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Dritte Episode: Das Glück

Zehnter Gesang

Εαν λαλω τασ γλωσσασ των ανδρωπων χαι των αγγελων αγαπην, δε μη εχω, εγινα χαλχοσ ηχων, η χυμβαλον αλαλαζον.

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen
redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein
tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

An die Korinther I, Cap. 12.

 

20. Και οι λοιποι των ανδρωπων οιτνεσ δεν εθαντωθησαν με τασ πληγασ, ουτε μετενοησαν απο των εργων των χειρων αυτων, ωστε να μη προσχυνησωσι τα δαιμονια χαι τα ειδωλα τα χρυσα χαι τα αργυρα χαι τα χαλχινα χαι τα λαθινα χαι τα ξυλινα, τα οποια ουτε να βλεπωσι δυνανται, ουτε να αχουωσιν, ουτε να περιπαιωσι.

21. χαι δεν μετενοησαν εχ των φονων αυτων, ουτε εχ των φαρμαχειων αυιων, ουτε εχ τησ πορνειασ αυτων, ουτε εχ των χλοπων αυτων.

20. Und blieben noch Leute, die nicht getötet wurden von
diesen Plagen, noch Buße thäten für die Werke ihrer Hände,
daß sie nicht anbeten die Teufel und gülderne, silberne, eherne,
steinerne, und hölzerne Götzen, welche weder sehen, noch hören,
noch wandeln können,

21. Die auch nicht Buße thäten für ihre Morde, Zauberey,
Hurerey und Dieberey.

Offenbarung Johannis. Cap. 9.

 



In der gewölbten Kanzlei des altertümlichen Pfarrhofs
Saß der Pfarrer am Schreibtisch, das Evangelium Lucas
Aufgeschlagen vor sich, und bedachte die morgige Predigt.
Mitte des Reifmonds war's und die Nacht vor Theresienkirtag,
Der seit Menschengedenken im Dorf am gewaltigen Volland
Mit dem Feste der Ernte und mit dem herbstlichen Viehmarkt
Fröhlich zusammenfiel, und also, trotz Krieges und mancher
Schlimmer Gerüchte im Land und besonders in Städten, auch heuer.

Sommerlich lau war die Nacht, ein widernatürlicher Glutwind
Brauste vom Süden herauf. Die herbstlaubraschelnden Bäume
Rings um Pfarrhof und Kirche entwirbelten Blätter und dürre
Zweige zur trockenen Erde, die Turmuhrschläge verwehten
Matt im Gepfeif und Gestöhn, und von den umgebenden Bergen
Hielten dawider den Baß die dröhnend orgelnden Wälder.
Föhnwind inmitten Oktobers! Ansonsten heißt es: »St. Gallen
Lässet den Schnee schon fallen«, doch heuer trieben die Büsche
Neuerlich Blätter und Knospen, die frühesten Falter des Frühlings
Wagten schon wieder den Flug, und Veilchen blühten und Primeln.

