Johann Joachim Winckelmann
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
Johann Joachim Winckelmann

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Ein Künstler unserer Zeiten, dem Natur und Fleiß Gaben verliehen, höher zu steigen, und welcher Wahrheit und Richtigkeit in dieser Manier findet, sieht sich genötiget, mehr nach Brot, als nach Ehre, zu arbeiten. Er bleibet also in dem ihm üblichen Gleise, worin er eine größere Fertigkeit zu zeigen glaubet, und fähret fort, sein durch langwierige Übung erlangtes Augenmaß zu seiner Regel zu nehmen.

Dieses Augenmaß, welches ihn vornehmlich führen muß, ist endlich durch praktische Wege, die zum Teil sehr zweifelhaft sind, ziemlich entscheidend worden: wie fein und zuverlässig würde er es gemacht haben, wenn er es von Jugend auf nach untrüglichen Regeln gebildet hätte?

Würden angehende Künstler bei der ersten Anführung, in Ton oder in andere Materie zu arbeiten, nach dieser sichern Manier des Michelangelo angewiesen, die dieser nach langem Forschen gefunden, so könnten sie hoffen, so nahe, wie er, den Griechen zu kommen.

Alles was zum Preis der griechischen Werke in der Bildhauerkunst kann gesaget werden, sollte nach aller Wahrscheinlichkeit auch von der Malerei der Griechen gelten. Die Zeit aber und die Wut der Menschen hat uns die Mittel geraubet, einen unumstößlichen Ausspruch darüber zu tun.

Man gestehet den griechischen Malern Zeichnung und Ausdruck zu; und das ist alles: Perspektiv, Komposition und Kolorit spricht man ihnen ab. Dieses Urteil gründet sich teils auf halb erhobene Arbeiten, teils auf die entdeckten Malereien der Alten (der Griechen kann man nicht sagen) in und bei Rom, in unterirdischen Gewölbern der Paläste des Maecenas, des Titus, Trajans und der Antoniner, von welchen nicht viel über dreißig bis itzo ganz erhalten worden, und einige sind nur in mosaischer Arbeit.

Turnbull hat seinem Werke von der alten Malerei eine Sammlung der bekanntesten Stücke, von Camillo Paderni gezeichnet, und von Mynde gestochen, beigefüget, welche dem prächtigen und gemißbrauchten Papier seines Buchs den einzigen Wert geben. Unter denselben sind zwei, wovon die Originale selbst in dem Kabinett des berühmten Arztes Richard Meads in London sind.

Daß Poussin nach der sogenannten Aldobrandinischen Hochzeit studieret; daß sich noch Zeichnungen finden, die Annibale Carracci nach dem vorgegebenen Marcus Coriolanus gemacht; und daß man eine große Gleichheit unter den Köpfen in Guido Reni Werken, und unter den Köpfen auf der bekannten mosaischen Entführung der Europa, hat finden wollen, ist bereits von andern bemerket.

Wenn dergleichen Freskogemälde ein gegründetes Urteil von der Malerei der Alten geben können; so würde man den Künstlern unter ihnen aus Überbleibseln von dieser Art auch die Zeichnung und den Ausdruck streitig machen wollen.

Die von den Wänden des herkulanischen Theaters mitsamt der Mauer versetzte Malereien mit Figuren in Lebensgröße, geben uns, wie man versichert, einen schlechten Begriff davon. Der Theseus, als ein Überwinder des Minotauren, wie ihm die jungen Athenienser die Hände küssen und seine Knie umfassen: die Flora nebst den Herkules und einen Faun: der vorgegebene Gerichtsspruch des Dezemvirs Appius Claudius, sind nach dem Augenzeugnis eines Künstlers zum Teil mittelmäßig, und zum Teil fehlerhaft gezeichnet. In den mehresten Köpfen ist, wie man versichert, nicht allein kein Ausdruck, sondern in dem Appius Claudius sind auch keine guten Charaktere.

Aber ebendieses beweiset, daß es Malereien von der Hand sehr mittelmäßiger Meister sind; da die Wissenschaft der schönen Verhältnisse, der Umrisse der Körper, und des Ausdrucks bei griechischen Bildhauern, auch ihren guten Malern eigen gewesen sein muß.

