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Zweiter Teil.
In Riosucio

Die Nacht

Der Fuß brennt und hält wach. Ich habe die aspirinartige Pille nicht genommen. Sie trägt nichts zum Heilungsprozeß bei, und in der Ruhelage sind die Schmerzen erträglich. Es kann nicht spät sein. Als wir uns vom ekuadorianischen Dorf aufmachten, wurde der Mond voll. Er muß also noch vor Mitternacht über dem hohen Urwaldhang aufgehen und die stahlklare Sternennacht in seinem Licht baden. Das Rauschen des trüben Flusses füllt das Waldtal aus. Während der vormittäglichen Märsche durch den Bergurwald fielen mir die Vogelstimmen auf. Auch in dieser Urwaldnacht pfeifen, klopfen und heulen die Vögel und begleiten mit den Glissandi und Vibrati eine hochtönig gezirpte freie Rhythmik, und die totale Dissonanz. Ambivalenter Ausdruck von Lebensfreude und Überlebenskampf. Und dennoch deckt die Sternennacht das zu Gebirgswellen erstarrte Baummeer mit ihrer Ruhe zu. Die campesinos, die Bauern hören den Lebenslärm kaum, lauschen ihm aber Geräusche ab und entschlüsseln die Zustände im Wald.

Gestern oder vorgestern brachte mich eine Steigung zum Stehen. Atemholen. Mitten im sonnenlosen Bergurwald. Denn wir, Marco Aurelio und ich, sind nur durch Bergurwald gestolpert, auf sumpfigen und verwachsenen Wegen, da und dort einmal eine Lichtung, Indiohütten in den Maisfeldern, und Weidland. Ich stand still und nahm das Pfeifen wahr. So treiben die Bauern nach dem Markt die beladenen Tiere heimwärts. Ein hinauf und wieder hinunter durchgeschleppter Ton. Ich wies den Indio daraufhin: «Voraus ziehen Leute, und hintennach kommen auch welche.» Marco Aurelio erklärte, ohne überlegenes Lächeln: «Niemand. Wir sind allein. Sie hören einen Waldvogel, den wir Treiber nennen, weil er so schreit, wie die Maultiertreiber die Tiere vorantreiben.» Die Hütte wackelt. Ich fahre auf. Ein Erdbeben. Niemand rührt sich. Ich höre das Atemholen eines Pferdes oder Maultieres. Es schüttelt sich, und erneut wackelt die Hütte. Das Tier reibt Rücken und Hals am Traggebälk. Ein Schwein grunzt unter der Hütte. Hähne, zwei oder drei, setzen zum stündlichen Nachtgesang an. Kein Krähen, sondern ein schwebendes, melancholisches Heulen.

Der sternenklare Himmel tönt sich dort, wo der Mond noch ordentlich rund aus dem hohen Horizont der bewaldeten Bergkette heraussteigen wird. Hellwach erlebe ich den feierlichen Auftritt des Nachtgestirns. Das Flutlicht leuchtet meine neue Welt aus.

Trotz des Schockes nach dem Sturz in den Fluß erinnere ich mich an das Aussehen der Hütte. Quadratisch, aus Brettern, auf Holzpfählen in Kindsgröße über dem Boden trockengehoben, strohgedeckt. Zwei Drittel der Hüttenfläche sind geschlossener Wohnraum hinter Bretterwänden, und das Innere müßte in zwei Räume aufgeteilt sein. So habe ich es auf dem Herweg bei anderen Indios gesehen. Die offene Veranda ist mein Gästezimmer. Sie ist hinten, in meinem Wohnteil, mit einer Bretterwand eingehegt, die auch auf der äußeren Verandaseite noch einen Drittel der Länge abdeckt. Den Rest der Veranda schützt ein Sprossengeländer mit viel Licht. Vorn schließt das Geländer die halbe Breite. Den offenen Eingang flankieren zwei kräftige Griffbalken. Wer über den gekerbten Baumstamm ins Haus heraufsteigt, erreicht links den Innenraum. Eine Fledermaus schlägt sich abwechselnd in der Veranda und im Freien herum. Unter dem Strohdach rascheln und pfeifen die Mäuse und Ratten.

Wie der Riosucio, so senken sich auch die Höhenzüge talabwärts, wo sie das Wasser in milde Bögen führen. Kein Weideland, keine Anpflanzung, kein Felsvorsprung und kein Erdschlipf unterbricht das silbrige Grau des nächtlichen Bergurwaldes, den tiefe, rauschende Bachgräben durchfurchen. Die Landschaft formt in der starren Nacht bizarre dunkle und helle Grauschatten.

Nicht in den trüben Fluß, nein, in diese tiefe, silbergraue Nacht bin ich gefallen. Die Menschen in der Hütte schlafen. Ich bin allein, und der brennende Fuß bindet mich an die einsame Welt fest.

Der Rucksack ist weg. Ein glücklicher Fischer am Fluß, oder ein anderer weiter unten am Pazifischen Meer, mag sich über das rote Fundstück freuen. Das Bargeld wird nicht verderben, aber mit den zu großen Kleidern und mit dem Reisetagebuch wird er nichts anfangen. Bollinger lesen sie hier nicht und den Reisetransistor wird der trübe Fluß beschädigen, oder später das Salzwasser. Ich erfahre das Unwiderbringliche der Lebensläufe.

Mehr Sein als Haben, sagt man heute. Schön. Mein Sein schwebt himmelhoch über meinem Haben. Ich habe nichts. Ich habe wenig. Mein ist, was ich auf mir trug. Wegen des Schwitzens auf den sumpfigen Stolperpfaden und wegen der Sicherheit einflößenden Einsamkeit des Regenurwaldes hatte ich die Brusttasche mit Paß und Geld in den Rucksack gesteckt. Ohne Geld ist man nichts, ohne Dokument niemand. Aber ich habe mehr. Vom Lehrer habe ich das Heft und den Kugelschreiber bekommen, geschenkt, à fonds perdu, und von Omaira den Verband und die aspirinartige Pille. Ich kann nicht bezahlen, ich habe keinen Fünfer, wie sie hier sagen, ni cinco. Aber ich habe die Gastfreundschaft Marco Aurelios und seiner Familie. Ich habe vier Wochen gesicherte Rekonvaleszenz. Ich habe die entscheidende Diagnose: der Fuß ist nicht gebrochen, nur verstaucht. Ich habe Zeit zum Schreiben. Und gehört das alles nicht eher zu meinem Sein? Seltsam. Ich habe nichts. Gar nichts. Ich habe weniger als Robinson, der sich mit der Ladung des gestrandeten Schiffes, dem Gottessegen und mit seinem kalvinistischen Glauben ein Inselleben in behaglichem Reichtum aufbaute. Ich habe nichts und habe alles zugleich: das gesicherte Überleben bei den sympathischen Indios im Regenurwald.

 

Der erste Tag

Die offene Seite meiner Schlafstätte läßt mich in den blauen Himmel blicken. Das frühe Sonnenlicht entzündet den höchsten Streifen des schwarzen Waldes im Morgengold. Im Urwaldtal fehlt noch viel Licht, aber unter den zwei Gestalten, die sich von drüben dem Fluß nähern, erkenne ich Omaira. Auf dem Stahlkabel erteilt sie mir unwissentlich Fernunterricht, wie man es samt umgeschlauftem Tragkorb richtig macht. Die andere Gestalt ist ein junger Indio. Ihr Weg führt vom Fluß durch das Ufergebüsch, über das Weidland, das sich dort in die steile Berglage hochzieht, wo der Weg zur Hütte Marco Aurelios hereinbiegt. An dieser Weggabelung schwenkt Omaira gegen unsere Hütte ein. Der junge Indio bleibt bei der Gabelung stehen und schaut Omaira nach. Sie tritt dicht an den Hauseingang, dreht mir den Rücken zu, stellt den Tragkorb mit einem leichten Nachstemmen auf den Hüttenboden und wirft das Stirntragband über den Kopf auf den abgestellten Korb. Omaira klettert auf den Hüttenboden und verschwindet im inneren Raum. Der resoluten Omaira antwortet eine matte Frauenstimme. Ohne mich anzusehen oder sich nach dem Fuß zu erkundigen, steigt Omaira aus der Hütte hinaus, greift nach dem Stirnband, stemmt sich hinein und hebt mit dem Nacken den Tragkorb weg. Sie richtet sich steif auf und ruft: « Permiso!» die kürzeste Grußform beim Weggehen. « Siga! geh!» rufe ich ihr nach. Der junge Indio knurrt Omaira ungeduldig an und steigt ihr gegen den schwarzen Wald hinauf voran. Seine aufrechte Gestalt kontrastiert mit dem wackelnden Steigschritt Omairas, die sich unter dem Lastkorb vornüberbückt. Die schwere Last drückt die breit gebaute Omaira in einen wackeligen Entengang.

Die Großmutter erscheint aus den inneren Räumen, aus denen Stimmengewirr, Kochgeschirrlärm und knisterndes Feuer zu hören ist.

«Trinken Sie den tinto, den Kaffee!»

Ich frage nach dem ersten Schluck: «Sind alle Leute hier in Riosucio geboren?»

Die Großmutter heißt Doña Isabel. Marco Aurelio ist ihr Sohn. «Da haben Sie sich also in unsere Berge verloren? Bei uns ist das Leben weiß Gott hart. Viele Leute sind gekommen und bald gestorben. Zuerst drangen die Männer ein. Sie rodeten das Waldstück und pflanzten Mais an. Zur Zeit der Ernte zogen wir mit den Kindern nach. Die Kinder sterben am Sumpffieber. Das Leben in der Wildnis ist traurig. Wir leben zwanzig Jahre in Riosucio. Vorher lebten Indios da, aber sie sind weg. Jetzt wohnen in Riosucio nur noch zivilisierte Leute. Die Indios sind naturalitos

Naturalitos? Naturmenschen? Trifft das Gemeinte zu unbestimmt. Diese Redeweise beschäftigt mich und ich füge das Ergebnis meines Erfragens und Erfühlens ein. Es steckt etwas Faunisches, Animalisches im Ausdruck naturalito. Tierlein?

«Die naturalitos reden nicht mit uns. Sie sprechen nicht Christlich.» Die Großmutter meint, nicht Spanisch. «Sie kennen nur ihren dialecto», was wohl kaum Dialekt meint, sondern die Eingeborenensprache, «und früher sagten wir, sie seien Tiere. Aber der Bischof hat uns gescholten. Auch die Indios sind Menschen. Fast wie wir.»

War der Bischof hier?»

Rosalba nimmt mir die Tintotasse ab. «Wie geht es dem Fuß?» erkundigt sie sich. «Sie müssen warme Umschläge machen. Omaira hat es mir heute befohlen. Ich war mit Omaira im Erstehilfekurs. Sie gaben uns einen cartón

Cartón ist Kursdiplom. Jedes Diplom ist ein cartón.

Ohne Übung zu verraten, entfernt Rosalba den Fußverband. Das Wasser ist kochend heiß. Die warmen Umschläge brennen. «Sie sind ein guter Mensch», meint sie beim Verbinden. Ich ahne den Trotz eines fünfzehnjährigen Mädchens, so wie sie es in Gegenwart des Vaters Marco Aurelio sagt.

