Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Nach Madagaskar. Der weiße Hahn. Der Krokodilteich. Das Gottesurteil. Der verhängnisvolle Schuß. Gefangen, Das Todesurteil. Gerettet von den Genossen. Rua-Roa. Jagderlebnisse, »Zwei tote Affen und zwei lebendige Stachelschweine.«

—————

 

Für den Rückweg bis zur Kapstadt wurde natürlich eine veränderte Richtung eingeschlagen, aber obwohl auch hier manches Neue und Sehenswerte den Blicken begegnete, obwohl mehr als ein Kraal in Augenschein genommen und mehr als ein Tier erlegt wurde, so kehrte doch auf dem ganzen Wege die rechte Freudigkeit in die Herzen der Reisenden nicht wieder ein. Das jähe Ende eines Menschen, mit dem wir noch vor wenigen Stunden oder Tagen im engsten Verein lebten, führt auch den Leichtsinnigsten zur inneren Einkehr, wie viel mehr mußte sich ein solches Ereignis in den Vordergrund drängen, wo gute, fühlende Herzen von seinem Eintritt erschüttert wurden! Das Bild des stillen, feierlichen Waldrandes und der weiten Ebene zur Rechten, wie die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen über das Wasser dahinstreiften, als der Tote zur letzten Ruhe bestattet war, – das alles hatte sich unverwischbar den Seelen der Umstehenden eingeprägt, und erst als in der Kapstadt Briefe von Hamburg die Ankömmlinge freudig überraschten, löste sich der Druck, den bisher alle empfanden. Nachrichten aus der geliebten Heimat! Nur wer in weiter Ferne allein und freudlos unter Fremden lebte, der kann ermessen, welchen Jubel ein solcher Brief hervorruft. Nicht allein Papa und Mama hatten geschrieben, auch die Schwestern und Freunde, auch Schulkameraden und Nachbarn; alle beglückwünschten die kühnen Afrikareisenden, alle baten um lange Briefe und um irgend ein interessantes Geschenk, am liebsten Photographieen von Wilden, oder sonst einen Gegenstand, den man nicht kaufen könne. Der bereits erwartete photographische Apparat mit allem Zubehör war ebenfalls wohlverpackt eingetroffen, sowie eine Sendung dicht verschlossener Metalldosen, in denen sich Gips befand, dessen Gebrauch den Knaben vorläufig noch unbekannt blieb. Holm freute sich sehr über die Ankunft desselben. »Einen Tag hindurch bei euch sein möchte ich wohl,« schrieb Karl, Franzens Klassenkamerad vom Johanneum, »aber nicht über das Weltmeer fahren und auch nicht in Urwäldern schlafen, das muß doch schauderhaft sein! Erkältet ihr euch nicht immer dabei? Ich kann nun einmal unmöglich für solche Abenteuer schwärmen, aber Emil und Theodor und alle anderen aus Sekunda beneiden euch; Johannes will, seit er eure Briefe gelesen hat, jedenfalls Naturforscher und Afrikareisender werden, er kann kaum erwarten, bis die Zeit da ist. Eure Geschenke sind glücklich angelangt und schmücken bereits den Zoologischen Garten und das Museum, schickt nur mehr mit der nächsten Post, vor allen Dingen aber schreibt fleißig, ihr müßt aus jedem Hafen einen Brief absenden.«

Auch Doktor Bolten hatte eine längere, eingehende Mitteilung von dem Vater seiner Zöglinge. Herr Gottfried dankte ihm für das richtige Gefühl, welches in Palma den Bonnynegern, die Franz aus den Händen der Benins befreiten, ein Geldgeschenk namens der Eltern des Knaben bestimmt hatte; er erlaubte auch für künftige derartige Fälle dem würdigen Erzieher, das zu tun, was nach seiner Ansicht das Richtige sei, und so erhielten denn vor der Abreise nach Madagaskar die Hinterbliebenen des verunglückten Führers eine Summe, die wenigstens dazu angetan war, ihre äußerlichen Sorgen zu lindern. Alle Errungenschaften an Pflanzen, Blumen, zahllosen Insekten, Kerbtieren und Schlangen wurden auf das Schiff gebracht, neue Einkäufe besorgt, lange Briefe nach Hamburg geschrieben, und dann lichtete der Dampfer seine Anker, um jetzt die Inselwelt des Indischen und Großen Ozeans aufzusuchen. Zunächst durch den Kanal von Mozambique nach Madagaskar, wo an einer nur für Boote zugänglichen Bucht des am wenigsten bekannten und bereisten Teiles die Entdeckungsfahrt in das Innere wieder begann. Da die Seereise kurz und ohne Störung von statten gegangen war, so gaben sich alle mit fröhlichem Mut der Hoffnung hin, daß auch dieser Ausflug neue, reiche Schätze zutage fördern werde. Das Tier- und Pflanzenleben, die Wohnungen und die Beschäftigungsweise der Malagaschen kennen zu lernen, genügte ein Ausflug in die Dörfer des Innern, und den unternahm man, nachdem alle Vorbereitungen getroffen und einige des Weges kundige Führer gemietet waren. Durch einen dichten Wald der schönsten, verschiedenartigsten Palmen ging es auf bald bergigem, bald flachem Boden dahin; blühende Lianen schlangen sich um alle Zweige. Der Sagobaum und die giftige Brechnuß wuchsen in malerischen Gruppen, die afrikanische Palme zeigte ihren sonderbaren, einem Wickelkinde nicht unähnlichen plumpen Stamm, und endlich erschien auch die Ravinala, welche allein auf diesem Teil unseres Erdkörpers gefunden wird. Der hübsche, schlanke Baum mit emporstrebenden Stielen, die immer nur in ein einziges, breites Blatt auslaufen, heißt auch der Baum der Reisenden, und zwar weil das untere Ende jedes dieser Blattstiele eine innere Höhlung besitzt, in welcher sich klares Wasser sammelt, das ohne Mühe mittels Durchstechen der grünen Umwandung erlangt werden kann und daher den Reisenden von großem Werte ist. Unsere Freunde wollten Halt machen, um die seltsame, nur auf Madagaskar gefundene Flüssigkeit zu kosten, aber die Führer schüttelten den Kopf und deuteten auf die in der Ferne sichtbare Niederung, wo aufsteigender Rauch ein Dorf ankündigte. »Unternehmt nichts im Lande des bösen Geistes Angatsch,« warnten sie, »berührt keinen seiner Bäume, keines seiner Tiere, ehe ihr nicht den geweihten Hahn zu eurem Schutze bei euch habt. Im Dorfe könnt ihr ihn kaufen.«

Der alte Theologe hörte mit großem Erstaunen an, was der olivenfarbige Eingeborne in schlechtem Englisch vorbrachte. »Ein geweihter Hahn?« wiederholte er entrüstet, »was behauptest du da, mein Sohn? Ein Hahn –«

»Doktor, Doktor, wir sind in Feindes Land und müssen also klüglich seinen Sitten folgen! Wenn uns dieser gelbe Angatschgläubige als Ketzer verklagt, so werden wir möglicherweise alle in einem Tempel wie Opfertiere behandelt, lassen Sie uns lieber gütlich erfahren, was der geweihte Hahn bedeutet, und auf diese Weise unsere Kenntnisse bereichern. Sie erinnern sich ja des Hottentotten-Großvaters als Schlange, nicht wahr? und des mondanbetenden Dorfkönigs aus dem Dahomey-Lande?

Der alte Herr lächelte wider Willen. »Aber ein Hahn!« seufzte er.

Holm war sehr belustigt. »Was ist's mit dem Geweihten?« fragte er ganz ernsthaft die Führer. »Wir wollen niemandes Gefühle verletzen.«

Die Malagaschen deuteten zum Dorfe. »Alle ganz weißen Hähne sind heilig,« erklärte sie, »aber eben darum werden sie auch von den Zauberern sehr teuer verkauft. Wer einen weißen Hahn besitzt, der ist gegen Angatschs Verfolgungen gesichert. Jeder Reisende nimmt solches Tier mit sich, und unter jedem Dache lebt eins.«

»Aha! – und auch wir können einen derartigen Beschützer erlangen?« Die Führer hielten Rat, endlich erbot sich einer, im Dorfe den Hahn zu kaufen, worauf ihm Holm das nötige Geld einhändigte und ihn mit einer kleinen, in deutscher Sprache gehaltenen Standrede entließ. »Hole uns den Gebieter der Bilderfibel, mein Sohn, aber glaube nicht, daß du imstande seiest, uns zu täuschen. Ein ansehnlicher Obolus wird in deinen Besitz übergehen, obwohl du keine Taschen führst; vielleicht stiehlst du sogar den Meister Kikeriki vom nächsten Düngerhaufen weg, aber das tut hoffentlich in den Augen des eingebornen Satanas von Madagaskar seiner Heiligkeit keinen Eintrag. Fleuch!«

Der Malagasche verstand natürlich nicht, was ihm gesagt worden war, aber der Ton des letzten Wortes im Verein mit bezeichnender Handbewegung verrieten einigermaßen den Sinn der Worte. Er trollte sich schnellen Schrittes, indes die übrigen Halt machten, um unter den wundervollen Bäumen im Moos zu lagern.

Die Ruhe tat den Reisenden wohl, und ganz gaben sie sich dem Genusse der schönen Landschaft hin, die sich vor ihren Augen ausbreitete. Unter fröhlichem Geplauder erwarteten sie die Rückkehr des Führers.

.

Der weiße Hahn

Ein langgezogenes Krähen verkündete alsbald die Nähe des zaubernden weißen Hahnes. Der Führer erschien und brachte in einem schlechtgearbeiteten Bambuskäfig das heilige Tier, indem er zugleich geheimnisvoll andeutete, daß noch ein weiteres Schutzmittel gegen den bösen Geist notwendig sei, ein Amulett, welches die Fremden auf der Stirn tragen müßten. Holm wollte natürlich auch das kaufen und erhielt nun für teuren Preis den Zahn eines Krokodils an einer mit Glasperlen verzierten Schnur. »Jetzt seid ihr sicher, Fremdlinge,« erklärte der Malagasche, dem ein Geschäft mit den Weißen noch nie so leicht gewesen sein mochte, »jetzt ist Angatsch ohnmächtig gemacht und der Riese Darafif, der Sohn Zannaars des Weltgeistes, euer Freund geworden. Der weiße Hahn blendet die Blicke aller Häuptlinge, daß sie euch die Hände reichen und euch Brüder nennen, der weiße Hahn lähmt die Sinne der Wildschweine, daß sie sich taumelnd in eure Spieße stürzen.«

Holm hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen. »Lacht nicht, Kinder,« ermahnte er in deutscher Sprache, »lacht nicht. Die Malagaschen sind als hinterlistig und äußerst rachsüchtig bekannt, sie möchten uns hier inmitten ihrer Urwälder empfindlich strafen, wenn wir sie beleidigen würden.«

Er dankte den Eingebornen, und nun erst konnte das Wasser des Ravinala probiert werden, ebenso die Früchte des Brotbaumes und die vielen wildwachsenden Beeren. Langsam wanderten die Reisenden dem Dorfe entgegen, das ihnen bei näherer Betrachtung durch irgend ein außerordentliches Ereignis in Aufregung versetzt zu sein schien. Den Mittelpunkt der Niederlassung bildete ein großer, versumpfter See, an dessen einem Rande sich die Hütten erhoben, und wo jetzt Hunderte von Menschen durcheinander liefen. Schon der erste Blick zeigte, wie hoch über den wilden Negerstämmen die Malagaschen stehen. Sie alle waren in weite, faltenreiche Gewänder gehüllt, trugen zum Teil sogar Hüte und bewohnten geräumige, runde, mit Palmenblättern gedeckte Hütten, welche mit ihren hölzernen Einfriedigungen einen guten Eindruck machten. Sogar Türen von genügender Höhe fanden sich, Hunde, Hühner und Schweine hatten ihre abgesonderten Stallungen und um die Hütten herum grünten und gediehen zahlreiche Anpflanzungen.

