Christoph Martin Wieland
Ueber die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey
Christoph Martin Wieland

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9.

Der Stand der Wilden ist die wahre Jugend der Welt, sagt Rousseau, und alle weitere Progressen sind zwar dem Anschein nach eben so viele Schritte zur Vollkommenheit des einzelnen Menschen, in der That aber zur Abnahme, Verunstaltung und Ausmergelung der Gattung gewesen.

Gerade das Widerspiel, guter Jean Jaques! Die Vereinigung der Menschen in große Gesellschaften ist in vielen Stücken dem einzelnen Menschen nachtheilig, befördert hingegen offenbar die Vollkommenheit der Gattung.

Der policirte Mensch ist nicht so stark, nicht so gesund, nicht so behend, nicht so herzhaft, nicht so frei, nicht so zufrieden mit seinem Zustande, als der Wilde. – Dieß ist von dem größten Theile der einzelnen Personen in dem einen und in dem andern Stande wahr; Rousseau selbst hat es so gut bewiesen, als man es nur verlangen kann.

Aber der policirte Mensch weiß sich aller seiner Kräfte unendliche Mal besser zu bedienen, ist unendliche Mal geschickter, seinen Wohlstand dauerhaft zu machen, weiß sich unendliche Mal mehr Vergnügungen zu verschaffen, eröffnet sich tausend neue Quellen von Glückseligkeit, die dem Wilden ganz unbekannt sind, ist unendliche Mal mehr Herr über die Natur u. s. w. – Alles dieß ist von den meisten Einzelnen mehr oder weniger falsch und von der ganzen Gattung wahr.

Rousseau hat also eine unrichtige Bemerkung gemacht; und wenn etwas dabei zu verwundern ist, so ist es, wie er sie hinschreiben konnte, ohne zu merken, wie wenig sie die Probe hält.

Nimmermehr wird unter Wilden oder unter irgend einem kleinen Volke, das dem ursprünglichen Stande noch nahe ist, 314 ein Palladio, ein Rafael, ein Erasmus, ein Bacon, ein Galilei, ein Locke, ein Shaftesbury, ein Montesquieu, ein Newton, ein Leibnitz gebildet werden. – Und wer kann so unwissend oder so unbillig seyn, die großen Vortheile zu mißkennen, welche sich nur allein von zehn solchen Männern unvermerkt über ganze Nationen ausbreiten und mit der Zeit über die ganze Gattung ausbreiten werden.

Bedürfnisse und Talente vermehren und verfeinern sich in großen oder wenigstens emporstrebenden Gesellschaften, durch eine wechselsweise Wirkung in einander, ins Unendliche. Die Liebe zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen, die Begierde, sich in Achtung zu setzen und Einfluß zu haben – um der Vortheile zu genießen, die damit verbunden sind – (denn welcher unter uns bekümmert sich um die Achtung der Japaner?) nöthigt Hunderttausende zu einer Anstrengung ihrer Kräfte, die dem Ganzen nützlich wird; und so wird durch den feinsten Mechanismus der Natur die Trägheit selbst, deren Gewicht den Wilden zu den Thieren herabzieht, in der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Quelle wetteifernder Thätigkeit.

Ohne Vereinigung kleiner Gesellschaften in große, ohne Geselligkeit der Staaten und Nationen unter einander, ohne die unzähligen Collisionen der mannigfaltigen Interessen aller dieser größern und kleinern Systeme der Menschen würden die edelsten Fähigkeiten unserer Natur ewig im Keim eingewickelt schlummern.

Ohne sie würde die Vernunft des Menschen nie zur Reife gelangen, sein Geschmack immer roh, seine Empfindung immer thierisch bleiben. Mit gedankenlosen Augen würde er ewig den gestirnten Himmel anschauen, ohne sich träumen zu lassen, daß er fähig sey, die Bewegungen dieses 315 unermeßlichen Uhrwerks zu berechnen. Seine Stimme würde niemals ein Mittel geworden seyn, seinen geistigen Gedanken einen Leib zu geben und die leisesten Regungen seines Herzens Andern verständlich zu machen. Tausend bewundernswürdige Künste würden, in seinem Gehirne begraben, von seinem plumpen Witze nicht entdeckt worden und seiner ungeübten Hand unmöglich geblieben seyn. Die Musen würden seinen Geist nicht verschönert, die Grazien seine Freuden nicht veredelt, die Wissenschaften ihn nicht auf den Weg geleitet haben, sich die ganze Natur zu unterwerfen. Welche Vortheile für die Gattung! Wie ist es möglich, sie zu mißkennen?

Und wie wenig kommen dagegen die zufälligen Uebel, welche mit dem gesellschaftlichen Stande verbunden sind, in Betrachtung, wenn wir erwägen, daß eben in jenen wohlthätigen Ursachen auch die bewährtesten Mittel gegen diese liegen; daß, vermöge der Natur der Dinge, so wie jene steigen, diese abnehmen, und jeder Schritt, den wir zur Vervollkommnung der Gattung thun, eine Quelle von physischen oder sittlichen Uebeln stopft, welche der allgemeinen Glückseligkeit hinderlich waren!



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