, das finden Sie doch auch einfach scheusslich, degoûtant?« krähte der Graf.

»Pardon, degoûtant ist wohl etwas zu viel gesagt«, erwiderte Raoul; »aber ich muss allerdings zugeben, dass es traurig ist. Es wäre doch wohl ein zu krasser Egoismus, diese Damen zu verachten. Ich muss gestehen, ich leide mit ihnen.

»Mein junger Freund ringt noch gegen den Egoismus«, sagte Arnulf Rau, gönnerhaft lächelnd. »Wenn er älter werden wird, wird er dazu gelangen, ihn als die grosse treibende Kraft zu verehren.«

»Gott sei Dank, Sie sind also wenigstens kein Sozi?« rief der Graf und stiess mit Arnulf Rau über die Tafel an.

»Nein, durchaus nicht«, versetzte dieser, »denn wenn der Sozialismus, infolge Unreife der Zeit, Thatsache werden sollte, würde er nur dazu dienen, die Entwicklung zum Bienenstaate zu beschleunigen, und den betrachte ich selbstverständlich als das grösste Unglück, das über die Menschheit hereinbrechen könnte; denn er würde die naturgemässe Entwicklung zum Uebermenschentum verhängnissvoll unterbrechen.«

»Der Bienenstaat?« Der Prinz nahm beifällig nickend das Wort auf. »Arbeiter, Drohnen und Königinnen! Hm, hm! – Abscheuliche Perspektive – obwohl man ja auch die künstliche Erzeugung eines dritten Geschlechtes gegen den Willen der Natur als einen Triumph des menschlichen Geistes ansehen könnte. Der Bienenstaat würde vortrefflich in eine Kulturentwicklung hineinpassen, in welcher die Menschheit statt zu speisen nur Nahrungspillen zu sich nehmen und statt zu lieben, die Weibchen im regelmässigen Turnus zum Brutgeschäft kommandieren würde.«

Während der letzten Worte war Luigi mit einer Platte voll Hummern und Caviar eingetreten. Die Herren langten zu und assen mit Trauermienen, wie im Bewusstsein, zur Henkersmahlzeit der alten zweigeschlechtlichen Welt geladen zu sein.

Da ertönte draussen das scharfe Rasseln der Entréeglocke und wie auf Kommando schauten sämtliche Herren von ihrem Teller auf und blickten gespannt nach der Thür.

»Gott sei Dank, die Damen!« flüsterte der schwere Reiter mit einem Seufzer der Erleichterung. Arnulf Rau gestattete sich die Frage, wer erwartet würde.

»Die kleine reizende Frau von Robiceck«, erwiderte der Prinz. »Sie hat versprochen, noch Jemanden mitzubringen und da sie Geschmack hat, bin ich überzeugt, dass sie uns nicht in Verlegenheit setzen wird.«

»Frau von Robiceck? Ach!« rief Raoul de Kerkhove und konnte ein freudiges Erröten nicht unterdrücken.

»Ah, Sie kennen die Dame, Baron?« wendete sich Arnulf Rau an seinen Nachbar.

Und der Prinz sagte: »Es wundert mich, dass Sie sie nicht kennen, Herr Doktor. Sie ist jedenfalls das Vollendetste, was die Mauern Münchens gegenwärtig in ihrem Genre beherbergen.«

»Und dieses Genre? fragte der schöne Mann.

»Drittes Geschlecht – tragisch kompliziert durch Schönheit und weibliche Eitelkeit.«

»Frau von Robiceck drittes Geschlecht?! Unmöglich!« fuhr Raoul de Kerkhove im jugendlichen Eifer drein. »Ich habe sie unter Umständen kennen gelernt, in die nur das zweite kommt.«

Das plötzlich hell ausbrechende Gelächter belehrte den jungen Baron, dass er ganz ohne böse Absicht einen bedenklichen Witz gemacht hatte. Er stotterte errötend lebhafte Entschuldigungen und wollte seine Meinung deutlicher erklären, als der Prinz ihm mit einem strafenden Blick nur das eine Wort: »Discretion!« über die Tafel zuraunte.

Im selben Augenblick ging draussen die Thür und Luigi liess Frau von Robiceck in Begleitung zweier junger Herren eintreten. Die vier Männer sprangen auf und gingen der sehnlichst Erwarteten bis an die Schwelle des Esszimmers entgegen. Ihre beiden Mitbringsel wurden in der ersten Aufregung garnicht beachtet, man war zu glücklich, endlich das Weib unter sich zu sehen. Der Prinz und der Graf bemächtigten sich sofort ihrer beiden Hände und küssten ihr galant die weissen langen Handschuhe mit den Medaillonknöpfchen, und erst nachdem sie die Schelte über ihr langes Ausbleiben und die Komplimente über ihr reizendes Kostüm – mit Blumen bestickte Seidengaze auf olivgrünem, seidenen Untergrunde, mit weiten Aermeln, kleinem, spitzen Ausschnitt, rosa Schärpe und Bandgarnierung – in Empfang genommen hatte, gelangte sie dazu, die beiden Herren in ihrer Begleitung vorzustellen.

»Herr Werner Rudolfi – Herr Joachim von Lossow, beide Kunstmaler. Sie sehen, lieber Prinz, ich habe von ihrer freundlichen Erlaubnis Gebrauch gemacht. Jetzt, meine Herren, ist es an Ihnen, mir Ehre zu machen.«

Sie gab jedem der jungen Leute einen kleinen Klaps mit ihrem Fächer und dann liess sie sich am Arm des Prinzen auf ihren Platz führen zwischen dem Grafen und Arnulf Rau.

Die Herren machten sich rasch untereinander bekannt und nahmen Platz, nachdem noch ein siebentes Couvert eingeschoben worden war. Natürlich liess sich der Gastgeber nicht merken, dass er an ihrer Stelle lieber Damen gesehen hätte, zumal das Aeussere der beiden jungen Künstler für ihre Zugehörigkeit zu einem erlesenen Kreise sprach. Sie trugen beide lange Bratenröcke in dem jüngst wieder modern gewordenen Biedermeierschnitt und gewaltige schwarzseidene Halsbinden, über welche selbst die spannhohen Hemdkrägen nur als schmale weisse Biese hervorragten. Herr Rudolfi war weissblond und bemühte sich, seinem gesunden, liebenswürdigen Gesicht mit dem friedfertigen Ausdruck durch einen à la Wilhelm II. gesträubten Schnurrbart einen energischen Ausdruck zu verleihen, während Herr von Lossow, ein sehr schlanker Mecklenburger, brünett war und glattwangig bis auf eine Andeutung künftiger Favorits, mit einem weichen, nervösen Munde, einer verfehlten Nase und tiefliegenden, leidenschaftlichen Augen.

