Christoph Martin Wieland
Clelia und Sinibald
Christoph Martin Wieland

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Siebentes Buch.

            Indeß mit deckenden schneeweißen Schwanenflügeln
Ein goldner Engel Platz zu Röschens Häupten nimmt,
Liegt, in ein Griechisch S gekrümmt,
Herr Sinibald (bei dem mit KantharidenflügelnKantharidenflügel – Werden dem schwarzen Geiste gegeben, weil diese Fliegenart als Reizmittel zur sinnlichen Liebe dient.
Der schwarze Geist ein ander Plätzchen nimmt)
Auf seinem Sopha wie auf Igeln.
Zwar, außer daß ihm dann und wann
Ein schwerer Seufzer unwillkürlich
Entfährt, verhält er sich im Anfang so manierlich,
Daß ein gewickelt Kind nicht stiller liegen kann:
Nur Schlafen war – für einen jungen Mann
In seiner Lage – nicht natürlich;
Zur Abstinenz so wenig vorgeübt
Und, ach! so nah bei Allem, was er liebt,
Daß ihre Decke, auch vom leisesten Bewegen,
Nicht eines Daumens breit sich ungehört verschiebt –
Ein Todter hätte kaum, so nahe, still gelegen!
Und gleichwohl hielt fast über sein Vermögen
Der arme Schelm wohl eine Stunde lang
Die Buße aus, die ihm das Fräulein aufzulegen 253
Für nöthig hielt, den peinlich strengen Zwang,
In gleicher Positur, die Nasenspitze gegen
Die Rückenwand des Canapees gekehrt,
Mit Brust und Knie zusammen sich zu schmiegen
Und, von Begierden aufgezehrt,
So still wie eine Maus zu liegen.

Asmodi, der aus Neugier sehen will,
Wie lang' er's treiben wird, hält ebenfalls sich still.
Kaum aber hat die Glocke zwei geschlagen,
So reißt dem jungen Herrn der Faden der Geduld:
Und sollt' er mehr als ihre Rache wagen,
Die Straf' ist offenbar zu grausam für die Schuld!
Er wendet (ängstlicher, als hielt' er sich von Glase)
Sich um, so daß er nun der Wand den Rücken kehrt,
Reckt sein gespitztes Ohr und hebt die luft'ge Nase:
Und wie er sie ganz ruhig athmen hört,
Schiebt er von seiner Lagerstätte
Behutsam sich herab und schleicht,
Als ob er Blei an wollnen Füßen hätte,
Allmählich sich bis an Rosinens Bette.
Zu ihrer beider Glück vielleicht
Knarrt eine Diel', auf die er eben,
Um desto sicherer den rechten Fuß zu heben,
Den linken aufgedrückt, noch eh' er einen Blick
Auf sie gewagt. Ein plötzlich Erderbeben
Hätt' ihn kaum mehr erschreckt. Er fährt bestürzt zurück,
Und mit zwei weit gereckten Schritten
(Eh' eine Hand sich wenden mag) 254
Liegt er auch wieder schnarchend mitten
Auf seinem Canapee, just wie er anfangs lag.

Nach einer Weile lauscht er wieder;
Und, da sie ungefähr im Schlafe von der Wand
Sich vorwärts kehrt, sinkt ihre linke Hand
Vom Haupt', auf dem sie lag, am Seitenbrette nieder.
Sogleich fängt seine Nachtmusik
Von vornen an: doch, da er nichts mehr höret,
Und, wie es scheint, nichts ihren Schlummer störet,
Zudem der Mond den letzten Abschiedsblick
Auf Röschens Lager wirft – läßt ihn die Kantharide
Asmodi eher nicht mit Friede,
Bis er, von blindem Drang gepreßt,
Den Canapee zum zweiten Mal verläßt.

