Johann Joachim Winckelmann
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
Johann Joachim Winckelmann

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Da ich nur eine kleine Anmerkung über die erhobene Arbeiten der Alten zu machen gedachte, merke ich, daß ich, wie jener alte Redner, beinahe jemand nötig hätte, der mich wiederum in den Ton brächte. Ich bin über meine Grenzen gegangen; und mich deucht, es sei eine gewisse Beobachtung unter Skribenten, in Absicht der Erinnerungen über eine Schrift: keine zu machen, als über ausdrücklich in der Schrift befindliche bedenkliche Punkte. Zugleich erinnere ich mich, daß ich einen Brief und kein Buch schreiben will: es fällt mir auch zuweilen ein, daß ich für mich selbst einen Unterricht ziehen könnte,

ut vineta egomet caedam mea
Hor.

aus dem Ungestüm gewisser Leute wider den Verfasser, die nicht zugeben wollen, daß man eins und das andere schreibe über Dinge, wozu sie gedungen worden.

Die Römer hatten ihren Gott Terminus, der die Aufsicht über die Grenzen und Marksteine überhaupt, und, wenn es diesen Herren gefällt, auch über die Grenzen in Künsten und Wissenschaften hatte. Gleichwohl urteileten Griechen und Römer über Werke der Kunst, die keine Künstler waren, und ihr Urteil scheinet auch unsern Künstlern gültig. Ich finde auch nicht, daß der Küster in dem Tempel des Friedens zu Rom, der das Register über den Schatz von Gemälden der berühmtesten griechischen Meister, die daselbst aufgehänget waren, haben mochte, sich ein Monopolium der Gedanken über dieselbe angemaßet, da Plinius die Gemälde mehrenteils beschrieben,

publica materies privati iuris sit –
Hor.

Es wäre zu wünschen, daß Künstler selbst nach dem Beispiel eines Pamphilos und eines Apelles die Feder ergreifen, und die Geheimnisse der Kunst denenjenigen, welche dieselben zu nutzen verstehen, entdecken möchten.

Ma di costor, che à lavorar s'accingono
Quattro quinti, per Dio, non sanno leggere
Salvatore Rosa. Sat. III.

Zween oder drei haben sich hier verdient gemacht; die übrigen Skribenten unter ihnen haben uns nur historische Nachrichten von ihren Mitbrüdern erteilet. Aber von der Arbeit, welche der berühmte Pietro da Cortona und der Pater Ottonelli mit vereinigten Kräften angegriffen haben, hätte man sich einen großen Unterricht auch für die späte Nachwelt der Künstler versprechen können. Ihre Schrift ist unterdessen, außer den historischen Nachrichten, die man in hundert Büchern besser finden kann, fast zu nichts weiter nützlich, als

ne scombris tunicae desint piperique cuculli.
Sectani Sat.

Wie gemein und niedrig sind die Betrachtungen über die Malerei von dem großen Nicolas Poussin, welche Bellori aus einer Handschrift als etwas Seltenes mitteilet, und dem Leben dieses Künstlers beigefüget hat?

Der Verfasser hat ohnzweifel nicht für Künstler schreiben wollen; sie würden auch viel zu großmütig sein, als daß sie über eine so kleine Schrift einen Aristarchos vorstellen wollten. Ich erinnere dem Verfasser nur einige Kleinigkeiten, die ich einigermaßen einzusehen imstande bin; und ich werde es noch mit einigen wenigen Bedenken wagen.

Auf der eilften Seite hat man sich unterstanden, ein Urteil des Bernini vor ungegründet zu erklären, und wider einen Mann aufzutreten, den man eine Schrift zu beehren nur hätte nennen dürfen. Bernini war der Mann, der in ebendem Alter, in welchem Michelangelo die berühmte Kopie eines Kopfs vom Pan, die man insgemein Studiolo nennet, gearbeitet hat, das ist, im achtzehenden Jahre seines Alters eine Daphne machte, wo er gezeiget, daß er die Schönheiten der Werke der Griechen kennenlernen, in einem Alter, wo vielleicht noch Dunkelheit und Finsternis beim Raffael war.