»Bin ich wirklich die einzige Dame?« rief Lilli von Robiceck, kokett die Aengstliche spielend. »Das finde ich dumm. Bitte, meine Herren, lassen Sie es mich ja nicht merken; thun Sie, als ob Sie ganz unter sich wären, sonst fühle ich mich zu sehr geniert. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich Hosen angezogen.«

»Das hätte Ihnen nichts geholfen, meine Gnädigste«, sagte Graf Rimsky, »wenn man so reizend ist, kann man sich nicht verkleiden.«

»Ach, du lieber Gott, geht's schon wieder los!« rief Lilly mit einem drollig unglücklichen Augenaufschlag. »Ich warne Sie, Herr Graf! Noch eine einzige Schmeichelei und ich nehme meine beiden jungen Herren unter die Arme und verlasse das Lokal. Sie müssen wissen, dass ich seit heute auf eigenen Füssen stehe. Ich habe mir fünfhundert Rubel mit meiner Hände Arbeit verdient. Fragen Sie le baron de Kerkhove. Ich habe zwar die fünfhundert Rubel noch nicht, aber die blosse Aussicht darauf hat mich schon emanzipiert. Ich bitte, sich von mir imponieren zu lassen!«

»Voilà messieurs«, rief der Prinz, »die Illustration zu unserem Gespräch von vorhin.«

»Wenn das wieder aufgenommen wird, dann verlasse ich mit Protest das Lokal!« krähte Graf Rimsky, einen Augenblick in seiner Beschäftigung, eine Hummerscheere für Frau von Robiceck zu präparieren, innehaltend.

»Wovon war denn die Rede?« erkundigte sich die junge Dame.

»Nein, nein, nicht sagen!« rief der Graf lebhaft.

Und Lilly von Robiceck: »Dann muss ich annehmen, dass von mir Uebles geredet wurde.«

Man verwahrte sich natürlich lebhaft gegen solche Beschuldigung und ebenso natürlich wurde Frau von Robiceck immer neugieriger, so dass es schliesslich dazu kam, dass der Prinz das Wesentliche der vorausgegangenen Diskussion für sie wiederholte.

Lilly hatte aufmerksam zugehört und dann wandte sie sich an den Grafen und sagte: »Ah so! Und von einer solch gescheidten Unterhaltung wollen Sie, mein Herr, mich also ausschliessen, nicht wahr? Ich soll Sie jetzt amüsieren, ohne dass es Ihnen geistige Anstrengung kostet. Aber, nein – dees giebt's net; und mit Ihnen rede ich überhaupts gar nimmer, denn ich bin auch eine revolutionierte Tante!« Und sie nahm ihr Weinglas und stiess mit Arnulf Rau an: »Prosit, mein Herr, das haben sie gut gesagt!«

»Gehören Sie eigentlich unserm Verein noch nicht an, gnädige Frau?« fragte nach einer Weile der schöne Arnulf, der, seit man sich wieder zu Tisch gesetzt, sein rotes Krustentier nicht mehr angerührt, sondern lediglich seine reizende Nachbarin mit bewundernden Blicken verschlungen hatte.

»Was ist das für ein Verein?« fragte sie zurück.

»Der berühmte Verein zur Evolution der femininen Psyche. Ich sage unser Verein, weil meine Frau ein eifriges Mitglied ist. Ich habe übrigens auch schon Vorträge dort gehalten. Die Damen kommen wöchentlich einmal bei Eckel zusammen, um sich geistig zu beeindrucken; es entspinnen sich manchmal ganz interessante Diskussionen im Anschluss an die Vorträge. Ausserdem wirken die Damen praktisch durch die Bearbeitung der öffentlichen Meinung, durch die Erteilung von Ratschlägen in Rechtssachen und durch Arbeitsnachweis für Frauen und Mädchen auf den höheren Gebieten. Fräulein Echdeler ist Vorsitzende, eine sehr sympathische Dame, und unter den hervorragenden Mitgliedern sind Fräulein Doktor Babette Gierl, die Baronin Grötzinger, Frau von Stummer, Hildegard Haider und andere bekannte Namen. Sie werden gewiss eine oder die andere von den Damen kennen.«

»Nein, ich kenne keine – d. h. die Namen habe ich wohl schon gehört«, erwiderte Lilly. »Ich kenne überhaupt fast gar keine Damen – wissen Sie, was man so Damen nennt. Ich habe Angst vor Damen, ich geniere mich so in ihrer Gesellschaft. Es ist überhaupt komisch: ich hasse eigentlich die Männer, weil sie immer gleich so eklig sind, aber ich kann doch nur mit Männern vernünftig verkehren. Unter Damen habe ich sofort das Gefühl, als würde ich misstrauisch beobachtet – so, als zögen sie sich gleich bei meinem ersten Anblick alle zusammen hinter einen Zaun zurück. Eine junge Frau, die in Scheidung liegt, ganz allein in der Welt steht und von den Herren hübsch gefunden wird, wird von allen Damen, die sich zur guten Gesellschaft rechnen, zurückgestossen wie ein gefährliches Subjekt.«

»Stimmt leider!« bemerkte der Prinz.

»Nicht wahr?« wandte sie sich ihm lebhaft zu. »Denken Sie, ich habe auch nie eine wirkliche Freundin gehabt – wenigstens dauerte die Freundschaft immer nur so lange, bis uns der erste Mann begegnete. Der sah nämlich regelmässig mich zuerst an und dann wandten sich die lieben Freundinnen gekränkt von mir ab. Die Frauen sind es allein, die unsereins auf Euch, Ihr Herren, anweisen; und dabei hass' ich Euch doch – wahrhaftig, ich hasse Euch – inbrünstig!« Sie wurde plötzlich ganz weiss im Gesicht, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und ihre Lippen zuckten wie in einem schmerzhaften Krampf.

Die Herren sahen einander ratlos an. Dann erhob sich der Prinz, trat hinter ihren Stuhl, berührte leicht ihre Schulter und flüsterte ihr zu: »Was haben Sie denn, liebe Lilly? Ist Ihnen nicht wohl?«

Sie fuhr zusammen und bat um ein Glas Wasser. Der Prinz schänkte ihr eines ein und sie trank es mit durstigen Zügen aus. Dann heftete sie mit gerunzelter Stirn ihren Blick auf den ihr gegenübersitzenden jungen Maler am andern Ende der Tafel und rief auf einmal überlaut, mit angestrengtem Tone: »Warum reden Sie denn garnicht, Rudolfi? Machen Sie doch einen Witz!« Und zu den übrigen gewendet, fügte sie sofort lächelnd hinzu: »Herr Rudolfi leidet in den heissen Monaten immer am Heuschnupfen, aber sonst ist er sehr nett – ja, ich möchte fast sagen, lieb. Seien Sie mal lieb, Rudolfichen!«

»Ja, gleich,« versetzte der junge Mann mit dem Schnurrbart à la Guillaume II. und – nieste kräftig, worauf er sein Taschentuch hervorzog und sich umständlich schnäuzte.

