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4.
An Raimund

Köln, den 6. August.

Es ist sehr unrecht von Dir, mich der Saumseligkeit zu beschuldigen. Weiß ich doch, daß Ihr Brüder so eng in einander verwachsen seid, als wäret Ihr Zwillinge. Nicht nur besteht Gütergemeinschaft zwischen Euch, die Ihr doch sonst jeden Saint Simonistischen Gedanken unerbittlich verdammt, sondern auch Euer tieferes Leben mündet sich gegenseitig in die Seele des Andern. Ich lobe und achte dieses brüderliche Vertrauen, wiewol es nicht immer klug sein mag. Briefe wenigstens sollte man nicht behandeln, wie ein gedrucktes Buch. Ein Brief ist ein in Aufwallung aller Gefühle, Empfindungen, Leidenschaften verrathenes geheimes Liebesgeständniß an ein Herz, dessen Puls sympathisirende Vibrationen mit dem unsern haben muß. Hast Du Dich übrigens vernachlässigt geglaubt, so wird Dich dieser lange Brief von dem Gegentheil überzeugen.

Meine bisherigen Erlebnisse sind Dir bekannt. Dein hohes Interesse an dem Weltbewegenden, das sich darin ausspricht, wie Du meinst, bewegt mich, an das schon Gegebene Eröffnungen zu knüpfen, die das Ansehen von Herzen haben, welche im Sehnsuchtsdrange nach Thaten zerbrachen. Das ist das Tragische in unserm Leben. Es kann einer heut zu Tage ein ganz tüchtiger Kerl sein, die Conflicte, das Aufgelöste, Zerrissene, machen ihn doch zum Lump. Darum ist nur der Philister glücklich, dessen Horizont begrenzt wird vom Rande seines Kachelofens. O, diese süß-behagliche Kleinbürgerlichkeit des Deutschen, welch' tiefe, unergründliche Schmach hat sie über die ganze Nation gebracht! –

Mit neugierigem Verlangen folgte ich an voriger Mittwoch Bardeloh. Meine Mittheilungen hatten ihn ernsthaft beschäftigt. Er verließ den ganzen Tag über nicht einmal sein Zimmer und schrieb viel. Von Rosalie erfuhr ich zufällig Abends beim Schachspiel, daß er Schriftsteller sei und zwar mit großem Glücke. Mehrere seiner Bücher waren sogar verboten worden, was ich aber grade nicht mit zum Glück rechnen möchte. Der Name schien ihm dabei gleichgiltig zu sein, denn er hatte sämtliche Schriften anonym herausgegeben. Vielleicht auch war es Klugheit, die ihn dazu veranlaßte. Ueber den Inhalt von Bardeloh's Büchern konnte ich nichts erfahren, glaube jedoch zum Ziele zu treffen, wenn ich behaupte, es seien wichtige Besprechungen europäischer und vorzugsweise deutscher Zustände in poetischem Gewande, d. h. in einer Prosa, die den kühnsten Gedanken in poetischen Formen leicht und graziös den Lebenden in den Schooß wirft. Ebenso bekannte sie mir, daß er jetzt eben wieder schon seit längerer Zeit an einem neuen, großen Werke arbeite, das einen dialektischen Angriff auf das Kirchendogma der Liebe, insofern es Anwendung erleiden will auf die Praxis im socialen und politischen Leben, enthalten wird. Es trifft diese Vermuthung sehr genau mit Bardeloh's eigenen Aeußerungen zusammen und ich wünschte sehr seine tieferen Gedanken über dieses Thema kennen zu lernen.

»Ich muß mir heut erst eine Zerstreuung machen,« sagte Bardeloh, »angestrengtes Arbeiten hat mich abgemattet. Lassen Sie uns rudern.«

Wir gingen an den Hafen und bestiegen einen Nachen, der leicht wie ein Vogel über die stille, hellgrüne Fläche hinflog. Wir trieben den Kahn erst stromaufwärts und ließen uns dann von der Gewalt des Wassers hinab zur Schiffsbrücke schaukeln. Bei unserer Zurückkunft saß Friedrich wieder auf dem Krahnbalken und strich seine Geige. Er hatte uns kaum erblickt, als er johlend herabsprang, uns zuwinkte und an Bord stieg. Dann ergriff er zwei Ruder auf einmal und arbeitete mit einer Kraft den Nachen quer durch den Strom, die mich in Erstaunen setzte. Dabei wiederholte er mit herzbrechendem Lächeln von Zeit zu Zeit nur das einzige Wort »Lebensfahrt«. Was er damit meint, ist schwer zu errathen. Bardeloh versank, wie immer, wenn er diesem Menschen begegnet, in sein quälerisches Brüten, saß stumm und bleich im Kahn, und spielte mit seinem Siegelringe.

Dieses Wasserexercitium hatte etwa eine halbe Stunde gedauert, als es Bardeloh mit dem Worte »in den Hafen« unterbrach. Friedrich nickte mit dem Kopf und landete. Ein Geschenk von Bardeloh nahm er mit seiner gewöhnlichen, excentrischen Freudigkeit hin, schleuderte dagegen das von mir dargereichte in den Rhein. Bei unserm Abgange saß er schon wieder auf dem Krahn und spielte die Violine. Der Unglückliche hat etwas Grausenerregendes für mich, das durch ein hartnäckiges Stillschweigen über ihn noch mehr Wirkung erhält.

Bardeloh führte mich über den Heumarkt dem Dome zu. Noch hatte ich mich aus einer Art heiliger Scheu nicht in die Majestät dieses Riesenbaues gewagt. Alles Kleinliche, Beengende wollte ich zuvor beseitigen, um mit reinem, heiterem Geist eintreten zu können in das Pantheon mittelaltlicher Gedankengröße.

»Hier gibt es auch noch etwas zu sehen,« sagte mein Begleiter. »Sobald Sie Stimmung haben, wollen wir uns einmal in dieser monströsen Unmoralität untertauchen. Man darf jetzt nichts unversucht lassen.«

Diese trockene Bemerkung war mir zu seltsam, um bei meiner damaligen Stimmung mich in ein Dispüt mit Bardeloh einlassen zu können. Der Dom zu Köln »eine monströse Unmoralität!« Das ist zu rund, um es begreifen und fassen zu können.

Nahe dem Dome befindet sich das berühmte Wallraffsche Museum. Dorthin führte mich Bardeloh. »Es ist nicht, um Ihnen große Merkwürdigkeiten zu zeigen,« sagte er, »sondern blos der Anregung wegen. Alles, was in diesen Sälen gesammelt ist, trägt mehr den Stempel der Liebhaberei eines vermögenden Privatmannes, als den einer wahrhaften Kunstsammlung. Aber es rüttelt doch auf, und das ist Grund genug, ihm ein paar Stunden zu opfern.«

Schnell durchwanderten wir die ersten Zimmer, in denen römische Vasen, Alterthümer verschiedener Art und einige merkwürdige Gemälde aus der frühesten Zeit der deutschen Malerkunst aufbewahrt standen.

»Das sind Alles sehr schöne Sachen für einen Kunst-Enthusiasten,« sagte Bardeloh, »ein Mensch aber mit dem Orden des Weltschmerzes in der Brust kann unmöglich großes Behagen daran finden. Zu Alterthümlern sind wir Modernen verdorben.«

Ein anderes Zimmer ward geöffnet und Bardeloh blieb auf der Schwelle stehen. Der Koloß des Domes warf seine Schatten herein und hüllte die hier aufgestellten Gemälde in ein Dunkel, das dem Beschauer keineswegs günstig war.

»Was halten Sie von diesen Gemälden, Sigismund?« fragte Richard und lehnte sich an die Thürpfosten, die Arme über der Brust kreuzend.

