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Spitalbesuche

Sonntag, den 25. Januar.

War heute nachmittag bis 9 Uhr im Campbell-Spital. Habe mich besonders um einen Kranken im Saal I gekümmert. Sehr schwach, niedergeschlagen, nur langsam konnte ich ihn beruhigen und ihm Mut einflößen. Er bat mich, einen Brief an seine Mutter zu schreiben.

Dann im Saal VI gewesen, in dem ich mich sehr genau mit jedem einzelnen Kranken beschäftigt habe, ohne, glaube ich, auch nur einen auszulassen.

 

Donnerstag, den 29. Januar.

Den größten Teil des Tages, von 11 –3½ Uhr im Armory-Square-Spital verbracht – ziemlich eingehend die Säle F, G, H, I, mit 50 Kranken in jedem, besucht. In Saal H bekam jeder Mann ohne Ausnahme Briefpapier mit frankiertem Umschlag, außerdem erfrischende Lektüre; dann in kleinen Portionen, fast für die Hälfte des Saales reichend (und besonders an die, die es brauchten), einen großen Topf voll herrlicher Himbeerkonfitüre; daneben andere Kleinigkeiten. Einige sehr interessante Fälle in Saal I: Charles Miller, erst sechzehnjährig, tapfer, sehr intelligent, linkes Bein überm Knie amputiert. Im Bett daneben ein kleiner Bursch, dem es ganz schlecht ging. Im nächsten Bett wieder einer mit amputiertem linkem Bein, der einen Teil von der Himbeerkonfitüre erhielt. Bett I bekam Geld, desgleichen ein anderer Krüppel auf Krücken, der im nächsten Bett aufsaß.

 

Abend des gleichen Tages.

Im Campbell-Spital den oben genannten D. F. Russell in bedeutend besserer Stimmung angetroffen. Er war aufgestanden und angezogen: ein wahrer Sieg. Später konnte er zu seinem Regiment zurückkehren. In den Sälen Briefpapier verteilt und 40–50 Umschläge, meist mit Briefmarken schon versehen: man verlangte sie gierig. Dazu vier Pfund Kleingebäck aus einem Laden in der Seventh Street.

Da ist unter den vielen Betten ein Soldat, den ich schon früher getroffen habe. Er liebt es, sich mit jemand zu unterhalten; wir hören ihm zu. Er wurde an jenem denkwürdigen Samstag, 13. Dezember, in Fredericksburg am Bein und an der Seite schwer verletzt. Blieb zwei Tage und zwei Nächte lang auf dem Felde liegen, unbeweglich, mitten zwischen der Stadt und den schrecklichen Batterien; seine Kompanie und sein Regiment hatten ihn seinem Schicksal überlassen müssen. Was besonders schlimm war: er lag mit dem Kopf viel tiefer als mit dem Körper und vermochte nicht, seine Stellung zu ändern. Nach 50 Stunden wurde er mit andern aufgefunden und unter dem Schutz der weißen Fahne weggetragen.

Wir fragten ihn aus, wie die Rebellen während dieser zwei Tage und Nächte, wo er in ihrem Machtbereich lag, sich zu ihm verhielten: kamen sie? mißhandelten sie ihn? Es näherten sich verschiedentlich einige, Soldaten und auch andere. Zwei von ihnen warfen ihm böse und witzelnde Ausdrücke zu, aber sie taten ihm nichts. Nur einer, der schon etwas ältlich war und zwischen den Toten und Verwundeten auf dem Schlachtfeld in mildtätiger Absicht herumzugehen schien, behandelte ihn in einer Weise, die ihm unvergeßlich bleiben wird: er neigte sich gütig über ihn, verband seine Wunden, ermunterte ihn, gab ihm zwei Biskuits, Whisky mit Wasser, und fragte ihn, ob er ein wenig Rindfleisch essen könne. Aber dieser menschliche Feind wagte nicht, seine Lage zu verbessern, weil zu befürchten war, daß dann das aufgehaltene und trockene Blut wieder neu aus seinen Wunden brechen werde. Der arme Kerl ist aus Pennsylvanien. Er hat Schlimmes mitgemacht, er war schwer verwundet, hat aber Mut im Unglück, und jetzt geht es ihm schon besser.

