Johann Karl Wezel
Robinson Krusoe
Johann Karl Wezel

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In weniger Erstaunen, aber größeres Vergnügen wurde Robinson versetzt, als er bei den beiden Engländern anlangte, die in dem ersten Familienzustande der Menschen lebten. Sie waren die ältesten auf der ganzen Insel und hatten eine sanfte gutherzige Gesichtsbildung, die nebst den Runzeln und dem langen Silberbarte Gewogenheit und Ehrfurcht zugleich einflößte. Eine lange Matte von Ziegenhaar und Bast hing von ihren Schultern herab; ihr Haupt bedeckte eine Mütze von Ziegenfellen. Robinson fand den einen unter ihnen, den er zuerst besuchte, mit seiner Familie bei Tische; er saß in der Mitte seiner Hütte auf einem Klotze, sein Essen auf dem Schoße; auf der einen Seite lagen seine Sklaven auf dem Fußboden um eine große unförmliche Schüssel herum, aus welcher sie mit den Händen ihre schlechte Kost herausholten und begierig verzehrten; auf der andern Seite hielten die Ziegen ihre Mahlzeit und sahen sich kauend mit neugieriger Verwunderung nach dem fremden Gaste um, als Robinson hereintrat. Der Alte war außerordentlich erfreut, einen Europäer und noch dazu einen Landsmann zu erblicken, allein da er hörte, wer es war, geriet er in einige Verlegenheit, weil er sich der Ursachen schämte, die ihn auf die Insel brachtenEr war einer von den Aufrührern auf dem englischen Schiffe, mit welchem Robinson nach Europa ging, und mußte also zur Strafe auf der Insel bleiben. ; er entschuldigte sich damit, daß er damals von seinen Kameraden hingerissen worden sei, sich den Befehlen ihres Kapitäns zu widersetzen, und daß er es seit der Zeit genug bereut und während seines Aufenthaltes in dieser Einsamkeit ganz andre Gesinnungen angenommen habe. Robinson bezeugte ihm sein Vergnügen über die glückliche Veränderung seiner Denkungsart und machte ihm viele Lobsprüche über die Treue, die er den Spaniern in den Kriegen wider die Wilden bewiesen hatte; er bot ihm zugleich Geschenke von den mitgebrachten europäischen Waren an und bat ihn, sich darunter auszulesen. »Ich bedarf nichts«, antwortete jener, »ich bin an meine itzige Lebensart, an meine Kleidung, Wohnung und Speise so gewöhnt, daß ich nichts anders noch Besseres begehre. Ich werde nur noch kurze Zeit leben, denn meine zunehmende Schwäche erinnert mich jeden Tag an den Tod; warum sollt ich also in der kurzen Zeit erst noch bequemer leben, da ich es bei dem bisherigen Mangel an Bequemlichkeit allmählich bis zur Zufriedenheit habe bringen können? Ich kann ohne Schmerz aus der Welt gehen, weil ich nichts darinne zurücklasse, kein Vergnügen, keinen Reichtum, keine Bequemlichkeit; so bilde ich mir ein, und gleichwohl fühle ich das Gegenteil; wenn ich vor meiner Tür im Sonnenschein sitze und bedenke, daß ich vielleicht bald nicht mehr da im Sonnenschein sitzen werde, daß meine Ziegen nicht mehr um mich herumhüpfen und Futter von meinen Händen empfangen werden, daß ich mit meinen Knechten, die mir wie einem Vater gehorchen, nicht mehr hier sitzen und essen soll, wenn ich mir vorstelle, daß nun bald alles aus sein, daß ich gar nichts mehr sehen noch hören noch tun soll – ach! dann wird mir's wohl mannichmal so bänglich ums Herze! Du bist auch alt, du kannst wissen, was es heißt, das Leben verlassen, wenn du jemals daran gedacht hast, aber niemals hätte ich mir träumen lassen, daß es auch schwer sein könnte, ein elendes Leben zu verlassen. Ich habe nichts als etliche Sklaven, die nicht einmal meine Sprache reden, etliche Ziegen, eine ärmliche Kost und eine ärmliche Hütte, und doch ist mir alles dies so wert, so angenehm geworden, seitdem ich mich erinnert habe, daß ich's verlassen soll – so wert, so angenehm, daß ich in dieser Armseligkeit lieber noch zehn Jahre fortleben als morgen sterben möchte. Ich bitte dich, Robinson, mache mir das Leben nicht angenehmer, damit es mir nicht noch schwerer wird, es zu verlassen.«

Er weinte, daß die Tränen in seinen grauen Bart herabtröpfelten, und Robinson fand die Tränen eines alten Seemanns äußerst rührend, der es sonst für Schande gehalten hätte, eine zu vergießen, und den Alter und Annäherung des Todes so sehr zum fühlenden Menschen gemacht hatte. Er tröstete ihn, und die beiden Alten konnten sich vor Vergnügen nicht wieder voneinander trennen; jeder erzählte dem andern die Schicksale seines Lebens, ihre Wanderungen und überstandnen Beschwerlichkeiten; jeder hatte vielleicht geflucht, als er sie ausstehen mußte, und itzt seufzte jeder, daß er bald keine mehr ausstehen sollte. »Es ist vorbei, ich werde nicht wieder dahinfahren, ich werde keinen verschimmelten Zwieback wieder essen, lieber Gott! das ist nun alles aus«, ein solches bedauerndes Sprüchelchen war allemal der Schluß jeder Erzählung. Sie trennten sich mit Mühe voneinander und nur unter dem Versprechen, daß sie eine so angenehme Unterhaltung sehr oft wiederholen wollten.

