Ernst Willkomm
Vorgesichte
Ernst Willkomm

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7 Die Jagd auf dem Eise

Wohlgemut schritten die Gebrüder Mannis mit ihren lebhaften Gefährten über das Eis. Sie sahen bald ein, daß der Rat ihres Vaters begründet war, denn ohne den schimmernden Glanz des Mondes würden sie schwer die Pfade gefunden haben, die in zahllosen Krümmungen sich über die zugefrorenen Watten schlängelten. Als ein paar Stunden vor Sonnenaufgang der Mond unterging, lag die schwierigste Wegstrecke hinter ihnen, und bald darauf betraten sie die östliche Küste von Langeneß.

Auf dieser Hallig erwarteten sie den Tag. Einige Jugendfreunde der Gebrüder Mannis schlossen sich den Wanderern an, um Vergnügen und Gefahren derselben zu teilen. Die Gesellschaft bestand jetzt aus zehn Personen. Von diesen waren die Langenesser mit Büchsen bewaffnet, weil sie am Strande von Amrum Seehunde anzutreffen hofften, die in der Westsee in ziemlicher Anzahl vorkommen und von den Halligbewohnern bisweilen erlegt werden.

Unter Scherzen und Lachen zog die kleine Karawane weiter. Die mühsam zu beschreitenden Eispfade gaben zu allerhand Bemerkungen Anlaß, und boten nicht selten Gelegenheit dar, den entschlossenen Mut und die körperliche Gewandtheit der jungen Leute in das hellste Licht zu setzen. Bald gab es übereinandergeschobene zackige oder spiegelglatte Eisblöcke zu erklimmen, bald mußte über gefährliche Spalten gesetzt werden, bald brach man durch weißliches Schneeeis, das eine hohle Brücke bildete, und durch sein Aussehen auch die Erfahrensten täuschen konnte. Häufig hörten die Wanderer fern und nah ein knatterndes Geräusch, die Eisdecke bebte, ein dumpfes Gurgeln ließ sich vernehmen, und gleich darauf zerklüftete unter heftigem Krachen die unebene Brücke.

Schon vertraut mit diesen Erscheinungen, empfanden die eingeborenen Halligmänner keine Furcht darüber. Nicht einmal beunruhigt zeigten sich diese unerschrockenen, an Gefahren aller Art und an ununterbrochene Kämpfe mit den Elementen gewöhnten Naturen. Die Festlandsfriesen blieben ab und an lauschend stehen, nicht aber aus Furcht, sondern nur, um die für sie neuen und deshalb interessanten Erscheinungen genauer beobachten zu können. Der jüngste Vetter Hendry tat es sogar manchem seiner Begleiter zuvor. Er war beinahe immer voran, unermüdlich der Heiterste von Laune, der Keckste, wo es galt, rasch einen Entschluß zu fassen und ihn ebensoschnell auszuführen. Ja seine Keckheit artete bisweilen dergestalt in verwegenes Wagen aus, daß selbst seine Vettern es für Pflicht hielten, ihn zu warnen.

Es dämmerte schon, als die Gesellschaft die Häusergruppen auf Westerlandföhr mehr und mehr aus dem kalten Nebel auftauchen sah. Die hohen Spitzen der St. Johannis und St. Laurentiuskirche hatte sie nie aus dem Gesicht verloren. Sie dienten den Fußwanderern ebenso wie in der guten Jahreszeit den Schiffern als sichere Wegweiser.

Die späte Tagesstunde und die große Anstrengung geboten den Männern, auf Föhr zu übernachten. Alle bedurften nach den überstandenen Strapazen der Ruhe. Auch wäre selbst bei hellem Mondschein das Überschreiten der mit Eis bedeckten Watten und Priele für alle ein höchst gefahrvolles Unternehmen gewesen, da auch den Uthlandsfriesen die jetzt vor ihnen liegenden Eisstege nicht bekannt waren.

Taken schlief unruhig trotz der Ermüdung. Er mußte immer an seinen Vater denken. Sooft er die Augen schloß, sah er regelmäßig im halben Traume den alten Mann, wie er mit ernsten, besorgten Zügen auf der Warft stand, und westwärts nach der See hinausblickte. Dies immer von neuem wiederkehrende Traumbild beunruhigte ihn oder störte doch seine unbefangene Heiterkeit. Etwas trug wohl auch das Pfeifen des Windes dazu bei, der sich während der Nacht erhob.