Es ist gar nicht selten, daß Leute so einen oder zwei, manchmal auch vier und fünf Tage liegen bleiben.

Wer Militärspitale besucht, übt wirklich einen Beruf, eine Kunst aus, die Erfahrung und Veranlagung, vor allem aber ein gutes Menschenurteil erfordert. Viele von denen, die Spitalbesuche machen, haben keinen guten, ja oft sogar einen sehr schlechten Einfluß. Sie belästigen nur die Chirurgen. Manche kommen aus Neugier, wie zu einer zoologischen Ausstellung. Andere verschenken ganz unpassende Dinge. Und dann gibt es immer Kranke, die in der kritischen Periode ihrer Krankheit oder Verwundung einer absoluten Ruhe bedürfen: an solche sollten Fremde überhaupt nicht herankönnen. Wenige wissen, daß es nicht einfach die Geste des Schenkens ist, sondern daß die Art, wie man es tut, und die gerechte Verteilung die gute Wirkung üben. Nichts kann die Soldaten rühren, wenn nicht die ganz persönliche Anteilnahme und gewissenhafte Ergründung jedes einzelnen Falls, und dazu bedarf es scharfer kritischer Erkenntnis, vermengt mit grenzenloser, ausgesprochener, menschlicher Sympathie und unendlicher Hingabe. Diese Anteilnahme wirkt auf die Leute mehr, als alles andere. Aber ich kenne nur wenige, die das verstehen, wie wichtig es ist, sich die Zuneigung und Freundschaft dieser jungen Amerikaner zu verdienen, die da von Krankheit und Wunden hingestreckt sind.

Was mir aus der ersten Schlacht bei Fredericksburg und den Kämpfen bei Chancellorsville und in der »Wüste« bekannt ist, beweist mir, daß man für die geeignete Behandlung der Verwundeten nach einer Schlacht vollkommen unerfahren war und noch ist. Und nach langer Zeit kann man die Beweise für die Behauptung immer noch in den Spitälern antreffen.

Ich weiß von vielen Schlachten und ihrem Ausgang, aber von keiner, bei der es nicht in den ersten Tagen auf ganz unerklärliche Weise an allem Nötigen zur Behandlung der Verwundeten gefehlt hätte: an ordentlicher Nahrung, Behandlung, Hygiene, Medikamenten, Proviant usw. Ich spreche nicht von den chirurgischen Eingriffen, denn Chirurgen vermögen auch nicht mehr als das Menschenmögliche! Was auch die nordischen Zeitungen in erquicklichen Berichten erzählen mögen: dies bleibt die Tatsache. Nichts ist im voraus ernstlich vorbereitet, keine Methode, keine Voraussicht, es fehlte ganz an Erfindungsgabe. Es gab wohl ganze Mengen Proviant, aber immer ein paar Meilen entfernt und niemals an der Stelle, wo man sie braucht, nie verteilt, wie es sein sollte. Unter so viel erschütterndem Leid übertrifft doch keines die Prüfungen, die eine verlustreiche Schlacht nach sich zieht. Zu zwanzig, zu Hunderten liegen die herrlichsten Erdensöhne am Boden, ohne Klage, ohne sich rühren zu können: wund, entkräftet, verlassen sterben sie dahin, weil sie zuviel Blut verloren haben oder übermüdet sind: niemand kam, sie abzuholen, sie einfach nur aufzuheben und irgendwo niederzulegen, wo man doch alle Mittel dransetzen sollte, sie zu retten.

Und, wie gesagt, wer zu Soldaten geht, um Geschenke zu verteilen, muß Obacht geben, wie er es anstellt. Es ist überaus wichtig, keinen zu vernachlässigen, nicht einen einzigen Mann. Manche Leute, vor allem Damen, suchen sich die Schönsten heraus oder nehmen sich nur einiger an, die sie verwöhnen. Gewiß zieht es einen oft mehr zu dem oder jenem, oder der eine bedarf zärtlicherer Sorge als der andere; aber man muß aufpassen und darf keinen einzigen Kranken übersehen. Ein Wort wenigstens, ein Blick, eine Berührung mit der Hand im Vorbeigehen, wenn man mehr nicht vermag.