Bernini war einer von den glücklichen Köpfen, die zu gleicher Zeit Blüten des Frühlings, und Früchte des Herbsts zeigen, und ich glaube nicht, daß man erweisen könne, daß sein Studium der Natur, woran er sich in reifern Jahren gehalten, weder ihn selbst, noch seine Schüler durch ihn übel geführet. Die Weichlichkeit seines Fleisches war die Frucht dieses Studii, und hat den höchsten Grad des Lebens und der Schönheit, zu welchen der Marmor zu erheben ist. Die Nachahmung der Natur gibt den Figuren des Künstlers Leben, und belebt Formen, wie Sokrates sagt, und Kleiton der Bildhauer stimmet ihm bei. »Die Natur selbst ist nachzuahmen, kein Künstler«; gab Lysippos der große Bildhauer zur Antwort, da man ihn fragte, wem er unter seinen Vorgängern folgere? Man wird nicht leugnen können, daß die eifrige Nachahmung der Alten mehrenteils ein Weg zur Trockenheit werden kann, zu welcher die Nachahmung der Natur nicht leicht verleiten wird. Diese lehret Mannigfaltigkeit, wie sie selbst mannigfaltig ist, und die öftere Wiederholung wird Künstlern, welche die Natur studieret haben, nicht können vorgeworfen werden. Guido, Lebrun und einige andere, welche das Antike vornehmlich studieret, haben einerlei Gesichtszüge in vielen Werken wiederholet. Eine gewisse Idee von Schönheit war ihnen dermaßen eigen geworden, daß sie dieselbe ihren Figuren gaben, ohne es zu wollen.

Was aber die bloße Nachahmung der Natur mit Hintansetzung des Antiken betrifft, so bin ich völlig der Meinung des Verfassers: aber zu Beispielen von Naturalisten in der Malerei würde ich andere Meister gewählet haben. Dem großen Jordaens ist gewiß zu viel geschehen. Mein Urteil soll hier nicht allein gelten; ich berufe mich auf dasjenige, welches wie die übrigen Urteile von Malern wenige verwerfen werden. »Jacob Jordaens« sagt ein Kenner der Kunst, »hat mehr Ausdruck und Wahrheit als Rubens«.

»Die Wahrheit ist der Grund und die Ursach der Vollkommenheit und der Schönheit; eine Sache, von was vor Natur sie auch ist, kann nicht schön und vollkommen sein, wenn sie nicht wahrhaftig ist, alles was sie sein muß, und wenn sie nicht alles das hat, was sie haben muß«.

Die Richtigkeit des obigen Urteils vorausgesetzt, so wird nach dem Begriff von der Wahrheit in einer berühmten Originalschrift, Jordaens mit mehrern Recht unter die größten Originale, als unter die Affen der gemeinen Natur zu setzen sein: Ich würde hier an die Stelle dieses großen Künstlers einen Rembrandt, und für den Stella einen Raoux oder einen Watteau gesetzt haben; und alle diese Maler tun nichts anders, als was Euripides zu seiner Zeit getan hat; sie stellen die Menschen vor, wie sie sind. In der Kunst ist nichts klein und geringe; und vielleicht ist auch aus den sogenannten holländischen Formen und Figuren ein Vorteil zu ziehen, so wie Bernini die Karikaturen genutzet hat. Dergleichen übertriebenen Figuren hat er, wie man versichert, eins der größten Stücke der Kunst zu danken gehabt, nämlich die Freiheit seiner Hand; und seitdem ich dieses gelesen, habe ich angefangen etwas anders zu denken über die Karikaturen, und ich glaube, man habe einen großen Schritt in der Kunst gemacht, wenn man eine Fertigkeit in denselben erlanget hat. Der Verfasser gibt es als einen Vorzug bei den Künstlern des Altertums an, daß sie über die Grenzen der gemeinen Natur gegangen sind: tun unsere Meister in Karikaturen nicht ebendieses? und niemand bewundert sie. Es sind vor einiger Zeit große Bände von solcher Arbeit unter uns ans Licht getreten, und wenig Künstler achten dieselben ihres Anblicks würdig.

Über die vierzehende Seite werde ich dem Verfasser ein Urteil unserer Akademien vorlegen. Er behauptet mit dem Tone eines Gesetzgebers, »die Richtigkeit des Konturs müsse allein von den Griechen erlernet werden«. In unseren Akademien wird insgemein gelehret, daß die Alten von der Wahrheit des Umrisses einiger Teile des Körpers wirklich abgegangen sind, und daß an den Schlüsselbeinen, am Ellenbogen, am Schienbeine, an den Knien, und wo sonst große Knorpel liegen, die Haut nur über die Knochen gezogen scheinet, ohne wahrhaftig deutliche Anzeigung der Tiefen und Höhlungen, welche die Apophyses und Knorpel an den Gelenken machen. Man weiset junge Leute an, solche Teile, wo unter der Haut nicht viel Fleischigtes lieget, eckigter zu zeichnen; und ebenso im Gegenteil, wo sich das meiste Fett ansetzet. Man hält es ordentlich vor einen Fehler, wenn der Umriß gar zu sehr nach dem alten Geschmacke ist. Ganze Akademien in corpore, die also lehren, werden doch, hoffe ich, nicht irren können.