Diese den alten Malern zugestandene Teile der Kunst lassen den neuern Malern noch sehr viel Verdienste um dieselbe.

In der Perspektiv gehöret ihnen der Vorzug unstreitig, und er bleibt, bei aller gelehrten Verteidigung der Alten, in Ansehung dieser Wissenschaft, auf seiten der Neueren. Die Gesetze der Komposition und Ordonnance waren den Alten nur zum Teil und unvollkommen bekannt; wie die erhobenen Arbeiten von Zeiten, wo die griechischen Künste in Rom geblühet, dartun können.

In der Kolorit scheinen die Nachrichten in den Schriften der Alten und die Überbleibsel der alten Malerei auch zum Vorteil der neuern Künstler zu entscheiden.

Verschiedene Arten von Vorstellungen der Malerei sind gleichfalls zu einen höheren Grad der Vollkommenheit in neuern Zeiten gelanget. In Viehstücken und Landschaften haben unsere Maler allem Ansehen nach die alten Maler übertroffen. Die schönern Arten von Tieren unter andern Himmelstrichen scheinen ihnen nicht bekannt gewesen zu sein; wenn man aus einzelnen Fällen, von dem Pferde des Marcus Aurelius, von den beiden Pferden in Monte Cavallo, ja von den vorgegebenen Lysippischen Pferden über dem Portal der St. Markuskirche in Venedig, von dem Farnesischen Ochsen und den übrigen Tieren dieses Gruppo, schließen darf.

Es ist hier im Vorbeigehen anzuführen, daß die Alten bei ihren Pferden die diametralische Bewegung der Beine nicht beobachtet haben, wie an den Pferden in Venedig und auf alten Münzen zu sehen ist. Einige Neuere sind ihnen hierin aus Unwissenheit gefolget, und sogar verteidiget worden.

Unsere Landschaften, sonderlich der niederländischen Maler, haben ihre Schönheit vornehmlich dem Ölmalen zu danken: ihre Farben haben dadurch mehrere Kraft, Freudigkeit und Erhobenheit erlanget, und die Natur selbst unter einem dickern und feuchtern Himmel hat zur Erweiterung der Kunst in dieser Art nicht wenig beigetragen.

Es verdienten die angezeigten und einige andere Vorzüge der neuern Maler vor den alten, in ein größeres Licht, durch gründlichere Beweise, als noch bisher geschehen ist, gesetzet zu werden.

Zur Erweiterung der Kunst ist noch ein großer Schritt übrig zu tun. Der Künstler, welcher von der gemeinen Bahn abzuweichen anfängt, oder wirklich abgewichen ist, suchet diesen Schritt zu wagen; aber sein Fuß bleibet an dem jähesten Orte der Kunst stehen, und hier siehet er sich hülflos.

Die Geschichte der Heiligen, die Fabeln und Verwandlungen sind der ewige und fast einzige Vorwurf der neuern Maler seit einigen Jahrhunderten. Man hat sie auf tausenderlei Art gewandt und ausgekünstelt, daß endlich Überdruß und Ekel den Weisen in der Kunst und den Kenner überfallen muß.

Ein Künstler, der eine Seele hat, die denken gelernet, läßt dieselbe müßig und ohne Beschäftigung bei einer Daphne und bei einem Apollo; bei einer Entführung der Proserpina, einer Europa und bei dergleichen. Er suchet sich als einen Dichter zu zeigen, und Figuren durch Bilder, das ist, allegorisch zu malen.

Die Malerei erstreckt sich auch auf Dinge, die nicht sinnlich sind; diese sind ihr höchstes Ziel, und die Griechen haben sich bemühet, dasselbe zu erreichen, wie die Schriften der Alten bezeugen. Parrhasios, ein Maler, der wie Aristides die Seele schilderte, hat sogar, wie man sagt, den Charakter eines ganzen Volks ausdrücken können. Er malete die Athenienser, wie sie gütig und zugleich grausam, leichtsinnig und zugleich hartnäckig, brav und zugleich feige waren. Scheinet die Vorstellung möglich, so ist sie es nur allein durch den Weg der Allegorie, durch Bilder, die allgemeine Begriffe bedeuten.