Wie ein wahres Gegenstück zu diesem friedlichen Bilde erschien der Anblick des Sumpfes, aus dessen trüben Fluten große Krokodile ihre greulichen Rachen erhoben. Nur die kleinen tückischen Augen verrieten durch ihr Blinzeln, daß diese Masse lebe. Überall zeigten sich die gefährlichen Bestien; der See mochte mehr als fünfzig beherbergen, ja sogar in einem breiten Flusse, der mit dem stehenden Gewässer nicht weit vom Dorfe in Verbindung trat, schwammen noch die häßlichen Geschöpfe, so daß Holm voll Erstaunen den englisch sprechenden Führer fragte, weshalb man es unterlasse, sich dieser Raubgesellschaft auf kürzestem Wege zu entledigen. Aber der olivenfarbige Mann antwortete kopfschüttelnd: »Das verstehst du nicht, Fremder. Die Tiere haben hier das Richteramt im Dorfe, sie sind unverletzlich; wir füttern sie und bezeugen ihnen die größte Verehrung. Siehst du nicht dort am Ufer die versammelte Menge?«

»Freilich. Aber was treiben diese Leute?«

»Ein Sklave steht im Verdacht des Diebstahls, Fremder. Die Krokodile werden also zu Gericht sitzen und entweder seine Unschuld beweisen oder ihn strafen, wie es sich gebührt.«

»Das heißt – den Unglücklichen fressen?«

»Wenn er wirklich gestohlen hat, ja.«

»Ein Gottesurteil in aller Form also. Wie tief doch bei jedem, auch dem wildesten, niedersten Volke der Zug nach dem Anlehnen an ewige, wandellose Mächte im Charakter begründet liegt! Es hat noch keine Nation versucht, sich ohne Götter oder Göttliches zu behelfen. – »Aber«, fügte der Doktor gegen den Eingeborenen hinzu, »ist nicht durch diese seltsamen Richter der Angeklagte in allen Fällen überführt? Habt ihr schon erlebt, daß die Krokodile Barmherzigkeit übten?«

Der Eingeborne wiegte den Kopf. »Nur sehr selten, Fremder, das ist wahr, aber – die Sklaven sind auch außerordentlich diebisch.«

Während dieser Worte hatte sich die kleine Gesellschaft dem Dorfe bis auf hundert Schritt genähert. Rechts von ihnen flutete der See mit seinen greulichen Bewohnern, links lag der Wald und geradevor die regelmäßig erbaute Hüttenreihe. Aller Augen blickten den Weißen entgegen; Frauen mit kleinen Kindern auf den Rücken liefen sogar neugierig herbei und stellten Fragen jeder Art; nur eine Gruppe vor dem See blieb ganz abgesondert; wie es schien, in sehr ernster Verhandlung begriffen. Ein älterer Mann in weißer Kleidung, umgeben von mehreren anderen, und ein jugendlicher, an Händen und Füßen gefesselter, ganz nackter Bursche bildeten die handelnden Personen des Trauerspieles, das hier seinen Anfang nahm. Eine lautgesprochene, den Reisenden natürlich unverständliche Frage schallte über das Wasser dahin, – der Führer wiederholte auf englisch die Worte. »Im Namen Zannaars des Weltgeistes und seines Sohnes Darafif, des Riesen, frage ich dich, hast du deinem Herrn das gewirkte, rote Tuch gestohlen oder nicht?«

Der Sklave schüttelte den Kopf. »Nein. Möge mich Angatsch verschlingen, wenn ich schuldig bin. Ich habe das Tuch nicht berührt.«

Der alte Malagasche, offenbar das Oberhaupt des Dorfes, sprach nochmals. »Wir glauben, daß du lügst, um dich zu retten, Rua-Roa,« versetzte er. »Die heiligen Krokodile müssen also entscheiden zwischen dir und uns. Nehmt ihm die Fesseln ab!« setzte er gegen seine Begleiter gewendet hinzu.

Die Seile aus Bast wurden von den Gelenken des jungen Burschen entfernt; dann ergriff ihn der Ankläger am Arm und trat so mit ihm aus dem Kreise der übrigen heraus bis nahe an den Rand des versumpften Sees. »Hört mich, ihr heiligen Krokodile« – übersetzte der Führer – »hört mich, Boten des mächtigen Zannaar, und leiht ein gnädiges Ohr meiner Bitte. Ihr seid dem Volke der Hovas gesandt als Verkünder für die Beschlüsse des Weltgeistes, ihr werdet auch heute verkünden was recht ist. Wenn dieser Sklave das Tuch nicht gestohlen hat, so laßt ihn ungefährdet das Ufer wieder erreichen; wenn er aber ein Dieb ist, dann straft ihn nach Recht und Billigkeit.«

Eine Handbewegung zeigte dem Burschen, daß der Augenblick jener entsetzlichen Entscheidung durch die Bestien nunmehr gekommen sei; vielleicht glaubte aber auch er ganz fest an die Gerechtigkeit ihres Urteils, vielleicht fühlte er sich sicher geborgen im Bewußtsein vollkommener Schuldlosigkeit, genug er erhob unter dem tiefsten Schweigen sämtlicher Zuschauer beide Arme über den Kopf und stürzte sich in das hochaufspritzende Schlammwasser. Wenige Augenblicke später sahen alle den schlanken, olivenfarbigen Körper langsam auf der Oberfläche dahingleiten.

Die Augen des älteren Knaben glühten, er hatte wie halb unbewußt das Gewehr von der Schulter genommen. »Noch sehe ich keines dieser Ungeheuer sich bewegen,« flüsterte er in gepreßtem Tone.

»Franz,« warnte Holm, »du darfst unter keiner Bedingung schießen, mein Junge. Was hier geschieht, das empört sicherlich uns alle, aber eine Einmischung in derartige, das Rechts- und Glaubensleben des Volkes berührende Angelegenheiten wäre verhängnisvoll. Tötest du eines der Krokodile, so ist noch ein halbes Hundert übrig, um den unglücklichen Knaben zu zerreißen – uns aber würde man höchstwahrscheinlich auch den heilig gehaltenen Bestien als Futter vorwerfen.«

Franz sah starr auf das Wasser. »Es ist eine Abscheulichkeit,« murmelte er. »Ich könnte dem armen Schelm nachspringen, um ihn zu retten.« Dabei verwandte er aber keinen Blick von dem langsam schwimmenden Malagaschen, der jetzt die Hälfte seiner Bahn bereits durchmessen hatte und dem mehrere Krokodile anscheinend ohne mörderische Absicht folgten. Ein fester Entschluß lag auf seiner Stirn, er hielt die Finger am Drücker.

Selbst der schüchterne Hans war entrüstet wie nie. »Lieber Herr Doktor, helfen Sie doch dem armen Menschen,« bat er dringend. »Papa bezahlt es gern, wenn sie seinem grausamen Besitzer eine Summe bieten, um ihn zu kaufen und zu befreien. Soll man denn nicht das Böse überall, wo es uns entgegentritt, bekämpfen?«

»Natürlich!« murmelte Franz. »Natürlich, und ich werde mich auch nicht hindern lassen, das zu tun, was ich für recht halte.«

Der alte Herr ging geraden Weges zu jener Gruppe des Häuptlings oder Zauberers, wo vorhin die Verurteilung des Sklaven stattgefunden hatte. »Leute,« rief er in englischer Sprache. »Leute, was tut ihr? Bedenkt, daß das Leben dieses Kindes verloren ist, wenn ihr ihm nicht schleunigst zu Hilfe kommt, und daß die Verantwortung auf euch zurückfällt! Ich will den Sklaven kaufen, befehlt ihm, so schnell als möglich an das Ufer zu schwimmen.«

Finstere Blicke antworteten ihm. »In was mischest du dich, Fremder?« fragte grollend der weißgekleidete Alte. »Ich bin der Priester dieses Stammes und stehe hier im Namen Zannaars des Weltgeistes, der die Sünde strafen will.«

Doktor Bolten streckte die Hand aus. »Zannaar in deiner und Gott in meiner Sprache!« rief er, »aber immer ein Wesen voll Gerechtigkeit und Erbarmen, das solche Greuel strafen und verabscheuen muß. Dein –«

.

Der verhängnisvolle Schuß am Krokodilteiche

Der Knall eines Büchsenschusses zerriß die Stille, vom Wasser her tönte ein gellender Aufschrei, der in Hunderten von Kehlen sein Echo fand. Sprachlos mit beschwörend erhobenen Armen starrte der Priester auf den See, wo jetzt der braune Knabe in schnellerer Bewegung dem rettenden Ufer zueilte, wo aber auch eine Blutlache und ein Toben und Ringen unter dem Wasser nur zu deutlich verriet, daß eins der heiligen Tiere getroffen war und sich sterbend im Schlamm wälzte. Von allen Seiten stürzten aufgeregte erbitterte Menschen den drei Weißen entgegen, vergeblich bemühte sich der Führer, Frieden zu stiften; wie eine Lawine vergrößerten sich die andrängenden Massen; Drohworte wurden laut und in weniger als einer Minute waren den drei wehrlosen jungen Leuten die Waffen entrissen.

Franz hatte seine Absicht ausgeführt. Als eins der Krokodile den Rachen aufsperrte, um das geängstigte Opfer zu verschlingen, da legte er gedankenschnell das Gewehr an die Wange und traf als geübter Schütze das Auge der Bestie, so daß sie schnaufend zusammenbrach und rings umher das Wasser mit ihrem Blute färbte. Der Malagasche schrie vor Entsetzen, mehr erschreckt durch den plötzlichen Schuß als durch die anwesenden Krokodile, dann aber floh er alles vergessend, so schnell es seine Kräfte erlaubten, dem Lande zu. Vielleicht waren von dem ungewohnten Ereignis auch die Tiere in Verwirrung geraten, sie tauchten in den Schlamm und versuchten keine weitere Jagd. Noch eine Minute, dann sprang der gerettete Knabe unversehrt an das Ufer.