Lilli brach in ein tolles Gelächter aus und die sämtlichen Gäste bemühten sich nach Kräften mitzulachen, um über die ungemütliche Stimmung hinweg zu kommen. Der Prinz kannte die sonderbaren Anfälle, denen Lilli von Robiceck zuweilen ausgesetzt war. Er wusste aus Erfahrung, dass es am besten sei, sie dann nach Möglichkeit sich selbst zu überlassen; er fing ein Gespräch mit Herrn von Lossow an, in das er auch bald den verschnupften Werner Rudolfi verwickelte. Er brachte aus den beiden jungen Leuten bald ihre einfache Lebensgeschichte heraus. Herrn von Lossows Fall war übrigens interessant. Der junge Mann hatte von Kindheit auf den Beruf zum Musiker in sich gefühlt, aber seine Familie hatte sich aufs Heftigste dagegen gesträubt, ihn sich beizeiten auf die Laufbahn eines Kapellmeisters und Komponisten vorbereiten zu lassen. Sie hatte ihm sogar, als er erst 14 Jahre alt war, den Klavierunterricht gesperrt. Er hatte das Gymnasium absolvieren und zwei Semester Jus studieren müssen, dann endlich hatten ihm die weisen Eltern gestattet, seinem künstlerischen Drange nachzugeben, aber nur unter der Bedingung, dass er die Akademie der bildenden Künste in München besuchte. Sie hielten die Malerei für eines Edelmannes immerhin nicht so ganz unwürdig, seitdem es in derselben einen Grafen Kalkreuth, einen Grafen Harrach, einen Herrn von Kameke und einen Anton von Werner gab, während in der Musik eigentlich nur jener Herr von Bülow hervorragte, dessen sittliche Grundsätze und politische Ueberzeugungen keineswegs einwandfrei gewesen waren.

»Oh, du himmlische Güte!« seufzte der Prinz drollig: »wann werden denn endlich diese Fossilien in unserm Stande aussterben?! – Sie sind wirklich zu beneiden, Baron Kerkhove.«

»Ich? Finden Sie wirklich?« sagte Raoul ein wenig verwirrt, denn der Prinz hatte ihn über einem ganz verzückten Anstarren der kleinen reizenden Frau von Robiceck ertappt.

»Ja, gewiss,« versetzte der Prinz: »denn Ihr Herr Vater starb in Sibirien – und in Sibirien sterben keine Sklavenseelen. Wenn man ausserdem den Fürsten Krapotkin zum Onkel hat . . .«

»Oh, Sie wissen, Durchlaucht?«

»Ja, gewiss. Sie haben es doch selbst durchleuchten lassen, Herr Baron.«

Lilli von Robiceck richtete in diesem Augenblick wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, indem sie plötzlich einen kleinen Schrei ausstiess und mit dem ärgerlichen Ausruf: »Bitte, lassen Sie das, ja!« dem schönen Arnulf Rau ein grosses Stück Semmel ins Gesicht warf.

»Aber ich bitte, meine Gnädigste,« krähte Graf Rimsky: »qu' est ce, qu'il-y-a donc?«

»Der Herr versuchte, mich unter dem Tisch auf den Fuss zu treten,« rief Lilli böse. »Ich lasse mich aber nicht mit Füssen treten.« Und dann stimmte sie ganz unvermittelt ihren Ton zu einem lustigen Gepiepe um und fragte den Uebelthäter, mit der Spitze ihrer Gabel auf seine Nase zielend: »Wie heissen Sie eigentlich, mein Herr? Ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Arnulf Rau,« antwortete jener, nicht wenig gekränkt durch ihr Gebahren. »Ich hoffe Ihnen noch Gelegenheit zu geben, sich meines Namens zu erinnern.«

»Das hoffe ich auch,« erwiderte sie schnippisch. »Uebrigens, ich nehme Sie beim Wort: wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben mich in Ihren Verein mit dem verrückten Namen einzuführen? Wie wars doch: Restauration der Feministenclique?«

»Haha, das sollte sich Herr Eckel auf seinen Firmenschild schreiben,« lachte der grosse Arnulf.

»Jawohl, wenn er sich seine Gäste hinaus ekeln will,« scherzte der Graf.

Und Lilli entgegnete prompt: »Herren haben in meiner Gegenwart keine Witze über die höheren Bestrebungen der Frauenzimmer zu machen. Dazu bin ich da, merken Sie sich das, Graf!« Und zu Arnulf Rau gewandt fuhr sie fort: »Also, ich nehme Sie beim Wort. Sie führen mich in den Verein ein. Darf ich mir erlauben, Ihrer Frau Gemahlin meine Aufwartung zu machen? Ich werde Ihr sagen, dass Sie mich getreten haben der Gesellschaft beizutreten.«

Der niedliche Witz wurde gebührend belacht und dadurch die gute Stimmung wieder hergestellt. Lilli schien ihre Krise überstanden zu haben. Inzwischen näherte sich das Menü seinem Ende; man hatte den Braten bereits hinter sich und Luigi kam eben mit dem Eis herein. Bald knallte auch der erste Sektpfropfen und da erinnerte sich Graf Rimsky der festlichen Bedeutung des Tages und drang mit heimlichem Flüstern in Lilli, eine kleine Rede zu halten. Sie sträubte sich energisch und gab erst nach, als der Graf und Arnulf Rau sich bereit erklärten, ihr zu soufflieren. So klopfte sie denn an ihr Glas und erhob sich.

»Geehrte Angehörige des ersten Geschlechtes und geliebte Mitmenschen! Wenn Sie mir gestatten, von dem Vorrecht, das Ihre Liebenswürdigkeit meinem Geschlecht einräumt, diskreten Gebrauch zu machen, nämlich von dem Vorrecht, Dummheiten zu sagen, so werde ich jetzt eine Rede halten, die erste in meinem Leben.«

»Also meine Jungfernrede,« flüsterte ihr der Graf hinter der vorgehaltenen Hand zu.