Der Anblick von Land und Watten am Morgen war düster. Dunkle Schneewolken bedeckten den Himmel, und ein fahles, schmutziges Rot hing wie ein zerrissener Vorhang im Osten, den Aufgang der Sonne verkündigend. Ihre Strahlen vermochten das Gewölk nicht zu durchbrechen; es ward vielmehr noch dichter, als die Friesen sich zum Aufbruche rüsteten. Um sicherzugehen, nahmen sie einen bekannten Schlickläufer als Führer mit.

»Das Wetter scheint sich doch ändern zu wollen«, meinte Taken, als sie die holperige Eisfläche betraten, welche Föhr jetzt von Amrum schied.

»Herr«, brummte der jütische Einwanderer, denn ein solcher war ihr Führer, »der Wind steht noch.«

Das Gespräch mit dem einsilbigen Menschen ward nicht weiter fortgesetzt. Es wehte stark, bald aus Ost, bald aus Nordost. Die Dünengipfel auf Amrum waren in dem Nebel, der sie einhüllte oder vielmehr aus ihnen aufzubrodeln schien, nicht zu erkennen. Scharen grauer Möwen schwärmten über offenen Stellen im Eise und flatterten schreiend hochauf, wenn der Zug der Wanderer sich ihnen näherte. Die ganze Gesellschaft schien verstimmt zu sein. Jeder ging für sich, und wechselte kaum einige Worte mit seinem Vor- oder Hintermann. Gegen elf Uhr ward Amrum erreicht. Der Wind blies aus Norden, ein feiner Schneestaub rieselte aus dem Gewölk nieder.

»Es kann Sturm geben zur Nacht«, sprach Jens. »Bei solchem Wetter wird eine Besteigung der Dünen wenig lohnend sein. Ich schlage vor, bis morgen zu warten.«

»Bist du bange?« fiel lachend der übermütige Hendry ein. »Pflege dich, derweil wir andern uns von jenen Sandspitzen die mit Eisblöcken spielende Nordsee ansehen wollen.«

»Bange?« erwiderte fast beleidigt der junge Mannis. »Ich kenne keine Furcht, aber ich bin für baldigen Aufbruch, wenn wir das Unternehmen ausführen wollen.«

Niemand von der Gesellschaft widersprach. Alle brachen auf nach den Dünen. Einzelne Bewohner Amrums sahen den jungen Männern verwundert nach, ein warnendes oder bedenkliches Wort aber entschlüpfte keinem. Jeder hielt die Fremden für kühne Jäger.

Die Dünen boten das Bild einer gänzlichen Wildnis dar. In den kesselartigen Tälern lag tiefer Schnee, die steilen Gipfel glänzten von Eis, und der immer wilder brausende Wind trieb dichte Wolken eisiger Schneenadeln, mit Sandstaub gemischt, in solchen Massen über sie hin, daß niemand ein Auge zu öffnen vermochte.

Dennoch aber ließen sich die abenteuerlichen jungen Männer nicht abschrecken, ihr Ziel zu verfolgen. Je nach Lust und Neigung zerstreuten sie sich in den Dünentälern nach Süd und Nord. Einige, welche die Spuren von Kaninchenbauen entdeckten, die gerade in den Amrumer Dünen in großer Menge vorhanden sind, machten es sich zum Vergnügen, die harmlosen Tierchen in ihrer Winterruhe zu stören. Andere kletterten über die am Strande zusammengeschobenen Eisschollen und suchten nach Schaltieren, noch andere wagten sich weiter hinaus auf das sehr rissige Eis, und verlockten zu gleichem Wagnis später auch die meisten ihrer Gefährten, als es ihnen glückte, ein paar Seehunde zu entdecken und durch wohlgezielte Schüsse zu verwunden.

Im Eifer der Jagd achtete keiner mehr der Gefahren, denen sich alle aussetzten. Die Seehunde waren schwer zu transportieren, und doch wollte man die wertvolle Beute nicht im Stiche lassen. Zwei waren in nicht gar langer Zeit und unter verhältnismäßig geringen Anstrengungen bereits ans Land geschafft. Damit jedoch nicht zufrieden, eilten die glücklichen Jäger von Langeneß weiter hinaus. Sie stießen bald auf offenes Wasser; weiter nordwärts aber zeigten sich wieder breite Flächen harten Eises, an dessen weit vorgeschobenen Rändern die Wogen der Nordsee in Schaumsäulen sich brachen. Auf dieser Eisinsel, die man springend erreichen konnte, lagerten mehrere Robben. Die größte erlegte eine Büchsenkugel des geübtesten Schützen. Das getroffene Tier sank unfern der Brandung auf dem eisigen Bette tot zusammen. Es hier den Wellen zu überlassen, kam den mutigen Uthlandsfriesen nicht in den Sinn. Durch Rufe und Zeichen lockte man auch die bereits an den Strand Zurückgekehrten abermals auf die zerbrechliche Eisbrücke. Alle folgten dem Rufe, ohne auf die bedenkliche Bewegung der großen Fläche zu achten, über die jetzt ein Schauer feinen Hagels hinstäubte, den der heulende Nordwest vor sich herjagte.