Ruhig, trotz offenen Fensters und all des entfesselten Aufruhrs,
Ruhig beglänzte der Docht des kleinen Petroleumlämpchens
Auf dem Tische des Pfarrers die heilige Schrift und die vielen
Flimmernd bekritzelten Blättchen, aus deren Notizen die Predigt
Werden sollte für morgen. Geschäftig und wirr durcheinander
Tickten die vielen Uhren, die rings an den sauber getünchten
Wänden des Raumes hingen und allenthalben auf Simsen,
Tischen und Kasten lagen. Sie waren beim Pfarrer »in Kost«; denn
Wo auch immer im Sprengel ein Uhrwerk stand oder fehlging,
Brachten's die Eigner herbei, und der Priester kurierte so lang an
Seinem metallenen Herzchen, bis daß es von neuem die Zeit schlug.
Aber die Menschenherzen, die widerspenstigen andern?!
Ließen auch sie sich zerlegen und dann von behutsamen Händen
Wieder zusammensetzen und liebreich richten nach Gottes
Gnädig bemessener Stunde? – Das hagere Antlitz des Hirten
War in den Wochen des Sommers geprägter und bleicher geworden.
Tiefere Schatten bedunkelten ihm die Schläfen und Wangen,
Und ein zerflatterndes Feuer entsprühte den fiebrigen Augen.
War es die schleichende Krankheit, die ihm die Seele verzehrte?
Oder war es die Seele, die heimlich versehrend am Fleisch fraß?
Eines nur brannte ihn klar: sie hatten ihn alle verlassen,
Alle, die einst seine Kinder, und taten an ihm, wie die Juden
Einst es mit Moses getan, dieweil er bei Gott auf dem Berg war:
Leerer von Sonntag zu Sonntag, seit Mammon ihr Götze geworden,
Ward es in Predigt und Messe. Der Opferstock für die Armen
Darbte des frommen Tributs. Nur greise Männer und Frauen
Sangen die Texte noch mit. Doch die jungen Stimmen, die klaren,
So ihm die eigene Seele der Knechtschaft des Staubes enthoben,
Engelsfittichen gleich, dem Wunder der Wandlung entgegen,
Sie, ach, waren verstummt. Warum denn klangen sie nicht mehr?
Wußten sie nicht, wie er litt, von ihnen verlassen, und wie er
Linkisch war ohne sie in Gottes erschütternder Nähe?

»Aber morgen, ja morgen!« und jäh zwei finstere Falten
Furchten dem Pfarrer die Stirn, »Ja morgen, da werden sie kommen!
Früh schon, in lärmenden Scharen, und nicht zum Dank für die Ernte,
Sondern weil Kirtag und Jahrmarkt und heidnische Kurzweil und Lust lockt!
Makler und Wechsler an Tischen wie einst im Vorhof des Tempels!
Händler und Possenreißer am Tage des Herrn und der Kirchweih!
Und am Abend der Tanz! Und alle Zügel der Sitte
Schleifen sie dann durch den Kot! Und täten doch besser, in Sack und
Asche einherzugehen und Gott um Vergebung zu bitten
Ihrer Sünden und Greuel!« – Die Röte heiligen Zornes
Jäh überflammte den Priester. Allein ein entsagunggestählter
Ungeheuerer Wille beugte die lodernde Stirne
Eisern in Demut nieder und preßte sie hart auf die kühlen
Seiten des Testaments, und lautlos schrie eine Seele:
»Herr, die Vergeltung ist dein! Bewahre mein Herz vor der Hoffart,
Meine Bruder zu richten! Sie wissen ja nicht, was sie tun. Oh,
Laß sie nur heimwärtsfinden! Und ich, ich will sie nicht fragen
Nach dem Warum und Wozu! Es fragt ja auch nicht der Hirte,
Wenn sich ein Lämmlein verlaufen und wenn das Verirrte zurückfand,
Ob es am Ende nur Hunger gewesen, der es zurücktrieb.
Sondern er streichelt und füttert's und hegt es und pflegt es und freut sich,
Daß es sich zärtlicher nun, das Verlorengeglaubte, an ihn schmiegt ...«

Langsam erhob der Pfarrer die Stirne, die wiederverblaßte,
Gütigen Leuchtens verklärt, von den kühlen und tränenbenetzten
Seiten des Testaments, und anders nun sprach seine Seele
»Morgen, ja morgen!« zu sich; denn morgen, ja morgen, da will er
Noch ein letztes Mal die Seinen versammeln. Und wenn dann
Alle Glocken verklungen und nur in den Wolken des Weihrauchs
Selige Lichtlein verschwimmen am Hochaltare, dann will er
Zu den Verstockten reden, daß ihre in Weltlust verdorrten
Herzen von neuem erblühen, und mit den Worten der Liebe
Wird er die Reuigen laden zum Tische des Heilands und ihnen
Gottes Zeichen erklären, die allenthalben geschahen.
»Ja, mit den Worten der Liebe! Denn also steht es geschrieben
In dem Apostelbriefe, dem ersten an die Korinther:
Sprach ich der Menschen Sprachen und hätte die Zungen der Engel,
Aber die Liebe nicht, so war' ich ein tönendes Erz und
Nur eine klingende Schelle.« – Da griff der Pfarrer zur Feder,
Tauchte gesammelt ein und, endlich selig entlastet,
Schrieb er erschauernder Hand und groß in die Mitte des Bogens
Über den Anfang der Predigt die Worte: »Geliebte im Heiland!«