»Machen Sie keine schlechten Witze, Graf!« blies sie ihn an. Und dann beugte sie sich rasch zu Arnulf Rau hinüber und flüsterte: »Bitte um etwas Geist!«

Der schöne Mann fuhr zusammen und kratzte sich am Kopfe.

Lilli zuckte mitleidig die Achseln und sprach, drollig seufzend: »Da sehen Sie wieder ein neues Dokument zum Unterschied der Geschlechter:

»Wir Frauen können immer schwatzen,
Ihr müsst Euch erst am Kopfe kratzen.«

Der Prinz kicherte, Raoul de Kerkhove rief begeistert: Bravo! und Werner Rudolfi schwenkte seinen Sektkelch mit einem röchelnden Heilruf.

»Unser verehrter Gastgeber,« fuhr Lilli fort: »hat heute sein dreissigstes Lebensjahr vollendet. Meine Herren, das ist mehr, als Mancher von uns von sich sagen kann. Sie können lange warten, bis ich z. B. Sie zur Feier meines dreissigsten Geburtstages einlade.«

Der Prinz geriet über diesen Scherz dermassen ins Kichern, dass er einen Hustenanfall bekam, was wiederum Werner Rudolfi so sympathisch berührte, dass er mit einem innigen »Prosit!« mit ihm anstiess.

»Unser verehrter Freund hat seine Lebenszeit bisher wahrhaftig gut angewendet. Welchem Künstler sollte nicht das Herz höher schlagen, wenn er einen Mann sieht, der Sekondelieutenant gewesen ist und nachher doch Bilder kauft – trotzdem er selbst malt: einen Mann, der sich für Musik begeistert, obwohl er selbst welche macht; einen Mann, welcher die Dichtkunst unterstützt und seine eigenen Gedichte lieber garnicht dichtet?! Meine Herren, einem Manne mit einer solchen fleckenlosen Vergangenheit kann auch eine glorreiche Zukunft nicht fehlen; ja, mein Prinz, Sie haben noch eine grosse Aufgabe im Leben zu erfüllen. Bedenken Sie, von wie vielen Leuten Sie noch nicht angepumpt wurden, wieviele Kunstwerke Sie noch nicht gekauft und wieviele Genies Sie noch nicht entdeckt haben! Aber ich, mein Prinz, ich als Weib dritten Geschlechtes, bin Ihnen noch zu ganz besonderem Danke verpflichtet; denn von all den Männern, die mir schon treue Freundschaft geschworen haben, sind Sie der einzige, der noch nicht gesagt hat: »Ich liebe Dich!« Aus diesem Grunde vor allem fühle ich mich zunächst berufen, mit Begeisterung in den Ruf auszubrechen: Unser lieber und verehrter Prinz Cloppenburg-Usingen lebe hoch, hoch und abermals hoch!«

Alle erhoben sich, die Gläser klangen zusammen, man drückte dem liebenswürdigen Prinzen die Hand und beglückwünschte Lilli zu ihrem glänzenden Debüt als Rednerin.

Sie war sehr stolz und verhöhnte übermütig ihre beiden Souffleure, die sie so schnöde im Stich gelassen hatten. Arnulf Rau trank sehr viel Sekt, um seinen Aerger hinunter zu spülen, während der Graf sich weder durch Drohungen noch durch Fächerklapse abhalten liess, kleine equivoque Geschichten zum Besten zu geben. Die jungen Herren hatten bereits alle feuchtglänzende Augen, der eine vom Heuschnupfen, die andern von der Begeisterung für die reizende kleine Frau von Robiceck.

Die Tafel wurde nun bald aufgehoben. Man begab sich in den Salon und rauchte. Dann braute der Prinz vor den Augen seiner Gäste die beliebte kalte Ente zusammen.

Das Gespräch kam auf die Litteratur. Eine ganze lange Reihe von neuen Namen tauchte auf; fast jeder dieser Namen fand unter den Anwesenden einen, der ihm lebhafte Anerkennung zollte, aber alle wurden sie von der unerbittlichen kritischen Faust Arnulf Raus gleichsam unter die Wellen gedrückt und ersäuft. Da holte der Prinz von seinem Schreibtisch ein originell ausgestattetes Heft mit einer symbolistischen Umschlagszeichnung auf grauem Papier, blätterte eine Weile darin und überreichte es dann aufgeschlagen Arnulf Rau.

»Sie haben Organ, mein strenger Herr, bitte, lesen Sie uns das vor!«

»Wie soll ich denn das lesen? Es sind ja keine Interpunktionszeichen da,« sagte Arnulf und dann schaute er auf den Titel und lächelte spöttisch: »Ach so, Stefan George

»Bitte, lächeln Sie nachher,« sagte der Prinz ernsthaft. »Ich habe diesem Herrn geschrieben, dass ich ihn liebe, obwohl er auch mir vielfach dunkel ist. Bitte, präparieren Sie sich und dann lesen Sie.«

Der schöne Mann zog sich mit dem Buch zur Lampe zurück und studierte mit gefurchter Stirne seine Aufgabe. Nach etwa fünf Minuten erklärte er sich bereit und las mit gutem Vortrag und weichem Tonfall das folgende Gedicht:

»Indess deine Mutter dich stillt
Soll eine leidige Fee
Von Schatten singen und Tod.
Sie giebt dir als Patengeschenk
Augen so trübe und sonder,
In die sich die Musen versenken.

Verächtlich wirst du blicken
Auf roher Spiele Gebaren;
Die Arbeit, die niedrig macht,
Vor grossen strengen Gedanken
Dich mahnen und wehren.

Wenn deine Brüder klagen
Und sagen: O Schmerz! den deinen –
Sag ihn den Winden bei Nacht.
Und unter der Nägel Waffe
Blute die kindliche Brust.

Vergiss es nicht: du musst
Deine frische Jugend töten;
Auf ihrem Grab allein,
Wenn viele Thränen es begiessen – spriessen
Unter dem einzig wunderbaren Grün
Die einzig schönen Rosen.«

Niemand sagte etwas. Nach einer Weile fragte der Prinz: »Nun?« Er sah dabei Arnulf Rau herausfordernd an.