»Jenes uns gegenüber ist ein großes Meisterwerk,« erwiederte ich und deutete auf ein Gemälde, das mehr als die halbe Wand einnahm und dessen Figuren eine fast übermenschliche Größe hatten. Die Dämmerung ließ im Anfang Licht und Schatten sich nicht genau scheiden und ich bemerkte nur, daß ein paar Mönche die Hauptfiguren bildeten.

»Betrachten Sie es genauer,« sprach Bardeloh. »Sie müssen aber hier stehen bleiben.«

Ich befolgte seinen Rath und erkannte bald aus Farbenton und Auffassung den Pinsel Rubens'.

»Es ist die Bekehrung des heiligen Franz von Assisi,« versetzte Bardeloh, »ein Werk, das viel zu wenig beachtet wird von Künstlern und sogenannten Kunstkennern. In diesem Gemälde liegt eine ganze Welt. Rubens hat sich selbst übertroffen, ohne daß er es geahnt. Das Bild ist weit mehr werth, als die Kreuzigung Petri in der Peterskirche, von der jeder Commis voyageur ein Langes und Breites faselt. Jenes ist ein gutes Experiment, dies ist eine That. Der ganze religiöse Wahnsinn mittelalterlicher Heiligkeit ist mit den genialsten Schlaglichtern in dieses Gemälde verwebt, und Alles, was späterhin Möncherei und jesuitischer Unsinn über die getäuschte Welt verhängten, das kann man herauslesen aus diesem zusammenstürzenden Franz und seinen Begleitern. Will einer erfahren, was es heißt, eine weltgeschichtliche Epoche moralisch auffassen, und an ihr die Unmoralität der Zukunft nachweisen, der darf nur dieses Gemälde mit productivem Gemüth betrachten.«

Bardeloh ließ mir jetzt hinlängliche Zeit, von allen Seiten aus dem Rubens'schen Gemälde die nöthige Aufmerksamkeit zu schenken. Ich will nicht läugnen, daß es dem Künstler gelungen ist, mit großer Genialität der Menschengeschichte die verschwiegensten Seelentöne abgelauscht zu haben, um sie als Harmonie durch Auflösung der grellsten Dissonanzen in diesem Gemälde zusammenzustellen; aber es gehört eine Bardeloh'sche Art und Weise dazu, die Dinge zu betrachten, um zu finden, was ihm bedünkte. Mir ist es genug, eine That in dem Gemälde zu erblicken, die, bestehe sie, worin sie wolle, als Schöpfung an sich immer moralisch ist. Das Werden, das Gestalten kann sich dem Unmoralischen annähern, das Gewordene aber muß, als ein Fertiges, immer moralisch bleiben. Freilich wird man dies vielfach bestreiten wollen und daraus die Moralität von Jedem und Allem ableiten; es soll mich aber nicht irren. Die Kraft ist immer gut, und die That als Manifestation der Kraft kann auch nur gut sein. Erst der Conflict mit Zeit und Umständen erklärt sie für moralisch oder unmoralisch, wozu als Ergänzung nicht wenig Vorurtheile, Gewohnheiten, Sitten, Meinungen und Satzungen beitragen, mit Einem Worte: die Philisterei des zahmen Gedankens gibt den Ausschlag.

Gesättigt von Kunst und Ideen verließen wir das Museum.

»Nun führen Sie mich nach dem Kloster, wo es so gesangreiche Mönche gibt,« sagte Bardeloh. »Ich bin doch neugierig, wie sich ein Mönch des neunzehnten Jahrhunderts im Gegensatz zu dem in Andacht aufgelösten Francesco ausnehmen wird.«

Einige Gäßchen führten uns zu dem Gebäude. Dieselbe Stille wie vor einigen Tagen! Grabesruhe lag um das öde Gemäuer, Todesröcheln schien aus jedem Quadersteine heraufzustöhnen.

»Hier also sitzt der fidele Vogel?« fragte Bardeloh. »Der Ort ist passend. Die heilige Schaar ist so klug wie der profane Diplomat.«

»Dort an jenem Fenster sah ich den Mann,« versetzte ich und deutete nach dem engen Spalt. – Es blieb Alles still wie ausgestorben. Vor der Pforte wuchsen Gras und Nesseln.

»Unkraut,« murmelte Bardeloh. »Gleich und gleich gesellt sich gern. Lassen Sie uns läuten.«

Die Glocke dröhnte wie ein lauter, wehmüthiger Lebensschrei in den weiten Gewölben. Ein heiseres Lachen schallte von Oben herab. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe der Pförtner öffnete.

»Ist der Prior zu sprechen?« fragte Bardeloh.

»Tretet herein in das Haus des Herrn,« erwiederte der Pförtner, eine Gestalt, in der das Menschliche, wie es schien, ohne Widerstreben der Regel unterlegen war. Dieser Mensch konnte für eine simple Null gelten. Er führte uns in das Sprachzimmer und entfernte sich dann, um den Prior zu rufen.

Individuen, wie dieser Pförtner, taugen ins Kloster, überhaupt zu gewöhnlichen Pfaffen. Es kommt ihnen nicht schwer an, Thoren zu werden und bei der nothwendigen Metamorphose, die sie innerlich erleiden, geht es ab ohne Todtschlag, ohne Seelenmord. Muß aber ein ganzer, voller Mensch sich dem heiligen Wahnsinn der Satzung, des Dogma's fügen, so bleibt diese sogenannte Moralität immer ein unmoralisches Factum. Verfehmung der Menschheit in uns, um sich den sogenannten Himmel zu sichern, ist unsittlich.

Der Prior trat ein. Bardeloh schrack gleich mir zusammen, als er in dem Oberen des Klosters einen seiner Abendgäste erblickte. Auch den Prior schien diese Entdeckung zu geniren. Es war der gewandteste Weltmann im Salon des Particulier's.

Durch seine stets lächelnde Miene war er mir schon damals aufgefallen, doch hatte ich nicht mit ihm gesprochen.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres werthvollen Besuches?« fragte etwas verschüchtert der Prior.

»Ei,« erwiederte Bardeloh, »ich konnte doch nicht unterlassen, Ihnen meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrer Versetzung abzustatten.« – Der Prior horchte mit offenen Ohren und Augen. – »Ihr Avancement vom Weltgeistlichen zum segenverheißenden Vorsteher eines Klosters ist für mich ein zu bedeutsames Ereigniß.«

»Sehr verbunden, sehr verbunden!« erwiederte der Prior, mit schlauem Tact in Bardeloh's Gedanken eingehend. Er drückte meinem Begleiter die Hand, die dieser mit ächt katholisch-andächtiger Grazie an die Lippen führte.

»Als altem Bekannten werden Sie mir gewiß einen kleinen Gefallen erweisen,« fuhr Bardeloh fort.

»Sie haben zu befehlen, trefflicher Mann, so weit Ihre Wünsche nicht gegen die Ordensregeln verstoßen, die ich als neugewählter Prior mit großer Vorsicht beobachten muß.«

»O, es ist nur eine Kleinigkeit, Hochwürden! Mein Freund hier, ein ferner Anverwandter, hat gehört, es soll sich in diesem Kloster ein Mönch aufhalten, der aus hohem Stande entsprossen, sich den Unwillen seiner Familie zuzog und um ihren Verfolgungen zu entgehen, die Priesterweihe empfing. Familienverhältnisse machen ein Zwiegespräch unter vier Augen nöthig.«

»Dann würde ich den Herrn um Mittheilung des Namens bitten.«

»Doch nicht! Ein Muttermal wird sicherer zum Ziele führen, da die Hartnäckigkeit dieses Menschen bekannt ist und ihn wahrscheinlich aus Argwohn abhalten dürfte, seinen Namen anzugeben. Ein Besuch der Zellen ist gewiß nicht verboten?«

»Keineswegs, nur muß es in meiner Begleitung geschehen.«

Ein Lichtglanz, wie auf dem Rubens'schen Gemälde, umfloß Bardeloh's Gesicht. Er schien gerade diese Begleitung zu wünschen. – Stillschweigend traten wir unsere wunderliche Wanderung an. Die meisten Zellen waren leer, das Kloster schien aussterben zu wollen, wie die bigotte Andacht.