Ganz entgegengesetzte Gesinnungen fand Robinson bei dem andern Alten, der in dem nämlichen Zustande lebte; er hatte noch vieles von der Unempfindlichkeit eines Seemannes an sich, war noch frischer, aber auch unzufriedner als der vorige und war an keine seiner Habseligkeiten so gefesselt, daß er sie nicht herzlich zu verlassen wünschte. Robinson fragte ihn, ob er seines gegenwärtigen Zustandes überdrüssig wäre. »Von Herzen«, antwortete er. »Das Leben ist nicht ein Stück altes Ankertau wert; ich habe mich, solang ich auf der Welt bin, plagen müssen wie ein Hund, und nun soll ich gar noch hier in so einem elenden Lande sterben. Meine andern Kameraden verdienen sich etwas auf der See, setzen sich in England, wenn sie das nasse Element überdrüssig sind, und leben und sterben vergnügt und ruhig bei den Ihrigen, und ich muß hier hungern, jämmerlich schlafen, jämmerlich wohnen, jämmerlich essen, wie wahrhaftig in England kein Hund frißt. Ich wollte, daß morgen der Tod käme und mich vor den Kopf schlüge, ich wollte nicht sauer dazu sehen. Wozu nutzt es, daß man bei so einem Leben ein paar Wochen länger auf der Welt ist?«

Robinson war mit diesen Gesinnungen nicht sonderlich zufrieden und suchte sie ihm durch mancherlei Gründe zu benehmen, allein alle schlugen nicht halb so gut an als zwo Flaschen guter Branntewein, die ihm Robinson zu schicken versprach; diese machten ihm das Leben auf einmal wieder so erträglich, daß er den Ton ganz umstimmte und nicht mehr ungehalten sein wollte, wenn der Tod seine Ankunft noch einige Zeit verzögerte.

Den letzten unter seinen Besuchen legte Robinson bei Franzens Vater ab, der mit väterlichem Ansehn und väterlicher Gewalt seine kleine Monarchie regierte; sie bestund nur aus fünf Menschen und einigen Sklaven, und es kostete also dem Regenten weder große Selbstverleugnung noch große Mühe, ein wirklicher Vater seines Volks zu sein; seine Untertanen ernährten ihn wie Kinder ihren Vater, der es mit Dank erkennt, daß er von ihnen erhalten wird, und der sich wegen dieser Dankbarkeit für verbunden achtet, ihnen mit Rat und Tat nach allem seinen Vermögen zu dienen. Seine sanfte gute Gemütsart hatte ihm jedermanns Liebe erworben, und Robinson erblickte mit Vergnügen allenthalben Wirkungen davon: die Munterkeit, Tätigkeit und Ordnung, die in seinem ganzen Bezirke herrschte, war ein sichrer Beweis, daß die Einwohner ihren Herrn liebten und nicht durch Furcht, sondern Güte regiert wurden.

Robinson fand den Alten wie einen König aus den trojanischen Zeiten vor der Tür seiner Hütte auf einem Steine sitzend, und Franz war eben beschäftigt, ihm das Abendessen aufzutragen. Der Alte, sobald er Robinson erblickte, stund auf und ging ihm mit dem Zeremoniell entgegen, das man unter seiner Nation gegen die Priester beobachtete, weil dies die höchste Ehrenbezeugung war, die er kannte. Robinson ließ durch Franzen, der zum Dolmetscher diente, alle Komplimente verbitten und wollte als Freund empfangen sein. Um seinen Gast recht zu ehren, holte der Alte eine Ziege herbei, die er mit eigner Hand in seiner Gegenwart schlachtete; mit eigner Hand zog er ihr das Fell ab, zerlegte sie mit Hülfe seines Sohns in vier Teile, machte ein großes Feuer an, steckte ein ganzes Viertel an einen spitzigen Pfahl und ließ es an der Flamme braten. Robinson widersetzte sich aus allen Kräften dieser Höflichkeit, die ganz im Tone der homerischen und ossianischen Helden war, allein Franz bat ihn, seinen Vater nicht so zu kränken und eine Ehre zu verschmähen, die er ihm mit Freuden und aus aufrichtiger Freundschaft erzeigte; er mußte also nachgeben und den großen Braten verzehren helfen, so widrig er ihm schmeckte, weil er nicht gesalzen und noch halb roh war. Franz hatte sich unter allen Dingen der europäischen Kochkunst und der europäischen Sitten am wenigsten an das Salz und an den Gebrauch des Messers und der Gabel gewöhnen können; es schmeckte ihm daher itzo noch einmal so gut, da er ganz der Natur folgen und das Fleisch ohne andere Hülfsmittel mit den Fingern zerreißen durfte. Um durch keine Verletzung des Zeremoniells neuen Anstoß zu geben, bequemte sich Robinson auch dazu, nahm den Braten in die Hand, wie er vom Feuer kam, und riß sich ein Stück davon ab, denn als Gaste gehörte ihm der Vorgriff, die übrigen beiden folgten ihm nach, und um das Gastmahl desto feierlicher und angenehmer zu machen, rief der Alte seine Untertanen zusammen, die alle große Tonkünstler waren. Einer darunter hatte eine Art von Trommel, die aus einem aufgespannten Felle bestund und mit einem Stücke Holz gewaltig von ihm gepeitscht wurde, die begleitenden Instrumente waren Schildkrötenschalen, ein jeder hatte ihrer zwei, die er mit der äußersten Stärke aneinanderschlug. Dieses wilde Konzert wurde noch durch Gesang und Tanz verschönert, welches alles zusammen einen so himmelschreienden Lärm verursachte, daß dem armen Gaste seine europäischen Ohren zerspringen wollten. Sie lagerten sich in einiger Entfernung von dem Feuer, das zur Vermehrung der Feierlichkeit beständig in hoher Flamme erhalten wurde; der Chor begann mit seiner Instrumentalmusik und schrie dazu aus vollem Halse einige brüllende Töne; Franzens Vater als das Oberhaupt der Gesellschaft hatte die Ehre, mit seinem Sohne zuerst um das Feuer zu tanzen, und beide sangen zum Tanze, der aus den seltsamsten Stellungen und Schwenkungen bestund, und zu der fortdauernden Instrumentalmusik des Chors ein langes Lied; bei jedem Ruhepunkte desselben fiel der Chor mit seinen brüllenden Tönen ein und verstärkte die Schläge auf die Trommel und die Schildkrötenschalen. Der arme Alte, der sich die Ehre seines Gastes so eifrig angelegen sein ließ, geriet durch die Heftigkeit der Bewegung in einen Schweiß und in eine Ermattung, die ihm beinahe den Atem raubte; demungeachtet setzte er seinen Tanz und Gesang standhaft bis zu Ende fort, ob er gleich zuletzt die Töne nur herauskeuchte; da er fertig war, fiel er vor Entkräftung seinem Sohne in die Arme und ließ sich von ihm auf seinen Sitz tragen. Darauf fing der Chor seinen Tanz um das Feuer an und setzte ihn so lange fort, bis sie alle gleichfalls schwitzten und keuchten, welches um soviel eher geschehen mußte, da sie eine dreifache Anstrengung hatten, weil sie zu gleicher Zeit tanzten, sangen und die Begleitung mit ihren Instrumenten dazu machten.