»Gottlob!« rief Franz. »Das abscheuliche Verbrechen wäre vereitelt.« »Aber um teuren Preis. Ich glaube nicht, daß einer unter uns mit dem Leben davon kommt! – O Franz, Franz, was hast du getan?«

»Das Rechte!« rief ungestüm der Knabe. »Ich fürchte mich nicht.«

Er versuchte keinen Widerstand, als ihm und den übrigen die Hände auf den Rücken gebunden wurden. »Nur zu, das soll euch schlecht bekommen, ihr Mordgesellen,« rief er. »Unmöglich kann Gott dem Bösen den Sieg verleihen.«

Von einer heulenden, schreienden und schimpfenden Menge umdrängt, von geballten Fäusten und wutblitzenden Augen bedroht, wurden die drei zum Dorf geführt, wo ihnen der alte Zauberer mit ebenfalls hocherhobenen Händen entgegen kam; der Volkshaufe tobte und verlangte, daß zur Sühne für den Tod des einen Raubtieres die Gefangenen den anderen als Futter vorgeworfen würden und zwar auf der Stelle. Aber der Zauberer schüttelte dazu den Kopf. »So lange sie den weißen Hahn besitzen, sind die Fremden unverletzlich,« erklärte er, »auch muß Zannaar das Zeichen geben, ehe wir die Strafe vollstrecken können. Lani-Lameh (damit meinte er sich selbst) wird die Götter herbeirufen und ihren Entschluß vernehmen.«

Holm lächelte, als ihm der Führer die Übersetzung dieser letzteren Worte heimlich zuflüsterte. »Lani-Lameh scheint ein großer Schlauberger zu sein,« sagte er auf deutsch. »Vielleicht bestimmen ihn die Götter, uns rein auszuplündern und laufen zu lassen, ohne daß nachher der beschränkte Untertanenverstand erfährt, wer das eigentlich bekommen hat, was in unseren Taschen vorgefunden wurde. Einstweilen schützt uns noch der weiße Hahn.«

»Wenn wir unsern Führer bestechen könnten!« meinte der Doktor. »Er kümmert sich offenbar um den Tod der Bestie nicht im geringsten. Vielleicht ist er ein Christ!«

»Vielleicht aber auch ein Verräter!« warnte Holm. »Er zieht im Lande umher ohne bestimmten Wohnsitz, er kennt alles und alle, dient Fremden als Führer und möglicherweise den Zauberern als Spion. Die Malagaschen sind längst keine Wilden mehr.«

»Ich möchte nur eins wissen,« seufzte Hans, »ob uns vor der Hinrichtung gestattet wird, einen Brief nach Hamburg zu schreiben?«

»Und ich, ob der Kapitän und der alte Witt ruhig die Hände in den Schoß legen, wenn wir nicht morgen abend verabredetermaßen wieder an Bord sind!« rief Franz.

»Ruhig, Kinder,« ermahnte Holm. »Da das Urteil nicht sofort und unter dem Einfluß des erbitterten Volkes zur Vollstreckung gelangt, so ist noch Hoffnung vorhanden. Fürs erste bin ich gespannt, ob man uns den Hahn wegnimmt!«

Das geschah nicht. Die vier Gefangenen wurden in eine leere Bambushütte am äußersten Ende des Dorfes einquartiert, und der Hahn blieb einstweilen in ihrem Besitz. Schwarze und rote Decken aus Pflanzenfasern, ein paar Körbe für Lebensmittel und ein plumpes, eisernes Gefäß für Trinkwasser bildeten die einzige Ausrüstung; Fenster waren nicht vorhanden, dagegen aber gestatteten die Fugen zwischen den Bambusstäben sowohl der Luft als auch dem Blick einen ungehinderten Durchgang, so daß wenigstens für die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse, Luft, Licht und Wasser, einigermaßen gesorgt war. Was es nun freilich zu beißen gab, das blieb noch dahingestellt.

Lani-Lameh näherte sich in Begleitung des Führers, der ihm als Dolmetscher diente, und der in seinem Namen die Weißen aufforderte, all ihr bewegliches Besitztum herauszugeben. Taschenmesser, Kamm, Spiegel und Portemonnaie mit Inhalt wanderten in das Körbchen, welches der heilige Mann am Arm trug, ehe sich derselbe jedoch von seinem Gefährten trennte, gab er diesem mit schneller, heimlicher Bewegung ein paar Goldstücke, – die Gefangenen sahen es und wechselten einen bedeutsamen Blick. Man konnte also dem schlauen Gelben keinesfalls trauen.

Die Tür der Hütte wurde verschlossen und mit mehreren starken Eisenriegeln noch obendrein von außen verwahrt, der Volkshaufe, welcher anfänglich das Gebäude umtobte und umheulte, begann sich zu verlaufen, und leise sanken die Schatten der Nacht herab. Es war ganz still in dem engen, von leichtem Luftzug fortwährend durchwehten Raum, nur der Hahn krähte zuweilen – vielleicht begriff er nicht, wo so plötzlich die Schar seiner Hennen, wo die köstliche Freiheit seines Düngerhofes geblieben war.

Holm streichelte das schneeweiße Gefieder. »Kann ich es machen, so sollst du mit uns nach Hamburg zurück,« sagte er. »Ohne deine schützende Nähe war unser Leben der Volksjustiz längst verfallen.«

Franz rüttelte an allen Stäben. »Ob wir nicht fliehen können, Karl?« »Siehst du denn nicht draußen den Hüter? – Ich möchte übrigens wissen, was dieser Bursche betreibt!«

»Er schmiedet!« erklärte Hans. »Vor sich hat er auf ein paar großen Steinen ein Reisigfeuer, und auf einem anderen flachen Stein hämmert er. Was er macht, sind Löffel.«

»Ich sehe von dieser Seite mehrere Männer bei einer derartigen Arbeit,« bemerkte der Doktor. »Einer hält das glühende Eisen, und zwei andere schlagen taktmäßig, ja sie haben wahrhaftig sogar einen Blasebalg aus Bambusstäben und plumpen, hölzernen Cylindern. Wären nicht die Leute halbnackt, so könnte man glauben, eine deutsche Dorfschmiede zu sehen.«

»Es wird dunkel,« schauderte Hans. »Wie sonderbar ist doch das Gefühl, ein Gefangener zu sein.«

»Still, – es kommt jemand.«

Die Tür öffnete sich, und ein Mann legte schweigend ein großes Stück Fleisch sowie vier schwarz aussehende Gegenstände auf den Boden der Hütte; dann entfernte er sich sogleich, ohne irgend ein Wort gesprochen zu haben. Holm nahm eines dieser runden, etwa zolldicken und tellergroßen Stücke in die Hand. »Ach,« rief er, »ich weiß schon, das ist ein Mückenkuchen!«

»Um des Himmels willen! Und den sollten wir essen?«

»Der Hunger wird's schon eintreiben, Freund Franz. Weshalb schossest du auf den Kaiman?«

»Weil ich einen Mord verhindern wollte, und das ist mir auch gelungen.«

»Gut, dafür speisen wir Heuschreckenkuchen. Ich habe übrigens mehrfach gehört, daß diese schwarzen Pasteten recht gut schmecken.«

Er griff in die Tasche, um das Messer hervorzuziehen; dann aber, nachdem er den Irrtum erkannt, schloß er die Augen und biß tapfer in das große Brot hinein. »Oho, meine Herrschaften, Sie werden sich wundern! – Als wäre es der feinste Kaviar aus Heimerdingers Delikatessenhandlung.«

Er aß mit lebhaftem Appetit und verlockte dadurch auch die anderen, das fremdartige Gebäck zu probieren. Es schmeckte salzig und scharf, aber durchaus nicht unangenehm. »Komm her, Franz,« fuhr er fort, »das Fleisch müssen wir auf Tigermanier zerlegen.«

Die Knaben lachten, auch der Doktor biß endlich mit in das gutgekochte Schweinefleisch hinein, und zuletzt machte der Wasserkrug die Runde. Holm hatte seinen Zweck erreicht, es war wenigstens auf den ersten Schrecken einige Ruhe gefolgt und durch die guten, ausgiebigen Nahrungsmittel auch für Erhaltung der Kräfte gesorgt. Obgleich er im innersten Herzen von dem günstigen Ausgang der Sache keineswegs überzeugt war, so wollte er doch seine Besorgnisse lieber allein tragen, als auch die Knaben dadurch beunruhigen. Mochten sie jetzt schlafen, – vielleicht brachte ja schon der nächste Morgen das Todesurteil.

Es wurde still ringsumher, auch der Schmied hatte aufgehört zu hämmern, die Stimmen im Dorfe waren verhallt, und hoch am Himmel glänzte der Mond. Aus dem Schlammwasser krochen die Krokodile hervor, um schwerfällig am Ufer zu spazieren, immer mehr und mehr, gewiß fünfzig bis sechzig an der Zahl, eins noch größer, noch scheußlicher als das andere, – Holm schauderte. Diese Ungeheuer lebten von Menschenfleisch, sie wurden ernährt mit den Körpern armer Opfer, die einem schrecklichen, heidnischen Irrwahn als Gegenstand dienten. Wer in irgend einem Verdacht stand, wen der Zauberer aus dem Wege schaffen wollte, oder wer sich als verachteter, rechtloser Sklave der Grausamkeit seines Besitzers nicht zu erwehren vermochte, der verfiel dem Urteilsspruch dieser Bestien, die sich träge und satt von Menschenblut im Sumpfe dehnten und alljährlich an Zahl bedeutend zunahmen.

Wenn er dachte, daß die beiden Knaben, diese jungen, glücklichen Kinder, die Söhne eines reichen, ja fürstlichen deutschen Handelshauses, auf so schreckliche Weise den Tod finden sollten! Seine Finger umklammerten mit eisernem Griff die Bambusstäbe, aber er fühlte, daß der Versuch, das biegsame Holz zu zerbrechen, vergeblich sei. Seufzend warf er sich auf die Matte.

Da reichte ihm Doktor Bolten die Hand. »Rufe mich an in der Not, und ich will dich erretten!« – sagte leise mit eindringlichem Tone der Greis.

Holm wandte erschüttert bis ins tiefste Herz das Gesicht gegen die Bambuswand. – –

*

Der nächstfolgende Morgen brachte keine Veränderung, auch der lange, unendlich lange Tag schlich dahin, ohne daß irgend jemand die Gefangenen besucht hatte. Das Fleisch und der Mückenkuchen waren verzehrt, das Trinkwasser ging zur Neige; wieder brach die Nacht herein, wieder wurde es dunkel und verstummte das Leben des Tages. Und doch befanden sich die vier Unglücklichen im Zustande fortwährender Aufregung, doch erwarteten sie beständig nahende Schritte, horchten bei jedem Laut und erschraken heimlich, so oft einer der Eingebornen in die Nähe kam.

Während der zweiten Nacht schlief keiner. Ein furchtbares Gewitter schüttelte die Baumriesen des nahen Waldes, pfeifend heulte der Sturm, und von Zeit zu Zeit brach mit donnergleichem Krachen ein alter Stamm, den Blitz oder Windsbraut erfaßt, zu Boden. Aufgeschreckte Affen flohen kreischend hinaus auf die Ebene, eine Büffelherde zog in eiligem Galopp vorüber, und strömend rauschte der Regen. Es war so recht eine Nacht, um im sicheren, gemütlichen Heim nahe an einander zu rücken und dem Singen und Heulen des Sturmes zu lauschen; es war aber auch eine Nacht, um die Herzen der Gefangenen zur Mutlosigkeit herabzudrücken und sie mit den düstersten Ahnungen zu erfüllen. Was würde der nächste Morgen bringen?

