Ernst Willkomm
Vorgesichte
Ernst Willkomm

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9 Am Strand von Hooge

Bei Anbruch des Tages ward es auf allen Halligen lebendig. Noch ging die See hoch und rollte in langen, breiten Wellen über die niedrigen, schutzlosen Erdscheiben. Die Flut war aber bereits machtlos geworden, und man durfte hoffen, daß mit der Tiefebbe alles Land größtenteils wieder frei von Salzwasser sein werde.

Die Westsee selbst bot einen merkwürdigen Anblick dar. Das Bild einer großartigen Naturverheerung lag in unabsehbarer Ausdehnung vor aller Augen. Die Halligen waren mit unzähligen Eisblöcken besät, die bald zerstreut und vereinzelt sich zeigten, bald hoch übereinandergeschoben zu phantastischen Massen sich emportürmten. Jede Warft umstarrte ein mächtiger Wall blaugrünen Eises. Da, wo der Flutstrom mit größerer Gewalt gegen die künstlich aufgeführten Erdhügel angeprallt war, zeigten sich diese unterhöhlt, manche sogar halb zertrümmert. Indes war doch keine Wohnung ganz zerstört oder vom Sturme umgeweht worden.

Noch chaotischer stellte sich das Binnenmeer dem Auge dar. Die Sturmflut hatte alle Wasserstraßen zwischen den Watten gefüllt, überall das Eis gebrochen, es hüben und drüben auf den seichteren Stellen angehäuft und die auf den tieferen Strömungen treibenden Schollen mit der Ebbe der offenen See zugeführt. Das ganze Binnenmeer schien mit erratischen Blöcken funkelnden Gesteins besät zu sein.

Der alte Mannis war einer der ersten, die von ihrer Warft herabstiegen, um die etwaigen Verwüstungen von Wind und Flut in Augenschein zu nehmen. Sein erster Gang galt dem Vater Geikes, den er schon beschäftigt fand, das stark beschädigte Dach seines Wohnhauses auszubessern. Als guter Nachbar legte Nicol sogleich selbst Hand an. So gelang es den beiden Männern, noch vor Abend den angerichteten Schaden notdürftig wiederherzustellen.

Der abwesenden jungen Männer ward nicht gedacht. Erst abends warf eins der Mädchen die Frage hin, wie lange dieselben wohl noch ausbleiben könnten.

»Das hängt von Umständen ab«, erwiderte Nicol vollkommen ruhig. »Bleibt die Luft mild wie heute, so wird die Binnensee bald fahrbar sein. In diesem Falle, der mir wahrscheinlich dünkt, dürfen wir sie in zwei, spätestens in drei Tagen erwarten.«

Wirklich blieb auch das Wetter mild. Die Luft war weich wie im April, der Himmel unbewölkt. Es trat fast gänzliche Windstille ein, so daß das Meer sich beruhigte und keine andere Bewegung, als die von Flut und Ebbe herrührende, zeigte. Die jungen Männer kamen aber nicht zurück.

Karens Unruhe steigerte sich zur Sorge, sie wagte aber nicht, dem Vater ihre Befürchtungen mitzuteilen, da dieser selbst von trüben Gedanken gequält zu werden schien.

Als auch der dritte Tag verging und keiner der jungen Männer sich blicken ließ, machte Nicol seine Sloop segelfertig.

»Was hast du vor?« fragte Ellen.

»Segeln will ich und mich umschauen, ob irgendwo einer verunglückt ist.«

»Unsere Söhne!« rief mit tränenerfüllten Augen die geängstigte Mutter.

»Darf ich dich begleiten?« fragte Karen, die mit Mühe eine Ruhe erheuchelte, von der ihr gequältes Herz nichts wußte.

»Darfst.«

»Und wir, Vetter Nicol?« fragten die Mädchen vom Festlande.

»Ihr bleibt ruhig auf der Warft, bis wir wiederkommen.«

»Wie lange gedenkst du fortzubleiben?« warf Ellen hin.

»Weiß ich nicht.«

»Und wohin willst du segeln?«

Mannis deutete mit vielsagendem Blicke nach Norden.

Die Zurückbleibenden gaben Vater und Tochter das Geleit bis an den Strand. Mannis hißte die Segel auf, drehte ab und fuhr mit stummem Abschiedsgruße hinaus in die Wattensee.

Sein Ziel war Amrum. Er erreichte die Insel nach einigen Stunden. Unterwegs entging seinem scharfen Auge nichts, was ihn interessierte. Namentlich achtete er auf die zusammengeschobenen Schollen, die hie und da auf den Sanden festsaßen, und von der jetzt nur schwachen Flutwoge noch nicht überall zerstört waren. Trümmer eines zerschellten Fahrzeuges, die nach vorangegegangenem Sturme ein paar Tage später von den Wellen gewöhnlich ans Land gespült werden, begegneten dem alten Halligmann nicht.