Hier doch hielt er schon inne. Das ihn noch eben erfüllte,
Innig-beredtes Gedränge von liebebegeisterten Worten,
War jetzt Leere und Eis. Sein Fühlen, sein Denken verloschen!
Wohl, »Ihr Geliebten im Heiland!« und nicht wie gewöhnlich des Sonntags,
Leblos zur Formel erstarrt:
»Meine Brüder und Schwestern in Christo!«
Dieser Anfang war gut, war neu und bedeutsam. Da mochte
Diesmal ein jeder sogleich bei den ersten Worten erkennen,
Daß er als freundlicher Hirte mit Labsal und Trost kam und nicht als
Eiferer wider die Zeit und nicht mit dem Schwert der Verdammnis.
Aber nun weiter im Texte! Da lagen doch, flimmernd beschrieben,
Zettel in Fülle vor ihm: Exzerpte, Notamina, Perlen
Göttlicher Offenbarung und mild-apostolischer Weisheit!
Aber es fehlte der Faden, die Perlen zur Kette zu reihen,
Fehlte mehr als der Stil und die schlichte Rhetorik, mit der er
Sonst zu der Einfalt sprach, der gläubig-gewillten, es fehlte ...
»Hilf mir, allgütiger Gott!« entrang sich dem Priester, und mit der
Kraft seiner Seele hielt er den Zweifel im Zaume, doch dieser
Zerrte sich los und schrie: »Eine Schelle, ein tönendes Erz du!« –
Er, der soeben noch bebte im brausenden Sturmwind der Liebe?!
Er, dem noch eben entblühte die göttliche Blume Verzeihen?!
Nein, dies konnte nicht sein! So grausam hatte der Herr ihn
Nicht gestraft und verworfen, der Vater, der freilich der Menschen
Herzen und Nieren prüft. Da stand ja: Geliebte im Heiland!
Stand und war doch nicht Lüge! Doch da – o Blendwerk der Hölle! –
Die er soeben geschrieben, die kaum noch getrockneten Lettern,
Schwarz auf dem weißen Papiere, das grell und heischend vor ihm lag,
Huben zu flirren an. Ein zuchtlos Geranke von Schnörkeln
Trieben sie wuchernd aus sich! Oder waren es Schwänze und Hörner,
Zungen, satanisch gereckte, die höhnten: Geliebte im Heiland?!
Wer denn? Jene vielleicht, die deine Liebe verwarfen,
Wie man ein glitzerndes Ding, aus dem Kehricht der Straße gelesen,
Wieder zurück in den Kot tritt, nachdem sein Unwert erkannt ist?
Wer denn? Jene vielleicht, die wucherten, praßten und hurten,
Tanzten ums goldene Kalb, das Kind aus der Mutter vertrieben,
Daß es im Ausguß verkam, und ihre lebendigen Kinder
Schnöd' um Profite verrieten wie Judas Jesum den Söldnern?!