Holm glaubte alle Hoffnung aufgeben zu müssen. Lani-Lameh konnte aus mehr als einem Grunde nicht daran denken, seine Gefangenen wieder freizugeben, wenn er nicht die eigenen Interessen auf das schwerste gefährden wollte. Hier im westlichen Innern der Insel war überhaupt der einzige Punkt, wo noch das Heidentum regierte, wo die Christuslehre bis jetzt nicht festen Fuß fassen konnte, und wo also für ihn, den Zauberer, Wahrsager oder Götzenpriester, allein noch der Weizen in Blüte stand. Er mußte sich folgerichtig gegen das Vordringen der Kultur wie gegen seinen schlimmsten Feind verteidigen und durfte daher die Tötung des heiligen Krokodiles nicht ungerächt hingehen lassen. Der schlaue Geselle fürchtete nebenbei auch die Weißen, welche nur der Tod verhindern konnte, das auszuplaudern, was sie hier gesehen hatten.

Schon am folgenden Morgen zeigte sich die Richtigkeit dieser Schlußfolgerungen. Man brachte den Weißen Speise und Trank, befahl ihnen sich zu waschen und alsdann auf den freien Platz in der Mitte des Dorfes zu erscheinen. Die Tür des Gefängnisses blieb offen, trotzdem aber war an keine Flucht zu denken, denn eine ununterbrochene Kette von Bewaffneten umgab von drei Seiten die kleine Niederlassung, während vorn die greulichen Rachen der Krokodile wie eine unübersteigbare Mauer den Weg versperrten.

Draußen glänzte nach dem nächtlichen Gewitter die Natur in doppelter Schöne. Überall grünte und blühte die üppige Prachtfülle des Südens, überall lag auf der Szene jener goldene Sonnenzauber, der erst die Schöpfung zu erwecken scheint. Tauben in zahllosen Arten bevölkerten die Gehöfte, große Schmetterlinge wiegten sich auf Blumen und Hunderte von Singvögeln schmetterten in jubelhellem Chor. Es war hart, nach erdrückender Gefangenschaft in solchen Morgen hinauszutreten, um aus dem Munde heidnischer Barbaren das Todesurteil zu vernehmen, um zu erfahren, daß dieser Tag der letzte sei vor einer Hinrichtung, die an Abscheulichkeit und nichtswürdiger Brutalität von keiner anderen übertroffen werden konnte. Es war hart, aber dennoch bewahrten die Weißen alle Würde und Ruhe ihrer Nationalität. Sie hatten beim Hinaustreten auf die Dorfstraße einander nur stumm die Hand gedrückt; auch jetzt gingen sie schweigend durch die friedliche, malerisch belegene Niederlassung bis an den Punkt, wo ein zweiter, engerer Kreis von Bewaffneten eine Gruppe umschloß, in deren Mitte gebieterisch der Zauberer stand. Lani-Lameh erwartete mit fünf Beisitzern dieses schauerlichen Gerichtes die Gefangenen; er hatte sich in ein langes, scharlachrotes Gewand gehüllt, auf dem Kopfe trug er einen spitzen, mit goldenen Schnüren und Troddeln umwickelten Hut, ein goldenes Band hielt die Falten in Gürtelform zusammen. Die anderen Richter waren ähnlich gekleidet, nur fehlte bei ihnen das Gold, während die gemeinen Krieger überhaupt nichts trugen, als eine Art von formlosem Hemd aus Grasfasern und die langen Wurfspieße, hier Sagaien genannt.

Einer derselben hatte aus dem Gefängnis den weißen Hahn herbeigeholt und setzte jetzt den Käfig desselben zu Füßen Lani-Lamehs auf den Boden.

Das Tier krähte laut und lustig, wahrscheinlich um in seiner Weise den wundervollen Morgen zu begrüßen.

Lani-Lameh erhob die Hand. »Vom Abendlande her kommen die Ungläubigen,« sagte er mit lauter Stimme, während der Dolmetscher jedes Wort übersetzte, »sie drangen mit ihren Feuerwaffen in das Land der Hovas und nahmen keinen Anstand, den großen Geist Zannaar und den Riesen Darafif, seinen Sohn, auf das empfindlichste zu beleidigen, indem sie den Gesandten der Gottheit, den heiligen Kaiman erschossen. Lani-Lameh hat die Geister gerufen und sie gefragt, welche Strafe den Übeltätern zu teil werden sollte; er warf sich vor den Unsterblichen auf sein Antlitz und beschwor sie, die Stimme des Priesters zu hören. Zannaar, der große Geist der Welt, befahl den Wolken, das Land mit Wasserfluten zu übergießen, er sandte den Sturm und den Blitz, um die Menschen zu erschrecken, und redete mit der Stimme des Donners. Lani-Lameh verstand den Beschluß des großen Geistes! Die vier Übeltäter sollen dem Gericht der Krokodile überliefert werden,« sprach er. »Sie sollen den See zweimal durchschwimmen, nachdem die heiligen Tiere während eines Tages und einer Nacht kein Futter mehr erhalten haben. Wer von ihnen auf diesem Wege lebend das Ufer wieder erreicht, der möge gehen, wohin es ihm beliebt. Die Götter haben ihn freigesprochen.«

Nachdem der Zauberer mit lauter Stimme diese Worte vorgebracht und dabei das Gewitter der letzten Stunden für seine Zwecke klüglich ausgebeutet hatte, nahm er den Käfig vom Boden und ließ den weißen Hahn herausfliegen. »Jetzt seid ihr rechtlos,« schloß er, »Zannaar hat euch verlassen und Angatsch der Böse Besitz genommen von eurem Schicksal. Morgen mit Sonnenaufgang wird das Urteil vollstreckt werden.«

Eine Handbewegung gebot einigen Kriegern, die Gefangenen wieder in ihre Hütte zurückzuführen, der Hahn flatterte, immer noch vergnüglich krähend, zu seinen Genossen in das Dorf, und unsere vier Freunde wanderten in das Gefängnis, dessen Tür sich für sie jetzt nur noch ein einziges Mal öffnen sollte. Wie blaß die Knaben waren, und wie ernst der Doktor aussah. Holm ging von einem zum anderen, um zu trösten. »Noch haben wir fast volle vierundzwanzig Stunden,« sagte er, »wer weiß, was geschieht! Der Tod war uns ja auf dieser Reise schon mehr als einmal um Haaresbreite nahe, wir sind dem Orkan und den reißenden Tieren, wir sind den afrikanischen Wilden entgangen, – wer weiß, was geschieht!«

»Aber woher sollte die Rettung kommen?« fragte Hans. »Wir sind verloren, Karl, wir müssen sterben, ohne daß irgend jemand von den Unsrigen erfährt, wie und wo wir zu Grunde gingen. Der Kapitän wird nach der Hauptstadt fahren und dort den deutschen Konsul benachrichtigen; man wird die Insel durchforschen und überall fragen, wo wir blieben; aber niemand gibt die Antwort, niemand bringt Kunde nach Hamburg. O es ist entsetzlich, viel entsetzlicher als der Tod im Kampfe gegen wilde Tiere.«

Holm streichelte das blasse Gesicht des Knaben. »Schon in dieser Rechnung ist das Fazit ein voreiliges, mein Junge,« sagte er freundlich. »Gesetzt, daß das Schlimmste wirklich geschähe, – könnte und würde dann nicht höchstwahrscheinlich wenigstens einer unter uns gerettet werden? – Das gäbe zwar den Getöteten das Leben nicht zurück, aber es würde doch zur Sühne für ihre Ermordung genügen. In weniger als Jahresfrist wären deutsche Kriegsschiffe hier, um Rechenschaft zu fordern.«

Franz erhob plötzlich den Kopf. »Ich glaube noch nicht, daß wir sterben müssen, Karl,« rief er. »Ich kann es nicht glauben, – Gott darf es nicht zulassen, er –«

»Still, mein Sohn, du vermißt dich! Gewiß war deine Absicht eine reine und gute, eine solche, die auch vor den Augen des höchsten Richters Gnade finden wird, gewiß glaubtest du das Rechte zu tun, weshalb dir, wie du weißt, deine Erzieher keinerlei Vorwürfe gemacht haben; aber doch mischtest du dich unberufen in die Verhältnisse eines wilden Volks, erlaubtest dir einen Eingriff in die Empfindungen anderer, das war menschlich aber unklug. Bitte Gott, mein lieber, warmherziger Junge, aber fordere nicht, und vor allem laß uns die Stunden, welche vielleicht auf Erden unsere letzten sind, nicht durch persönlichen Groll entweihen.«

Niemand antwortete dem alten Geistlichen; jeder war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, zu sehr erschüttert, um sprechen zu können; auch das Essen blieb unberührt stehen, und als der Abend herabsank, setzten sich die Unglücksgefährten so nahe als möglich neben einander auf eine Matte, um noch, so lange ihnen Zeit blieb, einer dem anderen ein freundliches Wort zu sagen und vor allen Dingen gewissermaßen das Haus zu bestellen, ehe es an das Verlassen desselben ging. »Werdet ihr gerettet, so grüßt zuerst meine Mama, dann die übrigen!« bat Hans.

Der alte Geistliche hielt mit beiden Händen die der Kinder, welche er erzogen. »Meiner harrt zuhause in Hamburg kein trauerndes Herz,« sagte er, »um mich wird niemand weinen, niemand Kummer fühlen. Sorgt, wenn ihr glücklich in die Heimat zurückkehrt, daß das, was ich an irdischen Gütern hinterlasse, irgend einer milden Stiftung zufällt, am liebsten einer Freischule oder einem Stipendium. Ich – –«

Franz umklammerte aufschluchzend mit beiden Armen seinen geliebten Lehrer. »Sie sterben nicht, Herr Doktor, Sie sterben nicht!« rief er, »ich bleibe bei Ihnen und verteidige Sie mit meinem Leben, ich gebe Ihnen Zeit, den Ungeheuern zu entkommen.«

»Das versprechen auch wir,« riefen in einem Atem die beiden anderen. »Sie sollen in unserer Mitte bleiben, lieber Herr Doktor, wir schützen Sie so lange als nur möglich.«

Der alte Geistliche legte im Dunkel der Hütte seine beiden Hände auf die Köpfe der jungen Leute. »Seid gesegnet, meine Kinder,« sagte er mit erstickter Stimme. »Es wird geschehen nach Gottes Ratschluß, der Herr wird alles wohl machen.«

Draußen an der Bambuswand regte sich's. Wie leises Flüstern tönten Menschenstimmen, und vernehmlich klang es durch die Spalten »Hummel! – Hummel!« Schlagwort der Hamburgischen Schifferkreise.

Die vier Unglücksgefährten glaubten zu träumen. Was war das? – Hatte die Aufregung ihre Nerven so überreizt, daß sie die Stimmen ihrer weit entfernten Freunde wie aus unmittelbarer Nähe zu hören vermeinten?

