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Die grosse Armee der Verwundeten

Bei den tausend darniederliegenden Soldaten gibt es natürlich hier im Spital auch viele Einzelfälle. Blättre ich in meinem Tagebuch nach, weiß ich wirklich nicht, welche Beispiele herausgreifen, um ein allgemeines Bild von diesen jungen Leuten und ihren Leiden zu geben. Aber es sei mir gestattet, hier gleichfalls ganz allgemein zu bemerken, daß ich mir inmitten derartiger Schmerzen kaum mehr Treuherzigkeit und männlichen Stolz wünschen könnte, als gerade bei ihnen zu finden ist.

Da ist ein Kranker im Saal 6, Campbell-Spital, ein junger Mann aus der Grafschaft Plymouth in Massachusetts, – ein Bauernsohn, 20 bis 21 Jahre alt, zum Soldaten wie geschaffen, wie eben ein junger Amerikaner, und doch gefühlvoll und weich. Den ganzen Dezember und Januar hindurch ging es ihm sehr schlecht, und ich hatte lange Zeit keine Hoffnung mehr, daß er sich erholen würde. Eine hartnäckige Diarrhöe hatte ihn schließlich ganz heruntergebracht – sein Magen konnte das Geringste schwer vertragen: er gab es meistenteils wieder von sich. Aber das war nicht das Schlimmste. Ich muß Ihnen seine Geschichte erzählen, eine unter tausend übrigens:

Schon an der Front seit einiger Zeit erkrankt, blieb er doch beim Regiment und tat seinen Dienst, solange er konnte; erst nach der Schlacht bei Fredericksburg, an der er noch teilnahm, wurde er ins Regimentslazarett gebracht. Sein Zustand wurde dagegen immer schlimmer – er vertrug nichts von alledem, was es da gab, und der Arzt sagte, er könne an Ort und Stelle unmöglich etwas anderes für ihn tun! Der arme Junge hatte auch Fieber – fast oder gar keine Pflege (was da vielleicht nicht möglich war); so blieb er auf der Erde liegen, und es ging immer schlechter.

In der zweiten Hälfte des Dezember wurde er bei äußerster Schwäche von der Front weggebracht, im Bahnhof von Falmouth auf einen flachen Wagen, wie man sie im Norden zum Schweinetransport benutzt, gesetzt, dann, mit einer Menge von anderen, auf das Schiff von Aquia Creek transportiert; dort blieb er wie eine Lumpenmasse liegen, zu schwach, zu krank, sich zu erheben oder nur die geringste Bewegung zu machen. Niemand sprach ihn an, niemand half ihm – er blieb ohne Essen und Trinken und wurde in dieser Menge von Kranken entweder mit vollkommener Gleichgültigkeit oder, zwei bis dreimal, mit einer schonungslosen Brutalität behandelt.

Als es auf dem Schiff am Abend kalt zu werden begann, versuchte er lange Zeit, die Decken aus seinem Tornister herauszunehmen, aber er war zu schwach dazu. Einen Beamten, der über die Brücke ging, bat er, ihm die Decken herauszuziehen: der herrschte ihn an, ob er es denn nicht selber tun könne. Als er sagte, daß er es schon seit einer halben Stunde versuche, aber zu schwach dazu sei, antwortete der Kerl, dann solle er ohne Decken auskommen, und ging. So blieb H. die ganze Nacht auf der Brücke liegen, von Kälte und Feuchtigkeit erstarrt, nichts über sich, noch unter sich, und besaß doch zwei dicke Decken auf Armeslänge daneben. Darunter litt er sehr. Es hätte ihn beinahe das Leben gekostet!

In Washington wurde er ausgeschifft. Da lag er auf dem Quai, mitten in dem Haufen Kranker, wie vorher: ohne Nahrung, ohne einen Tropfen für die ausgetrocknete Kehle, ohne daß eine barmherzige Hand sich erboten hätte, ihn vor der Sonne zu schützen. Endlich wurde er in einem Lazarettwagen fast eine Meile weit geschleppt, worauf er in seinem Bett kraftlos zusammenbrach. Aber der Chefarzt des Saales (seitdem ist ein anderer an seine Stelle getreten) trat zu ihm und murmelte ihm den Befehl zu, aufzustehen: die Bestimmungen ließen es nicht zu, daß sich einer in den Kleidern so ins Bett lege. Er mußte aufstehen, erst in den Badesaal gehen, sich waschen und gänzlich umkleiden lassen (was gewiß eine sehr gute Maßregel ist, wenn sie mit Verstand ausgeführt wird). Man führte ihn zum Bad, wo er energisch mit kaltem Wasser abgerieben wurde. Die zuerst hart anpackenden Wärter erschraken aber schnell, als dieser halb erfrorene und leblose Körper ihnen kraftlos in die Hände glitt, und sie beeilten sich, ihn ins Bett zurückzubringen. Er war sichtlich ganz empfindungslos und am Ende des Erträglichen.

Arme Jungens! Dies unendliche Elend: Erschöpfung, Entbehrungen, schlechte Behandlung, keine Nahrung, nicht ein Wort, nicht eine Geste von einem Freund, aber all die verschiedenen Frechheiten von Emporkömmlingen, schamlose Ausdrücke, hartes Anfahren von Seiten Untergeordneter aller Kategorien (und übrigens auch von Vorgesetzten!) schnitten wie Messer in dies zarte Herz und erreichten schließlich, was sie wollten. Da lag er jetzt, oft nicht mehr Herr seiner Sinne, ganz schweigsam, wagte tagelang keinen Menschen etwas zu fragen, und immer enger und enger, immer sicherer bedrängte ihn der Tod. Was lag ihm daran! Im Gegenteil, er rief ihn. Er war verzweifelt. Wozu noch länger kämpfen! Gott, Welt, Menschen, alle hatten ihn verlassen. Wie gut, die Augen zu schließen, auf immer fern von aller Grausamkeit, die um ihn und gegen ihn wütete.