»Wenn es auf eine verwandte Stimmung trifft,« sprach der: »dann mag es eine plötzliche tröstliche Schönheit gewinnen, das gebe ich zu.«

»Nun, ich meine,« lächelte der Prinz: »das ist so ziemlich alles, was man von einem Gedicht verlangen kann.«

Arnulf Rau zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen, Durchlaucht . . . . . mir ist sowohl diese geheimnisvolle Rätselkrämerei wie auch dieser müde Weltschmerz unsympathisch. Ich wünsche zwar durchaus nicht, dass alle Kunst für die Gasse sein soll, aber man soll auch die Kunst nicht in der Schwierigkeit suchen.«

Der Prinz sah sich in dem kleinen Kreise um, als wollte er andere Urteile herausfordern. Von dem Grafen Rimsky war offenbar nichts zu erwarten. Der hatte seinen Mund eirund geöffnet und that als ob er Rauchringe formen wollte, um sein Gähnen zu verbergen. Werner Rudolfi starrte mit feuchten Augen zur Decke empor, wie hypnotisiert von den Südfrucht-Guirlanden, die sein Kunstgenosse dort oben hingezaubert hatte, und Raoul de Kerkhove machte vollends ein Gesicht als drückten ihn seine Lackstiefel. Frau von Robiceck sass auf dem Divan und rauchte, die Ellbogen auf die Kniee und ihren Kopf in die Hände gestützt. Sie träumte vor sich hin, und wieder machte sich jenes krampfhafte Zucken um Mund und Nasenflügel bemerkbar, welches bei ihr das Herannahen einer Nervenkrise zu verkünden pflegte. In der andern Ecke desselben Divans sass Joachim von Lossow, flocht nervös seine Finger ineinander und suchte eine Spitze seines spärlichen Bärtchens mit den Unterzähnen zu erhaschen. In seinen Augen blitzte es von verhaltener Leidenschaft.

»Wollen Sie uns nicht etwas spielen Herr von Lossow?« sagte der Prinz.

Und der junge Mann erhob sich sofort, trat an den Flügel und schlug schweigend den Deckel zurück. Dann setzte er sich vor die Tasten, sann eine kurze Weile nach und sagte endlich so leise, dass wohl nicht alle Anwesenden es verstanden: »Ich will versuchen Ihnen das Gedicht zu spielen.«

»Ach ja!« hauchte Lilli. Sie warf ihre Cigarette in den Aschbecher, zog ihre Füsse auf den Divan und streckte sich lang aus, die Arme unter dem Kopf verschränkt.

Ganz leise begann Joachim von Lossow die Tasten zu berühren: suchende, schwebende Akkorde. Ganz allmählich erst stellte sich eine Melodie ein, eine unsagbar wehmütige, einförmige Weise, wie ein Wiegenlied im Verdämmern des Abends. Aber die Melodie wuchs sich aus; sie gewann festere Umrisse, sie wurde gross und schicksalsschwer, von fremdartigen Harmonieen getragen; und dann brach sie plötzlich ab und nach einem einleitenden mächtig anschwellenden Tremolo hub ein Allegro an voll kühnen Trotzes, in welchem lärmende Fanfaren und polternde Bassfiguren gegen einen zu ruhiger Grösse sich erhebenden Gesang ankämpften. Und dann erlosch der Kampf; die klagende Melodie des Anfangs erschien wieder, aber reicher bewegt, den gebändigten Schmerz eines Edlen singend. Und zum Schlusse ging die Fantasie aus in eine mystische Verklärung, die völlig Lizstschen Geist atmete.

Alle Zuhörer, den gänzlich unmusikalischen Raoul nicht ausgeschlossen, standen unter dem Eindruck, der Offenbarung einer wunderbar tief angelegten Künstlerseele gelauscht zu haben und hüteten sich wohl, die schöne feierliche Stimmung durch banale Lobsprüche zu stören.

Der junge Musiker drehte sich mit seinem Klaviersessel um und machte eine kleine Verbeugung gegen den Prinzen.

»Wundervoll!« rief der leise. »Und wie haben Sie es verstanden! Ich danke Ihnen von Herzen, Herr von Lossow.«

Der junge Mecklenburger liess sich, verlegen lächelnd, von dem Prinzen die Hand drücken und dann erhob er sich, um auf seinen alten Sitz zurückzukehren. Frau von Robiceck zog die Füsse ein, um ihm den Platz frei zu machen und er sah, dass ihr die Augen voll Thränen standen.

»Sie haben geweint, Lilli?« sagte er mit stockendem Atem, und in seinen Augen leuchtete helle Freude auf.

»Ja, es war so schön!« sagte sie einfach und streckte ihm ihre Hände entgegen.

Er beugte sich darüber, um sie zu küssen, aber Lilli war rascher als er – sie umklammerte seine Fingerspitzen fest, zog seine Hände zu sich heran und küsste sie alle beide.

Herr von Lossow wurde dunkelrot. Sie hatte seine Hände wieder frei gegeben und er wusste nun nicht, was er damit anfangen sollte. Er flocht wieder nervös die Finger ineinander und trat zur Seite, den Blick fest auf das nächste beste Bild an der Wand geheftet.

Werner Rudolfi hatte die kleine Szene beobachtet und auch bemerkt, wie Frau von Robiceck plötzlich ganz weiss im Gesicht wurde. Er erhob sich rasch und trat zu ihr. »Was haben Sie denn, Lilli? Hat Sie die Musik so angegriffen?«

Sie haschte nach seinem Rocke und zog sich mit ersichtlicher Anstrengung daran in die Höhe. »Mir ist ja so elend!« stöhnte sie leise.

»Oh soll ich Sie nach Haus bringen?«

Sie schüttelte nur den Kopf. Nun trat auch der Prinz herzu und zeigte sich sehr besorgt. Ob er nicht einen Wagen holen lassen sollte, fragte er. Sie wehrte fast wild ab. »Nein, nein, bitte, lassen Sie mich hier; nur nicht nach Hause! Was soll ich denn zu Hause? Die Nacht ist ja so lang. Seien wir doch lustig. Herr v. Kerkhove soll die Flöte blasen oder irgend etwas.«

Raoul zog die Schultern hoch und sagte fast demütig: »Ich bedaure sehr, Gnädige, ich kann leider nicht die Flöte blasen.«

»Ach Gott, was können Sie denn?«

»Ich kann leider nichts – als Sie bewundern, Gnädigste.«

Lilli lachte hart auf. »Das sagen Sie aber nicht Ihrem Onkel, Herr Baron, sonst vertraut er Ihnen nie auch nur für zwei Kopeken Dynamit an. Spielen Sie doch noch etwas, Herr v. Lossow!«

Und ohne sich lange bitten zu lassen, setzte sich der junge Mann ans Klavier und fantasierte über Motive aus den Nibelungen wohl eine kleine halbe Stunde lang.

