Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Noch zwei Tage verbrachten die Gäste im Lager der Beni Zenoga, dann wurde der Rückweg nach Bengasi angetreten. Die Beduinen lieferten die fehlenden Pferde, und Scheik Soliman zog mit einer starken Anzahl feiner Leute abermals aus, um den vornehmen Herrschaften das Ehrengeleite zu geben.

Alfeo lag in einem bequemen Sessel, den ein Lastkamel auf dem Rücken trug. Seine Wunden waren bei der vorzüglichen Behandlung des Ben Aisauri in bester Heilung begriffen, aber er galt immer noch als schwerkrank, und selbst das Kamel, das ihn trug, durfte nicht vor Fuads Augen kommen. Nummer Achtzig, der Prügelmeister, hatte wieder ein Goldstück erhalten und besorgte alles Erforderliche mit dem ganzen Behagen des Sklaven, der einen Despoten hinter das Licht führt.

Soweit ging alles gut, aber was würde in Bengasi geschehen? Auf welche Weise ließ sich für den Unglücklichen etwas Dauerndes ausrichten?

Matthias dachte an die amerikanischen Schiffe. Ob sie wirklich kommen würden? Ob sie vielleicht gar inzwischen schon gekommen waren? Wenn sich nun die Stadt in Feindeshänden befand, wenn man allen Sklaven längst die Freiheit zurückgegeben hätte? Was dann?

Näher und näher rückte die Stunde der Ankunft in Bengasi. An der Grenze des Gebietes der Beni Zenoga hatte Scheik Soliman seinen Namen von der Stirn des Paschas in aller Form abgewischt und sich mit einem prächtigen Kampfspiel von seinen Gästen verabschiedet. Während die Beduinen kehrtmachten und die Schritte ihrer Tiere der fernen Wüstenheimat wieder zulenkten, zog das Militär und mit ihm das Gefolge Omars nach Bengasi.

Vorausgeschickte Berittene hatten bereits die Ankunft des Paschas verkündet, aus diesem Grunde waren doppelte Palastwachen aufgezogen, und Scharen von Bettlern umringten die Tore.

Omar ließ Geld verteilen, und grüßte nach allen Seiten, aber sein Gesicht war blaß und traurig, nur als Hamid kam und sich tief verneigte, glitt etwas wie ein hellerer Schimmer über seine ernsten Züge. Er reichte dem Alten beide Hände und sah ihn freundlich an.

»Ging es dir gut, Hamid? Hast du ruhige, angenehme Tage verlebt?«

»Ich habe mich auf diese Stunde im voraus gefreut, Herr.«

»Ach! – – Für dies Wort sollst du ein königliches Gegengeschenk erhalten, Hamid. Schicke mir jetzt einen Diener herauf; du selbst wirst nie mehr untergeordnete Beschäftigung verrichten. Gott segne dich, Alter!« setzte er in deutscher Sprache hinzu. – Das sagte mehr als alles übrige.

Wie traumverloren sah ihm der Alte nach, lächelnd, als habe eine Engelsbotschaft sein Herz erreicht.

Matthias begrüßte zuerst den würdevollen Muhammed, der ihm schon einen Extra-Tropfen bereitgestellt hatte, und darauf Nurredin, den Hausmeister, dann ging er davon, wie nm die Freunde aufzusuchen.

Beppo und Cetti waren bei der Arbeit wie immer. Sie empfingen den früheren Kameraden mit schmäler gewordenen Gesichtern, ernster als sonst.

Matthias erzählte von seinen Abenteuern, von der Bekanntschaft mit Alfeo Ferrati und dem Elend, das dieser Bedauernswerte ertrug. Dann wanderte er, versehen mit einem Erlaubnisschein des Paschas, in die Kaserne, um Weber und den Steuermann aufzusuchen.

Der erste, der ihm begegnete, war Giulio. Matthias trug den weißseidenen, mit violetter Stickerei versehenen Haik der Vornehmen und kostbare Waffen im reichgeschmückten Gürtel, Giulio dagegen befaß nicht einmal Schuhe, und seine Kleider hingen in Fetzen. Er verzerrte, als ihm Matthias so unvermutet entgegentrat, vor Wut das Gesicht. »Wehe dir!« rief er. »Wir sprechen uns ein andermal.«

Matthias blieb sehr kalt. »Ich fürchte mich nicht,« antwortete er.

Ein Trinkgeld sicherte ihm schnell den Führer, der es übernahm, die Schlafstellen der beiden Deutschen ausfindig zu machen. Schon nach wenigen Minuten stand Matthias vor den Kameraden von einst. Sie waren fast bis zu Skeletten abgemagert. Wiering und Theodor Weber sprachen anfänglich, von Bewegung übermannt, kein Wort, und erst nach und nach erfuhr Matthias, welche schweren Leiden sie ertragen hatten. Schläge und Hunger, Durst und Hitze, das war ihr tägliches Los gewesen.

»Fuad ersinnt für die Christen besondere Mattern,« sagte der Steuermann. »Die vorgeschriebenen Portionen Brot und Fleisch werden ihnen willkürlich entzogen, das Wasser vor ihren Augen in den Sand gegossen und der Sold unterschlagen. Hat ein eingeborener Soldat eine Übertretung begangen, so bekommt dafür der Rumy die Strafe.«

»Fuad ist ein Teufel,« bestätigte auch Weber. »Mit meinem Freibrief in der Hand hat er mich aufgegriffen und höhnisch gelacht, als ich es wagte, mein gutes Recht zu verlangen. ›Mardochai kann nichts verschenken, ‹ behauptete er. ›Der alte Gauner ist dem Staate Geld schuldig, und wer Schulden hat, der besitzt kein Eigentum. Basta! Schreist du, so wird man dir den Mund stopfen.‹ Und noch in derselben Nacht bin ich geschlagen worden, daß mir das Blut über den Rücken herabfloß.«

Matthias suchte zu trösten. »Ich komme wieder,« versprach er, »ich bringe euch Geld, sooft es mir möglich ist. Vielleicht erscheinen bald die amerikanischen Schiffe!«

Aber nur ein trauriges Kopfschütteln antwortete ihm. Alle Hoffnung, aller Mut waren dahin.

Matthias ging durch die Stadt und an dem Schlosse des Generals vorüber. Hier durfte er nicht eintreten, und doch atmete gerade hinter diesen Mauern der Unglückliche, dem er am liebsten Erlösung aus unsagbarem Elend bereitet hätte. Armer Alfeo!

In düsterer Stimmung kam Matthias nach Hause.

Nurredins gutmütiges Gesicht sah zur Tür herein.

»Weißt du, Junge, was der Alte vorhat. Irgend etwas Besonderes ist zweifelsohne im Werke. Er schreibt Briefe und läßt sie durch seinen Privatsekretär hierhin und dorthin tragen. Auch hat er vor einer Stunde einen Mann empfangen, der wie ein Schiffskapitän aussah.«

Matthias zuckte die Achseln. Er begriff nichts von alledem. – Am Abend ließ der Pascha ihn zu sich rufen. Als Matthias bei ihm eintrat, saß er, den Kopf in die Hand gestützt, am Fenster. »Komm hierher, mein lieber Junge,« sagte er in freundlichstem Ton.