Ach ja, der arme John Mahan ist tot. Gestern verschied er langsam. Hat der gelitten! Hat der es schwer gehabt! Seit 15 Monaten kam ich hie und da an sein Lager. Er hatte im August 1862 in der zweiten Schlacht bei Bull Run einen Schuß in den Unterleib bekommen. Um von seinen fast zweijährigen Todeskämpfen ein Bild zu geben, will ich nur eine Szene schildern, die ich an seinem Lager erlebt habe. Eine Kugel war ihm durch die Blase hindurchgegangen. Es ist nicht lange her, da saß ich neben ihm im Saal E von Armory-Square. Sein Schmerz war so groß, daß ihm die Tränen herunterliefen und seine Gesichtsmuskeln gänzlich verzerrt waren. Aber er stöhnte nur hie und da ganz leise. Man machte ihm warme Aufschläge, die ihn ein wenig beruhigten. Armer Mahan, jung, ein Kind noch, und doch durch Schmerzen schon ein Greis! Vater und Mutter hatte er nie gekannt. In frühester Kindheit in ein Waisenhaus New Yorks gesteckt, dann einem tyrannischen Meister in der Grafschaft Sullivan als Lehrling ausgeliefert, von dessen Peitschen- und Stockhieben er noch Spuren auf seinem Rücken trug. Seine Wunde hatte außerdem äußerst unangenehme Folgen für solch einen Jungen, der ganz aus Zartheit, Reinlichkeit und Hingebung bestand. Er gewann viele Freunde im Spital. Alle Welt liebte ihn. Er wurde feierlich zu Grab getragen.

 

Was Krankenwärterinnen betrifft, so eignen sich bejahrte Damen und Hausmütter am besten zu diesem Beruf. Ich muß zugeben, daß aber Fräuleins, so fein und gelehrt und auch wohltätig sie sein mögen, als Soldatenwärterinnen wenig empfehlenswert sind, allen ihren edlen Vorsätzen zum Trotz, und auch die katholischen Schwestern nicht. Denn es handelt sich um junge Amerikaner, um freie Geister. Mütter, so wenig sie auch verstehen mögen, mütterliches Gefühl, Erinnerungen an die Heimat, diese magnetische Berührung liebevoller Hände sind wahres Labsal. So viele Verwundete sind ja erst Knaben zwischen 15 und 20 Jahren! –

 

Bei sehr vielen Kranken und Verwundeten, besonders bei den Jüngsten, vermögen persönliches Mitgefühl, Sireicheln und der magnetische Ausfluß von Sympathie und Freundschaft mehr, als alle Arzneien der Welt. Ich erzählte davon, daß ich Leckereien regelmäßig verschenkte, oder Geld oder Tabak, viele Kleinigkeiten zum Naschen. Aber immer habe ich die Beobachtung machen können, daß ich mehr nützte und die Heilung leichter beschleunigte, wenn ich eher die eben genannten Mittel anwandte. Und das in einer erstaunlich großen Anzahl von Fällen. Der amerikanische Soldat strömt über von menschlichem Zartgefühl, und dessen bedarf er auch. Vor allem aber braucht er es, wenn er da mit Wunden oder schwerer Krankheit, der Heimat fern, in einem fremden Bett ausgestreckt liegt. Vielleicht werden das viele für Sentimentalität halten: ich aber weiß, daß es eine unerschütterliche Tatsache bleibt. Ich bin fest überzeugt: ein Mensch mit Herz und der gesund ist, ein offener, starker, seelengroßer Mensch, ob Mann ob Frau, wenn er Menschlichkeit und Liebe in sich trägt, und diese mittels eines unsichtbaren und andauernden Fluidums überträgt, braucht nur zwischen den Kranken in den Sälen hin und herzugehen, um ein großes Heilmittel zu sein.


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