Während seines Spiels war Dieser und Jener aufgestanden, um seinen Platz zu wechseln, auch wurde hier und dort ein bischen leise geschwatzt. Arnulf Rau hatte sich vorsichtig zum Divan herangepürscht und begonnen, der kleinen reizenden Frau v. Robiceck allerlei Schmeicheleien zuzuflüstern, aber nur eine stumme Ablehnung damit erfahren. Der schöne Mann ärgerte sich; er war an diesem ganzen Abend überhaupt noch nicht recht zur Geltung gekommen, und dieses kleine eigensinnige Weib regte ihn furchtbar auf. Sie war ein Genre, das er noch nicht kennen gelernt hatte – wie geschaffen für die Liebe eines Dichters! Warum sollte grade diese Blume nicht für ihn blühen? Sie wäre die erste gewesen, die ihm auf die Dauer widerstanden hätte. Und er liess sich nicht abschrecken, sondern flüsterte immer neue schöne Worte in ihr kleines weisses Ohr. Da stand Lilli v. Robiceck auf, ging zum Flügel hinüber und setzte sich dicht hinter Joachim v. Lossow.

Als er sein Spiel beendet hatte, wurde die Unterhaltung wieder allgemein. Graf Rimsky entschädigte sich für das lange Schweigen, zu dem er verurteilt gewesen war, indem er das Thema der bekannten Histörchen aus Hof und Gesellschaft aufbrachte und eine Menge Beispiele daran knüpfte. Er war unerschöpflich in solchen Anekdoten und fiel ins Französische, so oft sie bedenklich wurden. Lilli schenkte ihnen keine Beachtung – denn sie verstand schlecht Französisch, und schliesslich nahm sie gar den Arm des Herrn v. Lossow und ging mit ihm ins Esszimmer, wo Luigi inzwischen abgeräumt hatte.

»Sie haben noch nie so schön gespielt,« sagte sie, plötzlich dem jungen Manne ihre Hände auf die Arme legend. »Sie schaffen so aus voller Seele heraus Musik. – Haben Sie schon viel geliebt?«

»Oh ja,« lächelte er verlegen.

»Wie Männer lieben?«

»Nein, – wie dumme Jungen lieben.«

»Ach Sie sind lieb!« Sie versuchte zu lachen, aber es gelang ihr nicht recht und plötzlich nahm ihr weiches Gesichteten wieder jenen schmerzhaften starren Ausdruck an und sie sagte unvermittelt: »Wissen Sie, wozu ich heute Lust hätte?«

»Nun?«

»Mich tot zu schiessen. Aber ich bin so feige. Wollen Sie mir nicht helfen?«

Er schüttelte den Kopf und lächelte, als ob er sie nicht ernst nähme. »Ach, Unsinn, Lilli! Warum reden Sie denn immer solche Sachen? Sie regen sich nur auf. Sie sind ja krank; gehen Sie doch aufs Land – und trinken Sie kuhwarme Milch.«

»Pfui!« sagte Lilli und trat von ihm weg an das dichtverhangene Fenster. Sie spielte nervös mit einer Vorhangquaste, dann brach sie leidenschaftlich flüsternd aus. »Es ist nicht schön von Ihnen, dass Sie sich über mich lustig machen. Wissen Sie denn, was ich für ein jammervolles Leben führe? Aber nein, Sie haben ja ganz Recht, ich bin ja nichts Besseres wert, natürlich! – Ich habe ja nur mit Ihnen kokettiert. Sie haben mich toll gemacht mit Ihrem wunderbaren Spiel – die Musik wirkt so furchtbar stark auf mich – und nun reizt es mich, Sie dahin zu bringen, dass Sie mir Liebe stammeln sollen, wie die andern alle. Es ärgert mich, dass Sie so furchtbar anständig und zurückhaltend sind. Sie sollen sein wie alle anderen Männer – blos damit ich meinen Triumph habe, verstehen Sie mich? Heute Nacht könnte ich mich Ihnen mit Wonne an den Hals werfen und morgen würde ich Sie scheusslich behandeln. Reizt es Sie nicht, ein solches Geschöpf zu vernichten? – Einen Schuss Pulver sind meine schönen Augen doch am Ende noch wert!«

Er trat dicht zu ihr und strich ihr über das Haar. »Ach machen Sie sich doch nicht so schlecht. So sind Sie ja garnicht. Sie sind ja nur krank; warten Sie nur erst, bis Sie wieder in klare Verhältnisse gekommen sind. Wenn Ihre Scheidung durchgegangen . . .«

»Ach Gott, woran erinnern Sie mich! Morgen muss ich zum Herrn Pfarrer und meinen christlich-katholischen Glauben aufkündigen, sonst kann ich nicht geschieden werden. Dann bin ich ein Heidenweib und da thut sich der Teufel leicht mit mir.« Sie lachte nervös.

»Liebe Lilli, regen Sie sich doch nicht so auf. Es giebt ja noch Leute, die Sie lieb haben und die Ihnen helfen werden. Ich weiss sogar Einen, der glücklich sein würde, wenn Sie ihn heiraten wollten.«

»So, wen denn?'

» Rudolfi.«

»Ach, der hat ja den Heuschnupfen.«

Der junge Mann wurde ernstlich böse. »Wenn Sie so sind, dann rede ich nicht mehr mit Ihnen. Er liebt Sie so aufrichtig und Sie haben ihm doch gesagt, dass Sie ihn auch gern haben.«

»Nun ja,« erwiderte Lilli. »Kann man denn anders, wenn einer so gut ist? Er soll nur hingehen und ein anständiges Mädchen heiraten mit etwas Vermögen.«

Er strich ihr wieder über das Haar. »So habe ich Sie ja nie gesehen; sein Sie doch gut, Lilli!«

Sie entzog sich ihm unwillig. »Lassen Sie doch das Gekrabbel sein, das macht mich nervös.«

»Sie sind eben nervös. Gehen Sie doch aufs Land, damit Sie wieder gesund und stark werden.«

»Oh, ich bin stark!« rief sie laut und reckte ihre Arme empor. Und plötzlich bückte sie sich, umfasste den schlanken, jungen Mann unter den Knieen und hob ihn von der Erde empor. »Da!« keuchte sie und liess ihn wieder fallen. Und dann lief sie in den Salon zurück und rief laut, indem sie in die Hände klatschte: »Lilli will jetzt tanzen!«

Das war leichter gesagt als gethan, denn die Räume des Prinzen waren nicht gross und ausserdem zu sehr von Möbeln angefüllt. Der Prinz macht ihr die Unmöglichkeit, ihren Wunsch zu erfüllen, begreiflich, und da erklärte sie, sie wollte in das American Bar gehen.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl!« sagte der Prinz galant, obwohl es ihm nicht das mindeste Vergnügen machte, andere alkoholische Getränke zu sich zu nehmen und Luigi den sehr bedeutenden Rest der kalten Ente zu überlassen.