»Apage!« stöhnte der Pfarrer; der eisige, fiebernde Angstschweiß
Trat auf die Stirne des Dulders, und wie ein Ertrinkender griff er
Nach dem Buche der Bücher, das aufgeschlagen vor ihm lag.
Evangelium Lucas, das einundzwanzigste Hauptstück,
Fünfundzwanzigster Vers: »Es werden Zeichen an Sonne,
Mond und Sternen geschehen, und bange bis zur Verzweiflung
Wird es den Völkern werden. Hinschmachten werden die Menschen
In der Furcht und Erwartung der Dinge, welche da kommen
Werden. Sogar die Sterne ...« Da schlug der Pfarrer das Buch zu:
Grauen, oh, überall Grauen, wo immer er hinsah! Der Finger
Gottes drohend gereckt, und selbst aus dem Munde des Heilands
Donner des Jüngsten Gerichtes! Und er, er säumte noch immer?
Säumte und fühlte die Erde schon beben unter den Füßen!
Sah den Himmel geöffnet und Gottes reisige Scharen
Aufzubrechen gerüstet zur Schädelstätte der Menschheit!
Was gegen dieses war es, daß ihn die Seinen verlassen?
Jetzt, oh, verließ er ja sie! Er sie, der Hirte die Herde!
»Herr, meine Zunge ist schwer!« ausschrie seine Seele. »Sie werden
Deinem Knechte nicht glauben! So gib auch mir du ein Zeichen,
Wie du dem Moses es gabst, zu dem du aus loderndem Busch sprachst!
Und er machte sich auf und gehorchte und ging zu dem Volke.
Ja, er ging zu dem Volke! So gib du ein Zeichen auch mir, Herr!«

Draußen raste der Südsturm, die wipfeldurchschütterten Bäume
Brausten empört wie das Meer, wenn der Gott mit dem Dreizack es aufwühlt,
Und auf dem Dache des Pfarrhofs der blecherne Aufsatz des Schornsteins
Heulte grausig darein wie das Brüllen verwundeter Tiere.
Doch den Tumult der Natur und den Aufschrei der geistlichen Seele
Übertönte gewaltig wie Tuben des Jüngsten Gerichtes
Gottes entsetzliches Schweigen! – Da schlugen die Mitternachtsstunde,
Alle beinahe zugleich, die Uhren im Räume und brachen
So die vernichtende Sülle und, in der Not seines Herzens
Töricht und kindisch geworden, aufhorchte der Pfarrer, als wäre
Dies das erflehte Zeichen. Und siehe, die Uhren, die treuen,
Redeten wirklich zu ihm mit vertrauten Stimmen. Die eine
Rasselte lange und tief, bevor sie anhub, bedächtig
Auszuschlagen die Zwölf. Sie war im Chorus der Baß; die
Anderen, kleineren setzten mit kürzerem Schnurren zum Schlag an,
Klangen mit helleren Stimmen und trieben es heiter, doch eine,
Widerspenstig wie immer und voller Aufruhr und Bosheit,
Folgte erst lange nachher mit heiserem, höhnischem Kuckuck!
Kuckuck, Kuckuck und Kuckuck! Nicht enden wollend! Wie schrille
Stiche ins wunde Gehör, ein gellendes Höllengelächter:
»Die regulieren Sie nicht, Hochwürden! Die äfft und verlacht Sie
So wie Ihre Gemeinde, für die Sie ein Träumer und Narr sind!
Ja, ein Narr und ein Träumer, der kindisch ins Uhrwerk der Zeiten
Tappen möchte mit Fingern, nicht wissend, wieviel es geschlagen!
Aber der Zeiger der Welt weist anders die Stunde, als Sie, Herr
Pfarrer, es haben möchten! Mit Litanei und Epistel
Locken Sie keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor, und
Mit dem gebräuchlichen Speck der ewigen Seligkeit fängt man
Heute die Mäuse nicht mehr! Die wollen lieber im Diesseits
Leben und leben lassen, juchhei! Oder soll man am Ende
Fortschritt und Aufschwung behindern, Gewinne verschleudern und, während
Überall sonst in der Welt gewuchert, geschraubt und gerafft wird,
Reue und Leid erwecken und Rosenkranz beten? Warum denn?
Wegen des Krieges vielleicht? Sie haben doch selber gepredigt:
Dulce pro patria mori! Nun also, da sterben sie eben,
Jene andern, den Tod auf den Feldern der Ehre als Helden!
Sterben auf unsere Kosten, nachdem sie das Pulver verschossen,
Welches der Bürger bezahlt mit Opfern an Arbeit und Wohlstand!
Also nichts mehr geplappert von Schuld an die Toten! Die Rechnung
Haben Sie ohne den Wirt gemacht, Hochwürden, die stimmt nicht!
Jene und wir sind quitt, und Geschäft ist Geschäft, allelujah!«

