Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 3
Johann Karl Wezel

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Zweites Kapitel.

So überzeugend dieses alles Vignali's Macht und Herrmanns Schwäche bewies, so trieb sie doch ihre Ueberlegenheit bey einem andern Vorfalle ein Paar Wochen darauf viel weiter.

Nach Schwingers BerichteIm vorhergehenden Kapitel a. d. 158. S. hatte Herrmanns Vater schon in der Mitte des Februars den christlichen Leinweber verlassen: nach langem Herumschweifen war er im May, seinem VorsatzeIm 2. B. 288. S. gemäß, zu Berlin angekommen: allein wie sollte er ohne Adresse in dem weiten Berlin seinen Sohn finden? Er lief bey allen Kaufleuten herum, ihn auszufragen, und lief so lange, bis er zu dem gewesenen Lehrherrn seines Sohnes kam, der ihn anweisen ließ: er erzählte ihm aber zugleich in der Kürze so viel von Herrmanns itzigen Umständen, daß dem Alten der Zorn aufschwoll: er nahm sich fest vor, den ungerathenen Jungen tüchtig auszuhunzen, daß er sich zu dem vornehmen Leben hätte verführen lassen.

179 Als er in Vignali's Hause anlangte und auf seine Anfrage erfuhr, daß Herrmann hier wohne und sich in diesem Zimmer bey Vignali befinde, wollte er geradezu gehn: der Bediente hielt ihn zurück und erbot sich, seinen Sohn herauszurufen. – »Was?« rief der Alte, »der Hans Lump, mein Sohn, soll mich vor der Thür sprechen?« – Aber es ist Madam Vignali's Zimmer, erwiederte der Bediente. – »Was geht mich deine Madam Maulaffe an?« schrie der Alte und stieß ihn von sich. »Ich will hinein, und wenn hundert Madams drinne steckten.« – Auch gieng er wirklich, ohne nur anzuklopfen, ins Zimmer. Herrmann erkannte sogleich seinen Vater und erschrak bis zum Zittern: der Alte hingegen lief mit aufgehobnem Stocke auf ihn zu. »Du Halunke!« war sein Gruß. »Bist du schon so hochmüthig geworden, daß du deinen Vater vor der Thür sprechen willst? Sag mir einmal, Schurke! wie wärest du denn auf die Welt gekommen, wenn ich nicht gethan hätte? Und nun soll sich dein Vater bey dir, Hans Lump, erst melden lassen? 180 Daß dus weißt, ich habe deine Mutter bey dem Leinweber sitzen lassen und bleibe bey dir. Nille hat den Durchbruch so gewaltig gekriegt, daß kein ehrlicher Mann bey ihr aushalten kan; und der Leinweber ist auch so ein verflucht frommer Kerl, daß sie mich beide so lange gepeinigt haben, bis ich davon lief. Der Narr meinte, ich wäre so ein roher Heide, daß die Gnade gar nicht bey mir durchschlagen könte: für den rohen Heiden gab ich ihm eine derbe Ohrfeige und gieng meinen Weg. – Ihr habt verdammt schlechten Brantewein in Eurer schönen Stadt: ich habe noch keinen gescheidten Tropfen hier getrunken. – Ja, mein lieber Sohn, da hab' ich etwas rechtes ausgestanden. Im Fieber kont' ich mich meiner Haut nicht wehren, da mußt' ich beten, daß mir hören und sehen vergieng. Da ich wieder bey Kräften war, ließ ich mich nicht länger plagen: ich sagte ihnen geradezu, daß sie ein Paar Narren wären, die man ins Tollhaus bringen sollte, und daß ich beten wollte, wenn ich Lust hätte: aber in der Krankheit mußt' ich alle Stunden ein Gebetbuch durchlesen: das war ein elendes Leben! – Aber 181 sage mir, Heinrich! läßt du mich denn so trocken dasitzen? Ich dächte. du köntest deinem Vater wohl etwas vorsetzen.«