Robinson hatte nicht bloß das Unglück, daß ihm diese barbarische Musik reißende Kopfschmerzen machte, sondern fühlte auch von dem ungesalznen, halb gebratnen Fleische so gefährliche Wirkungen, daß er besorgte, ein Opfer seiner Höflichkeit zu werden. Er verbarg indessen die Ursache seiner Krankheit, sosehr er konnte, um den guten Alten nicht zu betrüben, und ließ sich von Franzen, ob es gleich schon spät war, nach Hause bringen, wo er eine sehr unruhige Nacht und einen nicht viel bessern Tag zubrachte, ehe er von der Furcht zu sterben wieder befreit wurde. Sobald seine Unpäßlichkeit vorüber war, lenkte er seine Aufmerksamkeit ganz auf die Sorge für seinen kleinen Staat: er gab den mitgebrachten Zimmerleuten Befehl, in welcher Ordnung sie bauen sollten, denn er hatte sich vorgesetzt, auf einen bequemen Platz Häuser nach europäischer Art und in einer regelmäßigen Ordnung bauen zu lassen, damit aus ihnen allmählich eine Stadt erwüchse. Die Arbeiter sollten indessen auf gemeinschaftliche Kosten unterhalten und die Häuser unter die Spanier durch das Los verteilt werden.

Man war anfangs mit dieser Polizeianstalt nicht sonderlich zufrieden, nicht sowohl aus gegründeten Ursachen als vielmehr aus der allgemeinen Gewohnheit der Menschen, wider öffentliche Anstalten zu murren; die meisten verstunden sich sehr schwer zu der Abgabe an Getreide und andern Lebensmitteln, die man zum Unterhalt der Zimmerleute von ihnen foderte, und am Ende, da die Häuser stunden, erkannten sie alle, daß Robinsons Einfall nicht ganz übel gewesen wäre und daß diese gesunden und wohleingerichteten Wohnungen ihre Bequemlichkeit sehr vermehrt hätten; allein diese guten Wirkungen erlebte der Urheber der Anstalten nicht, und er hatte bei seinem Leben keinen andern Lohn dafür, als daß man ihm vorwarf, er finge Verbesserungen an, wo keine nötig wären.

Er entwarf ferner mit dem Spanier, seinem Vertrauten, einen Plan, die ganze Gesellschaft in Klassen abzuteilen, damit sich gleich übersehn ließe, wieviel ein jeder beitragen müßte, wenn eine Auflage zu machen wäre, um etwas auf gemeinschaftliche Kosten zu bestreiten, wie dies der Fall mit dem Unterhalte der Zimmerleute war. Diese Abteilung konnte man leicht machen, weil die allmählich entstandne Ungleichheit des Vermögens und der Zufall sie schon gemacht hatte; die sich in dem letzten Kriege mit den Wilden hervortaten, genossen schon seitdem eine Art von Vorzug, den sie in der Folge mit den Landbauern teilten; am meisten kamen in Ansehung des Vermögens und also auch des Ansehns diejenigen zurück, die sich mit Handarbeiten und den wenigen Künsten beschäftigten, die in den gegenwärtigen Umständen möglich waren. Also fand Robinson die kleine Gesellschaft schon wirklich in drei Klassen geteilt; da er aber seine Einteilung nach dem Vermögen, zu gemeinschaftlichen Unkosten beizutragen, machen wollte, so setzte er in die erste Klasse solche, die hundert ZiegenMan wird sich erinnern, daß bei unsern Insulanern die Ziegen der Maßstab des Wertes sind, und hundert Ziegen reich sein heißt also nicht hundert Ziegen wirklich besitzen, sondern soviel einernten, soviel Sklaven und soviel Ziegen haben, daß alles dieses zusammengenommen hundert Ziegen am Werte ausmacht. Wenn wir itzo, da Gold und Silber dieser Maßstab geworden sind, von einem Manne sagen, daß er 10 000 Taler hat, so verstehn wir auch nicht zehntausend bare Taler darunter, sondern so viele Grundstücke, Häuser und andre Dinge, als soviel Taler wert sind. reich waren, in die zweite kamen diejenigen, die sich auf fünfzig schätzten, und in die dritte alle, die weniger hatten oder sich für die Arbeit ihrer Hände ihre Bedürfnisse eintauschten. Der Grund zu einer Art von Adel war schon durch die beiden Umstände gelegt, daß einige sich durch ihre Tapferkeit im Kriege Vorzug erworben und daß die vier Reichsten die Regierung der Gesellschaft einige Zeit versehen hatten, allein dies waren nur Keime des Adels, und es gehört eine Reihe von Jahren dazu, ehe daraus ein besondrer Stand aufwachsen kann. Man wird in der Folge merken, wie Robinsons Einteilung zur Beschleunigung dieses Wachstums ein neuer Grund war.

