Johann Joachim Winckelmann
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
Johann Joachim Winckelmann

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Sendschreiben über die Gedanken
von der Nachahmung der griechischen Werke
in der Malerei und Bildhauerkunst.

Mein Freund!

Sie haben von den Künsten und von den Künstlern der Griechen geschrieben, und ich hätte gewünscht, daß Sie mit Ihrer Schrift, wie die griechischen Künstler mit ihren Werken, verfahren wären. Sie stelleten sie den Augen aller Welt und sonderlich der Kenner bloß, ehe sie dieselben aus den Händen ließen, und ganz Griechenland urteilete über ihre Werke in den großen Spielen, sonderlich in den Olympischen. Sie wissen, daß Aëtion sein Gemälde von Alexanders Vermählung mit der Roxane dahin brachte. Sie hätten mehr als einen Proxenides, der dort den Künstler richtete, nötig gehabt. Wenn Sie nicht gar zu heimlich mit Ihrer Schrift gewesen wären, so hätte ich dieselbe, ohne den Namen des Verfassers zu melden, einigen Kennern und Gelehrten, mit denen ich hier in Bekanntschaft gekommen bin, vor dem Druck mitteilen wollen.

Einer von ihnen hat zweimal Italien und die Gemälde der größten Meister an dem Orte selbst, wo sie gemacht sind, ganze Monate ein jedes angesehen. Sie wissen, daß man allein auf diese Art ein Kenner wird. Ein Mann der Ihnen sogar zu sagen weiß, welche von Guido Reni Altarblättern auf Taffend oder auf Leinwand gemalet sind; was vor Holz Raffael zu seiner Transfiguration genommen, usw. dessen Urteil, glaube ich, würde entscheidend gewesen sein!

Ein anderer unter meinen Bekannten hat das Altertum studieret: er kennet es am Geruche;

callet et artificem solo deprendere odore.
Sectani Sat.

er weiß wieviel Knoten an der Keule des Herkules gewesen sind; wieviel des Nestors Becher nach dem heutigen Maß enthalten: ja man sagt, er werde endlich imstande sein, alle die Fragen zu beantworten, welche Kaiser Tiberius den Sprachlehrern vorgeleget hat.

Noch ein anderer hat seit vielen Jahren nichts als alte Münzen angesehen. Er hat viel neue Entdeckungen gemacht, sonderlich zu einer Geschichte der alten Münzmeister; und man sagt, er werde die Welt aufmerksam machen durch einen Vorläufer von den Münzmeistern der Stadt Kyzikos.

Wie sicher würden Sie gefahren sein, wenn Ihre Arbeit vor den Richterstuhl solcher Gelehrten wäre gebracht worden! Diese Herren haben mir ihre Bedenken über dieselbe eröffnet: es ist mir leid um Ihre Ehre, wenn dergleichen öffentlich erscheinen sollten.

Unter andern Einwürfen wundert sich der erste, daß Sie die beiden Engel auf dem Raffael der Königlichen Galerie zu Dresden nicht beschrieben haben. Man hat ihm gesagt, daß ein Maler von Bologna, da er dieses Stück zu St. Sixtus in Piacenza gesehen, voller Verwunderung in einem Briefe ausruft; »Oh! was vor ein Engel aus dem Paradiese«! Dieses deutet er auf diese Engel, und er behauptet, daß es die schönsten Figuren in Raffaels Werke sein.

Er könnte Ihnen auch vorwerfen, der Raffael sei in der Art beschrieben, wie Raguenet einen hl. Sebastian von Beccafumi, einen Herkules mit dem Antaios von Lanfranco usw. schildert.

Der zweite glaubet, der Bart des Laokoons hätte ebensoviel Aufmerksamkeit in Ihrer Schrift als der eingezogene Leib desselben verdienet. Ein Kenner der Werke der Griechen, sagt er, muß den Bart des Laokoons mit ebenden Augen ansehen, mit welchen der Pater Labat den Bart des Moses von Michelangelo angesehen hat.

Dieser erfahrne Dominikaner,

qui mores hominum multorum vidit er urbes,

hat nach so vielen Jahrhunderten aus dem Barte der Statue bewiesen, wie Moses seinen Bart getragen, und wie die Juden denselben tragen müssen, wenn sie wollen Juden heißen.