So stand es um ihn, als ich zufällig auf ihn aufmerksam wurde. Ich kam gegen Abend (am 4. Januar war es, glaube ich) durch den Saal 6 und bemerkte seine glasigen Augen mit dem Ausdruck von Verzweiflung und Verzicht, die tief in seinem jungen, abgemagerten und gelbgrauen Gesicht lagen. In den Spitälern lernt man schnell erraten: als ich bei ihm stehen blieb und erst einige banale Worte sagte, auf die er nicht antwortete, sah ich ihn an und wußte, daß da vor allen Dingen die Seele zu behandeln sei, und daß Nahrung und Arznei erst in zweiter Linie in Betracht kämen. Ich setzte mich ohne alle Förmlichkeit neben ihn, sprach ein wenig in ihn hinein und merkte bald, daß das half. Ich brachte es so weit, daß er selber zu sprechen anfing, daß ich ihn zu fesseln begann; ich schrieb für ihn einen Brief an seine Eltern in Massachusetts. Dann beruhigte ich ihn: er regte sich zu sehr auf, Tränen traten ihm in die Augen. Zuletzt schenkte ich ihm einige Kleinigkeiten und versprach, bald wiederzukommen.

Natürlich verlor ich ihn nicht aus den Augen, denn dieser junge Mensch hätte auch jeden andern interessieren können. Er blieb noch sehr krank, erbrach täglich, hatte noch häufig Diarrhöe und noch etwas wie einen Bronchialkatarrh, sagte der Arzt. Eine Zeitlang besuchte ich ihn fast täglich, munterte ihn auf, brachte ihm allerlei – und er trank so gern eine Tasse frische Milch, wenn die Verkäuferin in den Saal kam!

Zwei Wochen lang schwebte er noch in Gefahr; manchmal verlor ich alle Hoffnung; aber seit kurzem geht es ihm besser, er kann aufstehen, sich anziehen, und geht jetzt jeden Tag etwas länger herum.

Er wird nicht sterben.

Er ist gerettet.

Als ich neulich abends durch den Saal ging, rief er mich. Er hatte mir eine besondere Mitteilung zu machen. Ich setzte mich an den Rand des Bettes: Abendrot lag über den langen Reihen der verwundeten Soldaten, die links und rechts nebeneinander lagen. H. erklärte mir, daß ich ihm das Leben gerettet habe; er sagte das im tiefsten Ton der Überzeugung. Das ist so eine Sache, die einen Krankenbesucher in Soldatenspitälern tausendfach für alle seine Mühen entschädigt, eine jener unvergeßlichen Stunden.

In diesen Zeitläuften könnte ein wohltätiger Mensch, besitzt er nur Takt und die notwendigen Eigenschaften, auf der ganzen weiten Erde keine bessere Tat vollbringen, als hier in den Militärlazaretten zu dienen, hier bei den Tausenden von jungen und der größten Teilnahme würdigen Leuten, die so sehr viel mehr Amerikaner sind, als ich gedacht hätte. Wie soll ich den flehenden Blick schildern, der aus all diesen menschlichen Augen hervorbricht, aus all diesen engen Krankenbetten, der sich immer dreht und dir nachgeht und dich verfolgt, wenn du langsam durch die Säle schreitest! Solches mit ansehen und, bei der großen Anzahl der Kranken, nicht fähig sein zu helfen, außer nur in ganz, ganz wenigen Fällen, das zerbricht einem das Herz. Des öfteren durcheile ich den ganzen Saal, ermuntere die Soldaten, verteile hier und da ein wenig Kleingeld und regelmäßig auch Briefpapier und Umschläge, Orangen, Tabak, süßen Rahm.

Manches, was in den Spitälern vorgeht, verdient gebrandmarkt und scharf kritisiert zu werden. Die Regierung, wie gesagt, läßt es an Sorgfalt und Freigebigkeit nicht fehlen; aber die persönliche Behandlung der Kranken ist notwendigerweise Hunderten von Menschen verschiedener Grade, dem Lazarettpersonal, anvertraut, denen oft alle nötigen Eigenschaften zu diesem Beruf abgehen. Auf allen Stufen gibt es Tyrannen und Gauner, am meisten aber bei den Untergeordneten. Verschiedene Saalärzte sorgen sich zu wenig, sind außerdem roh, reizbar und streng, wo es nicht am Platze ist. Einen traf ich, der verbot den Kranken jegliche Beschäftigung, die sie zerstreuen und aufheitern könnte; für den allerkleinsten Fehler schickte er die Leute auf die Wachtstube! Im allgemeinen posieren die Angestellten zu viel, zumal die neu angekommenen, mit ihren Achselklappen und Armbinden. Wenn irgendwo auf der Welt, so sollten in den Spitälern, die diese jungen, freiwillig im Dienst fürs Vaterland verwundeten Amerikaner beherbergen, aller militärische, drillhafte Zwang, alle feierlichen Verbeugungen vor Achselklappenträgern verpönt sein. Das aber ist nicht der Fall.


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