»Welch eine Stimme war dies?!« aufschrie die gefolterte Seele,
Aber der Schrei blieb stumm und, gehetzt, geknebelt, von Sinnen,
Stürzte der Pfarrer zum Fenster und keuchte nach Atem. Da riß am
Finsteren Rande des Himmels vom wütenden Zerren des Sturmwinds
Plötzlich die Schwärze entzwei, und inmitten des klaffenden Spaltes
Stieg aus den wogenden Sümpfen der faulig beleuchteten Nebel
Rund ein Entsetzliches auf, eine Brunst von der schmutzigen Röte
Fieberkranken Urins, eine Scheibe, ein Ball, eine Blase!
Und die Blase erhob sich und ward ein blutüberströmtes,
Furchtbar geschändetes Haupt, das geschlossener Augen im Raum hing.
Aber schon schlug es sie auf und blinzle verstohlen, und plötzlich
War es ein Vollmondgesicht, einem Molch, einer Quappe entwendet!
Nicht doch, ein Schelmengesicht war's, verschlagen, versoffen, verdorben!
Grinsend mit goldenem Einzahn: Zu speisen gefällig? – Da wischte
Jäh eine finstere Hand die letzten erinnernden Reste
Menschlicher Züge hinweg, und riesig über der Erde,
Prall zum Zerplatzen gespannt und ekelerregend genabelt,
Hing aus den Wolken ein Bauch! Und siehe, da wuchsen dem Bauche
Plötzlich ein Sack und ein Schlauch, und der Schlauch, er glich einem Rüssel,
Der sich verkrümmte und wand und, wühlend im Blutsumpf der Menschheit,
Gold in den Ranzen schlürfte! Da schwoll auch der, und auf einmal
Schnellte der Rüssel empor und würgte und zuckte und spie das
Gierig geschlürfte, das Gold als Eiter über die Erde.
Heia, da wurde Geschmeiß in rasendem Wachstum aus allen
Schrunden und Furchen des Grunds! Haheia, da schrie es wie Brandung
Wider die Höhen empor! Haheia, da schnob es in Rudeln
Keuchenden Atems heran, schwang Steine in Fäusten und plötzlich –
Während die Lüfte erstarrten in regungslosem Entsetzen –
Glommen Gesichter auf mit fahlem phosphorischem Leuchten,
Drängten sich wütend heran, und aus den drohend geschwungnen
Fäusten entlud sich zum Heulen verzerrter Mäuler der Hagel.

Weitausgebreiteter Arme und leuchtend von heiligem Kampftrotz
Harrte der Pfarrer des Anpralls. Da traf es ihn scharf an die Stirne,
Und er brach in die Knie. Doch übermenschlichen Willens
Riß er sich taumelnd empor, erreichte den Schreibtisch und sank dort
Schwer in den ärmlichen Stuhl und weh seine blutende Seele
Schrie: »O Jerusalem, die du steinigest deine Propheten
Und die Gesandten des Herrn ermordest, wie oft hab' ich deine
Kinder versammeln wollen, wie ihre Küchlein die Henne
Unter die Flügel nimmt, die schützenden, du aber hast mich,
Hast mich niemals gehört!«