Seine nächste Sorge betraf die gerichtliche Einrichtung: er sahe, daß es äußerst nötig war, sie auf einen festen Fuß zu setzen, weil sich die Unterdrückungen täglich häuften. Die Reichern taten das meiste Unrecht und waren immer Richter in ihrer eignen Sache, denn einen armen Schiedsrichter konnte niemand wählen, weil ein solcher keine Sklaven und also keine Macht hatte, im Falle der Widersetzung seinen Ausspruch geltend zu machen; dadurch kam es allmählich dahin, daß man seine Beschwerden immer bei einem reichen Manne anbrachte und daß endlich durch Gewohnheit die Reichern die rechtmäßigen Richter wurden. Robinson machte deswegen die Anordnung, daß dies Geschäfte nach der Reihe herumgehn und daß von Monat zu Monat zween andre Richter gewählt werden sollten, jedesmal einer aus den beiden reichen Klassen und einer aus der armen. Die Regel bei ihren Entscheidungen war ihr Gefühl von natürlicher Billigkeit und die wenigen Gewohnheiten, die sich nach und nach durch Anmaßung oder Vertrag eingeschlichen hatten. Um ihr Richteramt ohne Versäumnis ihrer eignen Geschäfte zu pflegen, setzten sie sich wöchentlich zweimal einige Stunden an einen Ort unter freiem Himmel, und wer sich über etwas zu beklagen hatte, erschien alsdann vor ihnen; jedermann, wer wollte, konnte die Klagen und die Sprüche der Richter anhören, Einwendungen dawider machen und dadurch zur richtigern Entscheidung das seinige beitragen. Zum Glücke hatten die Insulaner weder Papier noch andre Schreibmaterialien, sonst hätte ihnen gewiß Robinson auch ein Gesetzbüchelchen abgefaßt und den Grund zu neuen Ungerechtigkeiten gelegt, indem er die bisherigen vermindern wollte. Wenn eine von den Parteien sich nicht bei dem Ausspruche dieser Richter beruhigen wollte, so trug er seine Sache der Versammlung der ganzen Gesellschaft vor, die deswegen wöchentlich einmal an dem nämlichen Orte zusammenkam, und wenn die meisten die Entscheidung der Richter falsch oder ungerecht befanden, so mußten diese eine bestimmte Strafe an Getreide erlegen, welches derjenige bekam, der durch ihren ungerechten Ausspruch hatte Schaden leiden sollen; ebensoviel mußte er im entgegengesetzten Falle den Richtern bezahlen, über welche er sich ohne Grund beschwert hatte. In dieser wöchentlichen Versammlung der ganzen Gesellschaft sollten außerdem Beratschlagungen über alle Dinge gehalten werden, die nicht bloß eine einzelne Person, sondern alle zusammen angingen, über Krieg und Frieden, über Beiträge zu gemeinschaftlichen Unkosten: in jedem Falle entschied die Mehrheit der Stimmen. Eigentlich sollten für diesen Richterstuhl auch größre Verbrechen gezogen werden, die die öffentliche Sicherheit beunruhigten, wohin Mord und gewaltsamer Einbruch gehörte; allein bisher war noch keins von beiden vorgekommen, und Robinson hielt es auf den Rat seines Freundes für heilsam, durch keine Gesetze wider Verbrechen, die noch nicht vorhanden waren, Lust zu den Verbrechen zu machen. Er schränkte sich also mit seiner Gesetzgebung bloß auf solche Vergehungen ein, die häufig geschehen waren und noch geschehen konnten, und überließ es der Gesellschaft, alsdann erst Gesetze wider neue Unordnungen zu machen, wenn sie durch Zeit und Umstände unter ihnen eingeführt würden. Da man bisher noch kein Bedürfnis gefühlt hatte, die Stelle des Papiers, der Feder und der Tinte durch eine andre Schreiberfindung zu ersetzen, so mußte man Robinsons Gesetzgebung dem Gedächtnisse anvertrauen, und da nicht alle ein gleich gutes Gedächtnis hatten, um so viele Dinge pünktlich zu behalten, so entstund eine neue Gelegenheit sich hervorzutun: wer das beste Gedächtnis oder die längste Erfahrung hatte und in jedem Falle das Gesetz wieder herzusagen wußte, wurde nach einigen solchen Proben das Orakel der Richter und des Volks, er vertrat die Stelle eines lebendigen GesetzbuchsWie ohngefähr die prud' hommes bei den Franken. . Dies ging so lange an, als die Leidenschaften der einzelnen Personen nicht zu sehr vervielfältigt noch zu heftig waren; allein da in der Folge die Gegenstände der Begierden sich vermehrten und so ungleich unter die Mitglieder der Gesellschaft verteilt waren, daß manche schlechterdings entweder hungern oder stehlen oder arbeiten oder bevorteilen mußten, wenn sie leben wollten, so traute man diesen lebendigen Gesetzbüchern nicht mehr, teils wegen des Mißtrauens, das der wachsende Eigennutz erzeugte, teils weil diese Orakel dadurch ihre Glaubwürdigkeit verscherzt hatten, daß sie aus Gefälligkeit gegen sich oder einen andern die Gesetze zuweilen verfälschten. Die Gesetze mußten also mit der Religion verbunden werden, damit sie dadurch eine Heiligkeit bekamen; die Priester wurden ihre Verwahrer, denen ihre vermeinte nähere Verbindung mit einem höhern Wesen allgemeines Zutrauen verschaffte. Auch diese brachten sich um ihre Glaubwürdigkeit, und man traute niemandem als dem geschriebnen Buchstaben; auch waren die Verbrechen und die unterschiedlichen Strafen so mannigfaltig geworden, daß sie sich schwer behalten ließen; doch alles dies geschah erst spät nach Robinsons Tode, und itzt war die Gesellschaft so glücklich, daß sie ihren lebendigen Gesetzbüchern noch traute und ohne Schaden trauen konnte.