»Treten oft neue Mitglieder in den Orden?« fragte ich.

»Seit zehn Jahren ist kein Novize mehr aufgenommen worden.« Jetzt kamen wir an die bewohnten Zellen. Die Mönche begrüßten uns mit dem scheuen Argwohn, der Menschen eigen ist, die nie oder höchst selten in die Welt kommen. Es lag in ihren blassen Gesichtern mehr Stupidität, als vergrämtes Leben. Sie zu beherrschen konnte nicht schwer sein für Einen, der nicht ganz an Geist verwahrlost war. – Unsere Musterung ging zu Ende. Wir verließen die letzte Zelle, das Gesicht dessen, den wir suchten, war uns noch nicht vorgekommen.

»Es muß eine Täuschung sein,« sagte Bardeloh. »Wir bitten um Entschuldigung, Ew. Hochwürden gestört zu haben.«

Der Prior sagte eine verbindliche Schmeichelei und ward beredt. Er erzählte verschiedene Wundersagen, die im Kloster seit Jahrhunderten heimisch geworden waren. Die Gänge auf- und abwandelnd schlug Bardeloh mit diplomatischer Feinheit immer diejenigen ein, die wir noch nicht betreten hatten und war so vorsichtig, bei jeder neuen Wendung einen feinen Röthelstrich unbemerkt an die Wand zu machen, indem er sich den Anschein gab, als halte er sich daran. Der Prior bemerkte diese strategische Vorsicht nicht. Plötzlich ward das Gespräch unsers Führers durch ein lautes Lachen unterbrochen, dem unmittelbar eine Strophe aus jenem mir schon bekannten Liede folgte. Wir waren am Ziele. Dieser Ton wahnsinniger Lust brach dumpf aus einem Thurme, der vor uns den Gang schloß und mit einer eisenbeschlagenen Thür wol verwahrt wurde. Der Prior erbleichte, biß die Lippe ein und wollte umkehren.

»Was haben Sie denn da für einen lustigen Vogel?« sagte nachlässig lachend mein Gastfreund. »Lassen Sie uns doch näher treten. In meinem Leben habe ich noch kein so vergnügliches, frivol-witziges Lied in Klostermauern gehört.«

Der Prior konnte uns nicht hindern. Wir standen an der eisernen Thür. »Es ist ein Toller,« sagte unser Führer, »den wir der Sicherheit wegen in diesen engen Gewahrsam gebracht haben.«

»Ach Tolle, Sie wissen es, Hochwürden, Tolle sind meine wahre Passion!« rief wie verzückt und in ganz verdachtloser Vergnüglichkeit Bardeloh aus. »Ich bitte, lassen Sie mich das seltsame Menschenkind sehen! Ohnedies beschäftige ich mich jetzt mit dem Studium der umgekehrten, will sagen, der rückwärts sich entwickelnden Menschheit, und da könnte mir der Anblick einer solchen Curiosität von ganz besonderm Nutzen sein. Bitte, Hochwürden, lassen Sie die Thür öffnen!«

»Nur auf einen Augenblick,« versetzte der Prior, aus seiner Ordenstracht einen Schlüssel hervorziehend. »Ich muß hier immer selbst Pförtner sein,« setzte er hinzu, »damit keine Unordnung geschieht.«

Die Thür drehte sich in ihren Angeln, eine abgemergelte Menschengestalt, in die zerfetzte Ordenstracht gehüllt, saß auf einem Block. Eine starke Kette schmiedete sie an die Mauer. Mehr aber noch als die Gebrechlichkeit seines Körpers und die irre Gluth, die aus dem tiefliegenden Auge brach, entsetzte mich eine blutrothe Narbe, die von der linken Schläfe in Form eines Halbmondes bis auf die Mitte der Stirn herab lief. Gram, Angst und die Zerstörung des Wahnsinns hatten den Scheitel fast aller Haare beraubt. Der Mensch glich einem lebendig gewordenen Todtenkopfe.

»Er ist es!« rief Bardeloh aus und packte zugleich mit Riesenkraft den Prior. »Sieh mich an, Schurke!« fuhr er fort dem Erschrockenen in's Gewissen zu donnern, »und läugne, daß wir Brüder sind.« Er riß den Hut vom Haupt und strich von der linken Schläfe die Haare zurück, die eine eben solche Narbe, nur weit kleiner und blässer verdeckten. »Das ist mein Zwillingsbruder. Wir tragen das Schreckenszeichen, dessen Anblick unsrer Mutter das Leben kostete. Ich fordere das Leben dieses Unglücklichen von Deiner Seele!«

Der Mönch lachte zu diesem Auftritt und sang in kurzen Zwischenräumen Strophen aus seinem Liede. In der Kirche begann eben wieder die Hora. »Ja singt nur, Ihr Heuchler,« schrie Bardeloh und warf sich auf die Ketten des Wahnsinnigen, die seiner Kraft wichen und, morsch wie sie waren, zersprangen, »singt nur und ruft die Strafe des Himmels herab auf die gottverlassenen Gewölbe, wo die gesunden Sinne zur Tollheit erzogen werden.« –

Entsetzen lähmte den Prior. Der entfesselte Mönch stand mit einem schluchzenden Gelächter auf, ergriff seine Ketten und umschlang, ehe wir es hindern konnten, mit den rostigen Gliedern den Prior. Dann fiel er in seinen Gesang und raste im wilden Tanze unter dem Sterbegeläute des Kettengeklirrs mit seinem Opfer in der Zelle umher. Mir vergingen die Sinne, ich hörte nur noch die gräßlichen Worte:

»Sei gegrüßet, holde Schöne!
Dich, Maria, mit Gestöhne
Bet' ich an – 'nen Kuß, 'nen Kuß! –
– Sed tu, bonus, fac benigne,
Ne perenni cremer igne! etc.
«

»Da haben Sie die Moral der Rache,« sagte Bardeloh, zurückgesunken in die vernichtende Ruhe eines Menschen, der im Weh des Lebens das Glück verloren hat, den Schmerz sichtbar werden zu lassen in seinen Mienen. Noch eine kurze Zeit und der Mönch stürzte mit sammt dem Prior zu Boden. Eine bange Stille trat ein. Die Jammergestalt des Unglücklichen zuckte fieberisch, der Prior, dessen Nacken von der Kette des Wahnsinnigen umschlungen ward, hob und senkte nur noch die Augenlider. Fester schnürte sich die Kette um seinen Hals. Das brechende Auge schleuderte einen ewigen Fluch auf Bardeloh. Der Wahnsinnige ermattete mehr und mehr, er wiegte sein haarloses Haupt hin und her und stammelte mit lächelnder Lüsternheit die Sylben seines unsittlichen Gesanges.

»Wie wird das enden?« seufzte ich aus meinem brechenden Herzen, als die Blässe des Todes wie ein Leichentuch über das Gesicht des Priors fiel.

