Johann Joachim Winckelmann
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst
Johann Joachim Winckelmann

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Diese großen Meisterstücke der griechischen Kunst wurden schon unter den deutschen Himmel versetzet, und daselbst verehret, da Neapel noch nicht das Glück hatte, ein einziges herkulanisches Denkmal, soviel man erfahren können, aufzuweisen.

Sie wurden im Jahr 1706 in Portici bei Neapel in einem verschütteten Gewölbe gefunden, da man den Grund grub zu einem Landhause des Prinzen von Elbeuf, und sie kamen unmittelbar hernach, nebst andern daselbst entdeckten Statuen in Marmor und Erzt, in den Besitz des Prinzen Eugens nach Wien.

Dieser große Kenner der Künste, um einen vorzüglichen Ort zu haben, wo dieselben könnten aufgestellet werden, hat vornehmlich für diese drei Figuren eine Sala terrena bauen lassen, wo sie nebst einigen andern Statuen ihren Platz bekommen haben. Die ganze Akademie und alle Künstler in Wien waren gleichsam in Empörung, da man nur noch ganz dunkel von derselben Verkauf sprach, und ein jeder sahe denselben mit betrübten Augen nach, als sie von Wien nach Dresden fortgeführet wurden.

Der berühmte Mattielli,

dem Polyklet das Maß, und Phidias das Eisen gab
Algarotti

hat, ehe noch dieses geschahe, alle drei Vestalen mit dem mühsamsten Fleiße in Ton kopieret, um sich den Verlust derselben dadurch zu ersetzen. Er folgere ihnen einige Jahre hernach, und erfüllete Dresden mit ewigen Werken seiner Kunst: aber seine Priesterinnen blieben auch hier sein Studium in der Draperie, worin seine Stärke bestand, bis in sein Alter; welches zugleich ein nicht ungegründetes Vorurteil ihrer Trefflichkeit ist.

Unter dem Wort Draperie begreift man alles, was die Kunst von Bekleidung des Nackenden der Figuren und von gebrochenen Gewändern lehret. Diese Wissenschaft ist nach der schönen Natur, und nach dem edlen Kontur, der dritte Vorzug der Werke des Altertums.

Die Draperie der Vestalen ist in der höchsten Manier: die kleinen Brüche entstehen durch einen sanften Schwung aus den größeren Partien, und verlieren sich wieder in diesen mit einer edlen Freiheit und sanften Harmonie des Ganzen, ohne den schönen Kontur des Nackenden zu verstecken. Wie wenig neuere Meister sind in diesem Teile der Kunst ohne Tadel!

Diese Gerechtigkeit aber muß man einigen großen Künstlern, sonderlich Malern neuerer Zeiten, widerfahren lassen, daß sie in gewissen Fällen von dem Wege, den die griechischen Meister in Bekleidung ihrer Figuren am gewöhnlichsten gehalten haben, ohne Nachteil der Natur und Wahrheit abgegangen sind. Die griechische Draperie ist mehrenteils nach dünnen und nassen Gewändern gearbeitet, die sich folglich, wie Künstler wissen, dicht an die Haut und an den Körper schließen, und das Nackende desselben sehen lassen. Das ganze oberste Gewand des griechischen Frauenzimmers war ein sehr dünner Zeug; er hieß daher Peplon, ein Schleier.

Daß die Alten nicht allezeit fein gebrochene Gewänder gemacht haben, zeigen die erhabenen Arbeiten derselben. Die alten Malereien, und sonderlich die alten Brustbilder. Der schöne Caracalla unter den Königlichen Antiken in Dresden kann dieses bestätigen.

In den neuern Zeiten hat man ein Gewand über das andere, und zuweilen schwere Gewänder, zu legen gehabt, die nicht in so sanfte und fließende Brüche, wie der Alten ihre sind, fallen können. Dieses gab folglich Anlaß zu der neuen Manier der großen Partien in Gewändern, in welcher der Meister seine Wissenschaft nicht weniger, als in der gewöhnlichen Manier der Alten zeigen kann.

Carlo Maratta und Francesco Solimena können in dieser Art vor die Größten gehalten werden. Die neue Venezianische Schule, welche noch weiter zu gehen gesuchet, hat diese Manier übertrieben, und indem sie nichts als große Partien gesuchet, sind ihre Gewänder dadurch steif und blechern worden.

Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.

Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebet kein schreckliches Geschrei, wie Vergil von seinem Laokoon singet: Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadoleto beschreibet. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können.

Der Ausdruck einer so großen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur: Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägete. Griechenland hatte Künstler und Weltweisen in einer Person, und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand, und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.

Unter einem Gewande, welches der Künstler dem Laokoon als einem Priester hätte geben sollen, würde uns sein Schmerz nur halb so sinnlich gewesen sein. Bernini hat sogar den Anfang der Würkung des Gifts der Schlange in dem einen Schenkel des Laokoons an der Erstarrung desselben entdecken wollen.

Alle Handlungen und Stellungen der griechischen Figuren, die mit diesem Charakter der Weisheit nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler Parenthyrsis nannten.

Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu schildern: in allen Stellungen, die von dem Stande der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht in dem Zustande, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen Zustande. Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe. Im Laokoon würde der Schmerz, allein gebildet, Parenthyrsis gewesen sein; der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in eins zu vereinigen, eine Aktion, die dem Stande der Ruhe in solchem Schmerze der nächste war. Aber in dieser Ruhe muß die Seele durch Züge, die ihr und keiner andern Seele eigen sind, bezeichnet werden, um sie ruhig, aber zugleich wirksam, stille, aber nicht gleichgültig oder schläfrig zu bilden.

Das wahre Gegenteil, und das diesem entgegenstehende äußerste Ende ist der gemeinste Geschmack der heutigen, sonderlich angehenden Künstler. Ihren Beifall verdienet nichts, als worin ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet, herrschen, welches sie mit Geist, mit Franchezza, wie sie reden, ausgeführet heißen. Der Liebling ihrer Begriffe ist der Kontrapost, der bei ihnen der Inbegriff aller selbstgebildeten Eigenschaften eines vollkommenen Werks der Kunst ist. Sie verlangen eine Seele in ihren Figuren, die wie ein Komet aus ihrem Kreise weichet; sie wünschten in jeder Figur einen Ajax und einen Kapaneus zu sehen.

Die schönen Künste haben ihre Jugend so wohl, wie die Menschen, und der Anfang dieser Künste scheinet wie der Anfang bei Künstlern gewesen zu sein, wo nur das Hochtrabende, das Erstaunende gefällt. Solche Gestalt hatte die tragische Muse des Aischylos, und sein Agamemnon ist zum Teil durch Hyperbolen viel dunkler geworden, als alles, was Heraklit geschrieben. Vielleicht haben die ersten griechischen Maler nicht anders gezeichnet, als ihr erster guter Tragicus gedichtet hat.

Das Heftige, das Flüchtige gehet in allen menschlichen Handlungen voran; das Gesetzte, das Gründliche folget zuletzt. Dieses letztere aber gebrauchet Zeit, es zu bewundern; es ist nur großen Meistern eigen: heftige Leidenschaften sind ein Vorteil auch für ihre Schüler.

Die Weisen in der Kunst wissen, wie schwer dieses scheinbare Nachahmliche ist

ut sibi quivis
Speret idem, sudet multum frustraque laboret
Ausus idem.
Hor.

Lafage, der große Zeichner hat den Geschmack der Alten nicht erreichen können. Alles ist in Bewegung in seinen Werken, und man wird in der Betrachtung derselben geteilet und zerstreuet, wie in einer Gesellschaft, wo alle Personen zugleich reden wollen.

Die edle Einfalt und stille Größe der griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schriften aus Sokrates' Schule; und diese Eigenschaften sind es, welche die vorzügliche Größe eines Raffaels machen, zu welcher er durch die Nachahmung der Alten gelanget ist.

Eine so schöne Seele, wie die seinige war, in einem so schönen Körper wurde erfordert, den wahren Charakter der Alten in neueren Zeiten zuerst zu empfinden und zu entdecken, und was sein größtes Glück war, schon in einem Alter, in welchem gemeine und halbgeformte Seelen über die wahre Größe ohne Empfindung bleiben.