Franz schauderte. »Klang das nicht, als hätte das der alte Witt gesagt?« flüsterte er. »Hummel! – Hummel! – das war ein Abschiedsgruß aus der Heimat.«

Holm stand auf und trat an die Wand. Draußen sah man nichts, es war unmöglich, durch die engen Spalten hindurch irgend etwas zu erkennen. »Wer da?« rief er leise, mehr auf das gute Glück hin, als wirklich im Glauben, irgend jemand anzureden. »Wer da?«

»Gut Freund, Herr Holm! – Nur stille, hören Sie, daß die Schwerenöter nichts merken. Sie sind doch alle wohlauf?«

Im Dorf krähte mit heller Stimme ein Hahn. War es der weiße? – Sein Schmettern klang wie »Wohlauf! – Wohlauf!«

Eine Hand hatte die Riegel der Hütte hinweggezogen. Einer nach dem andern traten die dunkeln Gestalten unter das Bambusdach, zwölf bewaffnete, mit Kugelbüchsen, Revolvern und Enterbeilen versehene Männer, die gekommen waren, um ihre bedrängten Freunde zu erlösen. Nur der Kapitän und vier Matrosen waren als notwendigste Besatzung an Bord des Dampfers geblieben, alle übrigen zogen durch den nächtlichen Wald, fest entschlossen, die Gefangenen zu befreien oder mit ihnen unterzugehen. – Und draußen vor der Tür stand noch einer, ein schlanker, dunkeläugiger Knabe, der die Retter hierhergeführt, der sein eigenes Leben gewagt hatte, um der heiligen Pflicht der Dankbarkeit zu genügen, Rua-Roa, jener verurteilte Sklave, den Franz mit seinem plötzlichen Schuß von den Krokodilen erlöste. Jetzt bewachte er sowohl den Eingang zur Hütte, als auch den geknebelt und gebunden am Boden liegenden Hüter, der von unseren braven Hamburger Teerjacken im halben Schlummer so energisch überrumpelt worden war, daß ihm keine Zeit blieb, auch nur den kleinsten Schrei auszustoßen. Rua-Roa zitterte im Gedanken, daß ein einziger Zufall alles verraten könne.

»Schnell! Schnell!« ermahnte er.

Aber die da drinnen hörten ihn nicht. Es war wie ein Rausch über ihre Sinne gekommen, wie ein Taumel, sie sprachen in abgebrochenen Lauten und waren kaum fähig, zusammenhängend zu denken. Nur der alte Witt trieb zur Eile. »Da hast du eine Kugelbüchse, Zackermentsjunge, ich habe sie ausdrücklich für dich über alle diese vermaledeiten Baumwurzeln und Ranken geschleppt, – ist doch ein schauderhaftes Vergnügen, so bergauf und bergab durch den Wald zu klettern. – Na, schon gut, da braucht's gar keinen Dank und keine Rührung, deucht mich; oder hättest du etwa ruhig zugesehen, Junge, wenn die Menschenfresser zufällig über mich, anstatt über dich selbst hergefallen wären?«

»O ich wußte es ja, ich wußte es ja, wir sind gerettet!«

Und Franz sprang von einem zum andern, unfähig, seinem Jubel zu gebieten. »Wollen wir Lärm schlagen?« rief er übermütig, »die gelben Halunken mit ihrem Oberhaupt, dem Lügenpriester, zu Paaren treiben und alle Krokodile erschießen?«

»Franz, Franz, – und das im ersten Augenblick unserer Rettung!«

Holm fand seine gewohnte Ruhe wieder, als ihn der unbesonnene Vorschlag aus dem anfänglichen Freudenrausch aufschreckte. »Kommen Sie, Herr Doktor,« setzte er hinzu. »Rasch, rasch, ich kann es nicht erwarten, den blauen Himmel wieder über mir zu sehen.«

Auch der Steuermann näherte sich dem alten Herrn. »Ich habe Ihnen eine Handlaterne mitgebracht, Herr Doktor,« sagte er, »die einzige, welche an Bord zu finden war. Sie tut nötig bei diesen halsbrecherischen Unternehmungen.«

Und mit dem ganzen Abscheu des Seemanns gegen Fußpartieen zog er eine blecherne Diebslaterne aus seiner Jacke hervor. »Da ist das Ding, Herr Doktor, aber anzünden wollen wir es lieber erst draußen.«

Holm und Franz lachten ihn aus. »Wer hat uns denn durch den afrikanischen Wald geführt, Papa Witt?« rief der Knabe. »Naturforscher mit dem Talglicht! das ist köstlich.«

Hans war der erste draußen. »Kommt, kommt,« bat er, »ich sehne mich nach dem Anblick unseres Schiffes.«

Die Matrosen hatten inzwischen den ganzen kleinen Raum untersucht, und als sie kein Stück des Eigentums ihrer Reisegenossen mehr vorfanden, die Hütte verlassen. »Ich hätte Lust, den Bau in Brand zu stecken,« raunte einer. »Irgend ein Andenken müßten wir doch diesen Schuften vermachen.«

Und gedacht, gethan. Ehe es die Weißen hindern konnten. flog ein brennendes Stück Papier auf die Matten am Boden, rote Flammen krochen züngelnd weiter, eine Rauchwolke wirbelte auf, und bald stand das ganze, abgesondert liegende Gebäude in heller Glut. Den gebundenen Malagaschen legten die Hamburger in gesicherte Entfernung, und dann ging es fort zum Walde, wo die lustige Schar den Tadel, welcher sie empfing, ohne bemerkbare Zerknirschung hinnahm, zumal der Steuermann sich begnügte, mit pfiffigem Blinzeln hinzuzusetzen: »Schade, daß nicht das ganze Dorf in Rauch aufgeht. Die gelben Landpiraten hätten verdient, einmal selbst bei ihren Krokodilen Nachtquartier suchen zu müssen.«

»Sollen wir sie aus dem Schlaf stören?«

Die Kampflust, der Übermut dieser ganzen jugendlichen Schar waren kaum noch zu zügeln. Holm und der Doktor mußten ihr Ansehen als Führer des Zuges voll in die Wagschale werfen, um weitere Ausschreitungen zu verhüten; nur widerstrebend konnten sich die Matrosen entschließen, das Dorf und die brennende Hütte ihrem Schicksal zu überlassen, ja es ist ungewiß, ob das jemals geschehen wäre, wenn nicht eine plötzlich auftauchende Erscheinung das allgemeine Interesse für sich in Anspruch genommen hätte.

Unter den Bäumen stand im unsicheren, zuckenden Licht der vielen elektrisch glänzenden Fliegen jener Malagasche, der zuerst die Weißen in das Dorf geführt hatte. Er trug unter dem Arm den Käfig mit dem weißen Hahn und streckte jetzt lächelnd die Hand aus. Sein verschmitztes Gesicht zeigte, daß er alles wußte. »Ein kleines Geschenk für den Führer,« sagte er in englischer Sprache. »Er war es, der Rua-Roa den Weg zeigte.«

Papa Witt sah voll Erstaunen von einem zum andern. »Was will der Mosjöh Zitronengesicht?« rief er. »Schenkt mir einen Hahn! – Ist der Kerl verrückt?«

»Sagte ich's nicht,« lächelte Holm. »Er verrät beide Parteien um des klingenden Lohnes willen. Aber besser ist es, Freund Steuermann, Sie geben ihm ein Stück Geld, das ich mit Dank zurückerstatten werde, – in meiner und des Doktors Tasche ist es leer wie am ersten Schöpfungsmorgen.«

Der Alte griff in den perlengestickten Geldbeutel, welchen er nur bei festlichen Gelegenheiten zu tragen pflegte. »Eine tüchtige Tracht Prügel wäre dir bedeutend dienlicher, du Galgenholz,« brummte er auf deutsch, »es ist schade, daß du immer noch ungehängt über Gottes Erde läufst, aber wenn wir dich jetzt mit der richtigen Münzsorte bezahlen wollten, so könntest du uns aus Dankbarkeit alle deine Brüder auf den Hals hetzen. Marsch mit dir, – den Hahn kannst du selbst verzehren.«

Aber Holm ergriff den Käfig und nahm ihn an sich. »Das Geheimnis dieses Geschenkes erkläre ich Ihnen zuhause, Steuermann,« lachte er. »Vorwärts jetzt, vorwärts um des Himmels willen, – die Malagaschen sind aus dem Schlaf erwacht!«

Wirklich sammelten sich schreiende, wehklagende und drohende Haufen um das Gefängnis, dessen leichte, dürre Bambuswände in der Glut zusammengestürzt waren und einen funkensprühenden Trümmerhaufen bildeten. Ein fesselnder Anblick bot sich dar: all die gelben, in den seltsamsten Kostümen – dasjenige Adams nicht ausgeschlossen – umherlaufenden und gestikulierenden Menschen, erhellt von der roten Lohe, deren Widerschein zugleich das Ufer färbte, wo mehr als ein riesiger Kaiman lüstern spähend mit halbem Leibe aus dem Sumpf auftauchte.

Allen voran im flatternden Gewande mit hocherhobenen Armen stürzte Lani-Lameh, der Zauberer. Wilde Verwünschungen schallten von seinen Lippen; er ermunterte offenbar die übrigen, den Flüchtlingen zu folgen.

Als sich diese nach dem Führer umsahen, war er verschwunden. Der listige Geselle mußte jetzt im Dorfe bemerkt werden, um nicht durch seine Abwesenheit Verdacht zu erregen; – Holm begriff das, aber er erschrak. Wohin im Dunkel fliehen, ohne den Verfolgern in die Hände zu fallen.