Ich erhalte von Rosalba Morgenessen. Reis, Kochbananen. Kein Ei. Kaffee.

«Was macht der Esel, wenn er in die Sonne tritt?» lacht der junge Lehrer. Ich erwähne zur Antwort nicht jenes Geschäft, das mir in der unbeweglichen Lage Mühe bereitet. Der Ort für die körperlichen Bedürfnisse steht als Latrinenhütte hinten auf der Weide. Die Kinder gehen in die Hocke und lassen das Ihre liegen, wo es sie überkommt, auch auf der Veranda. Es sieht dünn aus. Die Kinderabfälle wirken nicht nur unhygienisch, sondern sind selber Abfälle ungenügender Hygiene. Wo soll aber ich mit dem brennenden und still zu lagernden Fuß verschwinden? Ich befürchte eine hartnäckige, durch die Hemmung hervorgerufene Darmträgheit. Mein nachdenkliches Gesicht muß trostlos aussehen. «Verzweifle nicht am Esel», lacht der Lehrer, «wenn du's nicht weißt, dann sag ich's dir. Wenn der Esel in die Sonne tritt, macht er? den Schatten!» Die Kinder Marco Aurelios haben erstaunt zugehört. Klar. Schatten! Schatten. Der Esel könnte doch nicht jedesmal, wenn er in die Sonne tritt. Die Schüler begleiten den jungen Lehrer an den Fluß hinunter und hinüber zur Schulhütte.

 

Die Hütte

«Wer wohnt in Ihrem Haus?» frage ich Marco Aurelio. Ich bleibe sitzen, auf derselben Stelle, wo ich mich gestern auf die herbeigeschleppte Strohmatte niedergelassen habe. Marco Aurelio duckt sich in der Hockstellung zu mir herunter. Marco Aurelio hätte beim gleichen Flußunfall den Fuß nicht verstaucht. Er ist gelenkig, obwohl er in den hohen Vierzigern stehen muß. Ich würde in der gleichen Hockestellung mühsam auf den Zehen balanzieren. Er sitzt gelöst auf den Fersen, hält die Arme gekreuzt und stützt die Ellbogen in die Knie.

«Ich habe cinco varones, fünf Männer, und fünf mujeres, Frauen. Cinco y cinco.» Fünfersymmetrie. «Einer lebt in der Provinzstadt. Er ist verheiratet und hat ein Einkommen. Ober bezahlt den Dienst.» Er leistet also Militärdienst. «Kenides zog mit den camaradas amigos. Verstehen Sie! er ist bei der Guerilla. Ever zog auf Wanderschaft. Vor Monaten. Yon Fredi ist zu Hause. Er geht in die Schule.»

«Und die Kleinen?»

«Pedro, Verónica und Magdalena sind die Kinder meiner Tochter. Sie arbeitet in der großen Stadt, und wir ziehen sie auf. Pedro hat ein gutes Gedächtnis und kann schon unterschreiben. Er ist im zweiten Schuljahr. Die älteste Tochter arbeitet bei einer Familie in Bogota. Sie sind doctores

« Señor Patricio», mischt sich die Großmutter ein, «Leute wie Sie gelangen bis nach Bogota. Im Postamt gaben sie uns den Brief. In der Hauptstadt heißt es Chapinero. Aber wir haben schon lange Jahre keine Nachricht. Könnten Sie in Chapinero vorbeigehen und nach María Eugenia fragen? Wie gesagt, beim Doktor.»

«Doña Isabel, die Hauptstadt ist größer als Ninive in der Bibel. Sogar ein barrio, ein Quartier ist immer noch groß. In Bogotá findet man eine Familie nur mit der genauen Adresse, mit den Zahlen der Hauptstraße und auch der Querstraße. So schreiben sie es dort.»

Doña Isabel wird die Adresse suchen.

«Marco Aurelio, und die anderen Töchter?»

«Rosalba lebt bei uns zu Hause. Die Kleinen heißen Nelly und Mireya.»

Ich erstelle eine vollständige Liste. Die weggezogenen Töchter Marco Aurelios heißen Maria Eugenia und Noemi, und Rosalba ist fünfzehn, vor Nelly, und vor Mireya, die gleich alt aussieht wie der Bub Noemis, sieben oder acht Jahre. Der Älteste heißt Exenover, und es folgen Kenides, Over, Ever und Yon Fredi.

Doña Isabel nimmt das Eßgeschirr ab. «Der Bischof besuchte uns dreimal. Er versprach, einen padre, einen Pfarrer zu suchen, der bis in die Urwälder herauskommen würde. Der padre forastero, der fremde, der beim zweitenmal dabei war, hat uns gesagt, er könne nichts versprechen, aber es sei möglich, daß ein neuer padre ins Dorf an der Straße zöge. Er würde den Leuten dort sagen, er möchte auch für die Bauern im Bergurwald da sein, und sogar für die Indios. Dieser padre werde uns besuchen, und nicht nur er allein. Es werde ein ganzes equipo misionero mit ihm arbeiten.»

«Und der padre ist gekommen?»

«Jedes Jahr. Aber die jungen Leute des equipo besuchten uns häufig, besonders die Krankenschwester. Leider warfen sie sie ins Ekuador.»

«Sie wurde versetzt?»

«Ja. Sie warfen sie ins Ekuador. Sie ist nur einmal zurückgekommen. Im equipo arbeitete dann eine andere Krankenschwester.»

«Aber wenn jemand krank ist, ist die Krankenschwester nicht da?»

«Doch. Manchmal war sie da. Sie war viel da. Mehrmals im Jahr. Sie hat auch die anderen Täler besucht. Sie hatte die Leute gern. Sie blieb eine Woche lang. Sie hat die Frauen und die jungen Mädchen zusammengerufen und hat gelehrt, wie wir die Säuglinge pflegen. Und daß wir beim Bluthusten nicht die Medikamente von Don Celestino nehmen, sondern den Gesundheitsposten im Dorf aufsuchen. Niemand ist mehr an Bluthusten gestorben. Die Kranken kamen zu Kräften, und die Kinder wachsen. Die Krankenschwester hat zwei Mädchen angeleitet, damit sie für die Leute eine Notapotheke führen.»

«Omaira?»

«Omaira und Milvia. Milvia lernt in der Provinzstadt die Krankenpflege. Omaira ist eine gute Hebamme. Sie hat es im Spital gelernt. Gestern haben Sie gesehen, wie gut sie die Geburt geleitet hat.»

Die Großmutter nimmt meine Überraschung wahr. «Als Sie vom Fluß heraufhinkten, ist Doña Sara erkrankt. Ein Mädchen.»

«Für Doña Sara!» Ein halbwüchsiges Mädchen hebt ein Hähnchen in die Eingangslücke. Die Großmutter nimmt es entgegen und dankt. Das Mädchen zieht die Hände an den Mund, blickt mit unbewegten Augen gerade aus und wendet sich steif auf den Heimweg. Die Großmutter löst die Schnur von den Hähnchenbeinen und bindet das Geflügel mit nur einem Bein fest. Das andere Ende der Schnur knüpft sie an eine Sprosse der Veranda. Die Szene wiederholt sich während des Vormittages. Am Mittag gackern drei Hühner und zwei Hähne, verteilt an der Sprossenwand. Immer ist es für «Doña Sara.» Die Großmutter holt das fetteste Geflügel in die Küche. Die andern vier wirft sie über die Veranda auf den Hüttenplatz. Das Federvieh fliegt zu Boden und gackert. Die Großmutter wirft eine Handvoll Maiskörner nach und gewöhnt es an den neuen Futterplatz.

«Doña Sara muß vierzig Tage lang Hühnerfleisch essen», erklärt die Großmutter Isabel die Sitten. «Die Kranke darf sich vierzig Tage lang nicht vom Haus entfernen. Eine Kranke geht nirgends hin. Die Wege führen alle über Wasser, und nie darf eine Kranke über einen Bach oder einen Fluß, bis die vierzig Tage vorbei sind.»

Die Großmutter teilt ihre Sorgen: «Doña Sara hat es diesmal hergenommen. Sie erkrankte fünfzehnmal. Zwölf Kinder überlebten.»

«Marco Aurelio hat von den fünf Söhnen und fünf Töchtern erzählt. Sind es zwölf, nicht zehn?»

«Zwölf. Sechs Männer und sechs Frauen. Seit gestern sind es sechs Frauen, gestern erkrankte die Mutter. Und sechs Männer sind es. Don Marco Aurelio», sie nennt ihren Sohn mit dem respektvollen Don, «Don Marco Aurelio ist mit Doña Sara im Unrecht. Er sagt, Miguelito sei nicht sein Sohn.» Die Großmutter hebt die Stimme leicht an: «Aber Miguelito ist der Bub Don Marco Aurelios.»

Ein Streitritual läuft ab. Marco Aurelio entläßt von drinnen eine hörbare Antwort, aber nur jenen verständlich, die den Streit schon manches Mal mitangehört haben.

Ich ergänze die Hüttenbewohnerliste. Doña Sara ist die Schwiegertochter der Großmutter Isabel. Miguel ist ein weiteres, zwölfjähriges Geschwister Rosalbas, und hinzu kommt der zweitägige Säugling, ein Mädchen.

 

Der Regen

Was das Meteorologische betrifft, so wiederholt sich in Riosucio der vorgestrige Tag, jener beim Indio Alvaro. Am späten Vormittag durchsetzen Wolkenfetzen den stahlblauen Himmel. Aus dem Waldhang hinter der Schulhütte rauscht das Gießen in die angenehme Mittagswärme hinein. Wie talaufwärts geschleppte Vorhänge schieben die Wasser in den Wolken heran. Die frische Brise, die vorausweht, bricht in kalte Böe um und artet in Dröhnen aus. « Un palo de agua!» Ich habe den Ausdruck in Spanien nie, auf der Kolumbienreise aber mehrmals gehört. Meint Yon Fredi damit, daß die Wolken den Regen herunterprügeln?

Yon Fredi hat sich zu mir gesetzt, seit er mit den anderen Schülern der Hütte und dem jungen Lehrer zur Mittagspause zurückgekehrt ist. Er verbirgt schlecht den Neid vor den Kleinen, die seinen neuen Freund den ganzen Tag, so viel sie nur wollen, bestaunen dürfen.

Die Blitze peitschen und knallen vom Himmel und donnern den waldigen Talkessel aus. Yon Fredi und der Lehrer weiden sich an mir, wenn ich bei den harten Blitzschlägen zusammenfahre.

«Nicht wahr, Patricio, der Blitz ist ein Stein, der die Bäume spaltet?» Die Frage Yon Fredis tönt maliziös.

Warum ein Stein?»

Der junge Lehrer stellt klar: «Die Leute sagen, ein Stein zerreißt die Bäume.»