Robinson hatte schon unterwegs, als er den jungen Geistlichen von dem französischen Schiffe zu seinem Begleiter machte, den Entschluß gefaßt, durch ihn einen Gottesdienst in seiner Insel einführen zu lassen; er eröffnete ihm itzt seinen Vorsatz, und der junge Mann verstund sich ohne Weigerung dazu. Er hielt an gewissen Tagen und zu bestimmten Stunden nach den Gebräuchen der römischen Kirche, wozu er gehörte, öffentlichen Gottesdienst, und zwar unter freiem Himmel, so lange bis das Haus fertig war, das man dazu baute. Er wählte unterdessen einen Platz in einem Gebüsche dazu, wo er unter vier hohen Bäumen, die unsern Tannen ähnlich waren, einen Altar von Steinen und Rasen aufrichten ließ; die Dunkelheit des Orts, die herabhängenden dunkelgrünen Äste der hohen Bäume, das Einsame, Abgesonderte und Stille des Gebüsches, die rauhe, wilde Natur, die darinne herrschte, gab der gottesdienstlichen Szene eine Erhabenheit und Feierlichkeit und machte auf die Gemüter einen Eindruck, den die stärkste Beredsamkeit ohne Beihülfe dieser sinnlichen Umstände nicht zu machen vermocht hätte, und man kann behaupten, daß die Spanier, die schon ziemlich verwildert waren, bloß dadurch Religion bekamen. Im Grunde war freilich diese Religion nichts als Furcht vor einem unsichtbaren höhern Wesen, allein in ihrem verwilderten Zustande mußten sie erst Gott fürchten lernen, ehe sie ihn lieben konnten, deswegen suchte der Geistliche allen Religionshandlungen etwas Fürchterliches, Geheimnisvolles, Schreckliches zu geben und verband jede mit Umständen, die einen großen, erschütternden, stark sinnlichen Eindruck machten. Das Äußerliche und vielleicht auch das Innere der Religion änderte sich bei allen Völkern mit der Denkungsart und dem Geschmacke eines jeden Zeitalters, und wer die Veränderungen des Gottesdienstes auf dieser Insel in einer Reihe von Jahren übersieht, findet diese Anmerkung durchaus bestätigt: erst war er erhaben durch sein Schreckbares, Fürchterliches, durch erschütternde sinnliche Eindrücke, rauh, ohne Geschmack und Pracht, aber eindringend; dann suchte man ihm Erhabenheit durch Pracht, Glanz, Reichtum der Farben und des Lichts zu geben; endlich wurde er schön, elegant, niedlich, geschmackvoll, rührend, ergötzend. Diese dreifache Änderung bemerkt man nicht nur in den gottesdienstlichen Gebäuden, sondern auch in den Gebräuchen und Zeremonien und selbst in den Lehren, Meinungen und Vorstellungen. Alles dies hängt so genau zusammen, daß es kein Wunder ist, wenn in den folgenden Zeiten unsre Insulaner bei jeder Veränderung in ihrer Verfassung, Denkungsart, in ihren Sitten und allen äußerlichen Umständen auch den Geschmack in ihrem Gottesdienste und Religionsmeinungen änderten, ob sie gleich im Grunde beständig römisch-katholisch blieben, wie sie es itzo waren und wie es ihr erster Apostel war.

Das erste Haus, das man für den Gottesdienst baute, hatte völlig den nämlichen Charakter wie der Ort, wo man ihn hielt, ehe es fertig wurde: die Öffnungen, durch welche das Licht einfiel, waren klein, und es herrschte also eine schauerliche Dunkelheit darinne, welche die hohen, Zypressen ähnlichen Bäume noch vermehrten, wovon es umgeben war; alle Zieraten und Bilder an den innern Wänden hatten die Miene der Rohigkeit, des Wilden und Schreckenden, welches freilich zum Teil davon herrührte, weil ihre Verfertiger schlechte Künstler waren. Auf die wilden Sklaven machten alle diese Umstände den meisten Eindruck: ihre sinnlichen Seelen wurden dadurch so erschüttert, daß ihre Bekehrung nicht viel Mühe kostete; sie hatten zwar keinen einzigen deutlichern Religionsbegriff im Kopf als vorher, aber sie gingen doch gern in die Kirche, ob sie gleich wenig oder gar nichts verstunden, was ihnen darinne gesagt wurde, und die Furcht vor einem höhern Wesen nahm sie so gewaltig ein, daß man sie dadurch zu aller Arbeit zwingen konnte; ihre eigennützigen Herren brauchten diesen Kunstgriff, um ihre Arbeitsamkeit zu vermehren, und wenn sie den einfältigen Geschöpfen mit dem Zorne Gottes drohten, so zitterten sie und arbeiteten sich lieber zu Tode, um nur diesem Zorne zu entgehen.