Nach Verlauf einer halben Stunde war die ganze Gesellschaft am westlichen Rande des Eisfeldes versammelt. Den vereinigten Anstrengungen der kräftigen Männer gelang es, das gewichtige Tier von der schon umbrandeten Stelle fortzuschaffen. Jetzt umschnürte man es mit Stricken, und indem die vier Jäger, deren Eigentum es ja war, unter lautem Hallo es an den Stricken fortzogen über das Eis, eilten die übrigen voraus, um bei einigen schwer zu passierenden Stellen für Erleichterung des Transportes Vorkehrungen zu treffen.

Seltsamerweise konnten diese den Punkt jetzt nicht wiederfinden, wo sie vom sandigen Strande aus durch einen Sprung die mehrere Fuß dicke Scholle erreicht hatten. Ein breiter Streifen wogenden, brausenden Salzwassers wälzte sich zwischen Scholle und Land, das durch den jetzt in dichten Flocken fallenden Schnee kaum noch in klaren Umrissen zu erkennen war.

In richtiger Würdigung der gefahrvollen Lage teilte sich der Trupp der jungen Männer sofort in zwei Parteien. Die eine derselben wandte sich südwärts, die andere nordwärts, um einen Punkt aufzufinden, wo die immer beweglicher werdende Eisfläche mit dem Lande zusammenhing. Es war keine Zeit zu verlieren, denn schon verdunkelte sich die Luft mit jeder Minute mehr. Der Wind lief westwärts und ward heftiger. Der in großer Menge fallende Schnee war feucht. Es ließ sich nicht zweifeln, daß binnen wenigen Stunden vollständiges Tauwetter eintreten werde.

Die Gebrüder Mannis befanden sich bei dem südwärts streichenden Trupp. Sie feuerten ihre beiden Begleiter zur größten Eile an.

»Mein Gott« bemerkte darauf der übermütige Vetter, »wie habt ihr euch denn! Ich bin wohl zwanzigmal von weit schlimmerem Wetter auf den Deichen überrascht worden, war ganz allein, konnte zwei Schritte weit sehen und kam doch immer, wenn auch verspätet, unangefochten nach Hause. Das bißchen Wind wird uns die Seele nicht aus dem Leibe blasen.«

»Der Wind nicht, aber die See kann's tun«, sagte Jens.

»Die See! Stehen wir nicht auf festem Eise?«

»Noch ist es fest, aber wie lange!« sprach Taken. »Ihr kennt nicht die Gewalt der Flut, wenn der Tauwind sie aufwühlt. Ein paar Stunden genügen dann, die festeste Eisdecke zu brechen und sie in Brei zu zermalmen.«

»Ah-bah«, versetzte Hendry. »In höchstens einer halben Stunde müssen wir am Strande sein.«

Taken ging den übrigen ein paar Schritte voraus. Plötzlich blieb er stehen und horchte. Ein Brausen, als stürzten große Wassermassen über Felsblöcke, schlug drohend an aller Ohren.

»Zurück! Zurück!« schrie Taken mit entsetzter Stimme. »Die Brandung von Kapitäns Knob brüllt dort im Süden!«

Alle standen erstarrt.

»Es kann nicht sein«, sprach Jens nach kurzem Schweigen.

»Und doch ist es so«, erwiderte Taken. »Fühlst du nicht die Bewegung unter deinen Füßen? Hörst du das Krachen im Westen? Das Eisfeld treibt vor der Flut und wir haben Nordwestwind.«

Diese Worte des Halligmannes verfehlten nicht ihre Wirkung. Alle sahen ein, daß nur ein Zufall ihnen Rettung bringen konnte, wenn die Behauptung Takens sich bewahrheitete.

Das dicke, jetzt bereits mit Regentropfen vermischte Schneegestöber verhinderte jede Aussicht. Keine Bake auf den westlichen Sandbänken war zu erkennen und der Mond war noch nicht aufgegangen! Es ward dunkler und immer dunkler, und die Gewalt des Windes nahm in beunruhigender Weise zu.