Er schleicht heran und sieht – (so blieb in seinem Leben
Ihm nie der Athem aus, so schlug das Herz ihm nie!)
Und sieht – ein Stück von einem schönern Knie,
Als einer Magdalen' ein Maler je gegeben,
In holder Rundung sanft sich aus der Decke heben.
Rosine schlummert fort. Der Jüngling steht entzückt
Und blickt und fühlt (schon schoß Asmodi wieder neben
Sein Ziel) und fühlt, indem er blickt und blickt,
So rein, als ob er nichts als Auge sey, wie göttlich
Das Schöne ist. Ihm wird ganz wunderbar
Dabei zu Muth'; allein, das Aug' ist unersättlich,
Sagt Salomon; und kurz, da sie so ruhig war,
Fühlt er zuletzt sich ein Verlangen regen, 255
Auf diesen reizenden Altar
Nur einen leisen Kuß zum Opfer hinzulegen.

Schon nähert sich dem zauberischen Rund
Mit zitternder Begier sein zugespitzter Mund,
Als, plötzlich aufgeschreckt, Rosine
Mit einem Schrei' erwacht und ihn (der nicht entflieht,
Weil er zu Marmor wird) vor ihrem Bette sieht.

Hier, Freunde, eh' ich euch mit weitrer Nachricht diene,
Wird nöthig seyn, daß Muse Cölestine
(Uraniens Kammermagd) euch aus der andern Welt
Ein Wort ins Ohr zu flüstern sich erkühne.
Wir ließen's neulich zwar, zum Schein, dahin gestellt,
Wie wenig oder viel die heilige Kathrine
Sich durch den Liebesdienst, den unsers Junkers Witz
Von ihr erschlich, beleidiget gefunden:
Allein die Wahrheit ist, er wurde hoch empfunden;
Und ihre Freundinnen, die Bärbchen, Rhadegunden
Und Urseln, die um ihren goldnen Sitz
(Als diese That erscholl) mit den Eilftausend stunden,
Erklärten sämmtlich sie für wahres Malefiz –
Doch halt! Verwegne, halt! eh dir Sanct Ernulfs Blitz
Die Zunge schlitzt! – Von überird'schen Dingen
Geziemt sich's nicht in diesem Ton zu singen!
Lass' unenthüllt, was, einem Schleier gleich,
Die Lüfte, die den Erdenball umweben,
Dem gröbern Sinn' entziehn – das unsichtbare Reich,
Worin (wiewohl ringsum von ihm umgeben)
Mit allem Blinzeln und Verdrehn 256
Kein irdisch Augenpaar je einen Stich gesehn;
Und kurz, begnüge dich, historisch uns zu sagen,
Was sich im Schlafgemach mit Röschen zugetragen.

Nach einem Schlaf, so sanft, als insgemein
Bei leichter Brust und unbeschwertem Magen
Der Frommen Schlummer ist, weckt sie (ich kann nicht sagen,
War's Täuschung oder nicht) wie eines Blitzes Schein.
Zum weiten Saal wird ihre kleine Zelle,
Und stufenweise wächst die ungewohnte Helle,
Mit einem Wohlgeruch, so unbeschreiblich fein
Und angenehm, daß Rosenöl wie ranzig
Dagegen roch. »Was wird hiervon das Ende seyn?«
Denkt sie erstaunt. – Da treten vierundzwanzig
Jungfrauen, Paar und Paar, in hohem Ernst' herein,
Gekleidet allesammt in schleppende Talare
Von feiner Wolle, weiß wie Schnee im Sonnenschein;
Das reine Gold der ausgeflochtnen Haare
Wallt längs dem Rücken dicht hinab,
Und breite goldne Gürtel halten
Das himmelblaue Kleid, das ihren Leib umgab,
Dicht an der Brust in tausend engen Falten.
So gingen sie jungfräulich, Paar und Paar,
Mit Blumen um die Schläf' und Palmen
In ihrer Hand und sangen hohe Psalmen,
So rein, so lieblich, voll und klar,
Daß Röschen außer sich voll Lieb' und Wonne war.