Der Ort, wo der erste Gottesdienst gehalten wurde, behielt auch nachher beständig eine Art von Heiligkeit, ob man ihn gleich nicht mehr dazu brauchte. Man fällte keinen Baum, der dort stund; man ließ kein Vieh dort weiden und pflückte nicht einmal eine Blume oder einen Grashalm, der dort wuchs. Man las an gewissen Tagen des Jahres Messe dort, um ihm diese Heiligkeit zu erhalten, und wenn der Geistliche mit Überlegung und nicht aus bloßem Religionseifer dabei zu Werke ging, so mußte er die menschliche Natur genau kennen, denn verwilderte Gemüter, bei welchen die Sinnlichkeit ganz die Oberhand über die Vernunft hat, müssen bei jedem Schritte durch irgendeinen Gegenstand erinnert werden, daß es Religion gibt. In dieser Rücksicht war es sehr wohlgetan, daß man die heiligen Örter allmählich vermehrte, hier und da eine Kapelle baute oder eine plumpe Bildsäule hinsetzte, die eine heilige Person oder einen andern religiösen Gegenstand vorstellen sollte. Freilich erreichte man diese Absicht nur im Anfange, die Triebfeder der Religionsfurcht wurde sehr bald schlaff; man ließ sich durch sie nicht mehr antreiben noch einschränken, sondern geriet auf den sinnreichen Einfall, Böses und Gutes ohne Unterschied bloß nach den Eingebungen des Vergnügens und des Nutzens zu tun und das getane Böse durch die Religion wiedergutzumachen. Die gottesdienstlichen Verrichtungen waren nicht mehr Antriebe oder Einschränkungen, sondern wurden Vergütungsmittel, die eine barbarische Religionsfurcht der Gottheit anbot.

Da sich die Religion dieser Leute auf Furcht gründete und bloß durch das Schreckbare wirkte, so wurde die Einbildungskraft mit fürchterlichen Religionsbildern angefüllt und auf einen so schreckenden Ton gestimmt, daß sie jeden Winkel mit schwarzen ungeheuern Gestalten bevölkerte. Der Aberglaube, der daraus erwuchs, schuf allenthalben Gegenstände der Furcht: er ließ Geister herum wandeln und die Toten wieder zurückkommen; am meisten zeigten sich diese Wirkungen an den bekehrten Wilden.

Noch eine Veränderung lag Robinson sehr am Herze, die ihm aber der Eigennutz der Landeigentümer nicht ausführen ließ: er wollte gern alle Sklaven in Freiheit setzen; es sollte ihren gegenwärtigen Herren nichts dadurch entzogen werden, sondern er verlangte nur, daß man ihnen Feld zum Eigentum einräumen möchte, wo sie ihr eignes Brot bauen könnten; übrigens sollten sie ihren itzigen Herren Untertan bleiben und ihnen täglich eine festgesetzte Anzahl von Stunden arbeiten. Jedermann war dawider, und es entstund ein allgemeiner Aufruhr, wenn Robinson nicht beizeiten nachgab. Einige bequemten sich zwar in der Folge dazu, aber nicht aus Menschlichkeit, sondern aus Eigennutz: sie fanden es vorteilhafter für sich, wenn sich ihre Sklaven ihr eignes Brot schafften und räumten ihnen also ein Stück Feld pachtweise ein; es blieb den Herren eigentümlich, und die Sklaven hatten nichts als die Nutzung davon, wofür sie jenen statt des Pachtgeldes von jeder Ernte einen ausgemachten Anteil entrichteten; bei manchen wurde ein solcher Pacht auf ihre ganze Lebenszeit geschlossen. Im Grunde war aber dies keine Erleichterung für die Sklaven, sondern für die Herren, die nunmehr nicht für den Unterhalt ihrer Arbeiter zu sorgen brauchten, und diese bekamen einen desto größern Zuwachs von Arbeit, weil sie außer den Diensten, die sie ihren Herren vorher leisteten und itzo gleichfalls leisten mußten, auch für sich und ihre Familie von dem gepachteten Acker ihren Unterhalt gewinnen sollten, den sie sonst von ihren Herren bekamen.

Die Vereinigung aller fünf Gesellschaften, in welche die Insel geteilt war, zu einer einzigen großen, war auch eins von den Robinsonschen Projekten, das nicht ausgeführt wurde und dessen Ausführung vielleicht schädlicher als nützlich gewesen wäre. Er glaubte dadurch allen künftigen Kriegen vorzubeugen, aber er bedachte nicht, daß bei der itzigen Zerteilung der Einwohner die Insel besser angebaut wurde, als wenn sie auf einem kleinen Flecke beisammensaßen; er bedachte nicht, daß eine solche Vereinigung zur Unterdrückung und zu einer größern Ungleichheit des Vermögens den Grund legte. Zum Glücke war er wegen seiner friedlichen Gesinnungen und seines Alters kein Eroberer, sonst hätte ihm die Begierde, einen großen Staat zu errichten, wohl den Gedanken eingeben können, daß er alle Einwohner mit Gewalt gezwungen hätte, auf einen Haufen zusammenzuziehen.

