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Die letzten Verwundeten des Krieges

(Washington 1865–66)

Sonntag Nachmittag, Anfang 1865.

Diesen Nachmittag bei kranken und verwundeten Soldaten von der südstaatlichen Armee gewesen, die uns zur Last geblieben sind: eine Anhäufung von ganz besonders schweren Fällen. Schon den vorigen Sonntag Nachmittag hatte ich bei ihnen verbracht. Damals lagen zwei im Sterben. Zwei andere sind im Laufe der Woche dahingegangen. Mehrere von ihnen haben fast den Verstand verloren. Ich machte aufmerksam den Rundgang durch den Saal. Die armen Jungens hatten etwas Aufmunterung so bitter nötig! Wenn ich bei einem saß, sahen mich die andern in den Nachbarbetten glühend an und ließen mich mit ihren Augen nicht los, solange ich in Sicht war. Keiner schien besonders nach irgendeiner Speise oder einem Trank zu verlangen.

Einer rief mich und fragte leise, welcher Religion ich angehöre. Er sagte, er sei katholisch und möchte gern jemand desselben Glaubens finden; er wollte gern ein gutes Buch lesen. Ich gab ihm was zu lesen und blieb einige Minuten bei ihm. Dann ging ich von einem zum anderen und fand ein gutes Wort für jeden. Kein einziger von all diesen hatte die geringste Zerstreuung; niemand besuchte sie; keiner hatte Geld, selbstredend. An zwei oder drei, die am ärmsten aussahen, gab ich einige kleine Geldstücke. Sie kommen fast alle aus den Südstaaten: Georgia, Mississippi, Louisiana.

Ich schrieb mehrere Briefe. Den einen für Thomas J. Bird, einen jungen Menschen mit schwerer Verwundung und Diarrhöe. Er kommt aus der Grafschaft Russell in Alabama und hat seine Heimat vor vier Jahren verlassen. An seine Mutter geschrieben, von der er seit neun Monaten keine Nachricht mehr hatte. Letzte Weihnachten am Tennessee gefangen, wurde er erst nach Nashville, dann nach Camp Chase in Ohio verschickt und dort lange zurückbehalten; in dieser ganzen Spanne Zeit hat er nicht das Geld gehabt, um sich Papier und Marken zu kaufen. Als er freigelassen war, wurden auf dem Nachhauseweg seine Wunden brandig: dazu bekam er den Durchfall, und es ging ihm sehr schlecht. Aber er hat Geduld und Ruhe; so ein rechter Bursch mit gebräuntem Gesicht und stark südlichem Dialekt: kann übrigens weder lesen noch schreiben.

Noch einen andern Brief geschrieben für John W. Morgan, 18 Jahre alt, aus Shelloh, Grafschaft Brunswick in Nordcarolina – seit 9 Monaten im Feld, Beinschuß über dem rechten Knie, Diarrhöe dazu: aber die Wunde ist schon im Zustand der Genesung. Äußerst zarter und hingegebener Junge, der mich bat, im Brief an seine Mutter seinen kleinen Bruder und seine kleine Schwester zu küssen.

(Beide Briefe steckte ich in starke Umschläge, schrieb die Adresse sehr leserlich aus und brachte sie selbst, am andern Morgen, auf die Post in Washington.)

Der große Saal, in dem ich mich befinde, ist ausschließlich für die südstaatlichen Soldaten reserviert. Ein Kranker, wohl vierzigjährig und durch Diarrhöe ganz mitgenommen und abgemagert, zog mich besonders an, wie er so dalag, die Augen starr in den Himmel gerichtet, wie tot schon. Er war so schwach, daß er jedesmal fast eine Minute brauchte, um ein paar Worte hintereinander zu stammeln; und doch war es ein offenbar kluger und gebildeter Mann. Wenn ich ihm etwas sagte, blieb er einen Augenblick still, ohne sich zu rühren: dann antwortete er, mit geschlossenen Augen und leiser Stimme, in sehr korrekter und vernünftiger Weise, aber doch mit einem Tonfall, der einem das Herz zerriß.

Er hatte dort in Mississippi Mutter, Weib und Kind, die höchstwahrscheinlich mit ihm und von ihm lebten. Nun hatte er sie lange nicht mehr gesehen. Hatte er ihnen überhaupt geschrieben, seit er in Washington lag? Keine Antwort. Ich fragte ihn noch einmal, sehr leise und sehr langsam; aber er konnte mir die Frage nicht beantworten: alles schien ihm wie erträumt. »Oh«, rief ich da, nachdem ich noch einen Moment gewartet hatte, »dann will ich ein wenig hinausgehen, und wenn ich wiederkomme, werden Sie es mir bestimmt sagen können. Wenn Sie nicht geschrieben haben, werde ich mich neben Sie setzen und an Ihrer Stelle schreiben.« Einige Minuten darauf sagte er mir, er erinnere sich jetzt, vor 2 oder 3 Tagen habe schon jemand für ihn geschrieben. Dieser Mann machte einen tiefen Eindruck auf mich. Gesicht und Arme waren völlig abgemagert, die Augen lagen tief in den Höhlen, hatten einen glasigen Glanz und waren tiefviolett umrandet. Ein paar dicke Tränen entquollen ihnen langsam und rannen auf seine Schläfen. (Das war er gewiß nicht gewohnt, daß sich jemand solange mit ihm unterhielt.) Krankheit, Gefangenschaft, Ermattung und alles andere hatten ihn körperlich völlig mitgenommen. Aber sein Verstand war noch einigermaßen klar, er konnte sich selbst an die nebensächlichsten Dinge erinnern.

Es gibt hier einige fünfzig Soldaten von der südstaatlichen Armee: elend sehen sie alle aus, elend! Viele leiden an Skorbut. Ich habe Papier, Briefumschläge und Marken unter sie verteilt und viele Adressen geschrieben.

Dienstag, 1. August, bin ich wieder hingegangen und nochmals zwei Stunden lang bei ihnen geblieben.


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