Man brach hastig auf und zog nach dem reizenden Kellerlokal im Hotel zu den vier Jahreszeiten, in dessen engen Räumen sich, besonders im Winter, die feinere Kunst- und Lebewelt nächtens zu treffen pflegt. Es war mittlerweile ein Uhr nachts geworden; aber diese kleine Frau von Robiceck schien heute garnicht müde werden zu wollen. Sie nippte an verschiedenen Getränken, die ihr alle nicht zusagten und knabberte dazu pommes frittes und süsse Waffeln, und dann wurde sie immer aufgeregter und lauter und benahm sich auffallender als es sich für den Ton des Lokals schickte.

Den Prinzen genierte ihr Betragen. Er schützte Kopfschmerzen vor und empfahl sich, und bald folgte auch Arnulf Rau seinem Beispiel, denn diese kleine nichtsnutzige Frau hatte ihn an diesem ganzen Abend so absichtlich übersehen, dass es sich mit seiner Würde nicht vereinigen liess, länger in ihrer Gesellschaft zu bleiben. Graf Rimsky gesellte sich zu einem anderen Tisch, an dem er eine gute Freundin fand, bei der er auf mehr Gegenliebe rechnen durfte, als bei dieser gar zu kapriziösen kleinen Robiceck.

So blieb denn Lilli mit den drei jüngsten Herren allein beisammen. Sie mussten bis um drei Uhr Nacht mit ihr ausharren. Da liess sie sich endlich bewegen, den Kellnern Ruhe zu gönnen. Droschken gab es längst nicht mehr, sie musste den weiten Weg bis in die Beethovenstrasse zu Fuss zurücklegen. Sie hängte sich rechts in Werner Rudolfis und links in Joachim v. Lossows Arm ein und schritt flott mit ihnen aus. Der Baron v. Kerkhove trottete schweigsam hinterher. Sie wollte die beiden jungen Leute an ihrer Seite durchaus zu allerlei Narrenstreichen verleiten. Sie sollten an der Feuerleiter des Hoftheaters emporklettern, Gaslaternen ausdrehen, Firmenschilder abnehmen, die Marseillaise singen und was dergleichen Dummheiten mehr waren. Aber die jungen Herren waren viel zu gesittet, um auf ihre tollen Launen einzugehen. Da wurde sie schliesslich böse und hiess sie am Karlsthor heimgehen, womit jene auch sehr zufrieden waren, da sie beide im nördlichen Stadttheile wohnten.

Dem Baron v. Kerkhove erklärte sie trotzig, sie wollte allein heimgehen, sie brauchte gar keine Begleitung. Und sie begann so rasch auszuschreiten, dass der kleine Herr wirklich Mühe hatte, ihr zu folgen. Aber er blieb ihr dicht auf den Fersen bis vor ihre Hausthür.

Da blieb sie schweratmend stehen, machte ihm einen moquanten Knix und sagte: »Danke sehr für Ihre freundliche Begleitung. Nun wissen Sie ja, wo ich wohne, wenn Sie mir die fünfhundert Rubel für mein Bild schicken wollen.«

Raoul de Kerkhove erwiderte nichts. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Hausthür auf, dann liess er sie mit einer einladenden Handbewegung eintreten.

»Danke,« sagte sie und schritt arglos über die Schwelle. Er folgte nach und drückte leise die Thür ins Schloss. Sie Standern im Finstern beisammen. Da schrie Lilly plötzlich auf und mit zitternder Stimme stiess sie hervor: »Was soll denn das bedeuten? Was wollen Sie denn? Habe ich Ihnen denn meinen Hausschlüssel gegeben?« Sie griff in ihre Tasche und zog den Schlüssel und die Wachsstreichkerzen heraus. »Wo haben Sie den Schlüssel her?« stammelte sie noch einmal in höchster Angst.

»Ich wohne hier,« versetzte er leise – und sie fühlte seinen Hauch in ihrem Gesicht.

»Das ist nicht wahr! Sie sind ein Schuft. Ich schreie, wenn Sie mich anrühren!«

»Wenn Sie schreien erschiess' ich mich vor Ihren Augen!« hörte sie seine bebende Stimme flüstern. »Verzeihen Sie mir – ich konnte nicht anders – ich liebe Sie wahnsinnig! Ich habe heute nachmittag, als Sie ausgegangen waren, das Zimmer neben dem Ihrigen gemietet und heute abend meine Sachen hierher schaffen lassen. Ich bitte Sie, sein Sie ganz ruhig, ich thue Ihnen nichts, gnädige Frau, nur . . . . ach, ich liebe Sie so wahnsinnig!«

In diesem Augenblick gelang es Lilly, trotzdem ihre Hände vor Angst wie im Fieber zitterten, ein Wachskerzchen in Brand zu setzen. Mit ausgebreiteten Armen, bereit sie zu umschlingen, sah sie den wahnsinnigen Menschen vor sich stehen und in der rechten Hand hielt er einen blitzenden Revolver.

»Sie sind verrückt!« flüsterte Lilly und stiess mit Anstrengung ein kurzes Lachen hervor. »Schliessen Sie auf, ich werde Ihnen leuchten.«

Er that wie sie ihm geheissen, holte den andern Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Entreethür.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und schritt an ihm vorüber den schmalen Korridor entlang. Aber er liess sich nicht die Zeit die Thüre hinter sich zu schliessen, denn er fürchtete sie würde die Verzögerung benutzen, um in ihr Zimmer zu laufen und ihm die Thür vor der Nase zu verriegeln. Und wie sie seinen Schritt hinter sich hörte blieb sie stehen, wandte sich um und sah ihn lächelnd mit verheissungsvollem Blinzeln an. »Ach, bitte,« flüsterte sie kaum hörbar: »legen Sie doch erst die Sicherheitskette vor.«

Er zögerte einige Sekunden lang. Da öffnete sie die Lider weit und es blitzte etwas in ihren Augen, das ihn zwang ihren Willen zu thun. Er kehrte die zwei Schritte nach der Thür zurück und drückte sie in's Schloss. Dann wandte er sich um und sah, wie sie just die Schwelle ihres Zimmers überschritt. Mit drei Sätzen sprang er ihr nach. Bevor sie imstande gewesen war den Riegel innen vorzuschieben, hatte er die Klinke in der Hand, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Thür – und sie gab nach. Da stand er in ihrem Zimmer, rasch atmend, und das schöne junge Weib zitternd und bebend nur auf Armeslänge von ihm entfernt.