So viele und mancherlei Anstalten gingen freilich nicht ohne Kränkung ab: manche wurden vereitelt, manche nicht so ausgeführt, wie sie sollten, um den vorgesetzten Endzweck zu befördern, und fast bei allen erkannte man den Nutzen nicht eher, als bis man ihn empfand. So häufige Widersprüche, so mannigfaltige Vereitelungen machten dem armen Regenten seine Herrschaft ein wenig schwer und sein Leben oft so bitter, daß er sich sehnlichst nach England zurück wünschte; bei jeder neuen Verdrüßlichkeit gab er Befehl, das Fahrzeug zusammenzusetzen, wozu er die Bestandteile mitgebracht hatte2. Teil, S. 147. , um darinne an den Ort zu reisen, wo ihn sein Vetter treffen wollte, und kaum war der erste Ärger verflogen, so schmerzte es ihn schon wieder, eine Insel zu verlassen, wo er noch soviel Gutes ausrichten könnte; das Fahrzeug wurde nicht zusammengesetzt, und er blieb da. Wenn sein Ärger zu hoch stieg, flüchtete er zu Franzens Vater, der ihm durch seine freundschaftliche Gutherzigkeit den Kummer benahm, und Franz trug gleichfalls durch seine Lustigkeit nicht wenig dazu bei. Dieser muntre Bursch mochte ohngefähr die Empfindung haben wie ein Fisch, der einige Zeit am trocknen Lande gelegen hat und wieder in sein Element versetzt wird; er machte soviel seltsame Sprünge und hatte so viele Einfälle, daß er den ganzen Tag nicht zu plaudern aufhörte. Robinson war von dieser harmlosen Gesellschaft so bezaubert, daß er mehr als einmal den Vorsatz faßte, sich von den Spaniern zu trennen, unter welchen alle europäische Leidenschaften und Übel herrschten, und hier sein Leben zu beschließen.

Am meisten kränkte ihn die üppige Lebensart der beiden Engländer, die über ihre Untergebnen einen so drückenden Despotismus ausübten, und er besuchte sie oft in der Hoffnung, sie von ihrem bisherigen Leben abzuziehen; doch alle seine Gründe und Vorstellungen fruchteten nichts, als daß sie die verstockten Müßiggänger wider ihn aufbrachten, und ihr Unwille ging so weit, daß sie ihm den Zugang zu ihren Wohnungen untersagten und ihn mit Gewalttätigkeit bedrohten, wenn er zu ihnen zurückkäme. Gewöhnlich fand er sie auf einer Matte liegend, ein paar Weiber bei ihnen, worunter eine ihnen den Saft einer berauschenden Wurzel in den Mund goß oder Speisen hineinstopfte, während daß die andre ihnen die Brust oder die Arme rieb oder mit einem Fächel von Baumzweigen Kühlung zuwehte. Wenn sie ihre feisten Körper einmal außer der Wohnung bewegen wollten, ließen sie sich von Sklaven tragen; waren sie auf diese Weise an den Ort geschleppt worden, wohin sie wollten, welches meistens ein nahgelegner Busch war, dann wurden sie niedergesetzt, und ihr Zeitvertreib bestund darinne, daß sie mit Blaseröhren nach den Vögeln schossen, die die Einfalt begingen, sich auf den nächsten Bäumen blicken zu lassen. Zuweilen, wenn ihnen die Vögel aus dem Wege gingen, mußte sich einer von den Trägern zum Ziel hinstellen, und es machte ihnen eine herzinnigliche Freude, wenn die Tonkugel mit hohlem Geräusche an dem nackten Buckel anprallte oder einen blauen Fleck zurückließ; diese blauen Flecke wurden als Beweise ihrer Geschicklichkeit jedesmal am Ende des Spiels gezählt. Jede Ziege, die geschlachtet werden sollte, empfing den Tod von ihren Händen; man band sie an einen Pfahl mit einem Stricke, der so lang war, daß sie ringsherum laufen konnte, alsdann schossen sie mit stumpfen Pfeilen nach ihr, und die Sprünge, welche jeder Schuß hervorbrachte, wenn er traf, waren zuweilen so seltsam, daß sie sich nicht enthalten konnten, ihre schwerfälligen Körper mit einem erschütternden Gelächter zu bewegen; das Hauptvergnügen entstund aber alsdann erst, wenn ein Schuß tödlich wurde und das Tier langsam unter mannigfaltigen Verzuckungen sein Leben ausblies. Eine solche Todesszene war für die ungestüme Sinnlichkeit dieser Barbaren das herrlichste Schauspiel, und sie sannen täglich auf neue Mittel, es länger und unterhaltender zu machen. Die übermäßigste Sättigung aller sinnlichen Triebe war ihr Geschäft, die Grausamkeit ihr Vergnügen, Ruhe und Gemächlichkeit ihr höchstes Gut.