Und, gleich dem vollen Mond, ging mitten in der Schaar
Der empyreischen Vestalen 257
Ein königliches Weib, in purpurnem Gewand',
Um ihre Stirn ein Kreis von Strahlen,
Ein Krönchen auf dem Haupt' und in der rechten Hand
Ein bloßes Schwert, woran, wie funkelnde Rubinen,
Noch Blut in Tropfen glänzt. Sie ziehen längs der Wand
Im Saale hin, und wie sie bei Rosinen
Vorbei ziehn, wird der Chor der Jungfraun plötzlich stumm;
Sie stellen sich im Kreis' um ihre Frau herum,
Und diese spricht mit Huld in Ton und Mienen:

»Du, die von zarter Kindheit an
Nie lässig war, was ich für dich gethan,
Durch Frömmigkeit und Unschuld zu verdienen;
Erkenn', o Tochter, Katharinen,
Die dich beschützt, in mir, und daß ich dir erschienen,
Sey dir ein Pfand der mütterlichen Huld.
Mit Schwachheit tragen gern die Himmlischen Geduld:
Nur gib dich nie der bösen Lust gefangen
Und halte stets dich rein vom Gifte fremder Schuld.
Ein Mann (ihn nenne dir das Lodern deiner Wangen!)
Hat freventlich sich gegen uns vergangen.
Des Frevels bittre Frucht, Verderben, harrt auf ihn!
Doch ihn verleitete die List der Höllenschlangen,
Und für ein reuig Herz ist Gnade zu erlangen:
Drum lass' als Büßer stracks ihn aus Palerm entfliehn;
Denn ungebüßt wird Sünde nicht verziehn!«

Sie sprach's, und schnell verschwand mit seinem Lichte
Und Wohlgeruch das himmlische Gesichte.
Erwachend schaut durchs leere Schlafgemach 258
Den Fliehenden Rosine schaudernd nach,
Und statt der Heil'gen steht erschrocken
Und schamvoll, daß sie ihn so nah'
An ihrem Bett' ertappt, in seinen Cherubslocken
Der schöne Frevler vor ihr da.

Unglücklicher! Was suchst du? ruft die Schöne,
Was willst du? Schreckten dich vielleicht die Donnertöne
Der Heil'gen auch? »Laß, rief sie, stracks ihn fliehn,
Denn ungebüßt wird Sünde nicht verziehn!«

Ich hörte dich im Schlafe plötzlich schreien,
Spricht Sinibald und lief (selbst noch im Schlaf') herbei,
Zu sehn, was dir begegnet sey,
Um, thät' es Noth, dir meinen Arm zu leihen.

Du selbst, versetzt das fromme Mädchen, du,
Seit Sanct-Kathrinentag der Würger meiner Ruh,
Bist einzig Schuld an meinem Schrecken!
Hier, setze dich, ich will dir Alles rein entdecken.
Und als sie ihm hierauf, daß nicht ein Titel fehlt,
Was ihr begegnet war, erzählt,
So fährt sie fort: Der Noth, worin wir beide schweben,
Uns zu entziehn, ist nur ein einz'ger Rath.
Hier, schwöre mir, dem Allem nachzuleben,
Was mir zu Büßung deiner That
Die Heil'ge selbst vermuthlich eingegeben.
Allein, dieß sag' ich dir, gleich mit dem ersten Licht
Geht deine Buße an, sowie du dieses Zimmer
Verlassen hast; und nun und nimmer,
Als wenn du sie vollbracht, sollst du mein Angesicht 259
In Liebe wiedersehn. Schwörst und erfüllst du nicht
Von Wort zu Wort, was du mir zugeschworen,
So hast du, glaube mir, auf ewig mich verloren!

Rosine sprach dieß Wort mit solcher Energie,
Daß er (zumal so nah' an ihrem Bette)
Ihr tropfenweis sein Blut verschworen hätte.
Er fiel auf seine beiden Knie
Und schwor ihr, (was es sey, und wer ihr's eingegeben)
Dem, was sie ihm befiehlt, getreulich nachzuleben.