Sie haben nach dieses Mannes Meinung ohne alle gelehrte Kenntnis von dem Peplon der Vestalen geschrieben: an der Beugung des Schleiers über der Stirn der größten Vestale hätte er Ihnen vielleicht ebensoviel entdecken können, als Cuper von der Spitze des Schleiers an der Figur der Tragödie auf der berühmten Vergötterung des Homers gesagt hat.

Es fehlet auch der Beweis, daß die Vestalen wirklich von der Hand eines griechischen Meisters sind. Unser Verstand bringt uns sehr oft nicht auf Sachen die uns natürlich einfallen sollten. Wenn man Ihnen beweisen wird, daß der Marmor zu diesen Figuren nicht Lychnites gewesen, so kann es nicht fehlen, die Vestalen verlieren nebst Ihrer Schrift einen großen Wert. Sie hätten nur sagen dürfen, der Marmor habe große Körner: Beweis genug über eine griechische Arbeit; wer wird Ihnen so leicht dartun können, wie groß die Körner sein müssen, um einen griechischen Marmor von dem Marmor von Luna, den die alten Römer nahmen, zu unterscheiden. Ja, was noch mehr ist, man will sie nicht einmal vor Vestalen halten.

Der Münzverständige hat mir von Köpfen der Livia und der Agrippina gesagt, welche das von Ihnen angegebene Profil nicht haben. An diesem Orte, meinet er, hätten Sie die schönste Gelegenheit gehabt, von dem, was die Alten eine viereckigte Nase nennen, zu reden, welches zu Ihren Begriffen von der Schönheit gehöret hätte. Unterdessen wird Ihnen bekannt sein, daß die Nase an einigen der berühmtesten griechischen Statuen, als an der Mediceischen Venus, und an den Picchinischen Meleager viel zu dicke scheinet, als daß sie unsern Künstlern ein Muster der schönen Natur sein könnte.

Ich will Sie nicht kränken mit viel Zweifeln und Einwürfen, die wider Ihre Schrift vorgebracht sind, und welche zum Ekel wiederholet wurden, da ein akademischer Gelehrter, der den Charakter des Homerischen Margites zu erlangen strebet, dazukam. Man zeigte ihm die Schrift; er sahe sie an und legte sie weg. Der erste Blick war ihm also schon anstößig gewesen, und man sahe es ihm an, daß er um sein Urteil befragt sein wollte, welches wir alle taten. Es scheinet eine Arbeit, fing er an, über welche sich des Verfassers Fleiß nicht in Unkosten hat setzen wollen: ich finde nicht über vier bis fünf Allegata, und diese sind zum Teil nachlässig angegeben, ohne Blatt und Kapitel zu bemerken. Es kann nicht fehlen, er hat seine Nachrichten aus Büchern genommen, die er sich anzuführen schämet.

Endlich muß ich Ihnen sagen, daß jemand etwas in der Schrift will gefunden haben, was mir noch itzo in derselben verdeckt geblieben ist; nämlich, daß die Griechen als die Erfinder der Malerei und Bildhauerkunst angegeben worden; welches ganz falsch ist, wie sich derselbe zu erklären beliebet. Er hat gehöret, daß es die Ägypter gewesen, oder noch ein älter Volk, welches er nicht kenne.

Man kann auch aus den unerheblichsten Einfällen Nutzen ziehen: unterdessen ist klar, daß Sie nur allein von dem guten Geschmacke in diesen Künsten haben reden wollen, und die erste Erfindung einer Kunst verhält sich mehrenteils zu dem Geschmacke in derselben, wie das Samenkorn zu der Frucht. Man kann die Kunst in der Wiege unter den Ägyptern in späteren Zeiten, und die Kunst in ihrer Schönheit unter den Griechen auf ein und ebendemselben Stücke vergleichen. Man betrachte den Ptolemaios Philopator von der Hand des Aulos, auf einem geschnittenen Steine, und neben besagten Kopfe ein paar Figuren eines ägyptischen Meisters, um das geringe Verdienst seiner Nation um diese Künste einzusehen.

Die Form und den Geschmack ihrer Gemälde haben Middleton und andere beurteilet. Die Gemälde von Personen in Lebensgröße auf zwo Mumien in dem Königlichen Schatze der Altertümer zu Dresden geben von der elenden Malerei der Ägypter deutliche Beweise. Diese beiden Körper sind unterdessen unter mehr als einem Umstande merkwürdig, und ich werde meinem Schreiben eine kleine Nachricht von denselben beifügen.