Der Anblick so vieler Übel, die sich nicht abstellen ließen, so viele Kränkungen, Verdrüßlichkeiten, verworfne Vorschläge, mißlungne Absichten verleideten endlich dem guten Robinson den Aufenthalt auf der Insel so sehr, daß er ernstliche Anstalten machte, sie zu verlassen. Die Schaluppe wurde zusammengesetzt; der Spanier, der sein bisheriger Vertrauter gewesen war, bezeugte große Lust, ihn nach Europa zu begleiten; sie gaben also den Matrosen, die Robinsons Vetter auf diesen Fall zurückgelassen hatte, heimlich Befehl, sich bereitzuhalten, und reisten an einem Morgen in aller Frühe ab, wo es niemand vermutete. Es konnte zwar den Einwohnern der Insel nicht verborgen bleiben, daß sie beide nach Europa zurückgehen wollten, allein sie wurden dadurch betrogen, daß die Abreisenden den Termin der Abfahrt weiter hinaussetzten, als sie geschah, und diese List war darum nötig, weil sich zu viele Liebhaber fanden, die die Reise mitmachen wollten; um also die Insel nicht zu entvölkern und ihren Anbau zurückzusetzen, mußte man ihnen durch einen solchen Betrug die Zurückkehr nach Europa abschneiden, die man ihnen sonst nicht hätte verwehren können. Die Trennung von Franzen war für Robinson das empfindlichste: er hielt es für unbillig, ihm nur den Vorschlag zu tun, daß er ihn begleiten sollte, und ihn seinem alten Vater zu entreißen. Er verhehlte ihm deswegen seine vorhabende Abreise und konnte sich der Tränen kaum enthalten, als er zum letztenmal des Abends vorher mit ihm sprach; mit ebenso vieler Rührung verlor er auch seine geliebte Insel aus dem Gesichte und nahm Abschied von ihr wie von einem Freunde, den er gewiß nie wiederzusehen hoffte.

Er langte mit seinen Reisegefährten ohne allen Anstoß und alle Gefahr bei dem Sammelplatze an, den ihm sein Vetter zur Zusammenkunft bestimmt hatte. Sowenig Robinson Ursache hatte, mit den Einwohnern seiner Insel zufrieden zu sein, so konnte er doch nicht unterlassen, von hier aus etwas zu ihrem Wohlstande beizutragen: er beredete einen von den Matrosen, die ihn hieher gebracht hatten, daß er mit der Schaluppe wieder zurückging und sich auf der Insel niederließ. Er gab ihm ein Pferd und eine Stute, Schweine, Kühe, Schafe mit, die er unter die Spanier austeilen sollte, und damit die Teilung keine Unruhen erregte, machte er selbst einen Aufsatz, worinne er sie anordnete. Es fanden sich auch einige Personen, die Lust bezeugten, die Anzahl seiner Insulaner zu vermehren, besonders eine Familie, die das Unglück gehabt hatte, sich die Ungnade der heiligen Inquisition zuzuziehen. Der ganze Transport bestund außer dem Viehe aus sechs Personen, worunter einige ein Handwerk ehmals gelernt, liegengelassen hatten und auf ihrem neuen Wohnorte es wieder hervorsuchen wollten; unter den Gewächsen, die sie dort anzupflanzen gedachten, war das Zuckerrohr das erheblichste. Die Schaluppe sollte diesen Leuten zusammen eigentümlich bleiben; alles dieses versprach der Kultur der Insel, dem Fortgange der Künste und der Ausbreitung des Handels, günstige Aussichten.

Unser Abenteurer kam durch einen weiten Umweg in sein Vaterland: er begleitete seinen Vetter nach dem Vorgebürge der Guten Hoffnung, wo sie bloß frisches Wasser einnahmen, und von da nach Ostindien, wo sie sich trennten. Robinson machte Gesellschaft mit einigen Kaufleuten, die nach China gingen, dort hielten sie sich einige Zeit auf, reisten zusammen nach Moskau, und von da machte der herumschweifende Alte allein die Reise über Hamburg nach England. So ungeheuer die Strecke ist, die er durchwanderte, so hatte er doch nichts als alltägliche Zufälle, die man in jeder Reisebeschreibung antrifft; ebenso geringfügig sind die Merkwürdigkeiten, die er sieht und hört; da es also so wenig Verdienst sein würde, solche Dinge zu erzählen, als es Vergnügen machen könnte, sie zu lesen, so mag hier der Held der Geschichte sanft und ruhig entschlafen, und aus Erkenntlichkeit, daß er mir etwas zu erzählen und den Lesern etwas zu lesen gegeben hat, wollen wir seiner Asche die Ruhe wünschen, die ihn im Leben zu fliehen schien.

Eh ihm der Tod die Erlaubnis gab, von seinen Herumwandern auszuruhen, beging er noch die Torheit, seinen ältesten Sohn auf seine Insel zu schicken und ihn dadurch um Vermögen, Ruhe und Leben zu bringen. Teils geschah es aus wirklicher Gutherzigkeit, um die Umstände der Kolonisten zu verbessern, teils aber auch aus der sonderbaren Einbildung, daß er Regent und Besitzer der Insel sei und daß ihm also sein Sohn als rechtmäßiger Erbe in dem Besitze seiner Staaten nachfolgen müsse. Um dem jungen Menschen einen so wichtigen Teil seiner Verlassenschaft nicht zu entziehn, gab er ihm sein Erbteil voraus, unter der Bedingung, daß er dafür Haustiere, Ackergeräte und andre Bedürfnisse, die den Insulanern not taten, anschaffen und sie in eigner Person unter sie austeilen sollte. Die Sachen wurden unter der Anleitung des Vaters gekauft; der Sohn brachte einige Handwerksburschen zusammen, die ihr Glück in der Alten Welt nicht finden konnten oder nicht finden wollten, verdung sich mit seiner Reisegesellschaft auf ein Schiff, das nach Amerika ging, und war schon ganz trunken von der Gewalt und Hoheit, die er in seinem Reiche erwartete. Seine Geschichte ist mit der Geschichte der Kolonie so genau verwebt, daß man die eine nicht ohne die andre erzählen kann, und vermutlich wird es den Lesern nicht unangenehm sein, das Wachstum einer Gesellschaft bis zu dem Zeitpunkte zu verfolgen, wo sie zu einem großen eingerichteten festen Staate wurde; ich will nicht allemal der Zeitordnung folgen und überhaupt bei den einzelnen Begebenheiten nicht anders gedenken, als insofern sie zu einer Hauptveränderung etwas beitrugen.


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