Ernst Willkomm
Vorgesichte
Ernst Willkomm

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5 Die Nacht auf der Holmer-Fähre

Anderthalb Wochen später treffen wir den alten Halligmann mit Jens und Karen am Hafen von Tönning. Es ist nachmittags in der dritten Stunde. Graue Wolken bedecken den Himmel und lassen nur selten die Sonne auf kurze Zeit durchbrechen. Die Wogen der Eider kräuseln sich unter der Einwirkung einer frischen Brise. Mehrere Schiffe, deren Rahen sich schnell mit Segeln bedecken, steuern hinaus nach der offenen See. Ihre Flaggen und Wimpel wehen lustig im Winde, und wenn ein heller Strahl der Sonne, die Wolkenmauer spaltend, sie trifft, kann man die Farben und Zeichen der Flaggen noch deutlich vom Ufer aus erkennen.

»Gott gebe ihm eine glückliche Reise, und laß ihn im nächsten Frühjahr gesund und munter zurückkehren!« sprach jetzt Nicol Mannis, seine Mütze abnehmend und sie nochmals grüßend gegen die schnell sich entfernenden Schiffe schwenkend. »Ich fürchte, ehe Geike den Kanal passiert, macht der Wind ihm noch was zu schaffen.«

Karen, die auf den Arm des Vaters gestützt, unverwandten Auges den fortsegelnden Schiffen gefolgt war, richtete sich auf, um ein paar Tränen an ihren Wimpern zu trocknen.

»Laß uns gehen, Vater!« sprach das junge Mädchen mit fester Stimme. »Ich habe nun weiter nichts mehr zu suchen.«

Nicol widersprach nicht. Er sah noch einmal nach dem wogenden Strome und dem grauen Himmel, dann erfaßte er die Hand der Tochter und wendete sich der Stadt zu. Jens verweilte noch einige Minuten länger am Strande, dann folgte auch er den Vorangegangenen.

Die Uthlandsfriesen blieben noch eine Nacht in Tönning, und machten nötige Einkäufe für den Winter, um in keine Verlegenheit zu kommen, wenn etwa böses Wetter sie für längere Zeit an allem Verkehr mit dem Festlande verhindern sollte. Am andern Morgen erst verließen sie die belebte Hafenstadt, um auf einem offenen Wagen durch die Landschaft Eiderstedt nach Husum zu fahren. Hier nämlich lag des alten Mannis' Sloop im Hafen.

Die Reise im offenen Wagen auf den Deichkronen, von deren Höhe man die so wunderbar frischen Marschen mit ihren endlosen Feldern und noch immer frischgrünen Wiesen übersehen konnte, zwischen denen die großen, stattlichen Höfe, von einem Kranze rauschender Frucht- und Nutzbäume umgeben, lagen, gewährte trotz der Monotonie der Farben doch ein mehrfach fesselndes Bild. Gegen Osten war alles fruchttragendes, fettes Land. Die Höfe und Ortschaften hinter den Deichen verrieten den Reichtum ihrer Besitzer. Zu Tausenden weideten breitstirnige Rinder und mutige junge Rosse auf den Wiesen, deren Graswuchs unerschöpflich zu sein schien. Gegen Westen aber wogte die wilde See unabsehbar und schlug in weißen, langen Brandungswellen gegen die hohen, schräg abfallenden Deiche. Fern und nah sah man weiße Segelfittiche über den Wellen schweben, die bald sich näherten, bald sich entfernten, je nachdem sie land- oder seewärts steuerten. Gewöhnlich hatte der Anblick des Meeres etwas unbeschreiblich Düsteres, weil der schwere Wolkenhimmel es mit eintönigem Grau bedeckte. Nur, wo die Sonne die Wolken auf kurze Momente teilte, erglänzte die See in blendend weißem oder in rotem Feuer, und es schien dann, als rollten Massen geschmolzenen Silbers oder flüssigen Feuers in graublauer Umbordung. Mitten durch diese auf dem Meere schwimmenden Licht- und Glutoasen zog hin und wieder still und sicher, wie von Geisterkräften geführt, der Leib eines Schiffes.