»Ich lasse dich nicht!« stammelte er heiser vor Leidenschaft – und wagte doch nicht sie zu berühren. Der kühle Nachtwind wehte zum offenen Fenster herein und blähte den zugezogenen Vorhang auf. Das Kerzchen in ihrer Hand flackerte; sie hatte den Mund geöffnet und ihre Lippen bebten, ihre Augen waren angstweit aufgerissen.

Da plötzlich blies sie das Licht aus und flüchtete mit einem Sprung durch die offenstehende Thür in ihre Schlafkammer.

Er sprang ihr nach, aber in der Dunkelheit vermochte er nicht sofort die Klinke zu finden, und wie seine Hand darnach tastete, knackte innen der Riegel. In ohnmächtiger Wut stemmte er sich mit der Schulter gegen die Thür und flüsterte: »Machen Sie auf, Lilli, machen Sie auf! Ich will Ihnen ja nur noch ein Wort sagen.«

Und von drinnen hörte er sie zurückflüstern: »Verlassen Sie sofort mein Zimmer oder ich alarmiere die Wirtsleute! Ich habe den Finger auf dem elektrischen Knopf.«

Da gab er endlich sein unsinniges Beginnen auf. Er trat von der Schwelle zurück, steckte den Revolver in die Tasche und trocknete sich den Schweiss von der Stirn. Dann holte er ein Streichholz hervor und zündete es an. Er sah sich um in dem engen Zimmerchen. Gedankenlos strich er mit der Hand über die Lehne eines Stuhles und über die bunte Tischdecke. Mitten auf dem Tische lag ein weisses Blatt, darauf war mit Bleistift in grossen Buchstaben geschrieben:

Lilli v. Robiceck
Modes et Robes.

Und die Bleistiftbuchstaben waren mit Tinte nachgezogen. Das Streichhölzchen verlöschte und er setzte ein anderes in Brand. Damit leuchtete er an den Wänden herum und dann trat er an den Schreibtisch. Eine Briefmappe, Bücher und Papiere lagen unordentlich darauf und auf dem kleinen Aufsatz mit seinen verschiedenen Fächern standen und lagen allerlei Nippsachen und Photographieen herum. Er entdeckte Lillis Kopf darunter; ein Brustbild in Kabinetformat, Hals und Schultern entblösst und die verschwindende Büste mit einem weissen Schleier drapiert. Er nahm das Bild von der kleinen Staffelei herunter, auf der es aufgestellt war und drückte es an seine Lippen. Das Zündholz verlöschte und er strich ein drittes an.

Auf den Zehen schlich er nach der Thür und leuchtete sich nach seinem Zimmer hinüber, seinen Raub mit sich nehmend.

Unterdessen sass Lilli auf ihrem Bett und lauschte mit verhaltenem Atem auf die leisen Geräusche nebenan. Sie hatte ein scharfes Gehör und hörte deutlich wie er die Thür hinter sich einklinkte und über den Korridor schlich. Da atmete sie tief auf und schlug ein Kreuz über sich. Dann zündete sie die Kerze auf ihrem Nachttischchen an, schloss das Fenster und klappte die Laden vor. Nun erst fühlte sie sich ganz sicher. Und endlich löste sich die furchtbare Spannung, in der sich ihre Nerven heute schon viele Stunden lang befunden hatten in einem krampfhaften Weinen. Vor ihrem Bett lag sie auf den Knieen, das Gesicht in die Matratze vergraben, und mit den Händen Kissen und Decke ballend und zerrend. Sie stand erst auf, als ihre Kniee sie zu schmerzen begannen, und dann entkleidete sie sich langsam. Als sie ihre Uhr auf den Nachttisch legte, gewahrte sie, dass es Fünf vorüber sei; der Morgen dämmerte bereits durch den Spalt der Fensterladen.

Da sie eben ins Bett steigen wollte, fiel ihr Blick auf ein Kruzifix aus Elfenbein auf schwarzem Holz, das über dem Kopfende hing. Sie nahm es von der Wand und küsste den kühlen Leib des Heilands.

»Zum Abschied!« sagte sie schmerzlich vor sich hinlächelnd. Sie streckte sich lang aus im Bett und löschte die Kerze aus, aber das Kruzifix behielt sie in der Hand. Sie neigte sich auf die Seite und drückte es an ihre Brust; wie ein Kind mit seiner Puppe wollte sie damit einschlafen. Der Heiland sollte sie noch einmal beschützen wider die bösen Geister in dieser letzten Nacht – denn morgen musste sie ja zum Pfarrer gehen und der Kirche Valet sagen, die auf dieses Symbol des welterlösenden Leidens gegründet war. – – – – – – – – –

Bevor sie aber zum Pfarrer ging, suchte sie am andern Tage gegen Mittag ihren Freund Werner Rudolfi in seinem Atelier auf und der Gute bekam einen solchen Schrecken über ihr verstörtes Aussehen, dass er mit herzlichen Worten in sie drang, doch ja sofort die Stadt zu verlassen und mit ihm in die Berge zu gehen. Da wollte er seinen Heuschnupfen los werden und sie sollte wieder glauben lernen – nicht an das, was der Pfarrer sie einst gelehrt, sondern einfach an die Möglichkeit des Guten im Menschenherzen und an die reine Schönheit des starken Triebes, durch den die herrliche Natur sich unermüdlich neu verjüngt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Werner Rudolfi begleitete sie heim und half ihr ein leichtes Köfferchen packen. Raoul de Kerkhove liess sich an diesem Tage nicht mehr sehen. Und ihren Wirtsleuten erklärte Frau von Robiceck beim Abschiede mit aller Entschiedenheit, dass sie nicht eher zurückkehren würde, als bis der Herr nebenan die Wohnung wieder verlassen hätte.

Und dann fiel ihr noch etwas ein. Sie betrat noch einmal ihr Zimmer und warf in aller Eile folgende Zeilen in ihrer steilen grossen Schrift auf ein Kartonblatt:

»Lieber Freund!

Ich gehe Dir heute auf und davon. Mache keinen Versuch, mich meinem Beschlusse abwendig zu machen – es muss aus sein zwischen uns. Ich kann Dir nicht geben, was Du in mir suchst. Ich würde Dich doch immer wieder quälen und enttäuschen. Ich war gestern dennoch bei dem Prinzen! Glaube mir, ich tauge nichts – alle Mühe ist umsonst. Suche zu vergessen

Deine  
unglückliche
Lilly.«
       

Sie warf den Brief selbst in den Kasten. Er war adressiert an Herrn Kunstmaler Franz Xaver Pirngruber.


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