»Sehr gut,« sagte mit unerschütterlichem Gleichmuth Bardeloh. »Bleiben Sie hier. Ich gehe zu den Confratres, erzähle ihnen, was sie zu wissen brauchen und legitimire mich bei der geistlichen Behörde. Wie der Mensch gestorben, kann ein unmündiges Kind begreifen.«

Bardeloh ging fort, ich blieb bei dem Leichnam und dem in Ohnmacht gesunkenen Mörder desselben. Es war die entsetzlichste Stunde meines Lebens, die an mir vorüberzog. O, könnten wir einen Seherblick thun in die geheime Geschichte klösterlichen Lebens, es würde die blutigste Biographie des Menschenherzens sich heraufheben aus verschwiegenem Schutt und Moder, und der Anfang des Weltgerichts hereinbrechen über die Erde! Nur der Gedanke, daß in der Gesammtgestaltung des innern Weltlebens ungesucht sich ein Frieden begründet, welcher den bittern Widerstreit zwischen dem lauschenden Skepticismus des Verstandes und den Irrungen des nach Heiligung trachtenden Menschenherzens ausspricht, kann uns beruhigen.

In kurzer Zeit erschienen die Brüder und knieten in stummen Gebet um ihren todten Prior. Bald darauf kam Bardeloh zurück mit den Behörden. Die Legitimation war schnell geschehen, über die Todtesart des Prior konnte kein Zweifel aufkommen. Bardeloh erzählte den Vorgang der Wahrheit getreu mit Verschweigung Alles dessen, was nachtheilig für ihn hätte werden können. Der Wahnsinnige, behauptete er, habe seine Ketten selbst zerrissen. Dies mußte er auf das Kruzifix beschwören, was er ohne Widerstand that und mit großem Ernste. Er verlangte hierauf Auslieferung des Bruders, die man ihm um so weniger verweigerte, als sorgsame Pflege sehr wahrscheinlich das einzige Mittel zu seiner Genesung werden konnte. Alle Anzeichen, auch die Aussagen der ältern Brüder, bestätigten, daß der Wahnsinnige gegen seinen Willen in's Kloster gebracht und darin festgehalten worden sei. Wie weit der Prior daran Theil gehabt, war schwieriger zu ermitteln, doch schien aus Allem hervorzugehen, daß eine unerbittliche Feindschaft zwischen dem Todten und dem Mönch bestanden habe, und die Einkleidung des Letzteren eine Art Rache von Seiten des Priors gewesen sei. Bardeloh beobachtete, wie gewöhnlich, ein hartnäckiges Stillschweigen, wie es schien, weil er selbst über die ächten Beweggründe nicht im Klaren war.

Nach einer halben Stunde kehrten wir in Bardeloh's Wohnung zurück, etwas später ward der Bruder meines Gastfreundes in einer verschlossenen Kutsche, gefesselt an Händen und Füßen, dem Verwandten übergeben. Ein festes Zimmer ist seitdem sein Aufenthalt und seine Kräfte nehmen sichtlich zu. Er ist geduldig wie ein Kind und spielt mit unverkennbarer Hinneigung zu Felix mit diesem. Ueber den unglücklichen Tod des Priors gehen zwar verschiedene Gerüchte, doch entfernen sie sich alle weit von der Wahrheit. Bardeloh ist seitdem noch viel schwermüthiger und schweigsamer geworden, behandelt mich aber mit der freundschaftlichsten Aufmerksamkeit. Ich habe ihm versprechen müssen, das ganze Jahr und auch den Winter hindurch bei ihm zu bleiben. –

Dies waren die Folgen eines unschuldigen, harmlosen Spazirganges! Wie seltsam sich die Schicksale verketten! Fremd, ohne wahrhaftige Freunde zu besitzen, muß ich die Veranlassung geben zu einem Morde, aber auch einen Unglücklichen befreien, vielleicht um ihm zu einer nur mäßigen Gerechtigkeit zu verhelfen. – So Außerordentliches kann sich nur in einer katholischen Stadt ereignen, in deren rostigen Fesseln die Geschichte immer des Augenblicks harrt, der sie wieder auftreten läßt als Schöpferin einer That. Der Zwang ist unser Befreier, die Kette der Laufring, worin die Tugend gehen lernt. Und nebenher trottet die ewig geduldige Zeit, als gutmüthige Amme, die besorgt um das lebhafte Kind den Ring immer enger zieht, wenn es stolpert. Wann werden wir endlich aufhören zu stolpern? Gott des Himmels, laß uns doch nicht mehr stolpern, sondern kräftig wie junge Löwen umherspringen! Vielleicht macht das Alter die Amme blind. Dann wird sie sich freuen ihrer Ziehkinder, die Thaten vollbringen, um der Blinden des Abends, wenn sie ruhen, die Zeit durch Erzählungen zu vertreiben. Eine That, ach eine That, die ganze Welt für eine That! –

 

Den 7. August.

Es ist wieder Nacht, ich habe das neunfache Siegel gebrochen und einen Theil von Gleichmuth's Lebensgeschichte gelesen. Wenn der unsicher zitternde Buchstabe Dich anstarrt aus diesem Briefe, wie das Bangen eines Geheimnisses, so wundere Dich nicht darüber. Selten ist es uns vergönnt, im Herzen des Fremden eine Lösung für Räthsel zu finden, die mit ertödtendem Nachsinnen eine halbe Welt von der heitern That zurückhalten. Ich habe dem Prediger schwören müssen, nur in der Einsamkeit der Nacht Umgang zu pflegen mit seinem Leben, als wäre es eine verschämte Geliebte, die sich nur im Dunkeln dem Freunde hingeben will. Das Versprechen habe ich gelöst. Ob er auch Verschwiegenheit verlangt? Schwerlich! Denn die Art seiner Erzählung klingt wie ein Aufruf an alle Welt und kann, verbreitet, Tausenden zur Rettung gereichen. Außerdem scheint es mir, als wolle der fernere Verlauf dieser Mittheilungen sich in die Maschen des Lebensnetzes verwickeln, das der Zufall auch über mich geworfen hat. Nimmst Du Theil an den Leiden eines strebenden Geistes, so lies die folgenden Blätter, fürchtest Du aber den Unmuth, der wie ein finsterer Geist Dich umkreisen wird bei dieser Lectüre, so überschlage sie. Nur für den Bewegten, Freundlosen und vom Weh des Lebens Gequälten können diese Eröffnungen einen Trost enthalten. Hier der Anfang.

Bekenntnisse eines durch Zeit, Menschen, Lehre und Streben Irregeleiteten

»Meine Kindheit war ein langer Fluch in Mandelmilch aufgelöst. Ich trank den süßen Saft, ohne zu merken, welches Gift ich genoß. Erst im dreizehnten Jahre zeigten sich fühlbare Spuren der verschlungenen Mixtur. Dieser Fluch war die übertriebene Frömmigkeit meiner Aeltern, wie man damals die Unbewußtheit zu nennen beliebte, die sich in unbedingter Hingabe an Altüberliefertes ausspricht. Dagegen hätte ich selbst nichts einzuwenden gehabt; denn dasjenige, was durch Gewohnheit überzeugende Kraft gewonnen, läßt sich schwer ausrotten. Der Fehler lag nur in meiner unglücklichen Constitution. Mein frommer Vater hatte, unbeschadet seiner Frömmigkeit, der Liebesgöttin zu tief in die feuchten Augen gesehen, als der Himmel sein gnädiges Gedeihen gab zu einer ungleichen Liebe in rechtmäßiger Ehe. Das Kind der Ehe ward – seltsam genug – als ein Kind der Liebe geboren, und kam auf die Welt mit farbigen Flügeldecken, die nur nothdürftig den Muth des Lebens und die Freude an heiterem ungenirten Genusse dieses Erdenlebens verbargen.