Nicol Mannis beobachtete ausschließlich das Meer, sein Aussehen und was auf demselben vorging, für die beiden Geschwister dagegen hatte die landschaftliche Szenerie ihrer Neuheit wegen mehr Anziehungskraft; denn beide kamen selten auf das Festland. Geschah es aber, so hielten sie sich meistenteils am Strande auf und so hatten sie eigentlich noch nie so viel Land und so viel ländliche Wohnungen gesehen, als bei dieser Fahrt durch das Eiderstedtische, die sie innerhalb acht Tagen schon zum zweiten Male machten.

Zu Nicols Verdruß kamen sie viel langsamer vorwärts, als er wünschte. Es war in den letzten Tagen häufig starker Regen gefallen, und regnete es nicht, so lag gewöhnlich ein schwerer, feuchter Nebel auf dem Lande. Dadurch waren die Wege auf den Deichkronen schlecht geworden. Auch die kräftigsten Pferde vermochten nur selten in dem schweren Boden zu traben. So kam es, daß die Uthlandsfriesen erst ziemlich spät am Nachmittage das altertümliche Husum erreichten.

Mannis hätte sich gern von der für ihn sehr langweiligen Fahrt etwas erholt, weil aber der Wind günstig war und der Wasserstand der Hever ein Aussegeln erlaubte, gönnte er sich kaum soviel Zeit, um sich durch ein steifes Glas Grog zu erquicken. Jens mußte auf der Stelle am Bord der Sloop alles klar machen, und ehe noch eine Viertelstunde vergangen war, glitt das wohlgebaute Fahrzeug des Halligmannes schon langsam die Heveraue hinab, und erreichte bei Sonnenuntergang die Gewässer der Binnensee.

»Zwei Stunden können wir noch segeln«, sprach der erfahrene Seemann zu seinem Sohne, »dann müssen wir Anker werfen und die nächste Flut abwarten. Der Wind ist steif, das Gewölk hebt sich, und der Mond wird uns leuchten.«

Nicol erfaßte sofort das Steuer, Jens befolgte schnell jeden Befehl des Vaters, Karen hatte sich schnell wieder, gegen den kälter werdenden Abendwind dichter in ihren Mantel hüllend, auf die schmale Kajütentreppe gesetzt.

Den einsamen Seglern begegnete kein Fahrzeug. Die Insel Nordstrand lag wie ein schwarzer Schatten zur Linken, rechts auf den Deichen zeigte sich im matten Abendscheine des langsam verlöschenden Tages eine wandernde Menschengestalt, die riesengroß erschien. Hinter den Deichen ließ sich Hundegebell hören und in langen Zwischenpausen der Schlag einer Glocke.

Die grauen Wogen der Wattensee rauschten am Bug der sie durchfurchenden Sloop. Das Rauschen verminderte sich aber mit jeder Viertelstunde. Die Bewegung des Wassers, anfangs stark und rollend, ward immer unbedeutender. Bald schlugen die Wellen nur noch matt und wie spielend gegen die Wände des Fahrzeuges, die Segel flappten, und eine Ruhe auf dem Meere wie in der Luft machte sich bemerkbar, als fühlten auch die Elemente das Bedürfnis, eine Zeitlang zu schlummern, um Kräfte zu neuem Wirken zu sammeln.

Die Ebbe war eingetreten, mit ihr zugleich fiel der Wind südlich ab und ward sehr schwach.