Da zuckte draußen am finstern
Sturmwindzerklüfteten Himmel der erste Blitz auf, und fernher
Rollte der Donner heran, die Erde erschütternd, und wieder
Schrie aus den Tiefen des Leids die wunde geistliche Seele:
»Wahrlich, ich sage euch, die Zeit ist erfüllet, die Schergen
Gottes brechen schon auf zum Gerichte! Der Mond und die Sterne
Stehn als Geschwüre am Himmel, und Zähneknirschen und Heulen
Ist in die Welt gekommen gewaltig! Und dennoch ist all dies
Nur der Beginn des Gerichtes! Wenn erst vom Schwerte die Besten
Werden gefallen sein, und wenn, was heute noch Ehre,
Glauben und Mut hat, dahin ist, dann werden Hyänen und Geier
Über die Menschheit kommen, und schlimmer als an den Toten
Wird sich's an denen vollziehen, die übriggeblieben! Es werden
Ihnen die Seelen verwesen lebendigen Leibes wie jenen
Nur ihr vergängliches Teil! Vergeblich werden sie rufen:
›Herr, was haben denn wir, was haben wir denn verschuldet,
Daß du uns also triffst?! Wir haben doch selbst nicht getötet,
Haben nicht Öl in das Feuer vernichtenden Hasses gegossen,
Haben uns nichts erwuchert an Wunden und Tränen!‹ Und Gottes
Stimme wird Antwort dröhnen: ›In eueren steinernen Herzen
Wurde das Erz gebrochen, aus welchem die Waffen gefertigt
Wurden wider den Bruder! An eueren stählernen Blicken
Wurden die Klingen geschärft, und mit dem Geifer der Lügen,
So ihr geglaubt und geduldet, habt ihr die Waffen vergiftet!
Darum werdet auch ihr nun anheimgegeben dem Fraße,
Und es hilft nichts, zu rechten wider Hyänen und Geier!
Denn am gesundenund reinen Fleische nicht halten sie Mahlzeit,
Sondern sie mästen sich dort nur, wo Fäulnis, Verwesung und Aas ist!‹«

Schlotternd in sich verkrümmt, von Antlitz verfärbt wie ein Toter,
Hielt sich der Pfarrer am Tisch noch, indes seine wächserne Rechte
Krampfhaft die Feder umfaßte und mit der uneingetauchten
Zeile um Zeile ins Blatt riß, und mächtig stürmten von seiner
Endlich gelösten Zunge die lodernden Worte der Predigt:

»Schlangen und Natternbrut, ihr Heuchler und Pharisäer,
Was, was habt ihr gemacht mit Gottes blühendem Garten?
Was aus den Kräften der Erde, so euch die Gnade vertraut hat?
Liebe ist die Natur den Liebenden! Selige Schönheit
Gönnt sie dem Atem und Blick! Die Mühsal des Daseins erleichternd,
Hütet sie Schätze des Glücks, Geheimnis, sich gütig entschleiernd!
Meere frachteten einst, mit Gütern die Menschheit versorgend,
Flüsse strömten durch Täler, in goldene Ebenen mündend,
Lüfte verschenkten sich freundlich an Lande, an Städte und Dörfer!
Jetzo dienen die Meere dem Hungergemetzel an Kindern!
Jetzo treiben die Flüsse statt Flößen, mit Früchten beladen.
Blutige Leichen zu Tal, und selbst aus der seligen Bläue
Himmels, der allen Menschen gemeinsame Heimat der Träume,
Donnert der tückische Tod auf wehrlos Schlummernde nieder!
›Wahrlich, ich sage euch‹, so redet der Heiland, ›es werden
Alle Sünden vergeben von meinem Vater im Himmel,
Nur eine einzige ist, und diese wird nimmer verziehn: die
Sünde wider den Geist!‹ Und wahrlich, sage auch ich euch,
Diese habt ihr begangen! Denn Gottes Geist ist die Liebe,
Ihr aber habet den Geist und im Geiste die Liebe ermordet!
Wundert es euch, ihr Verruchten, wenn ohne die Liebe die Welt zur
Stätte der Greuel geworden und wenn sich die Kräfte der Erde,
Euch durch die Gnade entdeckt, nun wider euch selber empören?!
Wehe, ich sehe den Tag, da werden nicht nur die Söldner
Schwerter führen, da wird der Bürger sich wider den Bürger
Waffnen zu Anfall und Mord! Von Lügenaposteln der Freiheit
Trunken des Hasses gemacht, wird sich der Auswurf erheben
Wider Natur und Gott! Dann stürzt, was Jahrhunderte weihten,
Nieder in Flammen und Schmutz! Blut trinken werden die Söhne
Aus den Schädeln der Väter! Die Würde der hohen Begriffe
Wird zum Barbarengelächter, und was an Gesittung die Menschheit
Mühsam genug sich errang, von den edelsten Geistern gewiesen,
Gilt dann als Laster vor denen, die viele und dumpf und gemein sind!
Und wenn sich dieses erfüllt hat, wenn Treue und Glauben dahin sind
Unter den Menschen auf Erden, wenn alle Maße verwirrt sind,
Unwert zum Werte verfälscht ist und Recht zum Unrecht zerlogen,
Wehe, dann wird sich die Vielzahl, die namenlose, die dumpfe,
Frech der All-Einheit vermessen, die Finsternis aus den Gehirnen
Wird der Leviathan sein, der das Licht der Welten verschluckt, und
Jäh aus dem Taumel der Macht, die die irdischen Throne gestürzt hat,
Reckt sich die Babel empor, so die rohe Masse zum Gott macht!
Wehe, dann stehet in Saft aus eueren Herzen die Blutsaat,
Ihr, die ihr wuchert und hurt, indessen an eueren Besten
Gott schon die Schneide prüft, mit der er auch euch einst zerschmettert!
Wehe, dann ist die Zeit des Antichristos gekommen!«