Matthias gehorchte.

»Ich lernte dich lieb gewinnen,« fuhr der Pascha fort, »aber du kannst nicht länger mein Sklave sein.«

Matthias fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen drang. »Nicht mehr dein Sklave?« stammelte er völlig fassungslos.

»Nein! Das schwere Wort ist jetzt gesprochen – schwer wenigstens für mich. Du bist frei, mein Junge, die Urkunde darüber ist ausgefertigt und unterzeichnet. In zwei Stunden geht das Schiff, das dich von hier nach Smyrna bringt, unter Segel. Der Abschied zwischen uns sei kurz. Es ist besser für uns beide. Deine Sachen sind bereits an Bord. Nurredin hat den Auftrag, dich zu begleiten. Alles Gute werde dir zuteil.«

Matthias wußte kaum, wie er aus dem Gemach gekommen war. Er entsann sich nur, daß Omar seinen Dank lächelnd abgewehrt, er empfand nur ein unbeschreibliches Glück, zu wissen, daß er frei sei, daß er den Freibrief seines Gönners auf der Brust trug.

Er hatte das Gefühl, die ganze Welt sei in dieser Stunde sein Eigen geworden. Eilenden Schrittes lief er im Schutze der Dunkelheit Fuads Schlosse zu. Es gab einen Schlupfweg, der aus einem Nebengäßchen in den Palast des Paschas führte. Der alte Segelmacher hatte ihm bei ihrem letzten Zusammensein ein wichtiges Geheimnis verraten: Das, wie er heimlich in die Gärten des Schlosses eindringen könne.

Hinter der Palmengruppe am Wege mußte man die Holzpfähle zwischen den Dornen abzählen. Der achte in der Reihe ließ sich herausnehmen.

Matthias blickte um sich.

Ob ihm auch irgendein Auge sah?

Nichts, nichts, er konnte das Wagestück getrost probieren.

Hinter dem schlanken Knaben fiel der Holzpfahl zurück in seine frühere Lage, und nun stand Matthias in Fuads Garten hinter den Sklavenhäusern.

Sein Herz schlug wie ein Hammer, er suchte sich nach Beppos Schilderung vorerst zurechtzufinden, und als das geschehen war, schlich er zu einer Tür, hinter der Nummer Achtzig, der Sklavenvogt, wohnte.

Mit leiser Hand berührte unser Freund den Drücker. Gottlob, die Tür öffnete sich geräuschlos.

»Wer ist da?« fragte der Mulatte.

Matthias tastete sich in der Finsternis zu dem Lager des Aufsehers. »Still,« raunte er. »Still! Erkennst du mich nicht?«

»Ach – Sidi Matthias! Ich will gleich Licht anzünden.«

Unser Freund hatte den Mulatten am Arm erfaßt und drückte ihm jetzt seine Uhr mit der Kette in die Hand. »Da, das ist für dich! In den nächsten Tagen gibt es auch wieder bares Geld. Zeige mir jetzt, wo Nummer Zehn wohnt, und laß mich einige Minuten mit ihm sprechen!«

Der Farbige schien sehr geschmeichelt. »Komm!« versetzte er. »Ich führe dich. Aber höre, Sidi Matthias, ich gehe sofort wieder in meine Kammer. Flüchten kann aus Bengasi kein Sklave, dessen bin ich ganz sicher, also weshalb sollte ich meine Haut zu Markt tragen?«

Matthias lachte behaglich. »Zeige mir nur die Tür und dann verschwinde so schnell wie möglich. Ich will einige Augenblicke mit Nummer Zehn sprechen, weiter nichts.«

Die beiden schlichen durch das Dunkel des breiten Hofes bis an ein langgestrecktes Gebäude, dessen Türen mit fortlaufenden Nummern versehen waren. »Hier ist's,« flüsterte der Aufseher.«

Matthias bebte vor Ungeduld. Er winkte dem Mulatten mit der Hand und klinkte leise die Tür auf. »Alfeo!«

»Ich schlafe nicht. Bist du es, Matthias?«

»Ja! Freue dich, Alfeo, Omar Pascha hat dich freigebracht. Ich trage den kostbaren Brief unter meinen Kleidern verborgen.«

Alfeo taumelte. »Wie? – Ich frei! Unmöglich.«

»Es ist so! Hier nimm dieses Blatt! Fühle es zwischen deinen Fingern, es ist der Freibrief. Und nun komm schnell, das Schiff wartet.«

Nach wenigen Minuten standen die beiden Gefährten draußen aus dem Hof. Matthias hatte sich die Örtlichkeit genau gemerkt, und schon war der Durchgang erreicht.

»Jetzt rasch zum Hafen, Alfeo.«

Sie erreichten unbemerkt glücklich die Straße. Im Sturmlauf eilten sie vorwärts. Von fern her hörte man die Wellen gegen das Ufer klatschen. Jetzt tauchte in dunklen Umrissen der Rumpf eines großen Schiffes aus der Dunkelheit auf.

Matthias hob die Hand. »Das ist der Sultan. Und dort ein Boot am Strände. Wir wollen es anrufen. He – ›Sultan‹ Ahoi.«

»Ahoi!« tönte es zurück. »Kommt schnell!«

Zwei Männer zogen den Bootsanker ein, und der dritte nahm die Riemen auf.

Alfeo und Matthias standen unmittelbar vor dem schaukelnden Boote. »Ihr wartet hier im Auftrage Omar-Paschas, nicht wahr, Leute?«

»Ja, Rumy, um einen Freigelassenen an Bord zu nehmen.«

»Schon gut. Dieser hier ist es.«

Und dann umarmten die beiden jungen Leute einander auf das wärmste. »Lebe wohl, Alfeo,« sagte im herzlichsten Tone unser Freund. »Möchtest du eine glückliche Überfahrt haben! Grüße auch deine Mutter und sage ihr, daß ich ihr Schuldner bleibe, solange mir das Herz schlägt.«

Alfeos Stimme bebte. »Du?« gab er zurück. »Du, dem ich alles verdanke?«

Das Boot stieß ab, und gleich einer Nußschale tanzte das kleine Fahrzeug dahin.

Matthias winkte mit der Hand. »Hurra! Hurra!«

»Lebe wohl! Lebe wohl!«

Matthias ließ sich auf einem Steine nieder, zufrieden lächelnd. Jetzt würde er sich in Omars Zimmer schleichen, würde die Hand des väterlichen Freundes an seine Lippen ziehen und ihm sagen: »Ich mag nicht frei sein! Laß mich an deiner Seite bleiben!«

Sein Herz schlug schneller. Er sah wieder hinaus auf das Meer. Gerade jetzt knarrten die Ankerketten des »Sultan«, man hatte das Boot eingezogen und die Segel entfaltet. Ein weißer Punkt in der Finsternis, und dann verschwand auch das.

Nun war zwischen Fuad-Pascha und seinem Opfer die Brücke abgebrochen.