»Die Liebe ist blind, selbst bei frommen Aeltern. Die meinigen bemerkten zu spät, daß ihre Liebe zu mir sie das Berupfen meiner Schwungfedern hatte vergessen lassen. Man wollte nachholen, was nur in einem einzigen glücklichen oder unglücklichen Augenblicke gelingt; es war zu spät, die Federn ließen sich nicht mehr ausziehen! Meine Aeltern gingen fleißig zu Kirche und Abendmahl und schenkten dem heiligen Geiste zwei silberne Leuchter, wahrscheinlich, damit er mich gnädig mit dem sanften Licht seines Taubengesichtes erleuchte. Diese heilige Kur schien aber bei mir schlecht anzuschlagen, wie alles Heilige. Von Stund an wuchs meine Lebenslust, die Gedankenzwiebel fing an zu keimen und ihr narkotisches, neunhäutiges Gewand duftete so stark, daß meine Aeltern Kopf- und Verstandesschmerzen davon bekamen. Ich dachte schon damals Dinge, die vor zweihundert Jahren in der Schmelzgluth eines Scheiterhaufens geläutert worden wären.

»Diese Wahrnehmung brachte große Besorgniß in unser Haus. Es ward ein Rath versammelt und die Friedenspfeife angezündet. Als ihre heiligen Dampfwolken einen dichten Nimbus im Zimmer bildeten, beschloß man, mich der Kirche zu offeriren. Dieser Beschluß ward mir bekannt gemacht und ich nahm ihn hin, wie jeden andern. Konnte ich doch nebenbei thun und denken, was ich wollte. Das Bewußtsein der Göttlichkeit hoffte ich mit der Zeit ebenfalls in mich hineinzubringen.

»Dreizehn Jahre alt ward ich in die Schaar der erwachsenen Christen aufgenommen. Die Confirmationshandlung unterhielt mich. Es vereinigte sich dabei viel unnöthiger Flitter und einige Repräsentation. Ich hatte selbst eine Art öffentlicher Charge, konnte mich zeigen, und diese erste Probe von Ostentation schmeichelte meinem ruhmsüchtigen Herzen. Das Heilige, wovon mir zwar endlos vorgeschwatzt worden, dessen Wichtigkeit Lehrer und Aeltern mir salbungsvoll eingeredet hatten, ohne mir doch das Warum? desselben auch vernunftgemäß darthun zu können, dieses Heilige blieb mir leider völlig unbegreiflich! Auch lebe ich noch heut der festen Ueberzeugung, daß alle jene andächtig-ernsten Gesichter selbst nichts davon ahnten. Ihre Gutmüthigkeit, ihre Glaubensschwäche oder Stärke, ihre gottserbärmliche Gabe, sich an etwas Gegebenes eher anzuschließen, als aus sich selbst etwas Neues, diesem Gegebenen Entgegengesetztes zu entwickeln, vermochte sie dazu.

»Unter solchen Verhältnissen nöthigte mich die Confirmation zu einer Art Meineid und die erste Abendmahlsfeier konnte ich – entsetzlich genug – späterhin nur als meine erste Gotteslästerung betrachten. Sicher aber wird der gnädige Gott mir diese Todsünde nicht hoch anrechnen. Wie konnte auch der weltlich gesinnte Knabe mit der schäumenden Sinnenlust Geheimnisse begreifen, die ein in Heiligkeit und beschaulichem Leben abgetödteter Mensch noch dunkel und räthselhaft genug findet! Mein einziger Genuß bei dieser kirchlichen Feierlichkeit war, daß ich Zeit dabei gewann, mich recht innerlich in meinen eignen Gedanken zu ergehen. Nach der Handlung selbst wollte ich eine lustige Geschichte erzählen; da nahm mich der Vater bei der Hand und sagte feierlich-ernst: bedenke, was Du heut vorgehabt, mein Sohn! Ach, du lieber Himmel, ich hatte ja gar nichts vor, und das war eben die Ursache meiner kindlich-frommen Heiterkeit. Indeß schwieg ich und war im Ernst bemüht, mich hineinzuheucheln in den feierlich-trübseligen Ton der Uebrigen.

»Es vergingen Jahre, ehe mir der heilige Wahnwitz dieser Menschen deutlicher ward. Noch aber weiß ich mich des Tages sehr wol zu erinnern, weil an ihm die Urkunde meines ferneren Lebensunglückes von mir selbst besiegelt wurde. Ich gelobte nämlich meinem Vater, ein Gottesgelehrter werden zu wollen, ein Versprechen, das ich bitter bereut habe, weil meine innerste Natur in einer feindseligen Verfassung gegen dasselbe sich befand, und dadurch genöthigt ward, zum Schlimmen zu kehren, was unter andern Umständen das Herrlichste hätte entwickeln können. »Gut, mein Sohn« sagte der bewegte Mann, »Du hast mein Herz beruhigt, stärke Dich an heiliger Stätte.« – Ich ging zur Beichte, und Tag's darauf zum Tische des Herrn. –

»O wie brach an jenem Tage der Himmel über mir zusammen und bedeckte mich mit dem Funkennebel seiner zertrümmerten Sterne! Von nun an sollte ich ja ausschließlich mein ganzes Dasein diesem geschäftigen Dunkel widmen, das ich nie begreifen konnte, und grübeln über unbewußten heiligen Tand! Ich fühlte, daß der Drang meines Herzens nicht dahin sich wendete, sondern der entgegengesetzten Seite zu, wo das heitere Leben sich bewegte mit dem blühenden Scherz und der offenen, unverhüllten Menschlichkeit! Ich begann zu sinnen und durfte nicht lange nach einem Ausgange aus diesem Labyrinthe suchen. Beruhigt that ich fortan, was man gewöhnlich Pflicht nennt und war dabei weder kalt noch warm. Es war der erste Moment, wo ich anfing, im schlimmen Sinne ein Protestant zu werden. In dieser Zeit bildete sich stillschweigend in mir ein eigenes philosophisches System aus, das sich wesentlich von allen andern, ältesten und neuesten, unterschied. Es ist zwar nicht gedruckt worden, doch sicher unter vielen meiner lieben Amtsbrüder sehr bekannt. Dieses System ist das jenes Protestantismus, der nie gepredigt wird. –

»Abermals war eine kleine Reihe von Jahren an mir vorübergezogen. Sie verwandelten nicht meine Denkart, sondern boten nur Stoff zu deren eigenthümlicher Ausbildung. Im Streit mit Allem, was Verjährung und altgewohnte Sitte zum Gesetz gestempelt hatte, ward ich ein Sohn jener freieren Weltbewegung, die erst zehn Jahre später Europa durchzitterte. Nur mit Mühe und der Angst stiller Selbstbeherrschung konnte ich die Lehren ohne Widerspruch hinnehmen, die uns als die alleinige Wahrheit von verschiedenen Seiten her geboten wurden. Es war sogar wenig Fruchtbringendes in diesem schalen Einerlei. Die Gedanken schwammen mit gebrochenen Augen darauf herum und wurden still begraben im Zuguß des neuen, wasserdünnen Nichts. Mir hüpfte das Herz vor Freuden, als die Hochschule endlich meinen Forschungen einen größeren Spielraum für Befriedigung meiner geistigen Gelüste verhieß.

»Strotzend von gesunder Lebenskraft betrat ich den Schauplatz der Welt. Mein Geist schlief nicht, er tobte mit Ungestüm gegen die Fesseln, die Schulzwang, unverständige kindliche Liebe und gepredigter Gehorsam wolwollend ihm angelegt hatten. Sie zersprangen von selbst, als die erste Welle des freien Lebens die rostigen Glieder berührte. Es begann ein schönes Leben, voll blühender Hoffnungen, voll süßen Glückes. Das Reich des unerschöpflichen Gedankens schlug seine Flügelthore mit zauberischem Klange aus einander und neugierig, erkenntnißsüchtig stieg der unbefangene Sohn der Natur in diese reichen Gänge voll unbekannter, seltsam gestalteter Erze. Wie mit tausend Geisteraugen flammte die neue Geheimnißwelt – ein zweiter Sternenhimmel – um mich und über mir; aber auch dieser sollte bald getrübt werden durch die Doctrin neuer Satzungen.