Da erfaßte jemand seinen Arm. In englischer Sprache erklang ein rasches »Dort hinaus, Herr!« und ohne erst zu fragen, wer der Sprechende sei, folgte die kleine Schar dem gegebenen Rate. Nach einer Viertelstunde angestrengten Marschierens, wobei der Steuermann zweimal über vorspringende Baumwurzeln fiel und in allen Tonarten auf Wälder und Fußreisen und Dunkelheit schimpfte, war endlich eine Lichtung erreicht, von der verschiedene Wege abzweigten. Kein Laut verriet die Nähe der Malagaschen, kein Zeichen deutete auf Gefahr, daher ließen sich die Flüchtigen Zeit, endlich auch aus den mitgebrachten Vorräten der Matrosen eine tüchtige Stärkung zu sich zu nehmen. »Prosit!« nickte der Steuermann. »Und dergleichen nennen Sie ein Vergnügen, mein Herr Holm? So schauderhafte Strapazen finden Sie ganz unterhaltend und angenehm? – Um des lieben Himmels willen, was wollen Sie mit dem Hahn?« setzte er hinzu. »Freilich bin ich kein Gelehrter, aber mich deucht doch, daß der weiße Kerl ein ganz gemeiner Haushahn ist.«

»Oho, Papa Witt, mehr Respekt, wenn ich bitten darf! Dieser Hahn, den ich als unseren persönlichen Schutzhahn an der einen bräunlichen Feder vorn auf der Brust mit Sicherheit erkenne, – dieser Hahn ist ein Sendbote Zannaars und des Riesen Darafif wider die Macht und Tücke Angatschs des Bösen; – oder ernsthaft gesprochen: er war eines der Werkzeuge, deren sich Gott bediente, um uns vor grauenhaftem Tode zu bewahren. Wären wir ohne den weißen Hahn gewesen, so hätte uns das wütende Volk auf dem Fleck in Stücke zerrissen.«

Er setzte nun den Verlauf ihres Abenteuers dem Alten kurz auseinander und fragte jetzt erst, wie denn eigentlich die Freunde an Bord des Dampfers Kunde von dem Geschehenen erlangt hätten. Ehe Papa Witt antworten konnte, zog Franz an der Hand den jungen Hova-Sklaven aus dem Hintergrunde hervor. »Herr Doktor,« rief er, »und du, Karl, hier ist Rua-Roa, der weder Mühe noch Gefahr scheute, um uns zu retten. Er hat in der Nacht den ganzen weiten Weg bis zum Schiffe zurückgelegt, er hat unsere Reisegenossen hierhergeführt, – ihr dürft ihn nicht verstoßen!«

Der junge Malagasche warf sich auf den Boden und umfaßte mit beiden Armen die Kniee des Geistlichen. »Nimm mich mit dir, Herr,« bat er leise und innig. »Rua-Roa will dein Sklave sein, er will dir gehorchen und dir danken bis an das Ende seiner Tage, aber nimm ihn mit dir auf das Schiff und unter weiße Leute!«

Doktor Bolten schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das geht nicht so ohne weiteres, mein junger Freund,« sagte er herzlich. »Zuerst müßte ich doch wissen, ob du Eltern hast, denen ich unmöglich ihr Kind rauben dürfte, dann aber –«

Ein Ausruf des Knaben unterbrach ihn. »Rua-Roa hat keine Eltern mehr, Herr, er ist ein armer Sklave, der dem härtesten aller Hovas als Eigentum gehört. Arra-Arra ist grausam wie ein reißendes Tier, er schlägt und tritt seine Knechte, er vermietet sie nach der Hauptstadt Tananarivo zu den schwersten Diensten und gibt ihnen kaum so viel, um sich eine Decke oder ein Hemd kaufen zu können. Er wirft sie, wenn der Feuertrunk der Weißen sein Gehirn umnebelt, zum Vergnügen den Krokodilen vor.«

Ein Ausruf der Entrüstung tönte von den Lippen aller Anwesenden. Die Matrosen bedauerten noch jetzt auf das lebhafteste, nicht an den gelben Schurken ein warnendes Beispiel statuiert zu haben; sie wollten dem Knaben kleine Geldgeschenke machen und ihn ihres Schutzes versichern, aber der Doktor erklärte, daß notwendig vorher erst eine Frage entschieden sein müsse. »Das Christentum kennt keine Sklaverei,« sagte er, »es kann nie und nimmer den einen Menschen als das rechtmäßige Eigentum des anderen betrachten, ich will daher mit gutem Gewissen dieses Kind einem grausamen und trunksüchtigen Gebieter entziehen, um aus ihm einen rechtschaffenen Christen heranzubilden, aber nur dann, wenn Rua-Roa wirklich kein Dieb ist. Einen solchen könnte ich den mir anvertrauten Zöglingen nicht zum Gesellschafter geben. Sprich also, mein Sohn, sei wahr, als ständest du vor dem Richterstuhle Gottes, – hast du jenes rote Tuch genommen oder nicht?«

Der Sklave schüttelte traurig den Kopf. »Rua-Roa hat keine Mutter oder Schwester, der er es schenken könnte, Herr; Rua-Roa hat auch keine Hütte, um es darin zu verstecken oder für sich selbst zu behalten. Wenn Arra-Arra, sein Gebieter, schlechter Laune ist, oder wenn ihn das Feuerwasser krank gemacht hat, so läßt er den Zauberer kommen, um ihn zu fragen, wessen böser Blick oder wessen Verbrechen das Unglück verschuldete; Lani-Lameh nennt dazu jedesmal einen Sklaven als den Übeltäter, weil nur diese den Krokodilen vorgeworfen werden dürfen und weil ihm solche Richtersprüche viel Geld und Ansehen eintragen. Rua-Roa hat das Tuch nicht genommen, Herr, möge ihn Zannaar, der Weltgeist, strafen, wenn er lügt!«

Das war so einfach, so kindlich gesprochen, daß es auf keinen der Anwesenden seinen Eindruck verfehlte. Der alte Geistliche reichte dem Malagaschen beide Hände. »Steh auf, Rua-Roa,« sagte er, »du sollst bei uns bleiben, armer Junge, ich will vor Gott und den Menschen verantworten, daß ich dich, der du uns alle vom sicheren Tode errettetest, aus so unwürdigen, verderblichen Umgebungen entferne. Du sollst nach deiner freien Wahl bei uns bleiben oder dich hinbegeben, wo du Lust hast, aber zurückschicken werde ich dich um keinen Preis. Ist das nicht auch Ihre Meinung, Freund Holm?« »Vollständig!« nickte der junge Gelehrte. »Franz würde es ja doch nie verzeihen, wenn wir uns weigerten, nicht wahr, du?«

»Ich würde sehen, Rua-Roa heimlich an Bord zu bringen!«

Holm sah ihn an. »Da das dem Knaben nicht verständlich geworden ist, so mag es hingehen, Franz,« sagte er leise. »Du solltest dich bemühen, ihm als Vorbild zu dienen, denke ich.«

Franz errötete, während der Malagasche im unklaren Gefühl, daß er hier einen Freund gefunden, seine Hand ergriff und küßte. »Wir wollen den Blutschwur tauschen, du und Rua-Roa,« flüsterte er. »Auch Freie tauschen ihn mit Sklaven.«

»Was ist das, ein Blutschwur?« fragte lebhaft interessiert der Knabe.

»Pst, – hier nicht. Ich sage dir's später, Herr!«

Er dankte halb wehmütig, halb freudevoll dem alten Geistlichen und auch Holm; er gelobte nochmals, ein treuer ergebener Diener zu sein und sprang dann allen voran, um den Weg zum Strande weiter zu verfolgen. Allmählich hatten auch schon die ersten Sonnenstrahlen das Dunkel gelichtet, es wurde Tag, und ringsumher glänzte die Schönheit der südlichen Welt, entfaltete sich das Tierleben, und spielte neuerwacht der Morgenwind mit tausend Blüten. Die Reisenden sahen zum erstenmal den Tangaibaum, welcher nur auf Madagaskar angetroffen wird, und dessen Früchte wie Pfirsiche herabhängen, unter ihrem ziemlich geschmacklosen Fleische jedoch einen sehr giftigen Kern verbergen; dann die einheimische Feige und endlich in einem kleinen murmelnden Flüßchen die Gitterpflanze, welche gänzlich unter der Oberfläche des Wassers stand. Holm nahm eine davon mit allen ihren Teilen sorgfältig heraus, um sie zu präparieren. Die neun bis zehn Zoll langen Blätter lagen kaum zwei Zoll breit wagerecht unmittelbar unter dem Wasserspiegel und zwar in einem Kreise von mindestens drei Fuß Durchmesser; dabei zeigten sie in ihrer Entwickelung die verschiedensten Farben, von dem Blaßgelb der ersten sich bildenden Blättchen durch alle Schattierungen von braun und grün bis zu den größten, ganz schwarzen Blättern, die einzigen in der Natur, welche die dunkle Totenfarbe tragen. Und wie eigentümlich waren die langen, schmalen Blätter! – Nur Gerippe von solchen, nur Blattgerüste. Der klare Grund glich einer feinen, durchbrochenen Spitze, und doch war das Gewebe zart genug, um die ganze Schwere der Pflanze zu tragen. Holm freute sich außerordentlich, das seltene Gewächs aufgefunden zu haben, ebenso die Destillierpflanze, deren kammartige, mit Deckeln versehene Blumen inwendig einen förmlichen Destillierapparat besitzen, und mehrere andere. Selbstverständlich wurden Blätter der seltenen Gitterpflanze mitgenommen.

Jeden Augenblick wurde die Wanderung unterbrochen, was ebensoviele Äußerungen der Ungeduld von seiten des Steuermannes hervorrief und endlich dazu führte, daß sich die kleine Gesellschaft einstweilen trennte. Hier in der Nähe des Meeres war von den Malagaschen nichts zu fürchten, sie hatten vielmehr alle Ursache, sich mäuschenstill zu verhalten und Gott zu danken, wenn nicht in der Hauptstadt gegen sie Klage geführt wurde. Papa Witt marschierte also mit seinen getreuen Teerjacken auf kürzestem Wege zum Ankerplatz zurück, die anderen dagegen unternahmen noch einen kleinen Streifzug in die Umgegend, wobei ihnen Rua-Roa als Führer diente. Alle Sorgen, aller Kummer und alle erlittenen Strapazen waren vergessen. Man befand sich wieder im grünen Walde, wohlbewaffnet und mit Korbflaschen versehen, und überließ sich der Hoffnung, noch einige seltene, wenn auch nur harmlose Tiere zu erlegen.

»Rua-Roa, kannst du uns keinen Eichhornmaki aufspüren? Ich glaube, ihr Malagaschen nennt ihn Aye-Aye!«

Der Bursche erschrak. »Angatsch will nicht, daß dem Aye-Aye Schaden geschieht, Herr!« antwortete er etwas ängstlich.

Holm lächelte. »Dergleichen muß du jetzt über Bord werfen, mein Junge,« sagte er freundlich. »Nur das Böse ist zu fürchten und bringt Strafe, aber wer das Böse vermeidet, braucht sich nicht zu fürchten vor dem Grimme eines zornigen Rachegeistes. Es gibt keinen Angatsch, Kind, und noch viel weniger eine Tiergattung, die man heilig halten müßte. – Auf welchen Baumarten lebt vorzugsweise der Eichhornmaki?«

Rua-Roa schüttelte den Kopf. »In hohlen Stämmen wohnt er, Herr, wie die Eulen nur bei Nacht auf den Fang ausgehend und am Morgen schlafend. Wir werden sehr bald den Aye-Aye sehen, wie er nach Hause zurückkehrt.«

»Und hoffentlich auch schießen,« setzte Holm hinzu. »Komm her, mein Junge, willst du das Feuergewehr kennen lernen?«

Der Malagasche wich zagend zur Seite. In seinen großen schwarzen Augen lag deutlich der Ausdruck des Grauens, so daß Holm lachend die Kugelbüchse zurückzog. »Horch,« rief er, »was war das?«

»Wildschweine, Herr,« antwortete der Bursche. »Eberjäger! sie kommen über die Ebene rechts von uns, wir werden die fliehenden Bestien sehen.«

»Sind diese Jäger Hovas?« fragte mit einiger Besorgnis der Geistliche.