Matthias eilte zu Omars Schloß. In wenigen Minuten konnte er das wohlbekannte Zimmer erreicht haben. Da legte sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter. »Haben wir dich!« sagte eine frohlockende Stimme.

Es war Giulio.

»Bist du verrückt, Giulio?« rief Matthias und warf seinen Gegner zu Boden.

Schäumend vor Wut erhob sich der Gemaßregelte. »Faßt ihn, Leute! Faßt ihn! Er ist der Dieb!«

»Was bin ich?«

Matthias wollte sich abermals auf den feigen Verleumder stürzen, aber mehrere Männer traten zwischen ihn und den Italiener, Soldaten sowohl wie Sklaven des Generals; auch Nummer Achtzig, der Vogt, war zugegen.

»Sidna Pascha,« rief dieser letztere, »der Rumy ist hier.«

»Nummer Zehn? Nummer Zehn?«

»Nein, Sidna Pascha, der andere – Sidi Omars Rumy.«

Der General war wie außer sich.

»Wo ist Nummer Zehn, mein Sklave, du Hund? Sohn einer Hündin! Vorwärts! Vorwärts! – Zu Omars Schloß! Nummer Achtzig, du haftest mir für diesen Burschen mit deinem Kopf! Zündet Fackeln an!«

Der Zug hatte jetzt das vordere Eingangstor des Schlosses erreicht. Die Soldaten schlugen dröhnend dagegen, und schon nach wenigen Augenblicken wurde aufgemacht. »Was gibt es?« fragte eine Männerstimme.

Das war der Hausmeister; Matthias erkannte ihn.

»Nurredin!« rief er. »Ich bin es. Ist der Pascha zu Hause?«

»Ja! Ja! Ich werde dich sogleich melden.«

Über Fuads Lippen brach ein hartes Lachen. »Melden?« wiederholte er. »Den Burschen? Seit wann werden Sklaven gemeldet?«

Während dieser Worte war der ganze Zug in den Schloßhof eingedrungen. Die Palastwache konnte der Person des Generals gegenüber keinen Widerstand erheben; Dutzende von Menschen eilten also dem nach hinten gelegenen Eingänge zu, während es anderseits jetzt auch in den Räumen des Schlosses lebendig wurde.

Eine Portiere wurde zurückgeschlagen, mehrere Sklaven brachten Lampen herbei, und auf der Schwelle erschien die hohe Gestalt des Paschas. Seine erstaunten Blicke flogen von einem der Männer zum anderen und begegneten endlich denen des Knaben. Ein jähes Erschrecken spiegelte sich in Omars Zügen.

»Mein Gott, Matthias! Du hier?«

Fuad lachte und rief höhnisch: »Dein Günstling hat in meinem Hause gestohlen, und ich lasse ihn jetzt fesseln!«

Omar gelang es, Matthias für den Augenblick frei zu bekommen und die meisten Diener und Soldaten Fuads zu entfernen.

Von allen Anwesenden blieben nach wenigen Minuten nur noch der Schloßherr selbst, Fuad, Matthias und Giulio im Zimmer zurück.

Fuad schrie außer sich vor Wut. »Dieser Christenhund hat aus meinem Hause den Schurken, den kranken Italiener gestohlen. Er soll ihn sofort herausgeben oder die ganze Schwere des Gesetzes kennenlernen.«

Omar erschrak so sehr, daß es ihm im Augenblick unmöglich war, seine Erregung unter der Maske der Gleichgültigkeit zu verbergen. »Matthias,« fragte er mit unsicherer Stimme, »ist das wahr?«

»Ja, Sidna Pascha, wenn man das Ganze überhaupt einen Diebstahl nennen kann«

Omar war totenbleich geworden. »Wo befindet sich der Italiener?«

»Er ist statt meiner fort von hier.«

Fuad wollte aufbrausen, aber Omar unterbrach ihn. »Ereifere dich nicht. Hat mein Sklave einen Diebstahl an dir verübt, bin ich dir Ersatz schuldig. Bestimme selber die Summe, die du begehrst.«

Fuad lachte überlegen. »So leichten Kaufes kommt dein Liebling nicht davon. Er hat einem meiner Sklaven zur Flucht verholfen – also, ich verlange ihn nach dem Gesetz als Ersatz für den, dem er zur Freiheit verhalf.«

Omars Stirn färbte sich dunkel. »Und ich sage dir: er bleibt bei mir! – Haben wir sonst noch etwas miteinander zu verhandeln?«

»Du sollst mir den Burschen herausgeben, weiter nichts!«

»Das wird nicht geschehen – und so kann denn dein Besuch füglich als beendet gelten.«

»Ha, ha, ha, du zeigst mir die Tür?«

Omar griff plötzlich zu seinem Schwert. »Du vergißt, daß es der Statthalter von Bengasi, der Stellvertreter des Dei, ist, vor dem du stehst, Fuad. Geh jetzt im guten, oder ich sehe mich gezwungen, dich hinausführen zu lassen.«

»Ich gehe nicht ohne den Dieb, der mein Eigentum ist.«

Der Pascha klingelte. »Nurredin! – Hole die Wache!«

»He, holla, meine Leute, wo seid ihr? – Nummer Achtzig, Rompano, Ismael, Ali, wo seid ihr?«

Draußen entstand ein Handgemenge, der Vorhang wurde herabgerissen, und ein Knäuel von Männern wälzte sich in das Zimmer. Die Hausdienerschaft des Paschas war durch das Militär im ersten Augenblick geworfen worden, dann aber kam Verstärkung, und Fuads Leute stoben auseinander. Vergeblich schrie und tobte der General in ausgelassener Wut, vergebens schwor er, sogleich in Begleitung des Kadi zurückzukehren. Schon nach wenigen Minuten standen Omar und Matthias einander unter vier Augen gegenüber. Tief seufzend streckte der Pascha die Hand aus.

»O Matthias, mein Junge, das war schlimm!«

»Daß ich den armen Alfeo befreite?«

»Ja. Es zeugt von deinem guten Herzen und wird dich gewiß vor Gott nicht anklagen, aber den Menschen gegenüber ist die Sache bös. Fuad hatte mit dem, was er sagte, in allen Stücken recht. Du bist sein gesetzliches Eigentum geworden; Giulios Verrat hat es dir unmöglich gemacht, ferner auch nur noch eine Stunde länger in meinem Hause zu bleiben. Ich kann und werde allerdings durch das Ansehen meiner Person für dich in Tripolis auf jeden Fall Gnade erwirken können, aber – vorher läßt dich Fuad zu Tode peitschen.«

Er wollte die Klingel in Bewegung setzen, als plötzlich von draußen her ein tausendstimmiges Jubelgeschrei, untermischt mit Kanonendonner, ertönte.

»Die amerikanischen Kriegsschiffe!« rief Matthias. »O Sidi Omar, hilf mir, hilf mir! Da draußen kämpfen meine Brüder um Freiheit und Leben.«

Omar raffte sich gewaltsam auf. Das alles war so plötzlich gekommen wie ein Blitz aus heiterer Luft. Er strich mit der Hand über die Stirn. »Welch eine Nacht! – Amerikanische Schiffe, sagst du, Matthias? Ja, ja, geh und kämpfe an der Seite deiner Brüder! Geh – ich würde dich nicht achten, könntest du zurückbleiben.«

Matthias jauchzte laut auf. Im Hofe rief man seinen Namen; er mußte fort, um sich seinen Brüdern anzuschließen und ihr Los zu teilen.