Herrmann bat, ihn auf sein Zimmer zu begleiten, um Madam Vignali nicht zu belästigen, allein der Alte versicherte ihn, daß es hier sehr hübsch wäre. Er hatte während seiner Erzählung bereits einen Stuhl in Besitz genommen und saß mit voller Bequemlichkeit da, den Hut auf dem Kopfe und den Rücken nach Vignali gekehrt, die er in der ersten Berauschung seines väterlichen Grußes ganz übersah. Sie erschnappte aus seiner Anrede gerade die wenigen teutschen Worte, die sie verstund: sie hörte ihn sehr oft »Vater« wiederholen, und sogar die Benennung »mein lieber Sohn«: Herrmanns Bestürzung, als der Fremde hereintrat, die Freude, die mitten aus seiner Verwirrung hervorleuchtete, und die beständige Unruhe, womit er von Zeit zu Zeit nach ihr hinsah, machten ihr die Vermuthung ungemein wahrscheinlich, daß es sein Vater sey. Sie fragte ihn französisch, ob sie recht vermuthet habe, und eine gewisse falsche Scham 182 hielt ihn zurück, einen Mann ohne Sitten für seinen Vater vor ihr zu erkennen: er ließ ihre Frage unbeantwortet und suchte den Alten durch alle mögliche Vorstellungen auf sein Zimmer zu bringen: er war unbeweglich. Vignali sezte ihm auf der andern Seite mit gehäuften Fragen zu, daß er ihr endlich ein gestammeltes unruhiges »Oui« zur Antwort gab. Der Alte fuhr indessen ungehindert in seinen Reden fort, schlug auf den Tisch und machte tausend von seinen geräuschvollen Geberden: besonders schalt er seinen Sohn aus, daß er sich wider seine Warnung mit dem vornehmen Leben eingelassen habe. – »Was ist denn das für ein Mensch?« fragte er endlich und wies auf Vignali. – »Ich bitte um etwas mehr Anständigkeit in den Ausdrücken,« antwortete Herrmann mit ärgerlichem Tone.

Der Vater. Was? du willst deinen Vater lehren, wie er reden soll? Wenn ich mich nicht zu sehr freute, dich wiederzusehn, ich drückte dir das Genicke ein, wie einem Krammetsvogel. Ich will reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist; 183 und daran soll mich so ein vornehmer Hundejunge, wie du, nicht hindern: kein Kaiser und kein König solls, so lang er mir nicht die Zunge ausschneiden läßt. Wenn ich nur erst meinen Gaum gelezt habe, dann solls besser gehn. Aber sage mir nur, was du da stehst, wie ein alter Kehrbesen? So rühr dich doch! In den schönen Zimmern gehts verzweifelt hungerleidig zu: denkst du, daß ich satt werde, wenn ich die bunten Wände ansehe? Schaff etwas Gutes zu essen und zu trinken! dann wollen wir etwas rechtes zusammen schnaken. – Du Bube, frissest hier, wie ein Papagey im goldnen Käfig, lauter artige feine Leckerbissen, und dein armer Vater hat drey Monate her gelebt, wie ein Hundsfott: es fehlte nicht viel, so mußt' ich das Brod vor den Thüren suchen. Ich habe meiner Nille alles Geld mitgenommen, was noch da war: sie mag sehn, wie sie sich etwas verdient. Sie ist ja unter Dach und Fach, und ich muß, wie ein Storch, in der Welt herumfliegen. – Das Leben bey dem Leinweber war ein verfluchtes Leben: ich mußte Garn winden, wie ein 184 Waisenjunge, und meine Nille spann und betete laut dazu. Der Leinweber sang und accompagnirte mit seinem Weberstuhle: ich fluchte und knurrte, wie ein Bär: das war eine Teufelsmusik. – Hol mir Feuer! ich will mir mein Pfeifchen indessen anstecken, bis etwas zu trinken kömmt. – Was lauerst du denn? Deinen Vater mußt du bedienen, wenn du gleich eine ganze Goldfabrik auf dem Kleide hättest. –

Vignali, als sie ihn ein kleines beräuchertes Pfeifchen aus der Tasche ziehen sah, erzürnte sich und sprach unwillig zu Herrmann: »Sie werden doch ein solches Schwein nicht für Ihren Vater erkennen? Ich will ihn fortjagen lassen.« – Sie klingelte dem Bedienten. Herrmann, voll kochender Unruhe, lief ihr nach und beschwor sie, keine Gewalt zu gebrauchen. – »Wenn Sie sich unterstehen,« sprach sie drohend, »gegen irgend Jemanden zu bekennen, daß er Ihr Vater ist, so zittern Sie! Glauben Sie, daß Vignali sich mit der Gesellschaft eines Menschen entehren wird, der einem solchen Urang-utang angehört?« –

185 Der Bediente erschien, und Vignali gab ihm Befehl, diesen Wilden aus dem Hause zu schaffen, in Güte oder Gewalt. Herrmann bat den Bedienten inständigst, ihm nicht unsanft zu begegnen, weil er betrunken sey.