Yon Fredi, der Schüler des jungen Lehrers, hört kritisch und sein Gegenpart abwehrend zu, als ich von gewaltigen elektrischen, atmosphärischen Spannungen rede und den Donner mit dem Blitz in den direkten Zusammenhang bringe. Der junge Lehrer schützt sich mit der Plastikfahne gegen den Platzregen, rennt ins Freie und beschafft das corpus delicti, das mich entwaffnen soll. Eine Handvoll glasiger Steine. «Dieser Blitz hat den Baum gespalten, niedergeschlagen und ausgebrannt. Solche Steine gibt es nirgends. Nur unter einem Baum oder einer Kuh, wenn sie der Blitz geschlagen hat.»

Wir diskutieren die Glut des Blitzes, der die Steine erhitzt, der die innere Gliederung verändert und der die glasige Kristallstruktur erzeugt. Welches Gestein bringt dafür die Voraussetzung mit? Keine Ahnung!

Eine dicke Hühnerbrust guckt aus der Maissuppe heraus. Das Eintopfgericht heißt sancocho, und ich verdeutsche Sankotscho. Am Morgen hat es geheißen: «Für Doña Sara!» Ohne Zweifel bekommt die Mutter im Wochenbett die Hühnerdiät. Aber die Gastfreundschaft sorgt sich vor allem um mich. Gut! nicht nur um mich allein. Der junge Lehrer und Yon Fredi kauern je in einer Ecke der Veranda, löffeln Sankotscho und knabbern an einem Hühnerknochen. Ihre Fleischportion sieht sich neben meiner bescheiden an. Ein Kind läuft mit einem ledrigen Hühnerbein herum, nagt daran und verklebt das Gesicht mit Fettflecken.

Auf der Herreise habe ich Urwaldhütten kennengelernt. Auch hier mag im Innenraum ein Tisch stehen. Aber wer setzt sich dahin? Marco Aurelio stellt sich an die Wand der Veranda und lehnt mit der Schulter dagegen. Linke Schulter an der Wand, ergibt rechtes Standbein. Er beteiligt sich am Gespräch über Blitz und Donner und nagt die Sankotschozugabe, den großkörnigen Maiskolben. Der Schüler Miguel sitzt mit dem Rücken gegen uns am Verandaeingang; die Beine baumeln ins Freie. Rosalba lehnt sich unter der Türöffnung, die ins Hütteninnere führt, an den Türpfosten, schaut mit halbem Gesicht heraus und hält ihre Mahlzeit.

Den Nachmittag verbringe ich mit Schreiben. Der junge Lehrer führt die Schüler ins Nachmittagspensum. Die kleinen Kinder weise ich nach draußen, und sie lassen mich in Ruhe, denn ihr Spiellärm unter der Hütte lenkt mich nicht ab. Der Regen läßt nach, aber hört nicht auf.

 

Der Lehrer

Vor dem Einnachten essen alle das Maisgericht mit den Kochbananen. Auf meinem Teller liegt ein Hühnerflügel. Im Halbdunkel, das unter dem schwarzen Regenhimmel und unter dem Verandadach zunimmt und beim Licht einer Kerze zum Stillstand kommt, bin ich der einzige Hühneresser. «Für Doña Sara!» Die Wöchnerin drinnen ißt bestimmt auch Huhn.

Es wird ruhig. Der Lehrer und Yon Fredi verweilen auf der Veranda. Der Lehrer nennt mich Patricio. «Patricio, wenn der Enterich mit seiner Frau spazieren geht, wie viele patas gehen?»

Pata ist Pfote. «Vier», obwohl ich eine Hinterlist vermute.

Er lacht. «Fünf. Die Pfote heißt pata, und die Frau des Enterich, des pato, heißt auch pata. Da sind also die vier patas zum Gehen, und die Gemahlin pata. Wie spricht man denn in der Schweiz? Ist es teuer, so weit zu reisen?»

Ich weiche auf das Verhältnis zu den Löhnen aus. Bei günstigen Flugtarifen reicht der Monatslohn eines Europäers für den Flug her und zurück. Er will Zahlen wissen, und die mag ich nicht nennen.

Wieviel er verdiene? Nein, die Lehrerstelle in Riosucio ist keine Staatsstelle. Das ist nicht möglich. In eine Lehrerstaatsstelle wird nur ein Absolvent der Lehrerschule eingestellt. Ein solcher kommt niemals nach Riosucio. Nicht einmal ins Urwalddorf, wo er aufwuchs, schicken sie diplomierte Lehrer. Dort allerdings erhalten die Lehrer Staatsanstellung. Sie liegen in der untersten Lohnklasse, weil sie nicht voll ausgebildet sind. Es sind gute Lehrer. Die Leute haben sie gern. Hier ist leider nur eine Zweigstelle.

Marco Aurelio ruft Yon Fredi nach drinnen, der abwehrt und dabei sein möchte. Im Innenraum betet Doña Isabel, die Großmutter, mit allen eine Viertelstunde lang Rosenkranz. Ein Kind liest langsam: Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat dem Vater gefallen, euch das Reich zu geben. Es ist ein Bibeltext aus den Evangelien. Ein anderes Kind betet: Wenn der Herr das Haus nicht baut, baut man umsonst. Gut ergeht es jenem, der auf den Wegen des Herrn schreitet. Gott ist allen wohlgesinnt, die ein aufrichtiges Herz haben. Gott hütet dich vor dem Bösen, Gott hütet dein Leben, dein Gehen und Kommen, jetzt und immer.

Es wird drinnen still. Marco Aurelio hängt die Büchse mit dem Petroleumlicht an den Nagel des Türbalkens und löscht die Kerze aus. Der lange Draht läßt die Büchse auf Kniehöhe, damit das Balkenholz nicht heiß wird, schaukeln. Wenn das Ein und Aus zur Ruhe kommt, leuchtet die Büchse in günstiger Position den Innenraum und die Veranda aus. Die neue Beleuchtung pendelt, und die Schatten bewegen sich. Der Lehrer bringt die Büchse in die Ruhelage. Er steht am offenen Verandaeingang, lehnt sich an den Pfosten, an welchem sich tagsüber die Leute hereinstemmen und hinausbalanzieren, und fragt, ob ich ihm eine kleine Geldsumme leihe. Er reckt die Arme zum Dachbalken und zieht sich in die Sitzstellung auf das Geländer hoch. Mit den Füßen spielt er zwischen den Sprossen. Die linke Hand fährt am flachen Pfosten auf und ab. Er guckt mich an.

Der Lehrer heißt Santiago. Er besitzt nichts. Der Lohn wurde nicht bezahlt. Wir besitzen beide nichts. Santiago lacht über das schicksalhafte Zusammentreffen. Ich sei gleich arm wie er?

Der Lehrer Santiago ist achtzehn. Er wohnt in der Hütte Marco Aurelios.

Er unterrichtet zwölf Buben in drei Stufen. Vorher unterrichtete eine Lehrerin. Sie unterrichtete auch Mädchen. Sogar gleich viele wie Buben. Der junge Lehrer übernahm dieselbe Schülerzahl. «In Riosucio sind die Eltern mißtrauisch. Die Leute fallen über einen her und kommentieren unbarmherzig.»

Seine taitas, die Eltern, wohnen in einer ausgedehnten Urwaldsiedlung. Ein Dorf. Nicht so bedeutend wie das ekuadorianische Dorf, wo ich Marco Aurelio traf, und dennoch ein großes Urwalddorf. Zwei Dutzend Häuser. Die Umgebung ist dicht besiedelt. Der junge Lehrer besuchte dort die fünf Primarschuljahre.

Über meinem Lager hängt ein Radiogerät an der Wand. Das Metallchassis läßt keine Wählskala erkennen. «Warum wurde der Apparat nie angedreht?»

«Defekt! Don Marco Aurelio gibt ihn nicht in Reparatur. Man hat die Gewohnheit, dauernd Musik laufen zu lassen. Die Batterien reichen nirgends hin.»

Das Modell wurde von den nationalen Radioschulen vertrieben, und näherhin von der Kirche, denn der Institution steht der Gründer vor, der Geistlicher ist. Im Urwalddorf des Lehrers handelte ein gewisser Tulio die Geräte. Auch die Geräte in Riosucio verkaufte Tulio. Die Bauern erstanden damals ein Gerät von Tulio.

Das Modell ist unbeliebt. «Mein taita hat ein neues angeschafft, das auch die anderen Radiostationen empfängt.» Die Apparate Tulios sind unveränderlich auf die Frequenz des Bauernsenders eingestellt. Das ist der institutseigene Sender. Wer will schon die Bauernalfabetisationsprogramme und die Bauernvorträge und die Bauernmusik abhören?

«Morgen ist Samstag. Morgen spannen wir die Gitarre und spielen Musik.»

Der Lehrer Santiago setzt sich auf den Boden. Er wird im Dorf bezahlt. Im Dorf an der Straße. Santiago reist jeden Monat und holt den kleinen Lohn. Bis ins Dorf an der Straße geht er zwei Tage, am ersten bis zu seinen taitas. An sich geht er nur bis an die Straße. Auf der Straße fährt er eine Stunde im Bus bis ins Dorf. Der Verwalter schuldet Santiago den Lohn. Früher hat der padre einigen Urwaldlehrern den Lohn vorgestreckt. Er kassierte später, wenn der Munizipalverwalter das Geld bereit hielt. Aber jemand setzte das Gerücht in die Welt, der padre beute die Urwaldlehrer aus und betreibe saftige Lohngeschäfte. Das war erlogen. Aber der padre stellte den Sozialdienst enttäuscht ein. Die Betrogenen sind die Schüler. Sie verlieren jeden Monat eine Schulwoche.

Santiago nickt ein.

 

San Gregorio

Die Kinder dürfen den fremden Gast am frühen Morgen nicht stören. Marco Aurelio verweist es ihnen. Aber Yon Fredi ist kein Kind, und Patricio ist sein neuer Freund. «Patricio, haben dich die Ratten in der Nacht geweckt? Einmal ist die Ratte der Krankenschwester über das Gesicht gesprungen, und sie hat mitten in der Nacht geschrien. Uns macht es nichts aus. Die Tiere hüpfen im Lager herum. Sie sind schädlich. Sie fressen den Mais weg. Drüben», er meint die andere Seite des Flusses, «brannte in einer Nacht das Haus ab. Das Feuer begann im Giebel des Strohdaches. Nach einer Trockenzeit. Es hatte zwei Wochen nicht geregnet. Die Ratten fanden die Zündhölzer, stiegen aufs Strohdach und knabberten sie mit den scharfen Schneidezähnen. Die Hütte brannte ab.» Yon Fredi lacht: «Drüben wohnte kein hinkender mono, und alle retteten sich. Auch du, Patricio, würdest entwischen. Wo der Tiger brüllt, hat kein Esel Rheumatismus.»

«Guck, der Spinner», weist er auf den Verandaeingang.