Hamid und Omar sahen einander an, jetzt allein im Zimmer; denn auch Nurredin war fortgestürmt.

»Die Tatsache einer nahe bevorstehenden amerikanischen Belagerung war den Christensklaven bereits bekannt?« fragte der Pascha.

»Seit langem, Herr.«

Omar wandte sich ab; in seinem Innern tobte ein Kampf, ebenso heftig, wie der da draußen zwischen den Sklaven und ihren Peinigern.

»Es mußte so kommen,« dachte er. »Es ist Gottes Gerechtigkeit. Wer Wind säet, der wird Sturm ernten.«

Dann rief er nach dem Tunesen und trug ihm auf, ihm Nachricht zu bringen, wo die heimischen Truppen ständen.

Ibrahim eilte fort, und während sich der Pascha für den Kampf wappnete, war auch Matthias seinerseits auf der Straße in die Gruppe seiner Freunde und Glaubensgenossen hineingeraten.

In allen Straßen hatten sich Gruppen von Christensklaven gebildet – eine bunt zusammengewürfelte, seltsame Schar, meist nur halb bekleidet und bewaffnet mit allem, was schwere Schläge auszuteilen vermag. Das Holzbeil und der Hammer, die Mörserkeule und die eiserne Schaufel wetteiferten miteinander auf den Schultern und in den Händen der Leute, die sogar Eisengitter aus dem Boden gerissen und junge Bäume abgebrochen hatten, um mit diesen Waffen den Amerikanern im Kampfe gegen das nach allen Seiten hin zersprengte und zerstreute Militär beizustehen.

Scharen von Christensklaven traten den Soldaten überall entgegen. Aus jedem Gebüsch, jeder dunklen Ecke hervor flogen Wurfgeschosse, über die Körper der Toten hinweg hasteten die Genossen. Aus einer Seitenstraße kam ein feierlicher Zug. Drei Männer trugen an langen Stangen, verziert mit kleinen Glocken, die weißen flatternden Roßschweife dem Pascha in den Kampf voran. Fuad ritt sein großes Lieblingspferd. Er hatte sich in volle Generalsuniform geworfen und war umgeben von einem Stab höherer Offiziere. Das rote Gesicht trug den Ausdruck des Zornes, die kleinen Augen funkelten boshaft. Rechts und links fielen Kanonenkugeln auf Dächer und Straßen. Das Verderben war jählings über schlafende, ahnungslose Menschen hereingebrochen.

»Du bist es,« sagte neben Matthias eine Männerstimme. »Na, das ist ja recht gemütlich, spazierenzugehen, wo zwanzigpfündige Kugeln einem in jedem Augenblick auf die Nase fallen können. Ich weiß nicht, was mir lieber wäre, Löwen zu Dutzenden oder diese blauen Riesenbohnen.«

Matthias streckte die Hand aus. »Hallo, Maat, also die Christen haben sich glücklich aus der brennenden Kaserne gerettet?«

Edenbrecher nickte. »Sie sind alle heraus, du, den letzten habe ich noch auf den Arm genommen und an die Luft geschleppt, es war Weber. Er lag halberstickt vom Rauch in der Ecke.«

»Aber jetzt habe ich mich erholt!« sagte von der Seite her eine Stimme. »Guten Tag, Matthias, mein alter Junge! Wie geht es dir?«

»Theodor! In einer tollen Nacht trennten wir uns, und in einer noch ärgeren sehen wir uns wieder!«

»Aber jetzt unter günstigen Sternen. Vier Schiffe sind da! Wir behalten den Sieg.«

Immer mehr Häuser flammten auf, immer lauter und ängstlicher wurde das Wehegeschrei der Frauen und Kinder. Jetzt hatte der Kanonendonner aufgehört – wohl ein Zeichen, daß es den Booten der Amerikaner gelungen war, den Strand zu erreichen und ihre Insassen auszuschiffen. Kleingewehrfeuer erhob sich, kommandomäßig und sicher von der einen, zufällig und ohne Ordnung von der anderen Seite.

Der Befreiungskampf hatte begonnen. An zwanzig oder dreißig Punkten wurde zugleich gekämpft. In allen Straßen lagen Tote und Verwundete. Siegreiche Kolonnen der Amerikaner drangen in die Sklavenhäuser und hieben hier die farbigen Aufseher zu Boden. Wo noch versteckte Sklaven hinter geschlossenen Türen, in dunklen Ecken, vielleicht gar in Ketten lagen, sprengten die Befreier Riegel und Tore, um endlich den lange gefolterten Brüdern die Freiheit und das Licht zurückzugeben.

Auch in den Kerker drangen die Retter ein. »Tebelin! Tebelin! Wo bist du?«

»Hierher! Hierher! Wir ersticken im Rauch!«

Der Aufseher schien beizeiten an seine eigene Sicherheit gedacht zu haben; er war verschwunden und hatte die eingesperrten Menschen rücksichtslos ihrem furchtbaren Schicksal überlassen.

Die Retter schlugen jetzt mit Beilen und Brechstangen so energisch gegen die Tür, daß diese nachgab und zersplittert in das Innere des Gebäudes fiel. Ein Strom von Gefangenen ergoß sich durch den freigewordenen Ausgang auf die Straße, während diejenigen, die mit Ketten an die Wände geschlossen waren, drinnen aus allen Kräften schrien und baten, sie doch nicht dem Verderben preisgeben zu wollen. Im nächsten Augenblick schon begannen die Retter mit den vorhandenen Schlüsseln sämtliche Ketten zu lösen, und alle Leidensgenossen wurden in Freiheit gesetzt. Sie eilten weiter. Etwa zweitausend Köpfe stark, Weiße und Farbige aller Grade, bildeten sie für die Amerikaner eine Verstärkung, ohne die diese höchst wahrscheinlich außerstande gewesen wären, siegreich aus dem Kampfe hervorzugehen. Furchtbare Greuel sah die Schreckensnacht, unerhörte Vorkommnisse, die den Menschen zur Bestie erniedrigten, anderseits aber auch edle Handlungen, schöne Zeugnisse für das echte Christentum, dem alles weichen muß, was aus der Finsternis geboren ist. Manches Haus wurde von den Sklaven gegen Feindesgewalt mit starker, opfermütiger Hand beschützt, manches Feuer von Weißen gelöscht. Deutsche Männer brachten die Familien und das Besitztum ihrer Gebieter in Sicherheit, deutsche Männer standen Wache an der Schwelle, die ihnen vordem zum Asyl geworden war. Auch das Gute, das Edle feierte seine Triumphe.