»Nein, Herr, Sakalawas, schwarze Männer, die mit ihren Sagaien die Tiere erlegen. Sie sind im ganzen Lande hochgeehrt, essen und schlafen in jeder Hütte ohne Bezahlung und wohnen nirgends, sondern ziehen umher und töten überall die Eber, welche das Feld zerstören und die Ernten vernichten.«

Der Lärm kam immer näher, die Gebüsche knackten und brachen, wildes Geheul und Schnaufen mischte sich mit den lauten Zurufen von Menschenstimmen. Unsere Freunde nahmen daher in einer Linie Stellung, indem sie sich den Rücken durch nebeneinander stehende, breite Baumstämme deckten und den gefährlichen Wildschweinen gegenüber auf diese Weise zu erfolgreichem Widerstande aus vier Kugelbüchsen zugleich gerüstet waren. »Paß auf, Rua-Roa,« rief Franz, »sobald sich der erste Eber zeigt, hat er das Blei zwischen den Rippen.«

Aber der Malagasche schien von der Aussicht auf das angekündigte Schauspiel keineswegs erbaut; vielmehr schwang er sich mit einem raschen Satz auf den nächsten Tamarindenbaum, dessen starke, dichtsitzende Äste ihm diese Flucht ungemein erleichterten, und zog dann zum geheimen Verdruß des Doktors ein Amulett – bei den Malagaschen Fanfuti – hervor, das er zwischen den Fingern hielt und wiederholt küßte.

»Was treibst du da, Junge?« fragte ärgerlich der alte Herr.

Rua-Roa sah verlegen von einem zum andern. »Ich bitte den Feuerriesen um seinen Schutz, Herr. Tenn-Tenn herrscht über alles, was von der Flamme stammt.«

»Gib mir das Ding, welches du da in der Hand trägst, Rua-Roa.«

Der Malagasche trennte sich offenbar nur äußerst ungern von seinem Amulett, aber er wagte keinen Ungehorsam, sondern gab es zögernd hin – eine kleine starkriechende Wurzel und ein Bambusrohr, das einen beschriebenen Pergamentstreifen barg. »Der Feuerriese Tenn-Tenn wird dich töten, wenn du es vernichtest, Herr,« sagte er ängstlich.

Dem alten Theologen blieb zur Antwort keine Zeit. Aus den Gebüschen brach ein mächtiger Eber, dem zwei Bachen mit einem Rudel jüngeren Nachwuchses folgten; das wütende Tier mit seinem plumpen schwarzen Kopf und den am Halse befindlichen Auswüchsen stürzte sich blindlings gegen die Stelle, wo vier Büchsenkugeln seiner harrten, die Stoßzähne wühlten den Boden auf, die kleinen Schweinsaugen funkelten vor Kampflust; es kam, unbekannt mit der Wirkung der Feuerwaffen (die auf Madagaskar zur Jagd nicht verwandt werden) ganz nahe heran und senkte zum heftigen Angriff den Kopf – da krachten die Büchsen; unter den übrigen Tieren entstand eine wilde Flucht, und der Eber wälzte sich in seinem Blute. Schon wollte Franz vorspringen, um ihm mit dem Messer den Garaus zu machen; da klang es plötzlich in einiger Entfernung wie das schmerzliche Wimmern einer Menschenstimme. Gedehnte, ächzende und schluchzende Laute erfüllten die Luft, Todesröcheln mischte sich schaurig in leises Weinen. – –

Die Weißen standen regungslos vor Schreck. Sie sahen nicht wie sich der erlegte Eber im letzten Kampfe wand, wie mehrere der schwarzen Jäger, halbnackt, mit den langen eisenbeschlagenen Sagaien bewaffnet, durch die Büsche lugten und beim Anblick der Europäer schleunigst das Weite suchten, – nur ein entsetzlicher Gedanke erfüllte ihre Herzen: war einer von den Sakalawas durch ihre Kugel getroffen worden?

»Karl,« flüsterte Franz, »hörst du das?«

Holm nickte. »Wir müssen nachsehen, mein Junge. Wenigstens konnte keinem von uns der Gedanke an ein solches Unglück im voraus kommen.«

»Ist der arme Mensch erschossen, so berühre ich in meinem Leben kein Gewehr wieder,« rief Hans. »O warum sind wir nicht mit den Matrosen gegangen!«

»Still,« seufzte Holm. »Erst muß die Sache untersucht werden.«

Da legte vom Baum herab Rua-Roa die Hand auf des jungen Mannes Schulter. »Babakut!« sagte er, »der Menschenaffe.«

Wie in plötzlicher Übereinstimmung suchten aller Augen seinen Blick. Wenn das wahr wäre!

Rua-Roa hielt noch immer den Ast des Tamarindenbaumes umklammert. »Kennst du den Menschenaffen nicht, Herr? Leben im Abendlande unter deinem Volke keine Trägen, Faulen, die niemals arbeiten, sondern nur essen wollen? Und verwandelt sie Zannaar bei euch nicht in Babakuts, die ein Antlitz haben wie Menschen und doch Affen sind, die menschlich weinen und klagen, und doch keine Seele besitzen? Der da wimmert, ist ein solcher.« Franz zögerte nicht länger, er mußte wissen, woher die immer schwächer werdenden, kläglichen Jammerrufe kamen, und trennte daher mit kräftigem Arm die verschlungenen Zweige, um in das Innere des Gewirres von Ranken und Blättern hineinzusehen. Sein Jubelruf lockte die übrigen herbei. Da lag auf dem blutgetränkten Moos ein ganz grauer, mit kurzem Haar bedeckter Affe von etwa einem Meter Höhe und mit so menschenähnlichem Gesicht, wie es die Reisenden noch an keiner anderen Gattung bemerkt hatten. Die brechenden Augen sahen voll stummer Anklage empor, der schweiflose Körper streckte sich und nach wenigen, letzten Zuckungen war alles vorüber.

»Das nenne ich Glück haben!« jubelte Holm. »Diese Art ist bis jetzt selten oder nie erlegt worden, wir besitzen da einen Schatz, wie ihn kein deutsches Museum nachweisen kann. Schnell, Rua-Roa, komm her und nimm vorsichtig den Affen, da du kein Gewehr zu tragen hast, wir wollen ihn auf dem Schiff in aller Form einbalsamieren oder in Spiritus bringen, je nachdem es sich macht. Jetzt ist Umkehr geboten, um keinen Preis dürfte uns der Babakut verloren gehen.«

Aber Rua-Roa tat, als sei er plötzlich taub geworden. Mit dem großen Messer, welches ihm Hans gegeben, zog er gewandt das borstige Fell des Ebers ab, weidete ihn aus und schnitt die besten Bratenstücke herunter, während nur dann und wann ein scheuer Blick den getöteten Affen streifte. Die Furcht vor dem Halbmenschen Zannaars war offenbar zu groß, um ihm das Näherkommen zu gestatten.

»Mag er das Fleisch tragen!« entschied der Doktor. »Ehe nicht sein Geister- und Riesenglaube besiegt ist, hilft es nichts, ihn zum Gehorsam zu zwingen. Ich bin nur begierig, wie Sie es anfangen wollen, die Beute fortzubringen, mein bester Herr Holm.«

»Und müßte ich sie wie ein Wickelkindchen tragen,« rief der junge Gelehrte. »Aber was will Rua-Roa, er winkt mir fortwährend!«

Der Malagasche hatte das abgezogene Fell von Blut und Fleischteilen gereinigt und dann einen spitzen Stock geschnitten. »Da, Herr,« sagte er etwas ängstlich, »willst du nicht den Babakut hineinwickeln? Zwei von euch können ihn tragen, an jedem Ende des Stockes einer. Rua-Roa nimmt das Fleisch.«

Holm lachte. »Zwei von euch!« wiederholte er. »Nur du selbst nicht, Schlingel, und doch habe ich oft gehört, daß deine Landsleute den Babakut essen.«

Rua-Roa machte eine Gebärde des Abscheues. »Die Ambonga,« sagte er, »die Wilden. Sie essen auch Schlangen und Makis, die Hovas kennen dergleichen nicht.«

»Makis!« rief Holm. »Da erinnerst du mich, Junge. Ich möchte doch gar zu gern einen Eichhornmaki schießen.«

Der Malagasche nahm mit Hilfe eines zweiten, derben Steckens das Fleisch auf die Schulter. »Jetzt schläft der Aye-Aye, Herr,« versetzte er, »aber Rua-Roa wird den Baum finden, in welchem er wohnt, und wird ihn aufscheuchen. Komm nur, dort unter den alten Tamarinden ist mehr als ein hohler Stamm, dein Sklave weiß es, er hat hier oft die jungen Papageien aus ihren Nestern genommen, um sie, wenn eine Anzahl beisammen war, nach Tananarivo zu bringen und für seinen Herrn zu verkaufen. Den Babakut kannst du hier liegen lassen, bis wir wiederkommen; es stiehlt ihn dir niemand, dessen bist du sicher.«

Holm schwankte. Durfte er den seltenen Schatz dem Zufall anvertrauen? – Aber freilich, fleischfressende Tiere gab es ja auf dieser Insel nicht, wer sollte ihm also sein Kleinod rauben? Nach kurzem Besinnen verbarg er das Paket mit dem unheimlichen Inhalt unter einer Schicht von großen Blättern, dann folgten alle dem vorangehenden Malagaschen. Der Hochwald dieser Gegend war unbeschreiblich schön und trug ganz den Charakter der tropischen Zone, wenigstens was die Mannigfaltigkeit des Pflanzenwuchses betraf. Hohe Mangobäume mit ihren saftreichen, unseren Birnen gleichenden Früchten neigten ihre tiefhängenden Äste schwer vom Segen so weit herab, daß die Knaben nach Herzenslust pflücken und essen konnten; wundervoll gefärbte Orchideen, lila, rosa, blau und schneeweiß oder vom reinsten Purpur, schwebten an ihren langen Kletterwurzeln in der Luft; ein kleines blaues, dem Vergißmeinnicht ähnliches Blümchen schmückte zu Tausenden den Boden; blütenreiche Akazien spendeten ihren Wohlgeruch, und mehrere Pandanusarten lieferten wohlschmeckende Früchte von der Größe einer Pomeranze. Ebenso wuchsen im Dickicht die verschiedensten Nüsse, weshalb auch bunte Papageien in ganzen Scharen die Baumwipfel bevölkerten. Das emsige Forschen des jungen Eingebornen währte nur kurze Zeit, dann hatte er den Schlupfwinkel eines Eichhornmaki entdeckt und konnte den heranschleichenden Gefährten ein Zeichen geben. In einer uralten Tamarinde befand sich eine Höhlung von der Größe eines Tellers, vor derselben lagen Haufen von Nußschalen, und an der rauhen Rinde des Eingangs klebten braune Haare, für den geübten Blick des jungen Malagaschen nur ebenso viele Zeichen, daß im Innern des hohlen Stammes ein Eichhornmaki seinen Wohnsitz haben müsse.