«Friede.» Ein Langhaariger schaut in die Veranda hinein. Er erspäht mich im Halbdunkel des hinteren Wohnteiles. «Friede», grüßt er. Er muß über dreißig sein. Ein Blumenkind? Flower-Power-Bewegung im Urwald? Flower-Power gab's vor zwanzig Jahren. Oder vor fünfzehn. Er wirkt traurig und auch in der zeitlosen Einsamkeit von Riosucio veraltet. Sie seien zwei. In der letzten Zeit kommt er allein. Sie ist krank. Sie kleiden sich in weißes Gewand, ein einziges Stück von der Schulter bis zu den Füßen. Sie hausen in einer ramada, einer Laubhütte. Sie essen Rohes. Nur, was sie im Walde finden. Sie rauchen coca, Kokain. Sie sagen, coca sei die Glückseligkeit; alle Bauern sollen coca pflanzen. Kokain. Don Martín hat angefangen; aber er konsumierte zu viel coca. Die camaradas bestraften ihn, als sie da waren. Die camaradas? Klar, die linken Bewaffneten. Die camaradas ließen die Blumenkinder in Frieden.

Yon Fredi war noch nie im Dorf an der Straße; auch noch nie im ekuadorianischen Dorf; nicht einmal im Urwalddorf seines Lehrers Santiago. «Ich bin vierzehn Jahre alt, und ich fange jetzt auch schon an, nach draußen zu gehen.»

Yon Fredi hat noch nie ein Fahrzeug gesehen. Auch kein hohes Haus, und keine Kirche. «Patricio, nimmst du mich mit, wenn du nach draußen gehst? Nein! nicht ins Dorf; sondern dorthin, wo du hingehst! Dort muß es sehr gut sein. Hier ist es nicht gut. Die Geschwister sind alle weggegangen. María Eugenia lief mit einem Burschen davon, weil ihr der Vater den novio, den Schatz verboten hat. Ich war damals kleiner als Verónica, die Nichte dort.»

Verónica spielt mit ihrem Schwesterchen Magdalena, einem Zweijährigen. Verónica mag fünf Jahre zählen. Yon Fredi bewahrt eine schwache Erinnerung an Maria Eugenia, die damals wie die heute fünfzehnjährige Rosalba aussah. Yon Fredi kennt die andere Schwester:

«Noemi kommt immer wieder zurück. Sie arbeitet in der großen Stadt, in einer Fabrik. Die Kinder Noemis wachsen bei uns auf. Noemi sagt, für die Kinder sei es bei uns besser.»

Die Jugendlichen und der junge Lehrer ziehen aus. Die größeren Kinder dürfen mit. Über den Riosucio. Nicht zur Schule, aber aufs Feld neben der Schulhütte. Das Feld liegt uneben und geneigt. Bambusstangen markieren die Tore eines Fußballfeldes. Die Spieler bauen zwei Mannschaften auf, eine in grünen, die andere in roten Sporthemden. Sie spielen tief in den Vormittag hinein. Der Regen, der zaghaft einsetzt, vertreibt sie nicht. Die Kinder und einige Frauen und halbwüchsige Mädchen verziehen sich in die Schulhütte, die wie die Wohnhütten auf Pfählen steht. Die Schulhütte mit den gürtelhohen Bretterwänden wird zur Sporttribüne. Auch der Langhaarige im weißen Gewand zerstreut sich am Sportfeld und mischt sich unter das Tribünenpublikum.

«Flußbad, Ihr kranker Fuß benötigt ein Flußbad», empfiehlt Don Celestino. «Ich wende ein Geheimnis an, wenn Sie einverstanden sind. Es heilt.»

Don Celestino ist Gesundbeter. Er bietet sich als Helfer an. Er versteht die Hintergründe der Welt. Gott wollte nicht, daß ich im Riosucio ertrank. Wenn Gott will, daß man stirbt, dann wirkt nichts dagegen. Keine Vorsicht nützt, und der beste Schwimmer entrinnt nicht der Wasserflut. Alles vollzieht sich nach Gottesbeschluß.

«Ich rufe die Gotteskraft an und ich leite die Geister auf den Fuß, wenn Sie wollen.»

Rosalba bedenkt: «El señor Patricio darf nicht an den Fluß hinunter. Omaira hat Ruhe verschrieben. Omaira versteht, wo es fehlt.»

«Wie Sie wollen», lenkt Don Celestino ein. «Aber das Geheimnis wende ich Ihnen an. Mißtrauen Sie nicht. Es hilft.»

Rosalba schaut den Bauern Celestino mit weit geöffneten Augen an und lacht: «Werden Sie San Gregorio über den señor Patricio anrufen?» Sie macht sich nicht über mich lustig, aber über den mono alto fällt Don Celestinos Anspruch seiner geheimnisvollen Kraft. Ob dies wirkt?

«Nur ein wenig. Der Geist San Gregorios ist gut für die Gotteskraft.»

Der Gesundbeter entnimmt seiner Jutentasche ein schwarzes Buch, legt es auf meinen verbundenen Fuß und behauptet feierlich: «In diesem Evangelium steht geschrieben, man solle beten, und die Kranken werden gesund.» Er bewegt tonlos die Lippen, blickt auf den schmerzhaften Fuß und erhebt sich nach kurzer Verrichtung. «Wenn Sie Glauben haben, werden Sie gesund.»

Die Bauern von Riosucio vertrauen auf San Gregorio. Rosalba weiß nichts Näheres. Aber Marco Aurelio kennt die Dinge. An der Wand hängt das Bild eines schwarz gekleideten und beschnauzten Mannes. Er steht steif im Anzug der Zwanzigerjahre in der grünlichen und bräunlichen Landschaft und kehrt weißgekalkten Häusern eines südamerikanischen Dorfes den Rücken. Vor ihm liegt ein Kranker auf der Bahre, der mit ringenden Händen fleht. San Gregorio war Arzt. Arzt der Armen im Nachbarland Venezuela. Die Gesundbeter und Spiritisten rufen ihn an. San Gregorio spricht durch ein medio. Eine Frau war Spiritistenmedium, und der Geist San Gregorios hat aus ihr gesprochen. Aber die Frau ist gestorben. Der padre, der Pfarrer sagt, das medio lallt und schreit hypnotisiert, und die Wirkung erreicht nur solche Kranke, die sich beeindrucken lassen.

«So wird es wohl zutreffen, nicht wahr?»

«Und wie wirkt San Gregorio bei mir, ohne das medio

Marco Aurelio blickt weg: «Das ist Ihre Sache.»

Beim nachlassenden Regen löst sich die Sportgesellschaft zwar auf, aber das Sportfeld von Riosucio ist nie menschenleer. Die Hütte Marco Aurelios füllt sich mit dem jungen Volk des Hauses. Eine Stunde vor dem Eindunkeln spannt der Lehrer die Gitarre. Die dritte Saite fehlt. Er werde sich im Dorf eine neue besorgen. Er spielt mit fünf Saiten.

Ich habe den meisten Teil des Tages geschrieben. Ich schreibe immer noch, denn das Gitarrenspannen dauert an. Die Wirbel knarren. Das Instrument ist abgegriffen. Die tiefste Saite klirrt, weil sich die spiralartige Verkleidung der Saite aufgelöst hat. Das Verkleidungsband hat sich im Griffbereich abgehaspelt.

«Te enseñas? lehrst du dich?» fragt der Lehrer Santiago.

Lehrst du dich? Ob ich lerne! Nein, ich erledige keine Schulaufgaben. «Ich schreibe!»

«Patricio, ob du dich lehrst? Ich meine, ob du dich angewöhnst, einlebst, ob es dir bei uns gefällt?»

Gefällt? Hier, wo ich so selbstverständlich sitzen, liegen, essen, erzählen und zuhören, und schreiben darf. «Sí, me enseño, ich lehre mich.»

Die Gitarre gehört dem Haus Marco Aurelios. «Exenover, der Älteste, war ein guter Gitarrenspieler», tradiert Doña Isabel. «In der alten Zeit machten viele Leute Musik. Auch Kenides besaß eine gute Stimme.»

Der junge Lehrer legt los. Kolumbianischer bambuco. «Lloran los guaduales. Die Bambushaine weinen, denn sie sind beseelt, und ich sah sie weinen, an der Biegung des Weges.» Volksgesang, der über Modulationsschritte auf harmonischen Umwegen in die Grundtonart einsteigt. Der Lehrer singt allein. Die Kinder trällern mit. Miguel singt auch. Der Lehrer begleitet ihn. Miguel singt das Lied vom Kondor. «El cóndor pasa.» Geschleppter Rhythmus und melancholischer Ton aus dem ekuadorianischen Hochland. Rosalba. Rosalbas Verse geben eine frohe Melodie vor: «Wenn ich von hier geh, pflanz ich drei Kreuze ein; eins weil ich von hier geh, und zwei: ich kehre nie mehr heim.»

 

Lob des Herkommens

Die Familie Marco Aurelios stammt aus einer entfernten Gegend, wo Dorf und Pfarrei in der frühen Zeit der spanischen Eroberung gründen. Zur Familie zählte einmal ein Geistlicher. Er wies die Ansässigkeit der Vorfahren bis ins erste Jahrhundert der Eroberung nach.

Eines Tages erreichte die Straße die schönen Kaffeebestände und Bananenpflanzungen des Familienbesitzes. Der karge Verkehr jener frühen Zeit sorgte für den Anschluß an die große Welt und brachte Abwechslung in die jahrhundertelange halbindianische Eintönigkeit. Und das sei zur Rückkorrektur vermerkt: das Haus Don Marco Aurelios ist kein Indiohaus. Die Familie hat weißes Blut und ist mit indianischem gemischt. Sie sind Mischlinge, Mestizen. Don Marco Aurelio zeigt starke Indiozüge, was die irrige Auffassung vermittelt, er sei Indio. Die Kinder erscheinen rassisch unterschiedlich. Verónica erinnert mich an einen südspanischen Vetter in Sevilla, wo die Bevölkerung alte arabische Merkmale behalten hat. Auch die Sprache klingt südspanisch.

Mit dem Bus strahlte der Fortschritt wie ein Schönwettereinbruch ins Volk. Der Händler am Dorfplatz hatte das lange bestaunte Vehikel angeschafft. Er beschäftigte einen Auswärtigen als Fahrer, einen dicken, leutseligen Mann, klein von Gestalt, der Witze machte und unermüdlich die Mädchen neckte, was ihm niemand übelnahm. An einem Markttag rief der dicke Busfahrer: «Gratisfahrt! Gratis in die Hölle. Wer den Teufel sehen möchte, steige ein. Es ist gratis.» Der Bus füllte sich mit munterem Publikum. Los ging es. Heimzu. Doña Isabel, ihr Mann und die Kinder fuhren mit. Beim Haus ließ Doña Isabel anhalten. «Doña Isabel will nicht gratis in die Hölle fahren und den Teufel sehen?» stichelte der Fahrer. Ihr Mann und der Älteste wollten gewiß. Ein Ausflug gehörte damals zum selten leistbaren Luxus. Tiefer im Bergtal fuhr der Bus an der steilsten Stelle in den Talfluß zu Tode. Vor dem Absturz hielt der dicke Fahrer an und rief aus: «Wir sind am Eingang zur Hölle. Wenn jemand den Teufel noch lange nicht sehen will, steige er aus.» Ein Mädchen bekam es mit der Angst zu tun, heulte und kletterte von der hohen Sitzreihe auf die Straße hinunter. Die Höllenfahrer lachten und hießen bleiben. Das Gelächter endete mit den Todesschreien der Abstürzenden. Niemand überlebte. Das Mädchen verfiel dem Wahnsinn.