In der Ortschaft Nebel auf Amrum fand Nicol die ersten Spuren der Vermißten. Hier erfuhr er auch, daß die Gesellschaft aus zehn kräftigen Männern bestanden hatte, von denen vier mit Büchsen bewaffnet gewesen waren. Am Morgen nach der Sturmnacht fanden auslugende Schiffer einen getöteten Seehund am Fuße der Dünen. Die Amrumer nahmen deshalb an, daß die Jäger, deren Abzug nach den Dünen kein Geheimnis geblieben war, ihre Beute beim Ausbruch des Unwetters aufgegeben und sich nach Süd- oder Norddorf zurückgezogen hätten.

Mannis machte sich ungesäumt mit seiner Tochter auf den Weg, um die bereits entdeckten Spuren seiner Söhne und ihrer Begleiter weiterzuverfolgen. Er durchwanderte die ganze Insel, erkundigte sich überall nach den Verschwundenen, erhielt aber nirgends eine beruhigende Antwort. Weder im Süden noch im Norden waren die jungen Männer gesehen worden.

Eine große Niedergeschlagenheit bemächtigte sich jetzt des alten Seemannes, doch sprach er seinen Schmerz nicht in Worten aus. Er hatte zu viel Furchtbares erlebt auf seinen Reisen, um sich selbst von dem entsetzlichsten Unglücke ganz niederbeugen zu lassen. Am meisten schmerzten ihn die Klagen Karens, die sich gar nicht mehr zu fassen wußte.

Mannis blieb eine Nacht auf Amrum. Am andern Morgen segelte er nach Föhr, um auch dort seine Nachforschungen wieder aufzunehmen. Der Erfolg war kein glücklicherer.

»Nun ist es Zeit, heimzukehren«, sprach er darauf entschlossen zu seiner Tochter. »Man wird uns daheim alsbald brauchen.«

Ruhig und kalt lichtete er wieder den Anker und steuerte westwärts in die Norderaue. Bei Seesand-Street bog er in die Süderaue ein und hielt gerade auf Knudshörn, um mit auflaufendes Flut das Jap zu gewinnen.

Über Heverknobs Westbrandung stieg eine Wolke schreiender Seevögel auf und nieder; eine zweite, noch dichtere gewahrte Mannis weiter südlich auf Baksand, er schenkte diesen Vogelgeschwadern aber keine große Aufmerksamkeit, da es täglich vorkommende Erscheinungen über Untiefen sind, wo das Meer eine Menge Fischleiber und toter Schaltiere auswirft, welche den Seevögeln zur Nahrung dienen

Die Sonne übergoß die Warften mit purpurner Glut, als Hooge nur noch ein paar Büchsenschüsse weit von der schnellsegelnden Sloop Mannis' entfernt lag. Rechts von dem Schlütt gewahrte der alte Kapitän einen Menschentrupp, zu zwei Dritteilen aus Frauen bestehend. Auch Karen fiel diese Versammlung der Halligbewohner auf, weshalb sie fragend die Worte an den Vater richtete: »Was kann es dort geben?«

Nicol stand aufrecht am Steuer und sah unverwandt nach dem Strande. Seine Sloop war allen auf Hooge bekannt, und ehe das Fahrzeug noch anlegen konnte, näherten sich schon mehrere dem Landungsplatze. Mannis erkannte unter diesen auch den Pfarrer.

»Ich weiß schon, was ihr bringt«, rief er jetzt mit gepreßter Stimme vom Schiffe aus den tiefernsten Männern zu. »Ihr habt gefunden, was ich vergebens suchte. Von dorther, wo die andern stehen, sah ich den Leichenzug quer über die Hallig sich fortbewegen, und von Heverknobs Sand her strich er feierlich ernst über die Süderaue.«

Das Wort des alten Mannes erregte bei niemand Anstoß. Es widersprach ihm keiner, der Geistliche aber reichte ihm die Hand, bot dann dem jungen Mädchen, das sich an ihn schmiegte, den Arm, und so schritt der ganze Trupp der Stelle zu, wo noch immer mehr Halligbewohner sich einfanden.

Die letzte Flut hatte hier vier Leichen ans Land gespült. Unter diesen befand sich Jens Mannis und der übermütige Vetter Hendry aus Bredstedt. Die andern beiden waren zwei Langenesser. Über das Schicksal der noch übrigen konnte sich der unglückliche Halligmann keine Illusionen mehr machen.

»Sie sind alle ein Opfer des Sturmes geworden«, sagte er gefaßt. »Es war unrecht von mir, daß ich sie nicht mit Gewalt zurückhielt. Hörte doch Jens zuerst die Geisterglocken von Rungholt läuten!«

Ellen war von dem Geschehenen bereits unterrichtet. Sie begrüßte die Heimkehrenden stumm, aber herzlich. Bald darauf brachte man die Leichen Jens' und Hendrys. Nicol ließ sie auf die Diele nebeneinander betten.

Mit der nächsten Flut trieben noch vier der Vermißten teils auf Nordmarsch, teils auf Südfall an, die dritte Flut warf den neunten abermals an Hooges Strand. Nur Takens Körper fand man nicht auf.

»Sein Leib wird dem Meere verbleiben«, sprach Nicol.