Der Vater. Was? dein Vater wäre betrunken?

Herrmann. Ich kenne keinen Vater, der sich ungesittet aufführt.

Der Vater. Du vergoldeter Halunke, willst deinen Vater verläugnen? – Die Hand wird dir aus dem Grabe wachsen.

Herrmann. Ein ungesitteter Mann kan mein Vater nicht seyn. –

Vignali. Führt ihn fort, den Trunkenbold! –

Der Bediente faßte ihn an und zerrte ihn nicht mit der sanftesten Manier nach der Thüre hin: der Alte fluchte und schimpfte unaufhörlich auf seinen gottlosen Sohn und die Hure, die ihn verleitete, ihn zu verläugnen, riß sich von dem Bedienten los und trat mitten ins Zimmer. »Sage mir,« rief er geifernd, »bin ich nicht dein Vater?« – Nein! antwortete Herrmann 186 hastig mit erstickender Beklemmung. – »O so schlage dich aller Welt Donnerwetter in die Erde zusammen, du Höllenbrut!« – das war sein Abschied; denn der Bediente schleuderte ihn unversehens zur Thür hinaus, und Vignali schob den Riegel vor.

Herrmann lief, wie ein Halbrasender, im Zimmer herum, schlug sich an die Stirn und rief aus: »O ich bin ein Ungeheuer, und Sie, Vignali, machen mich dazu.«

Vignali. Ein Thor sind Sie! – Bedauern Sie es noch, daß Sie von der schönen Anverwandtschaft befreyt sind?

Herrmann. Aber er ist mein Vater!

Vignali. Und sollt' es nicht seyn! Auch die Melone wächst aus Miste. Es ist unverschämt, daß Sie ihn in meiner Gegenwart für Ihren Vater erkannten. Ueberlegten Sie nicht, was ich empfinden mußte, den Menschen, den ich mit meiner Freundschaft beehre, als den Sohn eines solchen Ungeheuers zu erblicken? Wenn Sie es nicht überlegten, so will ich Ihnen sagen, was ich empfand – ich schämte mich Ihrer. – 187 Diese Anverwandtschaft bleibt ein Geheimniß unter uns beiden: wo Sie noch sonst Jemanden Antheil daran haben lassen dann veracht' ich Sie.

Herrmann. Und wenn Sie mich auf der Stelle mit der empfindlichsten Verachtung straften, so kan ich kein Barbar seyn und meinen Vater im Elende schmachten lassen.

Vignali. Wer verlangt denn das? – Er soll essen und trinken, so viel ihm beliebt: nur Ihr Vater darf er nicht seyn. Ich will ihm einen Louisdor geben: dann mag er den Weg wieder nach Hause suchen. –

Sie rief dem Bedienten, der mit der Nachricht zurückkam, daß der Mann verrückt seyn müßte; er sey gar nicht aus dem Haus zu bringen. Er überlieferte ihm auf Vignali's Befehl den Louisdor, allein der Alte warf ihn fluchend auf die Erde und gieng mit den schrecklichsten Verwünschungen fort.

»O des empfindlichen Knabens!« fieng Vignali spöttelnd an, als der Bediente dieses 188 erzählt hatte. »Sie sollten sich schämen: wahrhaftig, die Thränen stehn Ihnen in den Augen.«

Herrmann. Und mein Herz zerfließt darinne.

Vignali. Sie haben ein lächerliches Herz: es weis immer nicht, was es will. – Wer ist Ihnen mehr? Vignali oder dieser Irokese? – Wenn Sie diesen vorziehn, begleiten Sie ihn.

Herrmann. Das will ich! Tausendmal besser, ein Bettler seyn, als die ersten heiligsten Pflichten der Natur verläugnen!

Vignali. Aber mein lieber Gewissenhafter! Du nimmst doch auch die arme Vignali mit, wenn du gehst? – Denn ich bilde mir ein, du liebst die Frau zu sehr, als daß du sie so allein lassen solltest. Ich kan mich irren: aber ich bilde mir fest ein, daß du nicht ohne mich seyn kanst.

Herrmann. Ich möchte, daß Sie nicht wahr redten!