»Hatte mich in der frühesten Jugend das Gemessene im Betragen, das Verlangen, jede Regung einzudämmen in die eng gezogenen Grenzen des sogenannten Schicklichen, erbittert, und dem Erfinder solcher Widersinnigkeiten fluchen lassen; so wandte sich jetzt mein Zorn mit dem ganzen Grimm der erwachenden Männlichkeit gegen ein Dogma, das, so fühle ich, dem Menschen seine Würde, dem Herzen seine seligsten Freuden raubte. Der Mensch, immer geneigt, dem Scheine zuerst zu huldigen, ehe die gesunde Vernunft ihm das Unhaltbare desselben zeigt, hatte dem Vernichtenden die Hand gereicht, und im Lauf der Jahrhunderte auf zwei Doctrinen, die allbekannt sind, das ganze Gebäude der neuen Religion gestützt. Die Hauptlehre des Christenthums »die Liebe« ward unerbittlich, obwol unmerklich, aufgehoben durch jene beiden. Eigennutz und Ehrsucht ermangelten nicht, daran zu bilden und zu feilen, bis ein künstliches Netz entstand, in dem sich bequem der Mensch gefangen nehmen und die Heiligkeit seines Wesens einspinnen ließ unter der Vorspiegelung, er werde dadurch gottähnlicher gemacht.

»Früher, mehr beschäftigt mit der Profangeschichte als dem Kirchenleben, war mir dies so gut wie unbekannt geblieben. Nun aber schlug mit der Kirchengeschichte sehr oft ein zweitausendjähriger Jammer sein wahnsinniges Gelächter vor mir auf, und alle Völker Europa's wimmerten im Chor das Echo dieses entsetzlichen Weh's. Umsonst schloß ich die Augen, umsonst trocknete ich den Schweiß von der erbleichenden Stirn, das Weh gebar sich immer wieder von selbst aus jedem hinsterbenden Jahrzehnd, und wucherte fort, je dichter die Leichname über einander hinstürzten. Ist denn das Christenthum? fragte ich laut und leise den Gram meiner Seele, und sollst denn Du ein Lehrer werden dieses Wahns? – Aber es erfolgte keine Antwort auf meine Fragen, nur das Aechzen der sterbenden Jahrzehende weinte aus der weiten Todtenhalle, und der Duft der modernden Jahrhunderte hing seine feuchten, glänzenden Siegesfahnen in kaltem Farbenschmuck über den hinsterbenden Völkern auf. – Dort auf dem Katheder aber standen die schwarzen Männer mit den verwimmerten Gesichtern, in denen kein frisches, fröhliches Leben mehr seine heiligen Rosen erblühen ließ, und docirten als geschichtliche Facta, als heilige Vermächtnisse großer Vergangenheiten, was mein seltsam gebildeter Verstand nicht fassen konnte.

»Nie war ich unglücklicher gewesen, nie grimmiger im Leben. – Das also sollte ich mir aneignen, um eine Carrière zu machen? Das war der tiefe Sinn einer Wissenschaft, die sich in terroristischer Demuth eine heilige nennt? –

»Ueberall sprach man von dem Gesetz der Liebe und nirgends fand sich eine Anwendung desselben in der Praxis. Diesem zur Seite stand die Toleranz, die aber nur geübt ward in dem unmoralischen Sinne, der versteckt liegt in ihr. Ueber beiden aber schwankte triumphirend das Gespenst der Ascese.

»Das Unglück macht den Menschen eben so oft verschlossen als gesellig. Man will die Last abwerfen in der Rede zu Anderen, die gleiches Bedürfniß haben, und mit dem Lichte des Verstandes beleuchten, was der Glaube in seinen dunstigen Schleier hüllt. Nach langem, einsamen Denken schloß ich mich an einige Menschen an, die ich bald kennen gelernt hatte und deren Wesen mich anzog, ohne daß es mich gerade hinriß zur innigsten Freundschaft. Diese jungen Männer waren von den verschiedensten Naturen, alle mehr oder minder geistig begabt, aber in ihrem Denken eben so getrennt, als in den religiösen Bekenntnissen, denen sie angehörten. Um eine klare Darstellung von dem zu geben, was als Folge aus diesem Umgange für mich nothwendig hervorgehen mußte, sehe ich mich veranlaßt, meine damaligen Freunde einzeln zu charakterisiren.

»Am nächsten stand mir in früherer Zeit ein katholischer Jüngling, dessen tiefes Gefühl wolthätig auf mich wirkte durch den Contrast, welchen es bildete, mit meiner Superiorität des Verstandes. Eduard gehörte keineswegs jenen bigotten Alltagsmenschen an, die man noch immer häufig genug unter Katholiken jedes Ranges und Standes trifft. Er hatte sich aus Neigung dem Studium der Medicin ergeben und würde dadurch allein, auch ohne ein tiefer liegendes Bedürfniß, zu einer Anschauung von Welt und Zeit gekommen sein, die einem hoch ausgebildeten geistigen Liberalismus entsprechend gewesen wäre. Eine derbe gesunde Sinnlichkeit, die wol im Scherz die Grenzen der Convenienz übersprang, machte mir ihn besonders werth. Es war nichts in ihm krankhaft, und wo ihn nur die Ahnung einer Schadhaftigkeit beschlich, war er gewiß sogleich auf die Vertilgung derselben ernsthaft bedacht.

»Bei dieser Freisinnigkeit war mir auffallend, wie er unerbittlich an der Vortrefflichkeit der katholischen Kirchenlehre festhalten und diese sogar mit Geist und schlauer Dialektik vertheidigen konnte. Am meisten Streit verursachte zwischen uns die Lehre von der Ascese, deren beseligende, sittliche Kraft Eduard unablässig anpries, ohne doch, wie ich gewiß glaube, von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt gewesen zu sein. Er war unerschöpflich in Aufzählung von Gründen und Beispielen, die alle dahin zielten, die Abtödtung des Fleisches zu apotheosiren. Die ganze Geschichte der Heiligen wurde durchgegangen und an ihr scharfsinnig nachgewiesen, wie ohne Ascese ein gottgefälliges Leben unmöglich sei. Um ihn zu ärgern oder mindestens zu einem Ziele zu drängen, ermahnte ich zur Nachahmung solcher Werkheiligkeit, und bestürmte sein Gemüth so lange und heftig, bis ein unverkennbarer Trübsinn ihn befiel, seine Besuche seltener wurden und fast jede Spur früherer Gesundheit sich gänzlich an ihm verlor.

»Von meinen sonstigen Freunden hörte ich, daß er seit einiger Zeit engen Umgang pflege mit einem katholischen Theologen, dessen Ruf ein höchst zweideutiger war. Man nannte mir damals den Namen dieses Mannes, die Zeit aber hat ihn aus meinem Gedächtnisse verwischt. Die allgemeine Stimme Aller, die ihn kannten, vereinigte sich dahin, daß jener Theolog ein vollendeter Jesuit sei und eine glänzende Laufbahn ihm wol nicht entgehen werde.