Der Künstler befindet sich hier wie in einer Einöde. Die Sprachen der wilden Indianer, die einen großen Mangel an dergleichen Begriffen haben, und die kein Wort enthalten, welches Erkenntlichkeit, Raum, Dauer usw. bezeichnen könnte, sind nicht leerer von solchen Zeichen, als es die Malerei zu unseren Zeiten ist. Derjenige Maler, der weiter denket als seine Palette reichet, wünschet einen gelehrten Vorrat zu haben, wohin er gehen, und bedeutende und sinnlich gemachte Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind, nehmen könnte. Ein vollständig Werk in dieser Art ist noch nicht vorhanden: die bisherigen Versuche sind nicht beträchtlich genug, und reichen nicht bis an diese große Absichten. Der Künstler wird wissen, wie weit ihm des Ripa Ikonologie, die Denkbilder der alten Völker von de Hooghe Gnüge tun werden.

Dieses ist die Ursach, daß die größten Maler nur bekannte Vorwürfe gewählet. Annibale Carracci, anstatt, daß er die berühmtesten Taten und Begebenheiten des Hauses Farnese in der Farnesischen Galerie, als ein allegorischer Dichter durch allgemeine Symbola und durch sinnliche Bilder hätte vorstellen können, hat hier seine ganze Stärke bloß in bekannten Fabeln gezeiget.

Die Königliche Galerie der Schildereien in Dresden enthält ohne Zweifel einen Schatz von Werken der größten Meister, der vielleicht alle Galerien in der Welt übertrifft, und Seine Majestät haben, als der weiseste Kenner der schönen Künste, nach einer strengen Wahl nur das Vollkommenste in seiner Art gesuchet; aber wie wenig historische Werke findet man in diesem königlichen Schatze! von allegorischen, von dichterischen Gemälden noch weniger.

Der große Rubens ist der vorzüglichste unter großen Malern, der sich auf den unbetretenen Weg dieser Malerei in großen Werken als ein erhabener Dichter, gewaget. Die Luxemburgische Galerie, als sein größtes Werk, ist durch die Hand der geschicktesten Kupferstecher der ganzen Welt bekannt worden.

Nach ihm ist in neueren Zeiten nicht leicht ein erhabeners Werk in dieser Art unternommen und ausgeführet worden, dergleichen die Cuppola der Kaiserlichen Bibliothek in Wien ist, von Daniel Gran gemalet, und von Sedelmayr in Kupfer gestochen. Die Vergötterung des Herkules in Versailles, als eine Allusion auf den Kardinal Hercule de Fleury, von Lemoyne gemalet, womit Frankreich als mit der größten Komposition in der Welt pranget, ist gegen die gelehrte und sinnreiche Malerei des deutschen Künstlers eine sehr gemeine und kurzsichtige Allegorie: sie ist wie ein Lobgedicht, worin die stärksten Gedanken sich auf den Namen im Kalender beziehen. Hier war der Ort, etwas Großes zu machen, und man muß sich wundern, daß es nicht geschehen ist. Man siehet aber auch zugleich ein, hätte auch die Vergötterung eines Ministers den vornehmsten Plafond des königlichen Schlosses zieren sollen, woran es dem Maler gefehlet.

Der Künstler hat ein Werk vonnöten, welches aus der ganzen Mythologie, aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus der geheimen Weltweisheit vieler Völker, aus den Denkmalen des Altertums auf Steinen, Münzen und Geräten diejenige sinnliche Figuren und Bilder enthält, wodurch allgemeine Begriffe dichterisch gebildet worden. Dieser reiche Stoff würde in gewisse bequeme Klassen zu bringen, und durch eine besondere Anwendung und Deutung auf mögliche einzelne Fälle, zum Unterricht der Künstler, einzurichten sein.

Hierdurch würde zu gleicher Zeit ein großes Feld geöffnet, zur Nachahmung der Alten, und unsern Werken einen erhabenen Geschmack des Altertums zu geben.