»Stop!« sagte Nicol Mannis, das Steuer scharf anziehend. »Wir wollen hier Anker werfen. Sobald er in diesem Sandgrunde angebissen hat, ruhen wir sicher, wie in Abrahams Schoß.«

Während Vater und Sohn den Anker auswarfen, erhob sich Karen und trat ans Steuer. Der Mond blinkte lauschend durch dünne, sanft fortsegelnde Wolken. Er verbreitete ein mildes Dämmerlicht über das Meer und seine Inselbrocken, die jetzt ein poetischer Zauber umwallte. Im Südwest lag Nordstrand mit seinen hohen Deichen, über welche nur steile Dächer, Windmühlenflügel und die Spitzen der Kirchen emporragten. Im Norden hob sich gespenstisch öde aus glitzernder Wattennacht die Hallig Nordstrandischmoor, ganz im Westen schimmerten von höher gebauten Warften einzelne Lichter auf der entfernteren Insel Pellworm. Die Sloop lag, sanft schaukelnd, an sicherem Anker auf breitem Meeresschlauche, den die Wattenschiffer »Holmer-Fähre« nennen, und welcher in seiner Erweiterung das Fahrwasser der mittleren und neuen Hever bildet, die zwischen Pellworm und der Hallig Südfall in die Nordsee mündet.

Der Anker saß fest im Grunde. Nicol Mannis näherte sich der Tochter, um das Steuer in einen Riemen zu hängen, damit es sich nicht willkürlich bewegen möge.

»Ein schauerlich schöner Abend, Vater«, hub Karen an. »Sieh, wie dort die Watten glitzern und funkeln, als ob sie mit silbernen Geweben überdeckt wären! Und dort, südwestwärts – sieht es nicht aus, als wolle ein unermeßlicher Schwanzstern aus der Tiefe des Meeres heraufsteigen? – Wie das zuckt, blitzt, schillert, im Wasser auf und über den Wogen! – Kann der Mond im Spiel mit den Wolken solch wunderbare Lichtbilder in die Luft zeichnen?«

»Es sind Möwen, meine Tochter, die sich in seinem Lichte baden.«

»Aber der hellweiße Streifen darunter? Das kann doch nicht der Widerschein des Mondes im Meere sein?«

»Das ist ein Sand«, fiel Jens ein, der jetzt ebenfalls herankam.

»Rungholtsand!« bekräftigte Nicol. »Ein schlimmer Ort! Schiffer vermeiden ihn gern.«

»Da hat vor alten Zeiten eine Stadt gestanden, die im Meere versunken ist?« fragte Karen.

»Wie Sodom und Gomorrha«, versetzte Nicol. »Darum heißen wir's auch das tote Meer in der Westsee.«

Karen überlief es kalt. War es ein Frösteln der Furcht, das sich ihrer bemächtigte auf dem öden Meere, auf dem jetzt weit und breit kein Nachen, kein Segel mehr sichtbar ward, oder durchschauerte sie der kalte Oktoberwind? Sie ergriff den Arm ihres Vaters und zog diesen mit sich fort.

»Es ist doch unheimlich«, sprach sie, der Kajüte zuschreitend. »Wenn ich ein Schiffer wäre, ich würde mich oft fürchten.«

Nicol lächelte.

»Diese Furcht würde sich bald verlieren«, erwiderte er. »Sie beschleicht uns alle, wenn wir die erste Nacht auf dem Meere zubringen. Bald aber gewöhnen wir uns daran, und später empfinden wir nichts mehr davon.«

Vater und Tochter stiegen in die Kajüte hinab, Jens blieb allein auf Deck, das er auf- und niederschritt, als müsse er das vor Anker liegende Fahrzeug bewachen.

In dem engen und sehr niedrigen Raume, welcher auf so kleinen Schiffen als Kajüte dient, deckte Karen inzwischen den Tisch, entzündete dann ein Torffeuer in dem winzigen Zugofen, dessen Schornstein beweglich war, um ihn je nach der Richtung des Windes anders stellen zu können, und bereitete Tee. Ihr Vater streckte sich bald liegend in die Koje und schloß die Augen, als wünsche er zu schlafen. Die einförmige Bewegung des Fahrzeuges am Anker, das murmelnde Plätschern der Wellen, die den Kiel umspülten, und die Stille ringsum konnten allerdings dazu einladen. Karen summte während ihres Schaffens ein Lied, dessen Worte nicht zu verstehen waren. Über sich hörte sie die Schritte des auf- und abwandelnden Bruders, der sich dem dunstigen Raume, wo die einzige Tranlampe und der brenzlige Geruch des Torffeuers die Atmosphäre durchaus nicht angenehm machten, solange wie möglich zu entziehen suchte.

