Christoph Martin Wieland
Ueber die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey
Christoph Martin Wieland

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1.

»Das menschliche Herz ist in immerwährender Unruhe; nichts unterm Monde kann ihm Genüge thun; es ist ein unersättlicher Abgrund; seine Begierden gehen ins Unendliche, u. s. f.«

Von wie vielen sinnreichen und beredten Leuten unter Alten und Neuern, wie oft und auf wie vielerlei Art ist dieß nicht gesagt worden! – und wer hat es besser gesagt, als Pascal?

Es gibt wenige gelehrte Gemeinplätze (wenn uns erlaubt ist, das, was man locos communes nennt, durch dieses Wort im Deutschen zu bezeichnen), welche, ungeachtet der große Haufe der Gelehrten sich schon so viele Jahrhunderte darauf herumgetummelt hat, so erschöpft, zertreten und ausgenutzt seyn sollten, daß sie durch Einzäunung und Bearbeitung nicht eine neue Gestalt gewinnen und in fruchtbare Plätze verwandelt werden könnten.

Vermuthlich hat es mit dem oben angezogenen die nämliche Bewandtniß: und wiewohl diese Meinung von der Beschaffenheit unserer Begierden seit undenklichen Zeiten zu so vielen schimmernden Gegensätzen und spruchreichen Declamationen Anlaß gegeben hat; so könnte doch wohl seyn, daß das Wunderbare, Unbegreifliche und Geheimnißvolle, welches einige deßwegen auf die menschliche Natur geworfen haben, bei genauerer Untersuchung verschwände, und es auch hier erginge, 288 wie es, nach Tlantlaquakapatli's Regel, gemeiniglich mit dem Wunderbaren zu ergehen pflegt.

In der That, wenn wir uns auf dem Erdboden umsehen, so haben wir Mühe, diesen Menschen zu finden, den die besagten scharfsinnigen und beredten Leute für unser allgemeines Ebenbild ausgegeben. Und sollte es auch vielleicht in einer kleinen Anzahl sonderbarer Menschen zu finden seyn; so ist mehr als wahrscheinlich, daß Demokritus oder Sokrates diesen letztern, ehe sie sich mit ihnen eingelassen hätten, zuvor eine gute Dosis Niesewurz verordnet haben würden.

Wenn wir uns auf dem Erdboden umsehen, sagte ich? – Das ist freilich, was man schlechterdings thun muß, um den Menschen kennen zu lernen; und kennen sollte man ihn doch, um über ihn zu raisonniren. Aber wo ist derjenige, der in diesem wichtigen Geschäfte sich nicht genöthigt sieht, über das Vergangene durchaus und über das Gegenwärtige größten Theils aus fremden Augen zu sehen? Die wenigen Philosophen, welche seit dem alten Thales aus Wissenstrieb ausgezogen sind, die Söhne und Töchter des Erdbodens zu beschauen, haben doch immer nur einen kleinen Theil ihrer Zeitgenossen sehen können; und Gemelli Carreri, der Einzige, meines Wissens, der aus besagtem Triebe den ganzen Erdboden durchwandert und alle Meere durchirret zu haben vorgibt, – dieser Gemelli, so eine wichtige Miene er macht, war gewiß kein Philosoph.



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