Doña Isabel zog die Kinder allein groß. Sie verkaufte etwas Boden und schickte den Nachwuchs zur Schule. Marco Aurelio blieb auf dem Familiengut und heiratete. Es waren aber schwere Zeiten gekommen. Die beiden politischen Parteien gerieten sich in der ganzen Republik in die Haare. Nicht daß die Kämpfe so blutig wie in anderen Landesteilen ausarteten, aber die Familie gehörte aus ältester Tradition zu jener Partei, die im Dorf merklich schwächer geworden war. In der guten alten Zeit brachte die Familie nicht nur einen Geistlichen hervor, sondern verwaltete regelmäßig politische Ämter. In den Jahren vor dem tragischen Unfall, bei welchem Doña Isabel verwitwete und die Kinder verwaisten, brachte es ein Onkel aus dem väterlichen Stamm Don Marco Aurelios im zwar nie ausgetragenen, sondern nur vorbereiteten Krieg gegen das Nachbarland Peru, zum Hauptmann bei der Infanterie, was ihm für die spätere Zukunft eine gesicherte Stabsstelle einbrachte. Die Kinder bestaunten den Onkel, wenn er die angestammte Heimat aufsuchte und Fotografien aus der eindrucksvollen Kriegswelt und vor allem aus der friedlichen mitbrachte.

Die Familie verlor die Nachbarn, hoffte auf bessere Zeiten und verkaufte nicht. Den Weggewanderten war das Schicksal nicht so gewogen, wie erwartet.

Don Marco Aurelio betrank sich an den Markttagen im Dorf. Don Sempro verhandelte an jenen Trinkabenden mit Don Marco Aurelio, weil er den Bodenbesitz abzurunden gedachte und weil es günstig wäre, das störende Zwischenstück, den Besitz Marco Aurelios, zu erwerben. Dieser unterschrieb den Vertrag, und die Liegenschaft gehörte Don Sempro. Don Sempro war knapp bei Kasse und bezahlte im Tausch gegen Kühe. Die Familie zog weinend und mit den endlosen Vorwürfen der Frauen in eine Hütte ins Dorf.

«Don Sempro, wann übernehmen wir die Kühe?»

«Keine Unruhe, und laß die Weiber heulen. Die Kühe weiden auf deinem alten Besitz, zusammen mit meiner Herde, und wenn du sie brauchst, dann holen wir sie.»

Die Familie benötigte die Kühe, und Don Marco Aurelio meldete seinen drängenden Wunsch an, das Tauschgeschäft abzuschließen und die Kühe zu beziehen. Aber Don Sempro jammerte: «Don Marco Aurelio, ich bedauere dein trauriges Schicksal. Die Banditen haben zwei deiner Kühe gestohlen. Die Leute sind schlecht. Und die andere Kuh ist eingegangen. Welcher Schmerz!»

Die Familie wanderte nicht in die Großstadt ab. Sie suchte in Riosucio eine neue Existenz. Tief im Bergurwald schützte sie sich vor den Wechselfällen des Landes. Es trat ihr niemand zu nahe, sie lebte im ersehnten Frieden und rodete so viel Urwald, als sie und später die Kinder zum anständigen Leben brauchten.

 

Der Einäugige

Don Marco Aurelio und der einäugige halbschwarze Bauer nennen sich gegenseitig compadre. Die Kinder begucken scheu das ledrige, dunkle Gesicht mit dem fürchterlichen Augenloch und der Narbe, die auf den Hals hinunter weist.

«Compadre?» forsche ich.

«Don Serafin und meine Person sind gegenseitige Paten der Kinder. Man nennt sich compadre

Wäre es kein Gemeinplatz, so würde ich die Ereignisse rund um das leere Augenloch als Schweinerei beschreiben. Die Schweine tragen die Schuld am Augenloch des compadre Don Serafin.

Die Bauern sind gegenseitige Anstößer, wohnen aber doch gern mitten im eigenen Grundstück. Don Marco Aurelio: «Wenn jeder für sich lebt, plagt man einander nicht.»

Im Schweinekonflikt war der alcalde die übergeordnete Autorität, der Bürgermeister im Dorf an der Straße. Er schrieb eine Order. Der schuldige Besitzer des feindlichen Schweinelagers habe sich zu präsentieren und Rechenschaft abzulegen. Aber der behördlich zitierte Don Juan de Dios schenkte dem Schrieb des alcalde aus dem Dorf an der Straße keine Beachtung.

Don Serafin, der Halbschwarze, sprach bei Don Juan de Dios vor. «Die Schweine respektieren die Abmachung nicht und dringen über den Bach ins Maisfeld ein. Der Schaden ist enorm. Die Ernte ist verloren.»

Don Juan de Dios wies daraufhin, daß die Schweine Don Serafins letztes Jahr ebenfalls allen, allen Mais bei Juan de Dios vernichteten, daß Don Serafin nicht auf die Klagen hörte und daß die Söhne Juan de Dios' schließlich das Maisfeld beim Bach einzäunten. Don Serafin möge einzäunen!

Das Gespräch wiederholte sich im Dorf. Nicht im Dorf an der Straße, sondern im kleineren und näheren, im Dorf des jungen Lehrers. Don Serafin und Don Juan de Dios stießen beim Schnapstrinken aufeinander.

«Scheußlicher Neger!» stichelte Juan de Dios, «haben Sie die Schweineordnung im Maisfeld durchgesetzt?»

Die Matschete, das Buschmesser, wütete. Juan de Dios blutete aus dem Oberschenkel, und die ersten Helfer schauten durch den Schlitz im Bauch bis in die Eingeweide hinein. Serafin blutete vom Auge bis zum Hals und tobte. Die Umstehenden überwältigten Serafin und retteten Juan de Dios das Leben, nicht aber das Auge Serafins. Serafin kehrte nach einer Routinenäharbeit im Gesicht nach Riosucio zurück. Juan de Dios unterzog sich zwei Operationen im Universitätsspital der Provinzstadt.

Die Beziehungen zwischen den Familien Serafins und Juan de Dios' gestalteten sich intensiver, wobei «intensiv» nicht der adäquate Ausdruck ist. Don Juan de Dios wohnte gegen den Rand der Streusiedlung Riosucio, auf der gleichen Flußseite wie die Schulhütte. Und weiter oben, in der letzten Liegenschaft von Riosucio, hauste die Familie des Halbnegers Don Serafin. Im Grunde genommen lebten sie schon immer in einer Dauerverdrängung schwacher feindseliger Gefühle. Es war die Angst voreinander, die nach freundschaftlichen Kontakten wie eine Seifenblase geplatzt wäre, sich aber im Gegenteil wie das pilzige Moos auf dem Wellblechdach der Hütte Juan de Dios' in die Gemüter einnistete.

Nach dem Zwischenfall vermieden die Leute Serafins, den Boden Juan de Dios' zu betreten. Ihr Weg ins Dorf an der Straße, oder auch nur zu den anderen Bauern, führte flußabwärts an der Hütte der verfeindeten Familie vorbei. Die Familie des einäugigen Serafin unterließ die Beziehungen mit den Nachbarn in Riosucio und bevorzugte den Markt im ekuadorianischen Dorf.

Mit dem gesunden Auge erspähte Don Serafin im Maisfeld die Schweine, die mit ihren Rüsseln erneut umpflügten. Auch der unvermeidliche Wiederholungsfall trat ein. Beim Loch in der Hecke erstach er ein Tier. Die Schweine kehren nachts nicht immer vom Wald zurück, und Juan de Dios brachte das fehlende Tier zu spät mit den Aasgeiern in Zusammenhang, die sich am Bach zu schaffen machten. Nach wenigen Tagen fehlte auch bei Serafin ein Schwein, obwohl die Tiere des Abends eingetrieben worden waren. Bei Juan de Dios herrschte Schlachtbetrieb, wie ein zur Aufklärung des Sachverhaltes ausgeschicktes Kind Don Serafins feststellte.

Die Ereignisse eskalierten in der Nacht. Durch die Bretterritzen krachten Schüsse in die Hütte Juan de Dios'. Niemand wurde verletzt. Nur die vergifteten Hunde lagen im Hof. Als der Schreck abkühlte, kochten die Gemüter.

Die verfeindeten Familien wohnten von nun an zu nahe beieinander, besonders, wenn der Groll und die bösen Gedanken zu bedenken waren. Die heftigen Leibschmerzen Juan de Dios', der trotz der beginnenden Erntearbeiten auf dem Maisfeld nur Kurzarbeit leistete, trieben in die Rache.

Der älteste Sohn des einäugigen Don Serafin kehrte nicht mehr vom ekuadorianischen Dorf zurück. Er verblutete an einer Schußwunde und wurde tot aufgefunden. Mit achtzehn Jahren hauchte der Sohn Don Serafins einsam sein Leben aus. Der ebenfalls älteste Sohn Don Juan de Dios' ward von diesem Tag an nicht wieder gesehen. Er flüchtete nicht vor der Justiz, denn der einäugige Don Serafin nahm sie nicht in Anspruch, sondern vor dem Gegenschlag. Die verfeindeten Familien überlegten, Riosucio zu verlassen, doch erfolgte keine weitere Veränderung, weder zum Bessern noch zum Schlechtem.

 

Die Radiofonischen

«Patricio, was ist das? Je mehr ich wasche, um so schmutziger wird es.» Der junge Lehrer kehrt mit den Schülern nach Hause zurück. Ich strenge mich zum Denken an, und er verliert die Geduld: «Das Wasser.»

Die Schüler sind krank. Nur einige erschienen zur Schule, und er hat sie nach Hause geschickt. Er geht ins Dorf. Und fort macht sich der junge Lehrer, hangaufwärts, allein. Erster Arbeitstag der neuen Woche.

«Ist es weit ins Dorf, Don Marco Aurelio?»

«Die Höhe des Waldgebirges erreichen wir in zwei Stunden, und am Abend steigen wir ins Tal hinunter, ins Urwalddorf des Lehrers. Hernach acht Stunden bis zur Straße, und mit dem Bus eine Stunde ins Dorf. Es ist ein großes Dorf, mit Munizipalverwaltung, Kirche und Arztstelle. Im Dorf kaufen wir das Salz.»

«Am meisten haben uns die Radiofonischen weitergeholfen. Tulio von der Bauernorganisation besuchte uns zwei Jahre lang», blickt Don Marco Aurelio in die jüngere Vergangenheit zurück.

«Vor der Zeit Tulios waren die Leute in Riosucio Alfabeten», qualifiziert Rosalba, die das Kunstwort Analfabeten in der faßbaren und gesundgeschrumpften Form widergibt.

Tulios Einfluß fiel mit den Anfängen der Schule für die Kinder zusammen.