Es gab auch Szenen, die das Blut in den Adern erstarren ließen. Hinter dem Marktplatz lag Fuads Schloß. Es brannte lichterloh. Fuad sah es, und über seine Lippen brach eine Verwünschung. Der Pascha sah umher; seine Soldaten wichen, die bewaffneten Bürger fielen unter den Kugeln der Amerikaner wie gemähte Halme. Nur ganz kurze Frist noch, dann mußte das letzte Häuflein zusammenbrechen, und es war alles verloren. Fuad wandte das Pferd, um den Leuten zu folgen, aber eine Faust griff in die Zügel, und die Stimme eines Sklaven sagte mit höhnischem Tone: »Bleib noch einen Augenblick, Sidna Pascha, wir haben erst mit dir abzurechnen. Herunter mit dir vom Pferde, du Bestie in Menschengestalt.«

Fuad schoß mit seiner Pistole in den Haufen der Sklaven hinein, von denen einer laut schreiend aufsprang. Diese unkluge Handlungsweise erbitterte die Leute noch mehr und ließ die aufgeregten Leidenschaften alle Dämme überfluten. Derbe Fäuste rissen Fuad aus dem Sattel und entwaffneten ihn. Er stand nunmehr inmitten derer, die jahrelang vor ihm gezittert hatten und die nun seine Richter geworden waren.

»Was wollt ihr, Leute?«

Lachen antwortete ihm. Man riß ihn zu Boden. Fußtritte und Fausthiebe regneten auf ihn nieder. Schwarze Gesichter grinsten, wenn er aufschrie. Schwarze Gestalten tanzten nach der Musik seines Ächzens.

Während hinter ihm sein Schloß mit den ungezählten Schätzen und Kostbarkeiten in Rauch aufging, wurde er gleichsam Zoll um Zoll getötet.

Eine Entscheidungsschlacht war geschlagen. Unsere Freunde hielten Umschau. Auch – auch in ihren Reihen gab es große schmerzliche Lücken. Gleich bei Beginn der Schlacht hatte Kapitän Aston an der Spitze einer Schar Gleichgesinnter die Tripolitaner angegriffen. In der Front bedrängt von den vorrückenden Amerikanern, mußten sie nach rechts und links kämpfen; die Enge der Straßen wurde dabei den einen wie den anderen verderblich, und Mann nach Mann sank in den Staub, um sich nie wieder zu erheben. Auch Kapitän Aston erlag dem Andrängen einer Schar Soldaten, die von einem jungen, feurigen Offizier geführt wurden. Mit durchschossener Brust fanden seine Leute den tapferen Mann auf der Straße. Aus geringer Entfernung winkte der alte Beppo. »Kommt hierher, Kameraden!«

Sie eilten zu ihm, Edenbrecher mit verbundenem Kopfe und Weber hinkend, der Obersteuermann mit blutender Schulter. Was hatte der Alte? Einen Sterbenden, den er pflegte; man sah es schon von weitem.

Die Genossen traten näher heran. Auf den Steinstufen eines Springbrunnens lag Giulio, den Schatten des Todes schon über seiner bleichen Stirn, aber die Augen noch geöffnet, den Mund zusammengepreßt in bitterem, unversöhntem Groll. Er atmete schwer; zuweilen vollführte die Hand eine zuckende Bewegung nach der Brust, aus der die roten Tropfen unablässig herabrieselten.

»Faßt an, Kameraden!« bat der Segelmacher. »Wir tragen ihn in ein Haus – er ist mein Landsmann, wie ihr wißt.«

»Nein, nein,« wehrte er sich gegen die Hände der Helfer, »ich will an Bord gebracht werden; leben – die Perlen sind – sind …«

Dann kam der Tod, und alles war vorüber. Giulio hatte das Wort, das er sprechen wollte, nicht mehr über die Lippen bringen können.

Ein amerikanischer Steuermann sah von einem zum anderen. »Gentlemen,« sagte er, »weiß vielleicht einer von euch, wo auf Lälan die Säcke mit Perlen unter einer Baumwurzel verborgen liegen?«

Ein allgemeines Kopfschütteln antwortete ihm. »Keiner! Aber da ist der Untersteuermann Rompano, vielleicht hat dieser eine genauere Kenntnis davon.«

Der Amerikaner entfernte sich, ohne sich um die Sache weiter zu bekümmern.

»Beppo,« fragte Wiering, »was bedeutet das?«

»O Herr, es ist eine greuliche Geschichte, die sich vor kaum einer Viertelstunde erst zutrug. Da auf der anderen Seite des Brunnens liegt Carlos Rompano; auch er ist tot. Der Amerikaner und der ältere Rompano mögen sich persönlich gekannt haben. Sie begrüßten einander wenigstens sehr lebhaft, und dann rief Carlos: ›Wie ist es, Hobson, könntest du nicht früher oder später ein Schiff erlangen, das nach Lälan geht? Da habe ich Millionen im sicheren Versteck. Wir würden diesen Schatz natürlich miteinander teilen. Du kennst mich, weißt, daß ich nicht der Mann bin, der Fabeln erzählt.‹ Der Yankee horchte hoch auf. ›Daß dich!‹ sagte er. ›Schätze einzuheimsen, wäre gerade mein Fall.‹ – ›Kannst du denn ein Schiff erlangen?‹ – ›Sobald wir wieder in Neuyork sind. Meine Dienstzeit ist abgelaufen.‹ – Als das Gespräch soweit gediehen war, mischte sich Giulio hinein. Ihr kanntet ihn ja alle, – seine Unverschämtheit suchte ihresgleichen. ›Nun, Carlos,‹ rief er, ›und von mir sprichst du gar nicht?‹ Der andere zuckte die Achseln. ›Weil ich dich nicht zum zweitenmal wieder mitnehmen werde,‹ versetzte er, ›du und ich sind geschiedene Leute.‹ – Da lachte Giulio hell auf und stieß seinem Vetter das Messer bis ans Heft in die Brust. ›Da hast du es!‹ rief er jauchzend. ›So, nun gehe hin und hebe den Schatz!‹ – Der Steuermann taumelte, er war tödlich getroffen, aber im Fallen schoß er noch die Pistole ab und traf seinen Mörder zwischen die Rippen. Der Himmel erbarme sich der beiden Sünder!«

Die Deutschen sahen einander an. Und der Schatz, der heißumstrittene? – Bis zum Jüngsten Tage wird er nun wohl unter den Baumwurzeln liegen.

Der Tunese und Nurredin spähten schon seit einer Stunde in allen Straßen umher, bis endlich Matthias gefunden war. »Allah sei gepriesen!« rief Ibrahim, »du bist unbeschädigt.«

Matthias wechselte die Farbe. »Schickt dich Omar-Pascha?« fragte er den jungen Burschen.

Schluchzend antwortete dieser. »Eigentlich Hamid! Sidna Pascha stirbt, der Arzt hat es gesagt.«

»O Gott – Ibrahim!«

Matthias eilte davon, ohne weiter noch ein Wort zu verlieren. Omar tot! Ganz unfaßbar schien ihm der Gedanke!

Das Schloß war unversehrt, selbst die Wache stand noch vor dem Tore. Zu viele treue, ergebene Herzen hatten den zügellosen Rotten Eingang verwehrt.