Eines Tages kam Eduard verstört zu mir. »Gleichmuth,« redete er mich an, »bist Du noch immer nicht überzeugt von dem Werth der Ascese, wie ihn die katholische Kirche lehrt?«

»Nein, Liebster,« versetzte ich, »vielmehr sehe ich immer mehr die Unmoralität dieser Doctrin ein, und sieht man Dich an, Eduard, so könnte man sehr leicht auf den Gedanken kommen, Du seist seit einiger Zeit von der Theorie zur Praxis übergegangen. Eduard, Du siehst sehr krank aus.«

»Ich bin es, weil ich erkannt habe, daß die Sünde an mir haftet.«

»Du bist ein Narr!« fuhr ich heraus.

»Womit willst Du diesen Beweis führen?« fragte Eduard, anscheinend gleichgiltig.

»Den Beweis Deiner Narrethei?«

»Ja, wenn ich bitten darf.«

»Es gilt!«

»Nun?«

»Wenn ich verlange, Eduard,« fuhr ich fort, nur mit Mühe ein sardonisches Lächeln unterdrückend, »Du sollst die Moralität Deiner so gepriesenen Ascese durch Selbstausübung derselben an Dir darthun, bist Du dann geneigt, dieser Forderung zu entsprechen?«

»Eine hohe Röthe überflog Eduards Gesicht. Ohne Antwort zu geben, riß er die Kleidungsstücke von seinem Körper und zeigte mir eine Schulter, die von Geißelhieben grausam zerrissen war. »Du siehst,« setzte er hinzu, »Charlatanerie liegt nicht in meinem Charakter. Was ich behaupte, kann ich auch beweisen, und damit Du diese Pönitenz nicht etwa bloß für eine vorübergehende Grille hältst, verspreche ich Dir, fünfzehn Jahre lang der Welt zu entsagen und in einem Kloster die Frivolität meines früheren Lebens zu büßen.«

»Vergebens bot ich jetzt meine ganze Beredtsamkeit auf, um den Unglücklichen von diesem Entschlusse, den ich großentheils veranlaßt hatte, zurückzubringen. Eduard beharrte darauf, berief sich auf die heiligen Ermahnungen eines wolwollenden Priesters seiner Kirche und schied, meiner verhindernden Maßregeln ungeachtet, in wenig Tagen aus dem Kreise meiner Bekannten, um als Novize in ein Kloster zu treten. Nach fünfzehn Jahren wollte er mir Nachricht geben und durch die gewonnene Seelenruhe und Herzensheiterkeit meine Zweifel für beseitigt erklären. – Er verschwand und ich habe seitdem kein Wort mehr von ihm gehört. Seine Verwandten hielten ihn für todt; Allen blieb sein Verschwinden ein Räthsel, mir aber gab es genug über den Wahnwitz schwärmerischer Gemüther zu denken.

»Von ganz entgegengesetzter Denkart und fast roh in Allem, was er that, war ein Anderer meiner Freunde, Casimir. Selten ist mir ein Mensch von so urkräftiger Natur wieder begegnet. Ihm galt nichts Fremdes, nichts Erworbenes, nur das Eigenthümliche hatte Werth für ihn und war sein Gott. Ohne viel zu sprechen, gab er doch durch das Wenige, was er in geselligen Zirkeln etwa äußerte, dem Gespräch damals noch eine glänzende Färbung; späterhin, wo sein Denken sich wüster gestaltete, verlor sich dies. Jedes seiner Worte war ein geborner Gedankenriese, oft wunderlich verwachsen, die ungeheuern Glieder noch wild durch einander geschlungen. Casimir war Dichter und einer von denen, die schon damals einen Ekel an dem Bestehenden offen aussprachen und ohne Anhänger demokratischer Regierungsmaximen zu sein, Rettung europäischer Zustände nur in völligem Umsturz des Alten für möglich hielten. Seine riesenkräftige Natur verlangte nach raffinirten Genüssen, und konnte eine Scheidung des Menschen in Geist und Materie durchaus nicht vertragen. Es grenzte an das Colossal-Burleske, wenn er von dem Genießen des Lebens sprach, was immer in den abenteuerlich genialsten Bildern und Gleichnissen geschah. Jedem Anderen würde ein ähnliches Gebahren als Münchhauserei vorgehalten worden sein, bei Casimir aber verknüpfte sich der Gedanke immer mit der That. Er lebte genau, wie er sprach. Sein Leben war so colossal, wie sein Wort.

»Dieser grauenhaft-erhabene Mensch fesselte mich wie ein Dämon in den Ring seines Zaubers. Jeder, auch nur mäßigen Enthaltsamkeit Feind, verfluchte er die Ascese in nicht zu wiederholenden Ausdrücken, und entwarf ein Bild von den Folgen derselben, das geeignet gewesen wäre, einem nervenschwachen Menschen Convulsionen zuzuziehen. Auch lebte er selbst in der That nichts weniger als ascetisch und verlockte durch seine Ausschweifungen viele Schwache zu großen Extravaganzen. Machte man ihm darüber Vorwürfe, so erwiederte er ganz gleichgiltig: »»Laßt die Ratten umkommen, so zernagen sie nicht den großen Herzbeutel der Welt, die Erde.«« – Einige Jahre währte unser Umgang, Casimir machte sich bekannt durch originelle Dichtungen, verlor sich aber in späterer Zeit ganz aus dem Gesichtskreise und ist gegenwärtig für mich so gut als gänzlich verschwunden. Starb er, so ist sein Tod gewiß eben so originell gewesen, als sein ganzes übriges Leben, und sollte er noch leben, so fürchte ich, hat die zu große Originalität seiner Natur das Nivellement der neuesten Zeit kaum ertragen können. Casimir war prädisponirt zu jener Göttlichkeit des Wahnsinnes, die bei ausgezeichneten Geistern immer durch die Monstrosität der Erscheinung selbst wie ein vulkanischer Gluthstrom hindurchleuchtet.

»Durch Eduard lernte ich noch einen Dritten kennen, dessen hohe Eigenthümlichkeit in der Consequenz lag, womit er das an sich Unmoralische zur Doctrin und damit selbst zu einer Art Moral erhob. Dieser Mann, ebenfalls Mediciner, war ein Jude und hieß Mardochai. Später fanden wir uns wieder, er mich als protestantischen Geistlichen, ich ihn als Handelsmann. Unsere Freundschaft besteht jetzt, wie damals, in bloßem Beharren auf den Principien unserer gegenseitigen Systeme. Diese durchaus morgenländische Erscheinung verschmolz das Charakteristische ihrer Nation mit der verderbten Schlauheit, wozu tausendjährige Verfolgungen sie gezwungen, zu einem höchst pikanten Allerlei, an dessen Duft man sich berauschen konnte. Mardochai stellte der Hauptlehre des Christenthums, der Liebe, die Süßigkeit des Hasses entgegen, und verstand die Heiligkeit seiner individuellen Doctrin, an deren Verallgemeinerung ich freilich nicht ganz zweifeln will, mit so diabolischer Dialektik durchzuführen, daß Mancher verstummte und der Jude als Sieger das Feld behauptete.

»Mit mir hatte dieser Todfeind alles christlichen Lebens und Denkens manchen harten Straus zu bestehen. Mardochai versäumte nie, das Christenthum die Religion des Blödsinns, der Schwindsucht, der Schwäche, des geistigen Miswachses zu nennen, und beantwortete unsere heftigen Einwürfe nur mit einem zuckenden, halb mitleidigen Lächeln.