Die Idee sproß unversehens auf. Weder Don Juan de Dios noch Don Serafin beteiligten sich an den mingas, an den Nachbarschaftsarbeiten, während anfänglich alle Bauern schwere Hölzer fällten und auf das Schulterrain schleppten. Um die Schulidee herum erstarkte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bauern. Die Idee, für die Kinder etwas Höheres zu erreichen, erfüllte sie mit kooperativer Gesinnung. Als es zum Bretterschneiden kam, zur langwierigen Schlagarbeit mit der Matschete, lichteten sich die Reihen in der freiwilligen Nachbarschaftsarbeit, und die minga ging für eine Zeitlang ein. Die Haltung Serafins und Juan de Dios' machte Schule, und der Beginn des Schulbetriebes verzögerte sich um ein Jahr.

Einer der beiden Todfeinde hätte sich an der minga solidarisieren können, ohne dem anderen vor die Augen zu treten. Die Feindschaft war aber nicht der einzige Grund dafür, daß sich die unverträglichen Nachbarn passiv verhielten. Nicht einmal die Gesundheit gab einen Vorwand ab. Die Streithähne hatten sich von den Verletzungen erholt und arbeiteten in der Kraft der besten Jahre. Nein, ein letzter Grund war die Tatsache, dass es beim einäugigen Serafin und bei Juan de Dios keine Buben im Schulalter gab. Später schon! wenn die kleineren heranwachsen. In Riosucio waren damals die Mädchen weniger intelligent als die Buben, und es lohnte sich nicht, sie in die Schule zu schicken.

 

Malaria

«Mono, buenos días!» Die beiden Malaria-Angestellten stecken den Kopf in die Veranda herein. Der Gruß gilt mir, dem mono, dem einzigen anwesenden Erwachsenen. Don Marco Aurelio taucht auf und heißt sie herein. «Un tinto!» ruft er. Rosalba bringt die Tasse auf dem obligaten Unterteller. Das Geschirr klingelt, und Rosalba verschüttet den heißen Kaffee, den sie mir anbietet. Aber Don Marco Aurelio ruft wegen der beiden Malaria-Leute: «Rosalba, guck, die señores!»

«Unser Freund Reynaldo ist nicht gekommen?» erkundigt sich Don Marco Aurelio.

Rómulo erzählt: «Reynaldo wurde gekündigt. Wegen dem macho

Der macho, und sage Matscho, das Maultier, das sie auf die Malariareise mitnahmen, hielt mehr aus als die Leute. Den Matscho schleppten sie am Seil durch die Flüsse, und wenn er knietief in den sumpfigen Urwaldwegen versank, ermüdete er dennoch nicht, blieb flink und benahm sich des Morgens ausgeruht.

Der Matscho ist unersetzlich. Rómulo und Pionono schleppten das neu zugeteilte Maultier mit Müh und Schweiß bis nach Riosucio. Es war um keinen Preis in den Riosucio zu locken. Maultier ist Maultier. Zugegeben, auch der Matscho hatte seine lästigen Mätzchen. Es hat ihm das Leben gekostet. Er war zu spät kastriert worden und entwickelte den Tick, unmotiviert auszuschlagen. Man mußte ihn kennen, um nie eins zu erwischen. Nur Reynaldo arbeitete gern mit dem Matscho.

Der Unfall geschah in der Steigung, in jener über dem Dorf des jungen Lehrers. Der gestürzte Baum versperrte den Weg. Das Ausweichen über den steilen Felsen war nicht gefährlich. Als der Matscho die Felsplatte durchstieg und im Sprung hochkommen sollte, schlug er aus, verlor das Gleichgewicht und rollte ab.

Großtiere stürzen nicht zu Tode. Reynaldo hätte den Matscho vielleicht aus der Absturzstelle herausgeführt. Aber er war allein und kletterte nicht ab. Er kehrte um und meldete den Verlust des Matschos. Auf dem Büro in der Provinzstadt verwiesen sie ihn auf das Reglement. Wenn ein Tier eingeht, wird das Stück Fell mit der eingebrannten Kontrollnummer abgeschnitten und vorgelegt. Vorschriftswidriges Handeln erwirkt die Entlassung. Reynaldo kehrte in den Hochwald zurück und vollbrachte eine alpinistische Leistung. « Alpinismo», sagt Rómulo, nicht etwa andinismo, was sich auf die südamerikanischen Anden bezogen hätte. Reynaldo riskierte sein Leben. Er fand vom Matscho nur noch Haut und Knochen vor, und zwar viele Knochen und wenig Haut. Die Geier arbeiten sauber. Das Fellstück mit der Kontrollnummer schien von einem gierigen Fresser verdaut zu sein. Reynaldo war entlassen. Er machte Rekurs, er könne Zeugen beibringen, sogar der Pfarrer habe ihn am Morgen vor dem Unfall gesehen und gehörte zu den ersten, denen Reynaldo den Unfall schilderte. Aber die Organisation verzichtete auf Reynaldo.

 

Rosalba

Der Landarbeiter wohnte am Anfang in der Hütte Don Marco Aurelios. Der Fremde Paco gewann sich Rosalba. Sie führten nicht alle Gespräche in der Hütte. Rosalba verrichtete Arbeiten ums Haus herum. Sie melkte die Kühe. Das Melken dauert lange. Die Kühe stehen oft im abgelegenen Teil der Weide, und die Gespräche mit dem Fremden Paco zogen sich in die Länge. Auch das Wasserholen und das Wäschewaschen an der Wasserstelle dauerte seine Zeit.

Paco zeigte nicht nur eine sympathische Zuneigung zu Rosalba, die knapp das Mädchensein abgestreift und vielleicht noch nie eine Aufmerksamkeit erfahren hatte; von den Geschwistern auf keinen Fall, von den Eltern sowieso nicht, denn der Vater kommandiert sie zum Arbeiten herum, und weder die Mutter noch die Großmutter geben sich über das junge Erwachsensein Rosalbas Rechenschaft. Wenn auch nicht frei von banger Ängstlichkeit, sahen es alle drei Elternteile – denn man darf die Großmutter Doña Isabel ohne weiteres als den dritten, und vielleicht sogar als Hauptelternteil hinzurechnen – gerne, daß sich der Fremde Paco Rosalbas annahm. Er war ein zugriffiger Landarbeiter. Viel Arbeit gab es bei Don Marco Aurelio nicht, aber dessen Dienste waren willkommen. Don Marco Aurelio rodete flußabwärts und erweiterte die Liegenschaft um eine Maispflanzung. Paco fällte mit der Matschete, mit dem Buschmesser, die hohen Bäume.

Paco spielte mit den Kindern Noemis, mit Pedro, Verónica und Magdalena. Paco kannte die Stadt, wo die junge Mutter Noemi arbeitete. Mit Rosalba unterhielt er sich über die Brüder. Nahe berührte ihn das Schicksal Kenedys und daß er auf subversive Propaganda hereingefallen war. Ob sich denn niemand gewehrt habe, als die linken Bewaffneten herumstrolchten, und wie lange sich die camaradas in Riosucio herumgetrieben hätten, wer sie hergerufen habe und wer in Riosucio so schlecht sei, daß er vertraulich mit solchen Subjekten umgehe, die die unstete Jugend zur Rebellion verführten.

Rosalba hatte nicht geahnt, welche Wendung die langen Gespräche mit dem Fremden Paco nehmen sollten. Der üppige Regenurwald war nicht gefällt, als Rosalba zur Hütte stolperte und schrie. Am Ende harter Wortwechsel voller gegenseitiger Vorwürfe der drei Elternteile und einem bitteren Finale zwischen Don Marco Aurelio und dem Fremden wurde letzterer weggewiesen. Dennoch pflegte Paco unvermeidliche, lose Kontakte mit dem Haus Don Marco Aurelios.

Rosalba verbindet meinen Fuß. «Patricio, arbeiten in Ihrem Land die Mädchen viel? Bei uns im Urwald ist es nicht schön. Wir sind arm. Die Schwester Noemi bringt den Kindern Geschenke. Sie arbeitet in einem Betrieb. Sie verdient viel Geld. Als Noemi uns besuchte, brachte sie einen wunderbaren Stoff mit. Der Stoff glänzte weiß, mit roten, blauen und gelben Blumen. Pedro erhielt ein Spielfahrzeug, und die Mädchen Puppen, nicht nur Verónica und Magdalena, auch die Schwesterchen. Und Noemi brachte Süßigkeiten. Es ist schön, wenn Noemi kommt.»

Die Nachbareltern erlaubten ihrer Tochter, mit Noemi in die große Stadt zu reisen. Jene Tochter ist jünger als Rosalba. Don Marco Aurelio erlaubte es Rosalba nicht. Eine Liegenschaft gibt viel Arbeit. Noemi hat aber Rosalba gesagt, es wäre besser, wenn sie ein wenig von zu Hause wegkäme.

«Es macht mir den Verleider», klagt Rosalba. «Ich würde gerne in der Stadt arbeiten, wie Noemi. In der Stadt tragen sie nicht so gräßliche Kleider wie wir in Riosucio, und sie zünden elektrisches Licht an. In der Stadt ist es nie langweilig. Noemi sagt, in der Stadt sei es chévere. Nicht wahr, Patricio, chévere sagen sie, wenn es schön ist, wenn es einem von Herzen gefällt. Das Leben der Armen ist traurig.»

Der Fremde Paco sucht die Malaria-Angestellten auf. Aber Rómulo und Pionono halten am Riosucio kleine Wäsche. Sie sind durchnäßt und bis an die Knie voller klebriger Erde eingetroffen.

Rosalba beendigt die Verbandsarbeit an meinem Fuß. Mein Dank freut sie. Sie hastet am eingetretenen Landarbeiter vorbei ins Innere der Hütte. «Mono, du schreibst?» unterbricht Paco meine frühen Eintragungen. Er verwendet nicht die Anrede «usted» der Umgangssprache, das ich mit gesteigertem Zweifel als «Sie» übertrage. Wenn die Kinder mich vertraulich mit «usted» ansprechen, höre ich es als «du». Das tu-Sagen ist bei den Bauern nicht bekannt. Das tu klingt nach Zugehörigkeit zur Gesellschaft, und tu-Sagen drückt aus, daß man dazugehören möchte oder sich auskennt, wie in höheren Kreisen gesprochen wird. Paco bekommt einen tinto gereicht, von der Großmutter, nicht von Rosalba. Ich lese Paco aus den Eintragungen vor, ins Spanische rückübersetzt. «Wie ein Polizeirapport.» Über die Indios Kwaiker beabsichtige ich zu schreiben? und ich sei auf eigene Faust in die unwirtlichen Bergurwälder geraten? Nach Riosucio gelangt man mit Absicht, und hier herein verschlägt es niemanden. Wenn hier jemand auftaucht, dann ist er Funktionär von etwas. Paco tastet mich nach einer Interessengruppe ab, die mich finanziert und herschickt, und warum.

 

Ein Kosmos

Die Malaria-Angestellten kehren vom Fluß zurück und klettern in gewechselten, sauberen Kleidern in die Veranda herein. Paco und die beiden Rómulo und Pionono stellen sich vor. Rómulo ist gesprächig und ortskundig. Pionono war noch nie da.