Holm und Franz standen mit geladenem Revolver hinter den nächsten Bäumen, während Rua-Roa die Tamarinde umschlich und mit dem Knöchel des Zeigefingers überall anklopfte. Längere Zeit hindurch blieben seine Bemühungen ohne Erfolg, die Weißen zweifelten, daß eines dieser zierlichen Äffchen in dem Baume verborgen sei; der Bursche aber blieb bei seiner Behauptung. »Aye-Aye schläft,« sagte er, »wir müssen ihn wecken.«

Und vor die Mündung der Höhle tretend, brachte er das Gesicht derselben ganz nahe. Ein schriller, plötzlicher Schrei durchgellte die morgendliche Stille des Waldes, – dann suchte der Sklave seinen früheren Versteck wieder auf. Eine Gebärde befahl den Weißen, sich mäuschenstill zu verhalten.

Kaum wenige Sekunden später zeigte sich der Erfolg. Das graue, menschenhafte und auch wieder eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fuchs verratende Gesicht des Gespensteraffen blickte aus dem Loch hervor, der Aye-Aye horchte offenbar neugierig dem immer wiederholten Klopfen, er gähnte wie ein aus dem Schlaf aufgeschreckter Mensch und reckte die langen Arme; dann sahen ihn die Weißen mit trägen, langsamen Sprüngen auf die Äste der Tamarinde klettern. Das kleine Geschöpf hatte die Höhe von kaum einem halben Meter, der Schwanz allein aber war länger als der ganze übrige Körper. Die untere Partie der Haare war von weichem Gelb, die obere rotbraun und nur an den Seiten wie am Bauche grau, Schwanz und Füße dagegen schwarz.

»Schieß nicht,« flüsterte Franz. »Ich habe von meinem Platz aus das Ziel sicher!«

Er legte an, und als der Knall erfolgte, stürzte das Tier mit lautem Aufschrei, sich mehrmals überschlagend, zu Boden. Es war so glücklich getroffen, daß der Tod im Augenblick eintrat. – Hinter seiner schützenden Tamarinde sprach Rua-Roa in der einheimischen Mundart ein Gebet, aus dessen hastiger Wortfolge der Name Tenn-Tenn wiederholt auftauchte; jedenfalls versicherte er sich in so unmittelbarer Nähe der gefürchteten Schießwaffe vor allen Dingen des Feuerriesen, ohne dessen Gnade es nach seiner Meinung allzu leicht um ihn geschehen sein konnte.

Holms Freude war grenzenlos. Weder im Zoologischen Garten noch im Museum fand sich dieses Tierchen; er würde also der erste sein, welcher es nach Hamburg brachte, vorläufig freilich nur die Haut, aber doch wohlerhalten, denn die kleine Kugel hatte das aufrecht sitzende Äffchen in den Unterleib getroffen, so daß sich die Wunde beim Ausstopfen verbergen ließ, ohne irgend eine Entstellung herbeizuführen.

»Jetzt laßt uns den Rückweg antreten,« rief er, nachdem dem Maki die Haut abgezogen war, »es kann nicht weit von neun Uhr entfernt sein, wir werden also pünktlich zur Mittagsmahlzeit eintreffen. Nachgerade sehnt man sich, wieder eine warme Suppe und einen Schluck Kaffee zu erhalten. Freund Rua-Roa, du hast deine Sache gut gemacht; jetzt finde auch den Rückweg zum Babakut!«

Der Eingeborne ergriff ohne weiteres die Haut des Eichhornmaki und trug sie sorgfältig wie einen wertvollen Schatz durch das Gebüsch. Ohne diesen, der Umgegend so vollkommen kundigen, mit den Ortsverhältnissen und dem Tierleben des Waldes genau vertrauten Führer hätten die kecken Abenteurer den Rückweg zum Meer kaum wieder aufgefunden, keinesfalls aber die beiden seltenen, so äußerst interessanten Affen erlegen und aufspüren können. Rua-Roa sah im Moos des Weges die Spuren, wo kein Weißer sie entdeckt haben würde; er erkannte unter den dichtstehenden Bäumen an einer einzigen Liane oder Orchideenblüte den einzuschlagenden Pfad; er hatte an Stellen, wo durch die grünen, lebenden Wände von Ranken und Geflecht einer nach dem anderen sich Bahn brechen mußte, doch noch irgend ein Zeichen bemerkt, das ihn später richtig führte. Genau an demselben Punkt, von dem die kleine Schar ausgegangen, betrat sie wieder die Lichtung, in deren Mitte der Eber gefallen war.

Holm griff zunächst in die natürliche, halb überwölbte und von großen Blättern verdeckte Höhle unter den Wurzeln eines Mangobaumes, um sich von dem Vorhandensein des Babakut zu überzeugen, zog aber auch im selben Augenblick die Hand mit einem leichten Schmerzensschrei wieder zurück. »Rua-Roa!« rief er, »was kann das bedeuten? Als hätten mich zehn Nadeln zugleich gestochen!«

»Lassen Sie sehen, Bester!« sagte erschreckend der Doktor. »Ich will nur hoffen, daß es kein Schlangenbiß ist.«

»Dann müßten zahlreiche Schlangen zugleich ihre Zähne gebraucht haben. Alle meine Finger bluten.«

Er hob die Hand empor, aus welcher rote Tropfen auf das Moos fielen. »Nein, nein, das sind Stichwunden, – Junge, komm her und sage, was du davon hältst.«

Aber Rua-Roa hütete sich, dem Babakut, der nach seiner Meinung ein verzauberter Mensch war, näher zu treten. – »Tanrak!« sagte er aus der Entfernung. »Tanrak, Herr, er ist keineswegs bösartig oder giftig.«

Franz hatte während dieser Unterhaltung zwischen den anderen mit seinem großen Messer die Ranken und Blätter entfernt; jetzt zerschnitt er etliche Baumwurzeln, zog den toten Affen hervor und warf Moos und Erde zurück, daß die Stücke flogen. Hans half nach besten Kräften und in wenigen Minuten war die Höhlung bloßgelegt. Im Hintergrunde derselben saßen ein paar kleine wunderliche Gesellen, die mit dem Kleide aus Borsten und mit dem langen spitzen Rüssel sogleich von allen Anwesenden als Glieder der Igelfamilie erkannt wurden. Nach Art dieser Tiere versuchten sie bei ihrer plötzlichen Entdeckung keine Flucht, sondern saßen still und unbeweglich auf einer Stelle, sonderbar anzusehen mit den ganz schwarzen, nur von drei weißen, über den Rücken herablaufenden Längsstreifen gezeichneten, starren Borsten, die ihre eigentliche (Maulwurfs-) Größe zu verdoppeln schienen. Im Sommerschlaf gestört, blinzelten sie verdrießlich und waren aus der bequemen geduckten Haltung nicht aufzurütteln.

Franz ergriff den Affen und trug ihn auf die andere Seite des Platzes. »Rua-Roa,« rief er, »wie fangen wir es an, die Tierchen lebend zum Schiffe zu bringen? Haben müssen wir sie.«

Der Malagasche nahm den aus weißem Gras geflochtenen Hut vom Kopf; dann die Hand in einen Zipfel seines langen Hemdes wickelnd, ergriff er vorsichtig das stachlichte Pärchen und setzte es in den Hut. Mit kräftigem Schwunge das Fleischstück am langen Stecken über seine Schulter werfend, unter dem linken Arm die Tanraks, schickte er sich an, wieder das Amt des Führers zu übernehmen. »Du machst dir vergebliche Mühe, Herr,« sagte er, »weder den Babakut, noch den Aye-Aye, noch den Tanrak kannst du essen.«

Alles lachte, so daß der Halbwilde ganz verdutzt dreinschaute. Die beiden Brüder trugen den Babakut, Holm nahm die Haut des Eichhornmaki und so wanderten alle zum Strande hinab, wo in grüner, lauschiger Bucht das Boot der »Hammonia« lag, um sie an Bord des Dampfers zu bringen. Ein fröhliches »Ahoi!« der Matrosen empfing die Wanderer, rüstige Arme hoben all die reichliche Ausbeute an Pflanzen und Tieren in das kleine Fahrzeug, die Kette wurde gelöst, und als der letzte von allen bestieg Rua-Roa die Planken, welche ihn von seinem Vaterlande für immer trennen sollten. Er schien die Insel, auf der er geboren, ohne Schmerz zu verlassen; dagegen erregte ihm der Dampfer eine heimliche Furcht, die sich noch steigerte, als vom Vorderteil her die Kanonen einen Willkommensgruß über die blauen Fluten dahin und den Ankömmlingen entgegensandten. Das rotweiße Wappen von Hamburg flog am Mast empor, der Kapitän schwenkte grüßend den Hut; wie ein Strom von Gold lag heller Sonnenglanz auf Schiff und Meer.

Es war diesmal den Reisenden so recht ein Nachhausekommen; es wehte sie an wie Heimatsgefühl und sonntäglicher Friede, als sie das Deck wieder betraten, – nur Papa Witt hatte das alte Schelmengesicht und den alten, unverwüstlichen Seemannshumor auch in dieser Stunde behalten. »Zwei tote Affen und zwei lebendige Stachelschweine!« sagte er. »Gott stehe mir bei, und dafür wären nahezu vier gute Christen von den Krokodilen verschlungen worden. Ein anderes Mal gehe ich mit, wenn die Herrschaften wieder an Land wollen; dann bleibt alles fein vernünftig auf ebener Straße.«

Dagegen protestierten nun freilich die jungen Leute auf das entschiedenste. Papa Witt sei am Lande völlig ungenießbar, versicherten sie, er möge lieber den Koch antreiben, daß jetzt ein recht guter Bissen auf den Tisch komme.

Holm suchte unter den Fässern im Schiffsraum ein passendes leeres aus, in den er den Babakut legte und ihn mit Spiritus übergoß. Da jedoch nicht aller Spiritus verwendet werden sollte und das Faß noch nicht voll war, so füllte er den Rest desselben mit Rum aus, den ihm der Steward geben mußte, worauf der Schiffszimmermann das Faß wieder dicht schloß und die Fugen desselben leicht verpichte. Die Makihaut wurde in derselben Weise mit Arsenikseife präpariert wie früher der Balg des Nashornvogels.

Papa Witt zürnte anfangs über den Mißbrauch des guten Rums, aber als Holm ihm erklärte, daß die anatomische Zergliederung der Affen der Wissenschaft von größtem Interesse sei, antwortete er scherzend: »Es wäre doch wohl besser gewesen, von dem Rum einen schönen Grog zu brauen, als ihn dem alten häßlichen Affen zu geben, der noch dazu tot ist und seine Güte nicht zu würdigen versteht.«

So war denn alles an Bord nur Heiterkeit und Freude. Nachdem aber mit Essen und einem stärkenden Mittagsschlaf die ersten Stunden vergangen, erinnerte Doktor Bolten die kleine Gesellschaft, daß es heute Sonntag sei. Unter dem Sonnensegel am Deck wurde ein Gottesdienst gehalten, den Rua-Roa voll schweigender Ehrfurcht, vielleicht zu seinen Heidengöttern betend, mit anhörte. Der alte Theologe dankte dem Himmel für die Rettung aus höchster Todesangst, stumm hing alles an den Lippen des verehrten Mannes, leiser spielte der Wind mit den weißen Wogenhäuptern, und laut schmetternd krähte der heilige Hahn, der Sendbote Zannaars des Weltgeistes.


 << zurück weiter >>