Christoph Martin Wieland
Ueber die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey
Christoph Martin Wieland

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2.

Es ist, im Vorbeigehen zu sagen, verdrießlich, daß alle die herrlichen Dinge, welche uns Plotinus, Proklus, AgrippaAgrippa, von Nettesheim, schrieb ein Werk über geheime Philosophie (de occulta philosophia)., 289 die ehrwürdige Brüderschaft vom Rosenkreuz und der Graf von Gabalis von einer geheimen Philosophie, welche sich die ganze Natur durch den edelsten Theil derselben, die Geister, unterwerfen könne, vorsagen, allem Ansehen nach blose Träumereien sind.

Ein bequemer Wagen, von einem paar fliegender Drachen oder Einhörner gezogen, und ein Sylphe oder ein Sklave der wunderbaren Lampe zur Bedienung wäre freilich eine vortreffliche Sache, um einen Mann in den Stand zu setzen, die Oberfläche unsers Planeten mit Allem, was darauf lebet, webet und ist, so gut kennen zu lernen, als seine Studirstube; mit einbedungen, daß er sich auch der Gabe der Sprachen bemächtigen müßte, ohne welche uns die CondaminenCondamine, geb. zu Paris 1701, gest. daselbst 1774, Mitglied zweier Akademien zu Paris, berühmt durch seine Reisen nach America, in der Absicht, um durch genauere Messungen unter dem Aequator die Gestalt der Erde zu bestimmen, und durch die Verdienste, die er sich hiedurch um Astronomie, Natur- und Menschenkunde erwarb. selbst nur sehr unvollkommene Nachrichten von Menschen geben können, die sie nur im Vorbeigehen wenig besser gesehen haben, als man die schönen Schattenwerke in einem Savoyardenkasten sieht.

Wie viel würde dasjenige, was Bacon von Verulam die Schatzkammer der menschlichen Erkenntnisse nennt, dabei gewinnen, wenn ein Denker, der irgend ein verwickeltes moralisches Problem aufzulösen hätte, – anstatt auf etliche unvollständige und wenig sichere Angaben hin, oder (was beinahe eben so viel ist) auf Gerathewohl zu raisonniren oder (was nicht um den Werth einer hohlen Nuß besser ist) aus willkürlichen Erklärungen und Voraussetzungen Folgerungen zu ziehen, welche immer in Gefahr schweben, von einer einzigen neuen Wahrnehmung wie Kartenhäuschen umgeblasen zu werden, – sich nur in seinen Wagen setzen und in gerader Linie dahin fahren dürfte, wo er das Orakel der Natur selbst befragen könnte; das ist, wo er weiter nichts brauchte, als die Augen aufzuthun, um zu sehen, was – was ist, 290 ohne sich die Mühe zu nehmen, die Möglichkeit dieses Was und die Bedingnisse dieser Möglichkeit und die besondern Bestimmungen dieser Bedingnisse – a priori ausfindig zu machen.

Ich will hier dahingestellt seyn lassen, wie viel oder wenig Hoffnung man sich zu machen habe, daß unsre Nachkommen einen so glücklichen Zeitpunkt für die speculativen Wissenschaften dereinst erleben werden. Gewiß ist, daß wir uns bis dahin, gern oder ungern, bequemen müssen, durch anderer Leute Augen zu gucken, wenn wir uns auf dem Erdboden umsehen wollen. Und diese Nothwendigkeit vorausgesetzt, kann man, wie es scheint, mit hinlänglichem Grunde sagen: daß der Mensch, dessen Begierden immer ins Unendliche gehen und sich an nichts Irdischem ersättigen, unter den Erdbewohnern, so wie sie nach dem ordentlichen Laufe der Natur aus der Beiwohnung eines Mannes und eines Weibes entspringen, eine sehr seltene Erscheinung sey.



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