Schaudernd rief's in die Welt die verblutende Seele. Dann ward es
Dunkler und dunkler um sie, und nur wie im Traume noch sprach sie:
»Was, was wird dann mit euch, ihr einst meine Kinder, geschehen?
Ohne den Hirten mit euch? Denn ich, ich werde dann nicht mehr
Unter euch Atmenden sein. Und würd' ich's, was könnt' ich zu euch noch
Sagen, daß ihr es verstündet? Mein Herz hat die Sprache verloren.
Bin nur ein tönendes Erz mehr und nur eine klingende Schelle!
Denn ihr habt ja auch mir, auch mir die Liebe ermordet!«

Draußen tobten noch immer die Wetter wie eine Feldschlacht
Zwischen Dämonen der Nacht. Die Blitze als feurige Kugeln
Sausten zur Erde herab und zündeten. Lodernde Säulen
Schossen von Hügeln empor und zersanken wieder, nachdem das
Werk der Vernichtung vollbracht war, ins Dunkel. Dann wurde es langsam
Ruhiger in der Natur. Die stürmenden Heere der Wolken
Lichteten sich allmählich, die Donner verrollten, und als ein
Bote des Friedens ritt der Mond in der Rüstung aus Silber
Über die Walstatt dahin, den Kämpfenden Einhalt gebietend.
Göttlich strahlte sein Antlitz, das Dunkel verblaßte, die kleinern
Sterne traten zurück in die Schleier der kosmischen Ferne,
Aber die großen Gestirne, sie blieben und hielten geharnischt
Wache über der Welt, daß Frieden im ewigen Raum sei.

Da, in die dämmernde Frühe, erklangen zum ersten Gebete
Mahnend die fröstelnden Glocken; und als das Geläute vorüber,
Schwankte ein flackernd Laternlein im Zickzack querüber den Kirchplatz.
Seinen hochwürdigen Herrn zu wecken, begab sich der Mesner
In das Pfarrhaus hinüber. Allein sein behutsames Klopfen
An der Tür der Kanzlei blieb ohne Antwort. Der Pfarrer
Lag mit dem Kopf überm Tisch in wildem Fieber. Die Lampe
Flackte heruntergebrannt, doch viele beschriebene Zettel
Waren verstreut auf dem Boden und unter ihnen ein Bogen,
Der nichts andres enthielt als die Worte: »Geliebte im Heiland!«


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