Wohlan, (so fährt sie drauf in sanfterm Tone fort)
Jenseits des Meeres, weit von diesem Ort,
Steigt aus Arabiens Wüsteneien,
In Wolken eingehüllt, die ew'gen Winter schneien,
In grauser Majestät der Sanct-Kathrinenberg.
Man sagt, der Aetna selbst sey gegen ihn ein Zwerg.
Denn, wenn sein Gipfel dir zum ersten Mal' erschienen,
Steigst du fünf Tage lang, und wenn der sechste graut,
Ist erst sein Fuß erreicht, auf dem die Himmelsbraut,
Sanct Helena, der heiligen Kathrinen
Vor grauer Zeit ein Gotteshaus erbaut.
Sobald du dein Gebet an diesem Ort verrichtet
Und Allem dem genug gethan,
Wozu die heil'ge Kirch' uns Gläubige verpflichtet,
Trittst du, mit Gott! den steilen Bußweg an.
Mit manchen schweren Athemzügen
Steigst du in Einem fort vier saurer Stunden lang
Und hast alsdann den Horeb erst erstiegen.
Ein kleines Kloster, zum Empfang 260
Der Pilgrime versehn, an dieses Berges Hang,
Gewähret allenfalls dir eine Lagerstelle.
Sodann beginnt dein letzter schwerster Gang,
Nachdem du eine Stunde lang
Gestiegen, an der Rebhuhnsquelle
Ein wenig ausgeruht, dann wieder ohne Rast
Von Fels zu Felsen dich hinauf gewunden hast,
(Sanct Raphael sey dein Geselle,
Und bringe dich gesund dahin!)
Dann ist dein Ziel erreicht, die heilige Capelle
Der sel'gen Jungfrau-Märtrerin,
Worin, sobald dein Knie die Schwelle
Berührt, ihr heil'ger Leib, dem Boden eingedrückt,
Des matten Pilgers Herz mit Himmelstrost erquickt.
Hier wirst du, deine Schuld zu büßen,
(So ungern Fleisch und Blut sich auch dazu versteht)
In Fasten, Wachen und Gebet
Neun Tage lang verharren müssen.
So oft die Sonn' erwacht, so oft sie niedergeht,
Soll unter Geißeln dort dein Blut zum Opfer fließen!
Groß war die Schuld, hart muß die Buße seyn.
Doch laß dich nichts von dieser Wallfahrt schrecken!
Dich wird die Heil'ge selbst mit ihrem Mantel decken
Und deinen Dornenweg mit Rosen oft bestreun.

Hier schwieg das schöne Kind. Der Jüngling, aus den Wolken
Herab gefallen, stumm und bleich,
Als hätt' ein Vampyr ihm die Adern ausgemolken
Steht ganz vernichtet von dem Streich, 261
Den ihm die heilige Kathrine
Durch Röschens fromme Einfalt spielt.
Doch was zu thun? Des Fräuleins Ton und Miene
Bewies ihm, wie gewiß sie ihres Wahns sich hielt.
Nach ihrer ganzen Denkungsweise
Schien ihr, in seinem Fall, nichts simpler, als die Reise
Zum Sanct-Kathrinenberg. Es war der einz'ge Rath,
Der einz'ge Weg, von seiner Missethat
Sich zu entledigen; der Schatten eines Zweifels
War offenbar ein Werk des leid'gen Teufels.

Gut! ruft er endlich aus, du bist Gebieterin,
Und ich dein Sklav; ich habe keinen Willen
Als, deinen Wunsch' und selbst (verzeihe!) deine Grillen
Mit schweigendem Gehorsam zu erfüllen.
Doch, holde Herzenskönigin,
Versprichst auch du, falls ich so glücklich bin,
Von dieser Wallfahrt mit dem Leben
Zurück zu kommen, mir dich selbst zum Lohn zu geben?

Mit einem süßen Blick versetzt sie: Mein Gebet
Soll, wie dein Engel, dich auf deinem Weg begleiten:
Mir sagt mein Herz, daß Alles glücklich geht;
Das Andre wird der liebe Himmel leiten!
Kommst du zurück und bringst vom Erzmandrit
Des Klosters Brief und Siegel mit,
Daß du gebüßt, und hat die Heil'ge dir verziehen,
So wird – Hier hält sie ein, und ihre Wangen glühen,
Wie Rosen glühn im Abendroth.
Doch, setzt sie gleich hinzu, jetzt ist nur Eines Noth! 262
Dich drückt Kathrinens Zorn; ihr Auge blitzt, es droht
Ihr funkelnd Schwert; sie heißt dich eilends fliehen.
So fliehe denn, gehorch dem furchtbaren Gebot,
Denn ungebüßt wird Sünde nicht verziehen!