Matthias huschte lautlos über die wohlbekannten Treppen bis in das Schlafzimmer des Paschas. Vor dem Bette saß der Arzt. »Hoheit,« sagte er jetzt mit leisem, vorsichtigem Tone, »der junge Deutsche ist gekommen.«

Omar öffnete matt die Lider. Er streckte die Hand aus. »Komm zu mir, Matthias!«

Unser Freund eilte an die Seite des Mannes, dessen fliehendes Leben er so gern mit dem eigenen Herzblut dem bleichen Tode abgekauft haben würde. Er kniete vor dem Bette und barg die brennende Stirn in Omars Hand. »O Sidna Pascha! – Sidna Pascha!«

Omar strich sanft über das Haar seines Lieblings. »Weine nicht, Matthias, weine nicht; es ist so am besten, es ist eine Gnade des Himmels, daß ich sterben darf.«

Dann wandte er den Kopf. »Hamid! Bist du hier?«

»Ja, Herr, ich bin bei dir, immer, du weißt es.«

Omars Blicke suchten die seinigen. »Ich danke dir, Alter! Du sollst nun Genugtuung erhalten für so vieles, du sollst meine Beichte hören.« Und dann begann er die Geschichte seines Lebens.

»Ich bin kein Sohn des Orients, bin nicht geboren und erzogen in der Lehre Muhammeds, sondern meine Wiege stand in einem Christenhause – fern in Deutschland, in Hamburg –, du kennst das Haus, Matthias! Das am Steinhöft mit dem altertümlichen Giebeldach und der hohen Treppe. Ich bin Robert Vollgold, der, dessen Jugendgeschichte du mir eines Tages erzähltest. Der Unglückliche, der das Herz seines Vaters gebrochen, der seine Mutter zu endlosem Grame verurteilte, der reumütige Sünder, den du erlöst hast aus den Irrtümern, die ihn jahrzehntelang umstrickt hielten. Weine nicht, Matthias, weine nicht, du hast eine Seele vom Tode errettet, das ist etwas Großes, Gewaltiges! Siehe, ich will dir alles berichten. Als ich sechzehn Jahre zählte, wurde mein Vater durch den Sturz eines Geschäftsfreundes derartig in Mitleidenschaft gezogen, daß er, um allen seinen Verpflichtungen nachkommen zu können, unserem ganzen äußeren Leben eine veränderte Gestalt geben mußte. Die Dienstboten wurden abgeschafft, alle Vergnügungen aufgegeben und die Arbeit verdoppelt. Aus dem Laden verschwanden die Gehilfen, vom Flur die Markthelfer – ich sollte jetzt allein übernehmen, was früher alle miteinander geleistet hatten. Als mir mein armer Vater das auseinandersetzte, geriet ich ganz außer mich. Ich verließ bei Nacht und Nebel das elterliche Haus. Ein Schiffskapitän nahm mich mit auf die Reise. Das Schiff wurde aber von einem Kaper aufgebracht, und ich kam als Sklave an den Hof von Tunis, als Page oder wie ich es sonst bezeichnen soll, als Putzgegenstand gewissermaßen. Man hielt mich gut, ich bekam schöne Kleider und hatte keinerlei Arbeiten zu verrichten, aber ich war gefangen, kam aus dem Palaste nie allein heraus und hatte vor allen Dingen niemals Geld. Mein Schicksal erschien mir unerträglich, und ich begann es zu verwünschen, bis plötzlich die Dinge eine unerwartete Wendung nahmen. Der Dei hatte keine Söhne, er fand Gefallen an mir und ließ durchblicken, daß er mich an Kindesstatt annehmen werde, falls ich bereit sei, zum Islam überzutreten. Ich willigte ein, Matthias, und beschwor damit alle Furien der Reue und Sehnsucht auf mein Leben herab. Später kam ich an den Hof nach Tripolis und erwarb dort die Freundschaft des Herrscherhauses, besonders diejenige des einzigen, mit mir im gleichen Alter stehenden Sohnes. Er war es, der mir dann meine jetzige Stellung als Statthalter von Bengasi durch sein persönliches Machtwort verschaffte. Von jenem Tage her datiert das fressende, unheilvolle Weh, dem ich verfallen war. Kam ein Kaperschiff in den Hafen, so wurden mir die Christensklaven vorgeführt, Deutsche, Hamburger – meine Landsleute. Ich habe schwere, schwere Schuld auf mein Gewissen gehäuft. – So vergingen Jahre. Eines Tages kam ein neuer Transport deutscher Sklaven. Es war ein hamburgisches Auswandererschiff, das den Korsaren auf hoher See zur Beute gefallen war. Hamburgische Auswanderer! – Mich erfaßte ein Schwindel. Nur einer unter allen war es, den ich kannte, einer, dessen Blick mir verriet, daß auch er wußte, wer ich sei, Hamid, oder besser gesagt, Pastor Held, der Mann, der mich dereinst getauft und konfirmiert hatte. Er gerade mußte Zeuge meines tiefen Falles werden. – Gib mir die Hand, Alter, laß mich dich in dieser meiner letzten Lebensstunde noch ›du‹ und ›Hamid‹ nennen – die Bezeichnungen sind mir seitdem so lieb und vertraut geworden. Ach, was habe ich durchlitten, seit du erschienst!«

Der Geistliche beugte sich über den Sterbenden und sagte ihm leise Trostesworte; der Arzt reichte ihm stärkende Tropfen, und dann fuhr Omar in seiner Beichte fort: »Ich kaufte den Sklaven, dessen Zeugnis mir so gefährlich werden konnte; aber ich wagte es nicht, an den Diener der Kirche die frevelnde Hand zu legen. So wurde der, der mich getauft, mein persönlicher Diener, der dauernd fortan meiner verirrten Seele nachging, sie zum Christentum zurückzuführen. – Dann kamst du, Matthias, der zweite, den mir Gott in das Haus schickte, um meine Seele zu retten. Ich sah in deinem frischen Gesicht meine eigene Jugend, in deinem Schicksal mein eigenes. Es entstand in mir ein Aufruhr, den zu schildern unmöglich wäre. Seit du mein Anerbieten ausschlugst, Matthias, seit dem Tage der Löwenjagd, war mein Entschluß gefaßt. Dir selbst wollte ich die Freiheit zurückgeben und in Hamids Begleitung bei guter Gelegenheit nach Amerika gehen, ohne von dem, was hier mein Eigentum genannt wird, auch nur für eines Pfennigs Wert mit hinwegzunehmen. Was ich in den Tagen der Jugend so sehr gefürchtet, was ich für das schwerste, traurigste Los gehalten, ein bescheidenes, arbeitsvolles Leben, das erschien mir jetzt als höchstes Erdenglück. Ich konnte in Amerika Lehrer werden, konnte Musik treiben oder eine Stellung als Jäger erlangen, und wenn es nichts anderes gab, Holz spalten oder Steine klopfen, aber ich würde mein eigenes Brot essen dürfen. Mehr als das verlangte ich nicht. – Es ist alles anders gekommen, – besser als ich es erträumte. Gott schenkt mir um meiner tiefen Reue willen seinen Frieden, seine Verzeihung.«

Das waren Robert Vollgolds letzte Worte, dann neigte er das Haupt zur Seite und starb.