Der gute Geschmack in unsern heutigen Verzierungen, welcher seit der Zeit, da Vitruv bittere Klagen über das Verderbnis desselben führete, sich in neueren Zeiten noch mehr verderbet hat, teils durch die von Morto, einem Maler von Feltre gebürtig, in Schwang gebrachte Grotesken, teils durch nichts bedeutende Malereien unserer Zimmer, könnte zugleich durch ein gründlicheres Studium der Allegorie gereiniget werden, und Wahrheit und Verstand erhalten.

Unsere Schnirkel und das allerliebste Muschelwerk, ohne welches itzo keine Zierat förmlich werden kann, hat manchmal nicht mehr Natur als Vitruvs Leuchter, welche kleine Schlösser und Paläste trugen. Die Allegorie könnte eine Gelehrsamkeit an die Hand geben, auch die kleinsten Verzierungen dem Orte, wo sie stehen, gemäß zu machen.

Reddere personae scit convenientia cuique.
Hor.

Die Gemälde an Decken und über den Türen stehen mehrenteils nur da, um ihren Ort zu füllen, und um die ledigen Plätze zu decken, welche nicht mit lauter Vergöldungen können angefüllet werden. Sie haben nicht allein kein Verhältnis mit dem Stande und mit den Umständen des Besitzers, sondern sie sind demselben sogar oftmals nachteilig.

Der Abscheu vor den leeren Raum füllet also die Wände; und Gemälde von Gedanken leer, sollen das Leere ersetzen.

Dieses ist die Ursach, daß der Künstler, dem man seiner Willkür überläßt, aus Mangel allegorischer Bilder oft Vorwürfe wählet, die mehr zur Satire, als zur Ehre desjenigen, dem er seine Kunst weihet, gereichen müssen: und vielleicht, um sich hiervor in Sicherheit zu stellen, verlanget man aus feiner Vorsicht von dem Maler, Bilder zu machen, die nichts bedeuten sollen.

Es macht oft Mühe, auch dergleichen zu finden, und endlich

velut aegri somnia, vanae
Fingentur species. Hor.

Man benimmt also der Malerei dasjenige, worin ihr größtes Glück bestehet, nämlich die Vorstellung unsichtbarer, vergangener und zukünftiger Dinge.

Diejenigen Malereien aber, welche an diesem oder jenem Orte bedeutend werden könnten, verlieren das, was sie tun würden, durch einen gleichgültigen oder unbequemen Platz, den man ihnen anweiset.

Der Bauherr eines neuen Gebäudes

Dives agris, dives positis in foenore nummis.
Hor.

wird vielleicht über die hohen Türen seiner Zimmer und Säle kleine Bilder setzen lassen, die wider den Augenpunkt und wider die Gründe der Perspektiv anstoßen. Die Rede ist hier von solchen Stücken, die ein Teil der festen und unbeweglichen Zieraten sind; nicht von solchen, die in einer Sammlung nach der Symmetrie geordnet werden.

Die Wahl in Verzierungen der Baukunst ist zuweilen nicht gründlicher: Armaturen und Trophäen werden allemal auf ein Jagdhaus ebenso unbequem stehen, als Ganymedes und der Adler, Jupiter und Leda unter der erhobenen Arbeit der Türen von Erzt, am Eingang der St. Peterskirche in Rom.

Alle Künste haben einen gedoppelten Endzweck: sie sollen vergnügen und zugleich unterrichten, und viele von den größten Landschaftmalern haben daher geglaubet, sie würden ihrer Kunst nur zur Hälfte ein Genüge getan haben, wenn sie ihre Landschaften ohne alle Figuren gelassen hätten.

Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunkt sein, wie jemand von dem Schreibegriffel des Aristoteles gesaget hat: Er soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, und dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedanken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernet hat. Hat er einen Vorwurf, den er selbst gewählet, oder der ihm gegeben worden, welcher dichterisch gemacht, oder zu machen ist, so wird ihn seine Kunst begeistern, und wird das Feuer, welches Prometheus den Göttern raubete, in ihm erwecken. Der Kenner wird zu denken haben, und der bloße Liebhaber wird es lernen.


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