War jemals wohl ein Glied der werthen Christenheit
Mehr um Geduld als Sinibald verlegen?
Er hätte rasend werden mögen!
Allein was half's? Und welche Möglichkeit,
Dem holden Engel zu Gefallen
Nicht, wenn sie will, noch siebenmal so weit
Als zum Kathrinenberg zu wallen?
Zwar sträubt er sich, wie ein gefangner Aal,
Häuft Wenn und Aber ohne Zahl
Und hat (so kann der Böse uns verblenden!)
Selbst gegen ihren Traum Verschiednes einzuwenden:
»Es sey ein Traum, kein wirkliches Gesicht,
Und daß sie Alles das re vera so gesehen,
Werd' ihr so leicht kein Doctor eingestehen.«
Allein Rosine, treu der echten Glaubenspflicht,
Steckt, nicht zu hören, was er spricht,
Sich beide Daumen in die Ohren,
Und immer ist ihr Schlußwort: Hältst du nicht
Buchstäblich, was du mir geschworen.
Versöhnst die Heilge nicht, so hast du mich verloren.

Gehorsam und Geduld war hier der einz'ge Rath.
Es ist doch hart, für eine Uebelthat
Zu leiden, (murmelt er) wovon man nichts genossen!
Indessen war die Nacht beinahe ganz verflossen. 263
Der Augenblick des bangen Abschieds naht.
Ein einz'ger Kuß, um den er sehnlich bat,
Wird ihm, zum Labsal auf die lange
Dornvolle Pilgrimschaft, wiewohl nur auf die Wange,
Mit vieler Schwierigkeit erlaubt.
Wer hätte sich nicht auch von allem fernern Zwange
Durch solche Strenge quitt geglaubt
Und, was die Geizige nicht geben will – geraubt?
Und grinste ihn mit klappernden Gerippen
Der ganze Todtentanz Hans HolbeinsDer Todtentanz Hans Holbeins – Dieser berühmte Künstler, geb. zu Ende des 15. Jahrhunderts zu Augsburg, malte zu Basel einen Tanz, den der Tod mit allen Ständen, Geschlechtern und Lebensaltern hält. Die Originalzeichnungen werden auf der Baseler Stadtbibliothek aufbewahrt. Er zeichnete sie nachher ins Kleine und schnitt sie in Holz. Diese Holzschnitte sind ein neues Meisterstück seiner Kunst. Man hat davon viele Ausgaben. an, er schraubt
Mit beiden Armen sich, trotz ihren blanken Hippen,
Um Röschens Leib, drückt sie mit festem Schluss'
An seine Brust und saugt den längsten Kuß,
Den Sehnsucht je geküßt, aus ihren warmen Lippen.
Das überraschte Kind erduldet was sie muß,
Und wird (wiewohl ihr jüngferlich Gewissen
Sie nicht verdammen kann) den unvergeßbarn Kuß
Auf ihrem Pfühl noch lange büßen müssen.

Natürlich kann, bei allem Widerstand
Des Fräuleins, Sinibald, der hier sich wohl befand,
Zum Abschied weniger als jemals sich entschließen.
Es schien sogar ihr halb versöhnter Blick
Für einen zweiten Kuß, ja selbst für ein Verbrechen
Von größrer Tax', ihm Ablaß zu versprechen.
Allein, Gott Lob! – zu gutem Glück
Kräht diesen Augenblick Frau Clar' im Cabinete
Den Tag durch Husten an. Mein Junker, gleich als hätte
Sie ihn bereits beim Schopf, flieht von Rosinens Bette, 264
Kriecht eilends in Sanct Thrinens Wulst zurück
Und wird, sobald die frühe Mette
Geläutet ist, noch zwischen Tag und Nacht,
Zu unaussprechlichem Behagen
Des Fräuleins, eben so wie man ihn hergebracht
Und ohne mindesten Verdacht,
Zu Meister Ralf zurück getragen. 265

 


 


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