Ringsum herrschte Todesstille, nur von der Tür her erklangen halblaute Stimmen. Muhammed und der Tunese beteten die Sterbesure ihres Heiligen Buches, und niemand wehrte ihnen, auch Hamid nicht.

Der erste, der wieder sprach, war Hamid. »Laßt uns eilen, meine Freunde! Wir bestatten unseren teuren Toten in einem der unterirdischen Gänge des Schlosses, denke ich. Diese Stelle ist geschützt gegen die Angriffe des Pöbels sowohl, als gegen etwaige Verräterei der Dienerschaft. Wir besetzen den Zugang, und das Geheimnis bleibt gewahrt.«

Dann begann er mit eigenen Händen das Antlitz des Toten zu waschen und den Leichnam für das Begräbnis in ein weißes Laken zu hüllen.

Der Schloßhof und der Garten waren angefüllt von Sklaven und eingeborenen Dienern. Als der Trauerzug vorüberkam, schlossen sich einige an, die meisten aber blieben zurück, indes die Freunde den Leichnam durch die unterirdischen Gänge in eine stille Nische trugen und dort beerdigten.

Es wurde von Hamid ein tiefempfundenes Gebet gesprochen, mit verhaltenen Stimmen, von Schluchzen unterbrochen, sangen die Versammelten einen Choral, und als das Letzte warfen alle drei Hände voll Erde hinab auf den Toten.

Jede Spur wurde getilgt, jedes noch so geringe Erkennungszeichen verwischt. Wer auch früher oder später hierherkam, das Grab würde keiner finden.

»Komm, Matthias,« sagte herzlich der weißhaarige Priester. »Komm, unser harrt das Leben, wir dürfen nicht daran denken, die Hände müßig in den Schoß zu legen.«

Sie nahmen von Muhammed und dem Tunesen herzlich Abschied und eilten an den Hafen.

»Herr Pastor,« fragte Matthias unterwegs, »wären Sie fortgegangen, wenn der arme Omar noch gelebt hätte?«

Die Lippen des alten Mannes bebten. »Niemals,« antwortete er.

»Ich auch nicht. Gott weiß es.«

Sie gingen durch die rauchenden, mit Leichen und Verwundeten bedeckten Straßen und sahen den Orden der Beni Aisauri in voller Tätigkeit. Die Rotmäntel verbanden und wuschen, trösteten und salbten Freund und Feind; die Toten legten sie in lange Reihen, um dann mit Karren und Tragbahren die Opfer der letzten Schreckensnacht hinauszuschaffen zum Gottesacker.

Unsere Freunde waren die letzten, die an Bord kamen. Alle ihre Genossen hatten sich bereits eingefunden, eine bunte, vielgestaltige Schar, zum Teil verwundet, krank und in Lumpen gehüllt, zum Teil ausgelassen fröhlich.

Edenbrecher, Weber und Wiering saßen zusammen, alle leicht verwundet, aber guten Mutes. Wieviel gab es da zu erzählen, wie manche Einzelheiten nachzuholen.

»Wohin begibst du dich, Matthias?« fragte Edenbrecher. »Doch auf alle Fälle nach Hamburg – zu mir! Ich habe dir ja gesagt, daß wir eine Wirtschaft an den Vorsetzen eröffnen werden, pikfein, weißt du, großer Wurstkessel und blankes Geschirr, wir selbst mit weißer Mütze und Schürze. Schlag ein, Junge!«

Aber Matthias schüttelte halblachend den Kopf. »Maat, ich danke Euch tausendmal und schlage auch das Anerbieten nicht ganz aus, nur möchte ich erst einmal nach Neapel und mich überzeugen, ob Alfeo glücklich zu Hause angelangt ist. Vielleicht schafft mir der alte Ferrati eine Stellung als Gehilfe bei einem seiner Weinbergspächter, denn – offen gestanden – es zieht mich nicht sonderlich in die große Stadt hinein, ich möchte lieber ein Landmann oder Gärtner werden.«

Die Fregatte setzte sich jetzt in Bewegung. Eins der Schiffe blieb vor Bengasi liegen, die drei anderen gingen nach Tripolis, um dort dem Dei die Friedensbedingungen der Vereinigten Staaten zu diktieren. Alle befreiten Sklaven waren an Bord des Admiralschiffes, das von Tripolis nach Neapel gehen und dort seine Passagiere landen sollte.

Hell im Sonnenschein lag Omars Schloß. Armer Fürst! Von allen Gütern der Erde war ihm keines geblieben als nur das Grab im dunklen Kellergang, das letzte Bett, aus dem niemand mehr vertrieben wird.

Der Pastor und Matthias sahen unverwandt hinüber auf das flache Dach, von dessen Zinnen die amerikanische Flagge herabwehte.

In Tripolis lagen die Schiffe drei Wochen vor Anker. Der Bevollmächtigte der Vereinigten Staaten unterhandelte während dieser Frist mit dem Dei, und endlich wurde der Friede von beiden Teilen unterzeichnet. Das Admiralschiff lichtete die Anker und steuerte hinaus nach Neapel, um seine lebende Fracht hier an Land zu setzen.

Alle möglichen europäischen Völkerschaften hatten unter der großen Zahl der befreiten Sklaven ihre Vertreter; da waren Engländer und Franzosen, Russen und Deutsche, die nun in wenigen Wochen den Boden ihres Heimatlandes wieder betreten sollten, junge Leute und Grauköpfe – Menschen mit allen erdenklichen Sorgen und Hoffnungen des Erdenlebens.

»Land in Sicht!« rief der wachthabende Matrose.

Viele kletterten auf die Masten und auf das Kajütendach. »Land! Land!«

Beppo schirmte mit der Hand die Augen. »Italien!« sagte er aus Herzensgrund. »Neapel!«

Immer deutlicher trat das Ufer hervor, dann erschienen die gewaltigen Umrisse des Berges mit der Rauchwolke, endlich die Stadt, die schöne, langersehnte.

»Hurra! Hurra! Wir sind auf europäischem Boden.«

»Geh erst mit mir, Matthias,« bat der alte Beppo. »Du sollst nicht so heimatlos umherlaufen – – komm, komm, ich will dir mein Haus, meine Familie zeigen, dann kannst du immer noch den geizigen Ferrati aufsuchen.«

Matthias willigte ein und blieb einige Tage im Hause seines Freundes, dann machte er sich auf, um das zwischen der Stadt und dem Berge gelegene Wohnhaus des alten Ferrati zu erreichen. Es dämmerte bereits, als er an die Tür klopfte und von den Späheraugen des Geizigen gesehen wurde.

»Ich bin Matthias Bergfeld,« rief ihm unser Freund zu.