Parrhasios selbst, »der Größte im Kontur«, hat »die Linie, welche das Völlige von dem überflüssigen scheidet,« nicht zu treffen gewußt: Er ist, wie man berichtet, da er die Schwulst vermeiden wollen, in das Magere verfallen. Und Zeuxis hat vielleicht seinen Kontur wie Rubens gehalten, wenn es wahr ist, daß er völligere Teile gezeichnet, um seine Figuren ansehnlicher und vollkommner zu machen. Seine weiblichen Figuren hat er nach Homers Begriffen gebildet, dessen Weiber von starker Statur sind. Der zärtliche Theokrit selbst malet seine Helena fleischigt und groß, und Raffaels Venus in der Versammlung der Götter des kleinen Farnesischen Palastes in Rom, ist nach gleichförmigen Ideen einer weiblichen Schönheit entworfen. Rubens hat also wie Homer und wie Theokrit gemalet: was kann man mehr zu seiner Verteidigung sagen?

Der Charakter des Raffaels in der Schrift ist richtig und wahr entworfen: aber würde nicht ebendas, was Antalkidas der Spartaner einem Sophisten sagte, der eine Lobrede auf den Herkules ablesen wollte, auch hier gelten? »Wer tadelt ihn«, sagte er. Was die Schönheiten betrifft, die man in dem Raffael der Königlichen Galerie zu Dresden, und insbesondere an dem Kinde auf den Armen der Madonna finden wollen, so urteilet man sehr verschieden darüber.

Ο συ θαυμαζεις, τουθ' ετεροισι γελως.
Lukian. Epigr. I.

Der Verfasser hätte ebenso rühmlich die Person eines Patrioten annehmen können wider einige jenseit der Alpen, denen alles, was niederländisch ist, Ekel macht:

Turpis Romano Belgicus ore color.
Propert. L. II. Eleg. 8.

Ist nicht die Zauberei der Farben etwas so Wesentliches, daß kein Gemälde ohne dieselbe allgemein gefällt, und daß durch dieselbe viel Fehler teils übergangen, teils gar nicht angemerket werden? Diese machet nebst der großen Wissenschaft in Licht und Schatten den Wert der niederländischen Stücke. Sie ist dasjenige in der Malerei, was der Wohlklang und die Harmonie der Verse in einem Gedichte sind. Durch diese Zauberei der dichterischen Farben verschwinden dessen Vergehungen, und derjenige, welcher ihn mit dem Feuer, worin er gedichtet, lesen kann, wird durch die göttliche Harmonie in solche Entzückung mit fortgerissen, daß er nicht Zeit hat an das, was anstößig ist, zu gedenken.

Bei Betrachtung eines Gemäldes ist etwas, was vorangehen muß; dieses ist die Belustigung der Augen, sagt jemand; und diese bestehet in den ersten Reizungen, anstatt daß dasjenige, was den Verstand rühret, allererst aus der Überlegung folget. Die Kolorit ist überdem allein Gemälden eigen; Zeichnung suchet man in jedem Entwurfe, in Kupferstichen und dergleichen; und diese scheinet in der Tat eher als jene von Künstlern erlanget zu sein. Ein großer Skribent in der Kunst will auch bemerkt haben, daß die Koloristen viel später als die dichterischen Maler in Ruf gekommen sind. Kenner wissen, wie weit es dem berühmten Poussin in der Kolorit gelungen ist; und alle diejenigen,

qui rern Romanam Latiumque augescere student.
Ennius.

werden hier die niederländischen Maler vor ihre Meister erkennen müssen. Ein Maler ist ja eigentlich nichts anders, als ein Affe der Natur, und je glücklicher er diese nachäffet, desto vollkommener ist er.

Ast heic, quem nunc tu tam turpiter increpuisti.
Ennius

Der zärtliche van der Werff, dessen Arbeiten mit Golde aufgewogen werden, und nur allein die Kabinette der Großen in der Welt zieren, hat sie für jeden welschen Pinsel unnachahmlich gemacht. Es sind Stücke, welche die Augen der Unwissenden, der Liebhaber und der Kenner auf sich ziehen. »Ein jeder Poet, welcher gefällt«, sagt der kritische englische Dichter, »hat niemals übel geschrieben«, und wenn der niederländische Maler dieses erhält, so ist sein Beifall allgemeiner, als derjenige, den die richtigste Zeichnung von Poussin hoffen kann.