Ich kann nicht leugnen, mein Freund, ich muß diesen Erinnerungen zum Teil Recht widerfahren lassen. Der Mangel angeführter Schriften gereichet Ihnen zu einigem Vorurteil: die Kunst aus blauen Augen schwarze zu machen hätte wenigstens ein Allegatum verdienet. Sie machen es fast wie Demokritos; Was ist der Mensch? fragte man ihn: etwas das wir alle wissen, antwortete er. Welcher vernünftige Mensch kann alle griechische Scholiasten lesen!

Ibit eo, quo vis, qui zonam perdidit –
Horat.

Diese Erinnerungen haben mich unterdessen veranlasset, die Schrift mit einem andern Auge, als vorher geschehen war, durchzugehen. Man ist insgemein gar zu geneigt, der Waage durch das Gewicht der Freundschaft oder des Gegenteils den Ausschlag geben zu lassen. Ich würde mich im ersteren Fall befinden: Allein um dieses Vorurteil zu heben, werde ich meine Einwürfe so weit zu treiben suchen, als es mir möglich ist.

Die erste und andere Seite will ich Ihnen schenken; ob ich schon über die Vergleichung der Diana des Vergils mit der Nausikaa des Homers, und über die Anwendung derselben, ein paar Worte sagen könnte. Ich glaube auch, die Nachricht auf der zweiten Seite von den gemißhandelten Stücken des Correggio, welche vermutlich aus des Herrn Graf Tessins Briefen genommen ist, hätte können erläutert werden mit einer Nachricht von dem Gebrauche, den man zu ebender Zeit von den Stücken der besten Meister in Stockholm gemacht hat.

Man weiß, daß in der Eroberung der Stadt Prag anno 1648 den 15. Julii durch den Graf Königsmark, das Beste aus der kostbaren Sammlung von Gemälden Kaiser Rudolfs II. weggenommen und nach Schweden geführet ist. Unter denselben waren etliche Stücke des Correggio, die derselbe für den Herzog Friedrich von Mantua gearbeitet hatte, und die dieser dem Kaiser schenkte. Die berühmte Leda, und ein Cupido der an seinen Bogen arbeitet, waren die vornehmsten von besagten Stücken. Die Königin Christina, die zu derselben Zeit mehr Schulwissenschaft als Geschmack hatte, verfuhr mit diesen Schätzen, wie Kaiser Claudius mit einem Alexander von der Hand des Apelles, der den Kopf der Figur ausschneiden, und an desselben Stelle des Augustus Kopf setzen ließ. Aus den schönsten Gemälden schnitte man in Schweden die Köpfe, Hände und Füße heraus, die man auf eine Tapete klebete; das übrige wurde dazugemalet. Dasjenige, was das Glück gehabt hat, der Zerstümmelung zu entgehen, sonderlich die Stücke vom Correggio, nebst den Gemälden, welche die Königin in Rom angekauft hat, kamen in den Besitz des Herzogs von Orleans, der 250 Stücke vor 90 000 Scudi erstanden: unter denselben waren eilf Gemälde von der Hand des Correggio.

Ich bin auch nicht allerdings zufrieden, daß Sie den nordischen Ländern allein vorwerfen, daß der gute Geschmack bei ihnen spät bekanntgeworden, und dieses aus ihrer geringen Achtung schöner Gemälde. Wenn dieses von dem Geschmacke zeuget, so weiß ich nicht, wie man von unsern Nachbarn urteilen könnte. Da Bonn die Residenz der Kurfürsten von Köln, in der sogenannten Fürstenbergischen Sache, nach dem Tode Maximilian Heinrichs, von den Franzosen erobert wurde, ließ man die großen Gemälde von ihren Rahmen ohne Unterschied herausschneiden, und über die Bügel der Wagen spannen, auf welchen die Geräte und die Kostbarkeiten des kurfürstlichen Schlosses nach Frankreich abgeführet wurden. Glauben Sie nicht, daß ich mit bloß historischen Erinnerungen, wie ich angefangen habe, fortfahren werde. Ehe ich Ihnen aber meine Zweifel bringe, kann ich nicht umhin, Ihnen zwei allgemeine Punkte vorzuhalten.