»Ach so! – Ei! Ei! – Du kommst mir gerade recht, Jüngelchen.«

Die beiden Sperrketten klirrten herab, die Tür ging auf, schmunzelnd reichte der alte Geizdrache seinem Besuch die Hand. »Na, na, tritt nur herein, Matthias!«

Ferrati war weder liebenswürdiger noch schöner geworden, sein Blick erinnerte immer noch an den des Geiers, und seine zerschlissene Kleidung hing über seinen Schultern wie auf einem Zaunpfahl. Jetzt schlürfte er voran in das Wohnzimmer und murmelte: »Es wird sich nun wohl zeigen, wahrhaftig, nun gleich.«

Das verstand Matthias nicht, aber er folgte dem alten Herrn und sah sich nach wenigen Minuten der Frau und dem Sohne gegenüber. Alfeo war wie außer sich, als er unseren Freund vor sich sah. Er sprang auf, lachte und schluchzte in einem Atem: »Matthias! Ach, Matthias! Waren es die amerikanischen Schiffe, die euch befreiten? Oder hat dein Pascha dich – – oder –«

Signora Ferrati schloß von der anderen Seite den Ankömmling mit der mütterlichsten Zärtlichkeit in ihre Arme. »Matthias, Sie haben mir mehr geschenkt als das Leben, ich kann nichts, als Gott bitten, daß er Ihnen das vergelten möge!«

»Das wird er, Mutter. Aber auch wir wollen das Unsere tun, Matthias bleibt bei uns, jetzt und immer. Wir müssen – «

Sein Vater unterbrach ihn. »Schwatze doch nicht, Junge! Man muß so ganz einfache Sachen doch nicht zu etwas Gewaltigem aufbauschen, namentlich in diesem Falle. Hole lieber den Brief herbei.«

»Ja wahrhaftig, den Brief! Den vergaß ich beinahe vor Freude.«

Bald kam Alfeo aus dem oberen Stock wieder herab und hielt in der Hand einen Brief, der so dick war, daß er mehr einem mäßigen Pakete glich.

»Für dich, Matthias,« rief er. »Von Omar. Kapitän Hassan lieferte in Omars Auftrag diesen Brief an den Führer der Bark, die mich von Smyrna hierherbrachte, aus, und dieser gab das anvertraute Gut meinem Vater, der es dir bei deiner Ankunft zustellen sollte. So ist der Zusammenhang der Dinge.«

Unser Freund hatte mit bebenden Händen das Siegel erbrochen. Schriftstücke fielen ihm entgegen. Wertpapiere in französischer und englischer Sprache, die der alte Ferrati sogleich studierte, während Matthias sie nur schüttelte, um endlich das Wertvollste, den Brief von Omars Hand, herauszufinden.

Nicht sehr lang war das Schreiben, aber voll Herzlichkeit und Treue. »Du bist mir lieb wie mein eigenes Kind,« schloß Omar, »ich will daher auch wie ein Vater gegen Dich handeln. Beifolgend findest Du eine in den Banken von England und Frankreich sicher angelegte Summe, groß genug, um Dein ganzes ferneres Leben vor Sorge und Not zu schützen. Ich schenke Dir dies Geld aus persönlicher Zuneigung, Matthias. Nimm es ruhig an, denn Tränen und Flüche haften nicht daran. Aus den rechtmäßigen Einkünften meiner Stellung hübe ich es zurückgelegt, nicht aus dem Erlös verkaufter Sklaven. Möge Gottes Segen mit Dir sein, Matthias!

In aufrichtiger, väterlicher Liebe

Dein Omar.«

 

»Mehr als zweimalhunderttausend Franks!« ächzte Ferrati. »Und da sollte Alfeo keinen Anteil haben!«

»Vater, so schweige doch! –

Matthias hörte kaum, was gesprochen wurde; seine ganze Seele war bei dem Toten. Der alte Ferrati war einen Schritt weiter weggerückt. Seine Seufzer und Winke blieben sämtlich unverstanden. Matthias erzählte im Zusammenhang die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, berichtete Einzelnes, soweit es Alfeos Interesse erregen konnte, und erkundigte sich schließlich nach dem Eingang jener Summe, die Omar für ihn dem Alten bezahlt hatte.

Zuerst konnte sich dieser nicht entsinnen, jemals Geld erhalten zu haben, er zuckte die Achseln und wußte von nichts, aber seine Frau kam seinem Gedächtnis so nachdrücklich zu Hilfe, daß er schließlich ächzend einräumen mußte, doch die Summe in Empfang genommen zu haben.

Erst nach Stunden dachte Matthias an den Ausbruch, bei dem ihn Alfeo eine Strecke Weges begleitete. Hier, auf offener Straße, war es, wo sich unser Freund erkundigte, wie es mit den Geldangelegenheiten des Hauses Ferrati stehe. »Sage es mir offen, Alfeo, hat dein Vater mit der zweiten ›Napoli‹ alles verloren?«

»Ach Unsinn, Unsinn, er ist immer noch Millionär. Vergiß, was er dir sagte, Matthias!«

Die beiden drückten sich die Hand zum Abschied, und dann ging Matthias zur Stadt zurück, wo er zunächst den Pastor aufsuchte und bis nach Mitternacht mit ihm Zukunftspläne entwarf oder im Geiste die Ereignisse der letzten Vergangenheit durchlebte.

Nach Deutschland zurück! – Das war ihr beiderseitiger fester Entschluß.

Der alte Beppo erhielt von Omars reichem Geschenk so viel, daß er ferner den Gefahren des Seelebens nicht mehr zu trotzen brauchte. Dann schiffte sich die ganze Schar der Deutschen auf einem nach Hamburg gehenden Fahrzeug ein, begleitet bis zur Landungstreppe von dem alten Beppo und von Cetti, der seinerseits schon wieder eine neue Heuer in Aussicht hatte.

Noch ein treufester Händedruck, dann bewegte sich das Schiff dem heimatlichen Gestade entgegen.

In Hamburg war es für den Pfarrer das erste, sich nach dem Steinhöft zu begeben und die Witwe Vollgold aufzusuchen. Er fand die Greisin zu seiner innigsten Freude noch lebend, wenn auch gebückt und im weißen Haar, er konnte ihr den Abend ihres Daseins mit stiller, unendlicher Freude verklären.

Im Lichte seines eigenen, milden Denkens erzählte er ihr von dem lange beweinten, für tot gehaltenen Sohne, dessen tiefer Reue und seligem Sterben.

Auch Matthias kam häufig in das Haus mit dem spitzen Giebeldach, und wenn er erzählte, dann leuchtete jedesmal das blasse Antlitz der Achtzigjährigen vor hoher Freude.

Unser Freund erlernte auf einem Gute in der Nähe von Hamburg die Landwirtschaft, um später ein eigenes Anwesen zu kaufen. Der Pastor blieb sein treuester Freund. Auch der lange Heinz und Matthias sahen einander häufig, und wenn dieser einmal Lust hatte, recht herzlich zu lachen, dann ging er gewiß in die Matrosenschenke an den Vorsetzen, wo Edenbrecher hinter dem Wurstkessel thronte und so lange die unglaublichsten Abenteuer erzählte, bis er selbst nicht mehr unterscheiden konnte, was Wahrheit und Dichtung war. Daß dabei Menschen und Tiere nach Afrika gelangten, Einrichtungen und Verhältnisse, die nie vordem ein Sterblicher dort vorgefunden, das störte weder den Berichterstatter noch die Zuhörer.

 

*

 


 << zurück