Sie ziehen mit den Spritzgeräten zu den Bauern. Rómulo sagt: «Für dein Krankenhaus sparen wir das DDT bis morgen auf. Wo wir übernachten, spritzen wir zum Abschied.»

Paco begleitet sie über den Riosucio. Als es am Nachmittag wie aus Kübeln gießt, trifft Rómulo ein. Das DDT, die schwere Spritzpumpe und das Kontrollmaterial brachten sie auf dem Rücken des Maultieres mit. Das Lasttier blieb bei Don Marco Aurelio auf der Weide und hält in den Nächten die Hütte in Bewegung. Die Organisation bezahlt für halbtägige Wegstrecken einen Lastenträger. Manchmal will niemand den Lastlohn verdienen, und sie schleppen selbst.

« Mono, so ein Riosucio ist ein geschlossener Kosmos.» In den Regenurwäldern leben die Bauern allein, auch die Indios. Einsam, trostlos einsam. Riosucio ist eine Welt ohne Nachbarn. Es existiert nur die kleine Lebenswelt am trüben Fluß. Alles, was es sonst gibt, ist Außenwelt.

«Jedes Jahr spritzen wir mit DDT. Monatlich besuchen wir die Malariaposten bei den Bauern. In den Weilern sind Meldestellen eingerichtet, die Blutproben nehmen und sie aufbewahren.»

Die Bauern wenden sich bei Malariaverdacht an die Posten. Die Malaria-Angestellten bringen die Blutprobe in die Provinzstadt. Nach einem Monat kehren sie zurück, melden die positiven Fälle und veranlassen die medikamentöse Behandlung.

«Wir rotteten die Malaria beinahe aus.»

Das Sumpffieber nimmt überhand. Man müßte ein stärkeres Mittel erfinden, denn die Mücke, die das Malariafieber überträgt, wird gegen das DDT resistent. Die Malariaorganisation ist geschwächt. Budgetkürzung. Die Guerilla diffamiert die Spritzarbeit. Das DDT sei giftig.

«Es ist schon wahr. Die Katzen überleben nicht. Aber das hat mit den Gewohnheiten des Tieres zu tun. Die Katzen lecken die Pfoten, an denen sich das DDT ansammelt. Sie verenden, und die Bauern leiden an den Ratten. Die Guerilla wirft der Malariaorganisation vor, sie schleuse Agenten des militärischen Aufklärungsdienstes ein und betreibe unter den Bauern Spionage. Ehrlich gesagt, bin ich auch nicht sicher, wer mein Kollege Pionono ist. Er wurde neu eingestellt.»

In der Gewerkschaft versuchten sie eine Zusammenstellung. Fünfzig Angestellte kamen gewaltsam um, viele jüngere.

Pionono kehrt zurück. Rómulo läßt die Politik fahren.

Die Bauern nennen die Malaria Sumpffieber. Die echte Malaria ist schwer zu erkennen. Sie erzeugt Fieber, die von selbst vorbeigehen, sich aber wiederholen. Die Medikamente verhindern, daß die Erkrankung chronisch wird. Gegen den Mückenstich schützt sich niemand.

«Die Mücke ist Malariaerreger?»

Nicht Erreger, sondern Überträger. Zudem überträgt nur eine gewisse Mücke den Parasiten. Sie ernährt sich von Blut. Wenn sie das Blut eines Malariakranken saugt, dann wird sie selber nicht krank; befindet sich aber der Parasit im Geschlechtsstadium, entwickelt er sich in der Trägermücke. Wissenschaftlich gesehen, ist dieser Parasit ein biologisches Glanzstück. Er ist das komplizierteste einzellige Individuum.

Rómulo klopft mir auf den Arm, nimmt die erledigte Mücke, deren feine Haarbeine zappeln, zwischen die Finger und zeigt sie. «Falls diese Mücke einen reifen Malariaparasiten trägt, dann hätte die Mücke den Erreger beim Blutsaugen in den Blutstrom eingeführt. In einer halben Stunde wäre der Malariaparasit in der Leber verschwunden.» Rómulo guckt auf den eingebundenen Fuß. «Ja, schneller als dein Fuß in Ordnung kommt, hättest du die Malaria.»

«Was würde sich ereignen?»

«Schau, mono, der Parasit belastet deine roten Blutkörperchen und bringt sie zum Platzen. Sie verursachen den Malariaanfall mit Schüttelfrost, einundvierzig Grad Fieber und durchgehendem Unwohlsein. Wenn der Schweiß ausbricht, fällt das Fieber zusammen, du schläfst und ruhst dich aus, falls dich die Kinder auf der Veranda in Ruhe lassen. Du fühlst dich müde, aber normal. Nach einer Woche beginnt dasselbe Karussel. Du ermißt jetzt, welchen Dienst ich dir mit der Ermordung der Stechmücke erwiesen habe.»

 

Die Bildungsreise

Tulio hielt sich regelmäßig in Riosucio auf. Jeden Monat eine Woche. So verlangte es das radiofonische Reglement. Tulio amtete unter den Bauern als Funktionär des Institutes für Alfabetisation, das sich zudem für die kulturellen ländlichen Belange im weiteren Sinne einsetzte. Die Jugendlichen wußten nicht einmal ihre Unterschrift zu geben und übertrafen den statistischen Anteil an Analfabeten. Auch die Erwachsenen, vor allem die Mütter, und selbst Leute wie Don Marco Aurelio hatten die Gewohnheit verloren, einen Text zu lesen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot.

Gegen den Schluß der zweijährigen Dienstzeit wurden die Besuche Tulios in Riosucio nicht etwa seltener, wie dies bei einem abgehenden Funktionär zu erwarten ist. Vielmehr kam es eher am Anfang vor, daß der Monatsbesuch ausfiel. Später überhaupt nicht mehr. Tulio gehörte mit der Zeit zur Familie Don Marco Aurelios, und besonders Noemi erwartete dessen Erscheinen mit Ungeduld. Noemi zog mit Tulio in die kalte Provinzstadt. Dort führte er sich unverantwortlich auf, und Noemi brachte das Mädchen Verónica der Mutter Sara, welcher sie schon den kleinen Pedro zurückgelassen hatte, und suchte die große Industriestadt auf.

Tulios Bauernorganisation verkaufte nicht in erster Linie Radiogeräte. Hauptziel war die Alfabetisierung. Aus zwei Alfabetisationsgruppen wurden kurzlebige Bauernbildungsunternehmen. Dennoch fehlte es nicht an Einflüssen der Radiofonischen, die sich sehen ließen.

Herd hoch! war ein Frauenprogramm, aber den Männern aufgelastet. Herd hoch! sangen die Slogans am Bauernsender. Herd hoch! lasen die Bauern in den Alfabetisationstexten, samt dazu passenden und weiterführenden Volksversen. Tulio räumte mit dem mühsamen Bücken auf und erklärte die drei uralten Kochsteine am Küchenboden, zwischen welchen das tägliche Feuer knisterte und auf denen die Pfannen sicher und ohne Wackellust ruhten, als veraltet. Die Kochstelle gehörte weg vom Boden in die Höhe: Herd hoch! Der unwiderstehliche Fortschritt kämpfte. Die Männer hörten auf Tulio, oder auf die selbstbewußten Frauen, und bauten aus Holz und Steinen die neue tischartige Kochstelle.

Daß der dumpfe Geruch alter menschlicher Exkremente nicht durch die luftige Rekonvaleszenzveranda hereinweht, das verdanke ich dem frühen Wirken Tulios. Auf der Herreise vom ekuadorianischen Dorf näherten Don Marco Aurelio und ich uns Bauernhütten, durch deren letztes Gehölz und Büsche wir uns bedrängt durchatmeten. «Keine Latrine», bemerkte Don Marco Aurelio abschätzig. In Riosucio wehen die Winde talaufwärts, und Tulio ordnete Don Marco Aurelio den geruchsgünstigsten Latrinenstandort hinter der Hütte an. Bei der Schulhütte verlangte Tulio, daß die Latrine besonders tief zu bohren sei, weil viele Kinder zusammenkommen. Ein Schüler stürzte ein. Die hölzerne Bodenplatte war vermodert. Ich vergewissere mich: «Aber dem Kind ist nichts passiert?» Doch, da es niemand hörte, bemerkte man den Schaden erst später, und als die Eltern nach dem Kind fragten, kam man auf den Gedanken, es könnte verunfallt sein. Die Bauern gaben dem Verlangen der Lehrerin nach und legten eine Zementplatte.

Tulio verteilte Stipendien für den Kurs am Bauerninstitut. Die Pfarrei erhielt drei Studienplätze für junge Bauern zugesprochen. Zwei Burschen und eine junge Frau besuchten den Halbjahreskurs. Für Riosucio bezog sich das Angebot auf den weiblichen Freiplatz. Omaira begab sich auf den weiten Weg. Tulio hätte die drei Institutskandidaten der Pfarrei zur Sammelstelle in die Provinzstadt bringen sollen, wo eine regionale Reisegruppe zusammenzustellen war. Omaira reiste eine Woche früher und besuchte ihre Schwester in der großen Industriestadt, nicht ohne den dortigen Reiseanschluß abzusprechen.

Deisy, die ältere Schwester Omairas, arbeitete im Haushalt einer Ingenieursfamilie. Omaira wurde nicht nur von Deisy gut aufgenommen, auch die Dame des Hauses behandelte sie mütterlich und erlaubte, mit Deisy in der Küche zu essen und die Dachkammer zu bewohnen. Omaira sah Television, erlebte die Segnungen des elektrischen Lichtes und bereute es, nicht schon früher die große Stadt aufgesucht zu haben. Sie verdrängte die Weiterreise aus dem Bewußtsein.

Als Deisy den Modistinnenkurs besuchte und Omaira die Küchenarbeiten allein erledigte, zeigte der Sohn des Hauses seine Aufmerksamkeit. Omaira suchte vor Beginn des romantischen Televisionsprogramms die Kammer auf. Er folgte ihr, betrat hastig den engen Dienstmädchenraum, schob die Tür zu und fragte Omaira, ob sie wisse, wie sie mit den Männern des Hauses umzugehen habe. Omaira wußte es nicht, und der Sohn des Hauses belehrte Omaira, daß man sich unter jungen Leuten nett behandelt. In der großen Stadt werden nur schöne Frauen geheiratet, und es komme in jedem Haus vor, daß die Schönheit auf den ersten Blick überzeuge und es zur Heirat komme. Omaira wußte nicht mehr, wie ihr war, und wünschte nur, daß alles, was er versprach, wahr wäre. Sie stieg nicht zur Television hinunter, als der Sohn des Hauses sich wortlos und ohne einen Blick verabschiedete. Am anderen Morgen fragte Omaira ihre Schwester, ob die jungen Herren immer ein schönes Bauernmädchen heirateten, um es in der großen Stadt tief glücklich zu machen.

Deisy erschrak: «Hat Henri dich angelogen? Alle machen es so! Alle wollen die Hausangestellten für sich, und wenn ein Kind kommt, werden sie vom Haus gejagt. Die Damen dulden in der Küche keine Großkinder.»