Vignali. Aber ich dächte auch, die Frau hätt' es um dich verdient; sie liebt dich so zärtlich und pflegt dich, wie einen Prinzen: das 189 verdient allerdings Erkenntlichkeit; und du bist gewissenhaft – o so gewissenhaft, daß man dich einmal kanonisiren wird! So ein dankbarer Mensch gäbe wohl einer solchen Frau zu Gefallen zwey Väter hin, und Mutter und Großmutter noch oben drein; und die Frau, die dies kleine Opfer fodert, ist gewiß eine gute Frau – die beste Frau, die ich kenne! Meinst du das nicht auch?

Herrmann. Ich wollte, daß ich Ihre Vortreflichkeit weniger empfände. – Vignali, beherrschen Sie mich nicht so tirannisch! Der Himmel weis es, wie Sie mit Einem Worte, Einem Blicke meine Seele regieren: sind Sie allmächtig, daß Sie so meine besten Gesinnungen und Entschließungen zu Boden stürzen? Immer fühl' ich, daß ich anders handeln sollte: aber nein! ich muß handeln, wie Sie wollen. Selbst meine feurigsten Begierden und Wünsche stehen still, wenn Sie gebieten. Ich fürchte jede Minute, daß Sie mich zum häßlichsten Verbrecher machen werden.

Vignali. Also sind wir ja einig? – Sie 190 thun, was Sie wollen, und Sie wollen, was ich will: es läßt sich keine bessere Harmonie denken. Bilde ich, närrisches Weib, mir nicht ein, wir hätten uns einmal wieder gezankt, und ich wäre Ihnen Genugthuung schuldig? – Wie ist mir denn? Ich bin Ihnen wirklich noch eine schuldig: wissen Sie nicht, von unserm lezten großen Zanke her, da ich Sie so gröblich beleidigte? – Du saumseliger Mahner! wirst du mir bald die Schuld abfodern? –

Sie führte ihn ins Kabinet und leitete ihn unter mancherley Wendungen so weit, daß er nur noch um Einen Gedanken von dem Entschlusse entfernt war, seine Schuldfoderung zu befriedigen. Die unendlichen Reizungen, womit ihn Vignali bestürmte, schläferten, wie ein Ammenlied, sein Bewußtseyn und Nachdenken ein: mit umwölkten Sinnen, in glühendem Traume, mit hinreißender Begierde stand er dicht am Abgrunde seines Falles: plözlich rollte mit lautem Geräusch das schlecht befestigte Rouleau am Fenster herab: das Schrecken verscheuchte seinen Traum, seine Sinne öffneten sich, er sah um sich 191 her, erblickte Vignali in enthülltem Reize der Liebe, zitterte und taumelte, als wenn ihn ein Dämon hinwegpeitschte, zum Kabinet hinaus. Auch Vignali war durch das Getöse des Rouleau's so erschreckt worden, daß sie ihn gehen ließ, ohne ihm nachzusetzen.

Dies war der höchste Sieg, den sie über ihn erlangte: vielfältig gelang es ihr, ihn dem entscheidenden Schritte so nahe zu führen, und jedesmal rettete ihn, genau untersucht, der Zufall – ein herabrollendes Rouleau, ein Lichtstrahl, der plözlich auf sein Auge fiel und ihn aus seiner Trunkenheit schreckte, ein ungefähr aufsteigendes Bild der Fantasie, eine Idee, die durch den Kopf fuhr, der Himmel weis woher, eine schnell dazwischen kommende Empfindung – ein solches Etwas, gleichsam wie vom Winde dahergeweht, weckte sein Gefühl für Würde und Ehre auf, riß plözlich die Stärke seines Geistes aus dem Schlummer empor: die Schüchternheit der ersten Begierde und die Scham eines edeln Herzens, das nicht der empfundne Genuß, sondern blos die Reize einer verführerischen Frucht locken, 192 vollendeten seinen Sieg: er schmachtete nach dem einladenden Apfel und mußte ihn fliehen, ärgerte sich, ihn nicht gepflückt zu haben, und dankte dem guten Schicksale, das seinen zulangenden Arm zurückzog. Jedesmal wurde er vorsichtiger, wünschte, es nicht zu seyn, und war es nicht, wenn ihn neue Reizungen einluden: jedesmal zitterte er vor der Gefahr, wünschte sie sich wieder und eilte ihr entgegen, wenn sie sich zeigte. Nicht wollen und doch wollen, verwerfen und doch begehren, vermeiden und doch suchen war der Lebenslauf seines Herzens. 193

 


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