Nach etwa fünf Minuten gewahrten die Zurückgehenden die bewaffneten Langenesser. Von Norden her dröhnte gellendes Gepfeif. Man antwortete, um den noch fernen Gefährten anzuzeigen, wo man auch ihrer harre. Als die Gesellschaft sich wieder geeinigt hatte, traten die Männer zu einer ernsten Beratung zusammen. Takens Vermutung bestätigte sich. Wenn das Gewölk momentan zerriß oder rascher von den Fittichen des heftigen Windes erfaßt, über die wüste See fortflatterte, konnten die scharfen Augen der Halligbewohner die weißlich schimmernden Dünen Amrums erkennen. Wind und Flut hatten das Eis gelöst, es trieb offenbar immer weiter ab vom Lande und mußte entweder auf den Untiefen zerschellen oder von den wild gehenden Wogen aufs hohe Meer hinausgeschleudert werden.

In dieser furchtbaren Bedrängnis konnten wohl auch den Mutigsten bange Ahnungen beschleichen. Kaum aber hatten die jungen Männer sich über ihre Lage vergewissert, als sie auch gemeinsam zu handeln entschlossen waren.

»Wir dürfen kein Mittel unversucht lassen«, sprach einer der Langenesser.

»Laßt uns also, solange wir noch Munition haben, von Zeit zu Zeit einen Schuß abfeuern. Insulaner haben ein scharfes Gehör, und wenn es tüchtig anfangen sollte zu blasen, wird es die Schiffer und Strandvögte von Amrum nicht lange in ihren Häusern halten. Bei Sturm und Flut sucht der echte Seemann immer den Strand. Hören sie aber unsere Notsignale, so werden wir gerettet.«

»Der Vorschlag ist gut«, sagte Taken, »es fragt sich nur, ob lange Zeit vergeht, ehe man uns irgendwo entdeckt, und ob die Flut uns abtreibt. Wir haben keinen Proviant!«

»Aber Tabak und Rum, Tabak in Hülle und Fülle«, fiel Jens beruhigend ein.

Einer der Langenesser drückte seine Büchse ab. Der Schuß verhallte im Gebrause des Windes.

Düster traten die jungen Männer zusammen. Ihre Kräfte waren augenblicklich völlig paralysiert, ihr Scharfsinn konnte nichts entdecken, woran ihre Hoffnung sich klammern mochte. Die Lage war entsetzlich.

Aber noch hielt das Eis, auf dem das kleine Häuflein, von aller Welt verlassen, der Unbarmherzigkeit rasender Elementarkräfte preisgegeben, stand. Sie fühlten, daß die gewaltige Scholle, von Wind und Wogen erfaßt, immer weiter nach Süden abtrieb. Der Wind heulte, Schnee und Regen peitschte ihre Gesichter, Eisschollen krachten, Sturmvögel schrieen, Spottmöwen stießen ihr schauerlich gellendes Lachen aus, und dazwischen rollte das Gedonner der hochgehenden See, die ihre langen Riesenwellen an den eisumstarrten Sandbänken zerschlug.

Da fühlten die Verunglückten zwei, drei heftige Stöße, als bäume sich die vom Sturme wild geschüttelte Erde unter dem Meere. Die Festlandsfriesen stürzten bei diesen furchtbaren Stößen nieder und verwundeten sich an den scharfen Kanten des Eises.

»Wir sind gestrandet«, sagte düster Taken Mannis.

»Gestrandet vor Kapitäns Knob!« ergänzte noch düsterer sein Bruder Jens.

Wieder bewegte sich das Eisfeld, eine neue Flutwoge hob es empor, dann stürzte es mit seiner ganzen furchtbaren Schwere zurück auf den unsichtbaren Sand und ging mitten auseinander.

»Um Mitternacht hat uns die See verschlungen«, sprach Taken gelassen. »Dann ist Hochwasser und unser zerbrechliches Eiswrack zersplittert in tausend Stücke.«

Die Langenesser luden stumm ihre Büchsen, und während Woge nach Woge das Eiswrack hob und senkte, der zum Sturme angeschwollene Wind Schauer von Schnee und Hagel auf die Verlassenen herabschüttete, die Wellen Stück nach Stück von dem Eisfelde abbröckelten und die Brandung ihren Gischt weiter und immer weiter an den scharfen Wänden heraufspritzte, krachte Schuß auf Schuß in die Nacht hinein, bis der letzte Rest des Pulvers erfolglos verbraucht war.

Gegen Mitternacht zerbrach das Eis abermals. Die Hochflut machte die einzelnen Schollen wieder flott, und unter dem bleichen Zwielicht, welches der von Wolken umhüllte Mond über die wilde Szene verbreitete, trieben die Unglücklichen, auf drei mächtige Schollen verteilt, in die rasende Nordsee hinaus.


 << zurück weiter >>