Mit einem Auge, welches diese Schönheiten empfinden gelernet, mit diesem wahren Geschmacke des Altertums muß man sich seinen Werken nähern. Alsdenn wird uns die Ruhe und Stille der Hauptfiguren in Raffaels Attila, welche vielen leblos scheinen, sehr bedeutend und erhaben sein. Der römische Bischof, der das Vorhaben des Königs der Hunnen, auf Rom loszugehen, abwendet, erscheinet nicht mit Gebärden und Bewegungen eines Redners, sondern als ein ehrwürdiger Mann, der bloß durch seine Gegenwart einen Aufruhr stillet; wie derjenige, den uns Vergil beschreibet,

Tum pietate gravem ac meritis si forte virum quem
Conspexere, silent arrectisque auribus adstant.
Aen. I.

mit einem Gesichte voll göttlicher Zuversicht vor den Augen des Wüterichs. Die beiden Apostel schweben nicht wie Würgeengel in den Wolken, sondern wenn es erlaubt ist, das Heilige mit dem Unheiligen zu vergleichen, wie Homers Jupiter, der durch das Winken seiner Augenlider den Olymp erschüttern macht.

Algardi in seiner berühmten Vorstellung ebendieser Geschichte in halb erhobener Arbeit, an einem Altar der St. Peterskirche in Rom, hat die wirksame Stille seines großen Vorgängers den Figuren seiner beiden Apostel nicht gegeben, oder zu geben verstanden. Dort erscheinen sie wie Gesandten des Herrn der Heerscharen: hier wie sterbliche Krieger mit menschlichen Waffen.

Wie wenig Kenner hat der schöne St. Michael des Guido in der Kapuzinerkirche zu Rom gefunden, welche die Größe des Ausdrucks, die der Künstler seinem Erzengel gegeben, einzusehen vermögend gewesen! Man gibt des Conca seinem Michael den Preis vor jenen, weil er Unwillen und Rache im Gesichte zeiget, anstatt daß jener, nachdem er den Feind GOttes und der Menschen gestürzt, ohne Erbitterung mit einer heiteren und ungerührten Miene über ihn schwebet.

Ebenso ruhig und stille malet der englische Dichter den rächenden Engel, der über Britannien schwebet, mit welchem er den Helden seines Feldzugs, den Sieger bei Blenheim vergleichet.

Die Königliche Galerie der Schildereien in Dresden enthält nunmehro unter ihren Schätzen ein würdiges Werk von Raffaels Hand, und zwar von seiner besten Zeit, wie Vasari und andere mehr bezeugen. Eine Madonna mit dem Kinde, dem hl. Sixtus und der hl. Barbara, kniend auf beiden Seiten, nebst zwei Engeln im Vorgrunde.

Es war dieses Bild das Hauptaltarblatt des Klosters St. Sixti in Piacenza. Liebhaber und Kenner der Kunst gingen dahin, um diesen Raffael zu sehen, so wie man nur allein nach Thespiä reisete, den schönen Cupido von der Hand des Praxiteles daselbst zu betrachten.

Sehet die Madonna mit einem Gesichte voll Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Größe, in einer selig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen ließen. Wie groß und edel ist ihr ganzer Kontur!

Das Kind auf ihren Armen ist ein Kind über gemeine Kinder erhaben, durch ein Gesichte, aus welchem ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kindheit hervorzuleuchten scheinet.

Die Heilige unter ihr kniet ihr zur Seiten in einer anbetenden Stille ihrer Seelen, aber weit unter der Majestät der Hauptfigur; welche Erniedrigung der große Meister durch den sanften Reiz in ihrem Gesichte ersetzet hat.

Der Heilige dieser Figur gegenüber ist der ehrwürdigste Alte mit Gesichtszügen, die von seiner Gott geweiheten Jugend zu zeugen scheinen.

Die Ehrfurcht der hl. Barbara gegen die Madonna, welche durch ihre an die Brust gedrückten schönen Hände sinnlicher und rührender gemacht ist, hilft bei dem Heiligen die Bewegung seiner einen Hand ausdrücken. Ebendiese Aktion malet uns die Entzückung des Heiligen, welche der Künstler zu mehrerer Mannigfaltigkeit, weislicher der männlichen Stärke, als der weiblichen Züchtigkeit geben wollen.

Die Zeit hat allerdings vieles von dem scheinbaren Glanze dieses Gemäldes geraubet, und die Kraft der Farben ist zum Teil ausgewittert; allein die Seele, welche der Schöpfer dem Werke seiner Hände eingeblasen, belebet es noch itzo.


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