Man zeige mir viel Gemälde von Erfindung, Komposition und Kolorit, wie einige von Gerard de Lairesses Hand sind. Alle unparteiische Künstler in Paris, die das allervorzüglichste, und ohne Zweifel das erste Stück in dem Kabinett der Schildereien des Herrn de la Boixières kennen, ich meine, die Stratonike, werden mir Beifall geben müssen.

Die Geschichte des Vorwurfs, welchen der Künstler hier ausgeführet, ist nicht die gemeinste. König Seleukos I. trat seine Gemahlin Stratonike, eine Tochter des berühmten Demetrios Poliorketes, seinem Sohne Antiochos ab, der aus heftiger Neigung gegen die Königin, als seine Stiefmutter, in eine gefährliche Krankheit gefallen war. Der Arzt Erasistratos fand nach langen Forschen die wahre Ursach derselben, und zur Genesung des Prinzen das einzige Mittel in der Gefälligkeit des Vaters gegen die Liebe seines Sohns. Der König begab sich seiner Gemahlin, und ernennete zu gleicher Zeit den Antiochos zum König der Morgenländer.

Lairesse hat ebendiese Geschichte zweimal gemalet: die Stratonike des Herrn Boixières ist das kleinere, die Figuren halten etwa anderthalb Fuß, und im Hinterwerke ist dieses verschieden von jenem.

Die Hauptperson des Gemäldes Stratonike ist die edelste Figur; eine Figur, die der Schule des Raffaels selbst Ehre machen könnte. Die schönste Königin,

colle sub Idaeo vincere digna deas
Ovid. Art.

Sie nahet sich mit langsamen und zweifelhaften Schritten zu dem Bette ihres bestimmten neuen Gemahls; aber annoch mit Gebärden einer Mutter, oder vielmehr einer heiligen Vestale. In ihrem Gesichte, welches sich in dem schönsten Profil zeigt, lieset man Scham und zugleich eine gefällige Unterwerfung unter dem Befehl des Königs. Sie hat das Sanfte ihres Geschlechts, die Majestät einer Königin, die Ehrfurcht bei einer heiligen Handlung, und alle Weisheit in ihrem Betragen, die in einem so feinen und außerordentlichen Umstande, wie der gegenwärtige ist, erfordert wurde. Ihr Gewand ist meisterhaft geworfen, und es kann die Künstler lehren, wie sie den Purpur der Alten malen sollen. Es ist nicht allgemein bekannt, daß der Purpur die Farbe von Weinblättern gehabt, wenn sie anfangen welk zu werden, und zu gleicher Zeit ins Rötliche fallen.

König Seleukos stehet hinter ihr in einer dunklen Kleidung, um die Hauptfigur noch mehr zu heben, und teils um die Stratonike nicht in Verwirrung zu setzen, teils um den Prinzen nicht beschämt zu machen, oder dessen Freude zu stören. Erwartung und Zufriedenheit schildern sich zu gleicher Zeit in seinem Gesichte, welches der Künstler nach dem Profil der besten Köpfe auf dessen Münzen genommen hat.

Der Prinz, ein schöner Jüngling, der auf seinem Bette halb nackend aufgerichtet sitzt, hat die Ähnlichkeit vom Vater und von seinen Münzen. Sein blasses Gesicht zeuget von dem Fieber, welches in seinen Adern gewütet, allein man glaubt schon den Anfang der Genesung zu spüren aus der wenigen aufsteigenden Röte, die nicht durch die Scham gewürkt worden.

Der Arzt und Priester Erasistratos, ehrwürdig wie des Homers Kalchas, welcher vor dem Bette stehet, ist die aus Vollmacht des Königs redende Person, und erkläret dem Prinzen den Willen des Königs; und indem er ihm mit der einen Hand die Königin zuführet, so überreicht er ihm mit der andern Hand das Diadem. Freude und Verwunderung wollen aus dem Gesichte des Prinzen bei Annäherung der Königin hervorbrechen,

und jedem Blick von ihr wallt dessen Herz entgegen
Haller

die aber durch die Ehrfurcht in der edelsten Stille erhalten werden, so daß er gleichsam sein Glück mit gebeugten Haupte zu überdenken scheinet.

Alle Charakter, die der Künstler seinen handelnden Personen gegeben, sind mit solcher Weisheit ausgeteilet, daß ein jeder derselben dem andern Erhobenheit und Nachdruck zu geben scheinet.


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