Sie haben zum ersten in einem Stile geschrieben, wo oft die Deutlichkeit unter der Kürze zu leiden scheinet. Haben Sie besorget, Sie möchten künftig zu der Strafe desjenigen Spartaners, der mehr als drei Worte gesaget, verdammt werden; nämlich Guicciardinis Krieg von Pisa zu lesen? Wo ein allgemeiner Unterricht der Endzweck ist, das muß für jedermann faßlich sein. Die Speisen sollen mehr nach dem Geschmack der Gäste, als nach dem Geschmack der Köche zugerichtet werden,

coenae fercula nostrae
Malim convivis, quam placuisse coquis.

Hernach geben Sie sich fast in einer jeden Zeile mit einer allzu großen Passion für das Altertum bloß. Ich hoffe, Sie werden der Wahrheit etwas einräumen, wenn ich in der Folge meiner Anmerkungen, wo mir etwas in diesem Punkte anstößig scheinet, erinnere.

Der erste besondere Einwurf, den ich Ihnen mache, ist auf der dritten Seite. Erinnern Sie sich allezeit, daß ich glimpflich mit Ihnen verfahre; ich habe die zwo ersten Seiten unangefochten gelassen;

non temere a me
Quivis ferret idem. Hor.

Itzo werde ich anfangen in der gewöhnlichen Form der Beurteilungen einer Schrift mit Ihnen zu verfahren.

Der Verfasser redet von gewissen Nachlässigkeiten in den Werken der griechischen Künstler, die man ansehen soll, wie Lukian den Jupiter des Phidias zu Pisa will angesehen haben, »den Jupiter selbst, nicht den Schemel seiner Füße«; und man konnte demselben über dem Schemel vielleicht nichts, über die Statue selbst aber ein großes Vergehen vorwerfen.

Ist es nichts, daß Phidias seinen sitzenden Zeus so groß gemacht hat, daß er beinahe an die Decke des Tempels gereichet, und daß man befürchten müssen, der Gott werde das ganze Dach abwerfen, wenn es ihm einmal einfallen sollte aufzustehen? Man hätte weislicher gehandelt, diesen Tempel ohne Dach, wie den Tempel des Olympischen Jupiters zu Athen zu lassen.

Es ist keine Unbilligkeit, wenn man von dem Verfasser eine Erklärung fordert, was er unter seinen Begriff der Nachlässigkeiten verstehet. Es scheinet, als wenn die Fehler der Alten unter diesem Namen zugleich mit durchschleichen sollten, welche man sehr geneigt wäre, wie der griechische Dichter Alkaios ein Mal auf dem Finger seines geliebten Knabens, uns vor Schönheiten auszugeben. Man siehet vielmals die Unvollkommenheiten der Alten, wie ein väterlich Auge die Mängel seiner Kinder, an.

Strabonem
Appellat Paetum pater, er Pulluin, male parvus
Si cui filius est. Horat.

Wären es Nachlässigkeiten von der Art, welche die Alten »Parerga« nenneten, und dergleichen man wünschte, daß Protogenes in seinem Ialysos begangen hätte, wo der große Fleiß des Malers an ein Rebhuhn den ersten Blick auf sich zog, zum Nachteil der Hauptfigur, so wären sie wie gewisse Nachlässigkeiten an dem Frauenzimmer, welche zieren. Weit sicherer wäre es gewesen, den Diomedes des Dioskurides gar nicht anzuführen; der Verfasser aber, der diesen Stein gar zu wohl zu kennen scheinet, wollte sich gleich anfänglich wider alle Einwendungen über die Fehler der alten Künstler verwahren, und da er glauben können, wenn man ihm in einer der berühmtesten und schönsten Arbeiten der Griechen, wie der Diomedes ist, Fehler zeigen würde, daß dieses zugleich wenigstens ein Vorurteil wider geringere Werke der Künstler dieser Nation geben können, so suchte er eine ganz leichte Abfertigung, und meinete alle Fehler unter dem glimpflichen Ausdruck der Nachlässigkeiten zu bedecken.

Wie! wenn ich zeige, daß Dioskurides weder Perspektiv noch die gemeinsten Regeln der Bewegung des menschlichen Körpers verstanden, ja sogar wider die Möglichkeit gehandelt habe? Ich werde es wagen; aber

incedo per ignes
Suppositos cineri doloso Hor.

und ich würde vielleicht nicht zuerst Fehler in diesem Steine entdecken, aber mir ist gänzlich unbekannt, daß jemand dieselben schriftlich mitgeteilet habe.


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