Plötzlich vernahm Karen einen Ruf des Erstaunens. Die Tritte verhallten, es schien ihr, als zittere die Sloop an ihrem Kabel, und Nicol, der, wie alle Seeleute, für gewisse Laute ein eigentümlich scharfes Gehör hatte, erhob sich eilig aus seiner halb liegenden Stellung. Ehe er noch die wenigen Treppenstufen zum Deck hinaufstieg, rief Jens mit starker Stimme seinen Namen.

Nicol antwortete und hob im nächsten Augenblicke den grauen Kopf aus der Luke.

»Was gibt's?« fragte er, das Auge rasch nach allen Seiten kehrend. Er gewahrte den Sohn, wie er unfern des Steuers kniete und mit weit vorgebeugtem Kopfe zu lauschen schien.

»Hörst du nichts?« lautete die Gegenfrage des jungen Mannes.

Nicol trat dicht an Jens heran. Die Luft war beinahe still, das Meer oder vielmehr der Wattstrom, auf welchem die Sloop vor Anker lag, zeigte nur wenig Bewegung. In weiter Ferne aber, westwärts, verhallte in dumpfem Gesurr das Rauschen der Brandung, die sich an den Schwellen und Gründen der Hevermündung brach.

»Ich höre nichts als die Brandung«, sagte der alte Kapitän.

»Wirklich? Weiter gar nichts? Auch jetzt nicht?«

Nicol kniete nieder und legte sein Ohr auf den Bord.

»Es sind Glocken, so wahr ich lebe!« beteuerte Jens.

»Glockengeläut? Und hier?«

»Und der Schall kommt von Westen her! – Jetzt, wie laut – wie helltönend! Hörst du's, Vater?«

»Ich höre.«

»Die Glocken von Hooge sind's nicht.«

»Auch nicht die von Pellworm.«

»Und auf Föhr kann das Geläut ebenfalls nicht sein.«

»Nein!«

»Der Schall kommt mir gar nicht bekannt vor.«

»Ich kenne ihn.«

»Dann weißt du, wo man so spät noch die Glocken läutet?«

Nicol stand auf. Er sah geisterbleich aus und zum Erschrecken ernst. Seine Hand deutete nach dem Meere.

»Die Glocken von Rungholt sind's, mein Sohn«, sprach er mit halblauter, zitternder Stimme. »Selten nur hört ein Lebender das unterseeische Geläute, wenn es aber des Nachts über den Wogen verhallt, dann gilt's den Uthlandsfriesen. Die in eitler Lust, frevlem Hochmut und sündhafter Schwelgerei versunkenen Rungholter müssen die Glocken läuten, wenn den Überresten ihrer ehemaligen irdischen Wohnstätte Unheil droht. Wir gehen einem verhängnisvollen Winter entgegen.«

»Hast du dies Geläut schon einmal vernommen?«

»Es vernahmen's alle Schiffer der Halligen im Herbst vor der letzten fürchterlichen Sturmflut.«

»Vater!« rief jetzt Karen und das vom Feuer gerötete Gesicht des Mädchens blickte aus der Luke.

»Still!« gebot Nicol dem Sohne. »Das Kind soll nichts erfahren. Sie trägt ohnehin schon schwere Sorge genug um Geike. – Gleich, mein Kind«, fuhr er unbefangen fort, »wir kommen schon. Steig' wieder hinunter und nimm die Rumflasche aus dem Raume. Der Nachtwind hat mich tüchtig durchgekältet.«

Karen war schon wieder in der Lukenöffnung verschwunden. Vater und Bruder folgten, und bald saßen alle drei bei dem mehr als frugalen Mahle, äußerlich munter, im Herzen ernst gestimmt. Von den Geisterklängen der Glocken von Rungholt, die über dem surrenden Meer verhallten, war mit keiner Silbe die Rede.


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