»Ihm zur Seite in sehr innigem Verhältnisse stand ein Musiker, Friedrich Saindorf. Dieser Mensch, der mit schwärmerischer Liebe an Beethoven hing, hatte sich so ganz in Mardochai's Wesen hineingelebt, daß er mir oft wie eine Schmarotzerpflanze erschien, die ohne den Stamm, um den sie sich rankt, kein selbständiges Leben zu führen vermag. Wenig thätig bei unseren häufigen Disputationen, war er nur unablässig geneigt, auf seiner Violine Töne hervorzuzaubern, die mir oft wie ein Tanz nackter Mädchengestalten alle Sinne betäubten und mich in eine Gedankenwollust hinrissen, die mir wahrhaft gräßlich erschien. Bemerkte nun Mardochai die Wirkung dieses Spiels, so rieb er sich lachend die Hände und überließ mich dem Stachel der aufgeregten Sinne, indem er sagte: »»Nun bleiben Sie doch einmal ein moralischer Rigorist! Nehmen Sie Ihre christliche Liebe zur Stütze und bändigen Sie die Rache der Natur, die wüthend all' Ihre Nerven zerreißt.««

»Beide Männer verloren sich erst später aus meinem Gesichtskreise, und als ich ihnen wieder begegnete, war, wie bemerkt, der Eine ein jüdischer Handelsmann, der Andere ein blödsinniger Schifferknecht geworden. Das Warum? habe ich nie erfahren können, wenigstens nicht die Veranlassung zur Verstandesabwesenheit des Letzteren.« –


Hier breche ich einstweilen ab und verschiebe die Mittheilung des Ferneren auf ein andermal. Ist es aber nicht seltsam, daß ich hier mit Männern bekannt werden muß, die außergewöhnlich in ihrem innern und äußern Leben mich unwillkürlich zum Mitwisser schmerzlicher Geheimnisse machen? Mardochai und Friedrich, diese beiden Gestalten, sind bereits in den Kreis meines Lebens getreten, nicht um ihn zu erhellen, sondern nur dunkle Schlagschatten über die wenigen Lichter zu decken, die etwa noch darin aufflackern. Wer mag enträthseln, ob nicht auch noch die übrigen Figuren, die Gleichmuth mit leichten Pinselstrichen entwirft, mir begegnen in diesem verwirrten Aufenthalt? Eine drückende Ahnung beschleicht und hindert mich, weiter zu lesen in dem verhängnißvollen Manuskript. Die ganze Gesellschaft haucht mich an, wie die Atmosphäre um ein Pesthaus. Es ist nichts Gesundes in ihr, es ist der Schmerz und Gram einer müden, dem Leben schon halb abgestorbenen Societät. Daß ich Aehnliches fühle, kann mich nicht veranlassen, in engere Bekanntschaft mit ihr zu treten, nur die Theilnahme an Gleichmuth's Schicksal, das tragisch ist in seiner stillen Größe, und eine Art Neugier, von der sich Keiner ganz freizusprechen vermag, zwingen mich, fortzufahren in der begonnenen Lektüre.

Das sind nun die Glanzseiten unseres gesitteten Lebens! Müssen wir uns nicht schämen gegenüber der gesunden Kraft, die in Afrika's Wüste sich entwickelt zur plastischen Schönheit? Oder in Arabiens Felsenklüften sich die Unabhängigkeit des Geistes mit der körperlichen Kraft und Gewandtheit bewahrt? Würde nicht der dunkle Sohn in Amerika's Urwäldern den Giftschaum seiner Rede aussprudeln über die Entartung unserer Sinnesweise, sähe er die Natur in ihrer heiligen Schöne zusammenbrechen unter der zierlichen Last der Convenienz, der Bildung, der unächten Civilisation? Warum opfern wir der Einbildung so viel auf von unserer Göttlichkeit? Sind wir denn wirklich so ertrunken in dem Parfüm der Cultur, daß wir keinen Sinn mehr haben für das ewig Schöne, Große und Herrliche? Erst der Vergleich unseres armen Glanzes mit dem Reichthum jener natürlich großen Einfachheit läßt uns die Versunkenheit erkennen, in die uns die Verweichlichung hinabgestürzt hat. Es ist kein Wohlsein, kein wahres Behagen, in dem wir uns bewegen. Künstlich nur erhebt sich der gefallene Geist auf dem Aroma der Verfeinerung, weil seinen überreizten Nerven die Gesundheit nicht mehr genügt. Politik, Religion, sociales Leben, diese große Dreieinigkeit, aus der alles Volksglück erwächst, ist in Europa zum Raffinement geworden, und wer dies erkannt hat, ist müde dieser unnatürlichen Zustände. Die Zahl der Europamüden wird sich vermehren von Monat zu Monat, und wol denen, die alsdann in der Tiefe ihres Geistes ein Mittel entdecken, das sie diesem Müdesein an dem Welttheile entreißt, bevor es ausartet in eine Weltmüdigkeit!

Da singt der verrückte Mönch wieder sein tolles Lied in die stille Nacht hinein, diese bleiche Sphinx, deren beredte Zunge vielleicht das Dunkel erhellen könnte, das über meiner eigenen Zukunft liegt. – Bardeloh hat seit zwei Tagen sein Arbeitszimmer nicht mehr verlassen, Rosalie, eines jener schweigsamen Gemüther, die Alles über sich ergehen lassen, ohne zu murren und den Schmerz nur einsenken in ihr großes Herz, bewacht in lautloser Stille den Lebensgang ihres Gatten.

Soll ich auch schweigen, verkümmern, hinsiechen in unbekannter Stille? – Vielleicht! Doch jetzt lockt mich die Verheißung der Liebe zur Stärkung meiner Kräfte. – Auch ich, Raimund, bin matt und müde dieser europäischen Versumpfung, aber ich habe einen Rettungsstern am Himmel der ewigen Gerechtigkeit erkannt – und gewiß, er wird mich nicht täuschen! – O, könnte ich es hineinrufen in die Herzen aller Zerrissenen, vom Weh der Gegenwart Verstörten und Niedergedrückten, daß es für jeden größern Erdenschmerz nur eine lindernde Arzenei gibt, bereitet von der Welt – die versöhnende Liebe! Die heilige, keusche, kindlichreine Unschuld des Weibes! Nur die Liebe kann uns herausheben aus dem Strudel moderner Lebensverschlammung. Drückt ein liebendes Weib an Euer Herz, ihr europamüden Märtyrer, und die Dornenkrone wird Rosen treiben, deren süßer Liebesathem sich befruchtend um die arme Erde legen und sie einhüllen wird von neuem in das junge Morgenroth Eurer Kraft! Mag von Auguste's Munde die gleiche Kunde sich in meine Seele einschmeicheln! Ihr Kuß soll mir die Gewißheit stammeln von der nahen Welterlösung; an ihrem Busen will ich mich zum Leben wieder hinanfühlen, das mir entflohen ist unter der Angst verborgener Stürme. Heiligt die Weltheiligkeit mit dem Kusse der Liebe, so wird sich die alte Europa wieder erheben in jungfräulicher Schönheit, und als ewige Jungfrau den blühenden Kranz der Unvergänglichkeit unverwelkt auch hinübertragen in die dereinstige Geschichte der Zukunft! –

Der Mond weht seine kühlen Strahlen herein in mein Gemach, ein hoher Friede stickt am Königsmantel der Nacht seine flammenden Gebilde. – Ob nicht noch schönere Sternbilder am dunklen Himmelsbogen in Auguste's Auge für mich aufsteigen sollten? – – Ich will heut keine Blumenstöcke zerbrechen, mein Mund nur soll, ein sanft schmeichelnder Meißel des Phidias, um den Marmorglanz ihres Nackens gleiten und eine Kette brennender Rosen darein graben. Sie bat mich letzthin um einen Rosenkranz – o, wie will ich lauschen, wenn sie an meinem Geschenk den süßen Fehl eines weltheiligen Lebens abbüßt! »Ave Maria! Heilige Mutter der Liebe, bitte für uns!« –


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