Er traf Anstalten, die Toten bestatten zu lassen.

Zu diesem Leichenbegängnis trafen von allen Halligen teilnehmende Männer und Frauen auf Hooge ein. Es war ein langer, düsterer Leichenzug, der sich im matten Schein der Wintersonne über die öde Hallig fortbewegte nach dem kleinen Friedhofe, wo die Verunglückten in eine weite gemeinsame Gruft gesenkt wurden. Diese Feierlichkeit war eben beendigt, als unter den zahlreich Versammelten eine Bewegung entstand.

»Ein Schiff! Ein Schiff von Nordstrand!« rief laut eine Stimme. »Er ist gerettet, durch ein Wunder gerettet!«

Die Menge teilte sich, und auf zwei starke Männer in Schifferkleidung gelehnt, bleich, mit verstörten Zügen und kaum wiederzuerkennen, schwankte Taken auf den gebrochenen Vater zu, der, keines Wortes mächtig, den Sohn in seine geöffneten Arme schloß und dann laut schluchzend mit ihm auf den frischen Erdhügel, der sich über den Särgen der eben Beerdigten wölbte, niedersank.

Unter Ellens und seiner Schwester Pflege erholte sich Taken bald so weit, daß er die näheren Umstände seiner Rettung mitteilen konnte.

Vom Sturm erfaßt, war das ins Treiben geratene Eisfeld am äußersten Rande jenes hohen Sandes, welchen die Schiffer Kapitäns-Knob nennen, und der an der Mündung der Reutertiefe im Westen Amrums liegt, geborsten. Das wilde Sturmwetter jagte die nunmehr geteilten Schollen seewärts. Bald verloren sich die Getrennten gänzlich aus dem Gesicht. Taken mit zwei der büchsenbewaffneten Langenesser hatte der Zufall auf die kleinere, aber sehr feste Scholle geworfen. Die dem Tode Geweihten trieben, von mancher Woge überschüttet, immer nach Süden. Hier gerieten sie in eine Wetterwolke, die unter Blitz, Donner und Hagel über sie fortbrauste. Eine Woge überstürzte die Scholle und spülte die Langenesser in die Tiefe. Taken sah sich allein. Mit der Riesenkraft der Verzweiflung klammerte er sich fest an das Eis, bis schauernde Kälte ihn durchrieselte und er, von nagendem Hunger gepeinigt, mit erstarrten Gliedern besinnungslos niedersank.

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Schifferkahne. Eine mitleidige Woge hatte ihn auf den Strand von Süderoog geworfen, wo Schiffer, die hier Schutz vor dem wilden Sturmwetter gesucht und gefunden, ihn entdeckten.

Anfangs hielten die wackern Männer ihn für tot. Bald aber bemerkten sie, daß noch Leben in ihm sei, und ihren unablässigen Bemühungen gelang es, den schon dem Tode Geweihten wieder ins Leben zurückzurufen.

Es waren Männer von Nordstrand. Dahin brachten sie zuerst ihren Findling. Dieser aber, kaum soweit erstarkt, daß er sich wieder regen konnte, hatte keine Ruhe bei seinen braven Rettern. Ihn verlangte zurück nach Hooge, um zu erfahren, ob die Kunde des Geschehenen bereits bis in das Haus seiner Eltern gedrungen sei. Unter dem Geläut der Glocken, die über dem Grabe seines Bruders, seiner Verwandten und Freunde verhallten, betrat er, der einzige Überlebende, die Hallig.

Der Seemann von echtem Schrot und Korn ist ebenso fromm als abergläubisch. Wie Nicol Mannis fest überzeugt war, daß das schattenhafte Schiff, welches seine Kinder unfern der Insel Amrum im vergangenen Herbst an sich hatten vorüberstreichen sehen, ein Zeichen gewesen sei, das ihnen in jener Gegend Unglück prophezeihe; wie er tags darauf mit eigenen Augen einen Leichenzug mit großer Begleitung von der Süderaue über das Jap nach Hooge durch den Nebeldunst des Abends gleiten sah und darin einen Wink erblickte, daß viele Halligleute ihren Tod in den Wellen finden würden, so von Herzen froh und dankbar war jetzt der alte Mann, daß Gott doch nur einen Sohn von ihm gefordert hatte.

Ellen war schwerer zu beruhigen. Sie machte sich im stillen Vorwürfe über ihren Unglauben und zieh sich unnützerweise eines Leichtsinnes, den sie in der Tat gar nicht besaß. Es bedurfte langer Zeit, ehe die gebeugte Frau ihre frühere geistige Elastizität wiedergewann.

Im Frühjahr kehrte Geike Woegens glücklich von seiner Reise zurück. Er betrauerte tief und wahr das Unglück, das sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und führte ein paar Monate später die sinnig-ernste Karen als Gattin heim.

Die in der wilden Sturmnacht Umgekommenen zeigten sich niemand als Wiedergänger. Der Friedensklang der Kirchenglocken auf Hooge, Langeneß und in Bredstedt hatte sie für immer sanft ins Grab gebettet.


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