Deisy forschte Omaira aus: «Wann bist du krank gewesen?» Omaira hatte es vergessen, aber Deisy insistierte und rechnete erleichtert nach: «Du hast Glück gehabt. Deine Dummheit wird wenigstens keine Folgen haben.» Omaira staunte: «Kann man das ausrechnen?» und teilte im übrigen Deisys Erleichterung nicht: «Wenn wir ein Kind hätten!» Aber Deisy unterbrach sie: «Dann würde er dich heiraten? Mit einem Stock würde er dich wegjagen. Zur Mutter würde er laufen. Schreien würde er. Ein solch unverschämter Bauernfratz sei ihm noch nie begegnet, das seien jene, die es mit allen treiben und hernach die anständigen Bürger ins schiefe Licht und in den Schmutz ziehen, und die Mutter würde gläubig mit dreinschlagen.»

Omaira putzte ihre Bildungsgedanken sauber und gewöhnte sich daran, daß sie ins Bauerninstitut reiste. Schon am Tag der Ankunft Omairas hatte Deisy Stoff für ein Kleid gekauft und zu schneidern begonnen. Omaira zog es an. Deisy bat die Hausherrin um Lohnvorschuß und ergänzte das Bargeld Omairas. «Zum Essen unterwegs. Wenn du den Rest aufbehälst, hast du auch auf der Rückreise zu beißen.»

Der Bus verließ die große Industriestadt am frühen Morgen. Die in der Nacht eingetroffene Reisegruppe junger Bauern aus dem Landessüden war aufgeteilt worden. Von der großen Industriestadt fuhr eine Gruppe an jenen Ausbildungsort, den sie nach zwölf Stunden erreichten. Ein Bursche aus der Pfarrei Omairas wurde dort zugeteilt. Der andere Bursche gehörte zur Reisegruppe Omairas, die in Richtung Landeshauptstadt Bogotá unterwegs war. Omaira staunte über die Häuserreihen der Stadtstraßen, die nicht endeten. Der Institutskandidat aus derselben Pfarrei wußte, die Hauptstadt, die er auch noch nie gesehen hatte, sei gewaltig größer, und die Häuser seien höher, was Omaira nicht glaubte, denn in der großen Stadt standen die Häuser höher als die Palmen von Riosucio.

Bis in den tiefen Vormittag fuhr der Bus jede Stunde durch eine Stadt. Zwischen den Städten breiteten sich unter der gleißenden Sonne endlose Zuckerrohrfelder aus. Omaira vermochte sich nicht vorzustellen, wieviele Pferde die Bauern benötigten, um die unendliche Menge von Zuckerrohr im trapiche, in der Zuckermühle auszuwalzen. Ein Bursche kannte sich aus. Von der letzten Stadt bis zur nächsten gehörten alle Zuckerrohrpflanzungen einem einzigen señor, der in der großen Industriestadt wohnte und nicht mit dem Bus der Leute, nicht einmal mit dem Wagen, sondern mit dem Flugzeug die Felder und die Zuckerfabriken besichtigte. Für so viel Zuckerrohr genügt ein Bauerntrapitsche nicht, wo bloß ein Pferd den Hebelbalken von früh bis spät rund dreht und wo die Knechte und die Kinder die Zuckerrohre in die Preßwalzen nachstoßen und wo sie die Finger drinlassen. Der Bursche hob die rechte Hand mit den drei ganzen Fingern und erntete Applaus.

Als der Bus in einem engen Tal die Hänge der Zentralkordilleren erklomm, ließ er auch die letzte städtische Siedlung hinter sich. Das Panorama der kleinen Liegenschaften an den steilen Hängen, mit den Weiden und Wäldern, ließ Omaira sich vom Staunen erholen. Sie fühlte sich zu Hause. Die gemächliche Bergfahrt erlaubte, in die ruhigen Gesichter der Menschen an der Straße zu schauen.

Im tiefen heißen Tal zwischen den Zentralkordilleren und den angezielten östlichen bewahrten die Städte etwas Ländliches, nicht nur wegen der lockeren Bauart und der grünen Vorhöfe. Überall bewegten sich Tiere. Pferde und Maultiere, ja Esel arbeiteten ziehend, schleppend und tragend mit den Menschen.

Die Nacht überfiel den Reisetag, bevor der Bus sich an die Hänge der Ostkordilleren heranmachte und zum stundenlangen Aufstieg in die Hauptstadt Bogotá ansetzte. Bogotá, den Kandidaten des Bauerninstitutes unbekannt, breitete um Mitternacht ein unendliches Lichtermeer aus. Die Bildungsreisenden richteten sich bis zum Morgengrauen im geräumigen Hof der Busgesellschaft ein. Von Zeit zu Zeit fuhr ein Bus voller Leute vor. Die Abfertigungen ruhten bis gegen den Morgen. Die jungen Burschen der Reisegruppe, aus dem Süden traf es sozusagen nur Burschen, verteilten sich auf Sitzbänke. Omaira stellte in weiblicher Behutsamkeit die Reisetasche auf den Schoß und verschlaufte den Tragriemen um den Arm. Julio, jener aus der gleichen Pfarrei, dachte nicht ans Schlafen und dachte sich vorderhand überhaupt nichts. Er dachte lange nichts, da ihn der Schlaf überwältigte, bis die jungen Bauern am Morgen vor einer harten Solidaritätsprobe standen. Julio fehlte die Tasche und der darin verwahrte Ausweis samt Geld. Drei weitere Bestohlene wünschten die Reise abzubrechen und nach Bekannten zu suchen, die sie in der Hauptstadt wähnten. Es bewegte sie der aufregende Gedanke, in der Hauptstadt zu bleiben und das Glück zu versuchen, es wenn möglich auf der Straße aufzulesen. Sie setzten sich ab. Julio ließ sich Kaffee und Zwieback spendieren, sowie die Fahrkarte ins Bauerninstitut, wo die Gruppe am Nachmittag teilweise heil eintraf.

Omaira fuhr mit kräftigem Erkältungsfieber ein und wurde in die Krankenabteilung eingewiesen. Mit den ebenfalls geschwächt eingetroffenen Patienten tauschte Omaira Bauernschicksale aus und forschte nach den Erwartungen, die sie selber nicht klar auszudrücken vermochte. Sie freundete sich mit Soila an, einer Negerin aus den Fischerdörfern am Pazifischen Ozean, nahe bei Panamá, die sich kein Bild darüber machte, was das Institut den Teilnehmern bieten werde.

Omaira kehrte vom Bauernhalbjahreskurs gutgenährt und voller Tatendrang zurück. Tulio bremste das ziellose Dreinschießen und behielt die frischgebackenen Animatoren im Dorf an der Straße zurück. Er trug ihnen die unmittelbaren Arbeiten auf, nämlich an Hand der Schriften des Bauerninstitutes unter den Jugendlichen Lesezirkel aufzubauen und sich nach zwei Wochen im Dorf an der Straße mit Tulio zu einer Auswertung der Anfänge und zum Austausch der Erfahrungen zu versammeln.

Daß sich die Jugendlichen mit Omaira versammeln sollten, stieß auf unvorhergesehene Widerstände. Der Vater Omairas wäre auf den Kopf gestanden, wenn Omaira als Ergebnis des die Familie ehrenden Kurses im Bauerninstitut, ausgerechnet die libertinistische Unsitte heimgebracht hätte, unter kulturellen Vorwänden mit den Burschen der Nachbarschaft zusammenzutreffen. Als Omaira der Gedanke kam, wie im Bauerninstitut, wo die Kurse nach Geschlechtern getrennt wurden, mit einer Gruppe von Bauerntöchtern einen Zirkel aufzubauen, drang ihr ins Bewußtsein, daß sie die einzige junge Frau über fünfzehn Jahren war.

Omaira erschien nicht im Dorf an der Straße und beteiligte sich nicht an der Auswertung der Neuanfänge. Erst als viele Zeit später die Krankenschwester in Riosucio eine Gesundheitswoche veranstaltete, entdeckte Omaira ihr Flair für diesen delikaten sozialen Zweig.

 

Hochzeit

«Omaira, vámonos!» schreit der Bursche, «gehen wir!» Omaira kehrt von draußen zurück, vom Dorf an der Straße. Wie beim Weggehen, zweigt sie zur Hütte Don Marco Aurelios ab, entledigt sich des Tragkorbes, steigt zur Hütte herein und nimmt sich der Wöchnerin an. Der Bursche schwingt eine Schnapsflasche und schreit: «Omaira! gehorche! nach Hause!» Schwerfällig bringt er hervor: «Du bist verheiratet! Jetzt befehle ich! ich! Omaira!»

Don Marco Aurelio rät: «Omaira, wir sehen zum Rechten. Vereinbare dich mit deinem Mann. Eine verheiratete Frau achtet den Mann.»

«Verheiratet gehört man zur Gesellschaft wie unverheiratet. Ich kann die Verantwortung für die Kranken niemandem abtreten. Mein Mann ist nicht so. Er hat nur getrunken.»

Omaira ist mit der Wöchnerin zufrieden. Rosalba zeigt Omaira meinen Fuß. Der Gemahl Omairas beruhigt sich nicht. Er wechselt zwar die Stimmung, aber nicht die laute Stimme. «Omaira, beeile dich. Wir wollen in unser Haus. Du mußt immer gut zu unserem Haus sehen.»

Omaira verabschiedet sich.

Rosalba entfährt es: «Rigoberto und Omaira haben geheiratet.»

«Wann?»

«Als sie mit Rigoberto nach Ihrem Unfall hinausreiste, señor Patricio», sagt Doña Isabel. «Omaira schob die Heirat hinaus, bis Doña Sara erkrankte. Omaira ist eine besorgte Hebamme.»

«Hat sich die Hochzeitsgesellschaft, ich meine, haben sich die Angehörigen auf dem Rückweg zerstreut?»

«Bis zum Dorf an der Straße ist es weit. Zum Heiraten braucht es nur die zwei, die heiraten.»

 

Der Lohn

«Patricio, rate: Wer ihn macht, lacht, wer ihn kauft, weint, wer ihn benützt, weiß nichts davon.» Der junge Lehrer ist zurück. Er gelangte nicht bis ins Dorf an der Straße. Nur bis zu den taitas. Im Urwalddorf der taitas hörte er: «Keine Löhne. Es lohnt sich nicht, auf der Munizipalverwaltung vorzusprechen. In einem Monat!» Dem jungen Lehrer gefällt meine Ratlosigkeit. «Der Sarg!» lüftet er das spannende Geheimnis. «Patricio, aber du weißt, warum der Jäger beim Schießen ein Auge zudrückt.»

«Korn und Visier.»

Er strahlt: «Wenn der Jäger beide Augen schließt, sieht er das Wild nicht. Aber du weißt bestimmt, welche Vorliebe bei Gott und bei den Läusen in gleicher Weise vorherrscht!»

Ich lasse mich auf einen Streit ein: «Du kannst Gott nicht mit einer lästigen Laus vergleichen.»

Er wehrt sich: «Gott und die Laus zeigen eine ausgesprochene Vorliebe für die armen Leute.»

Der junge Lehrer bringt mir ein unbezahlbares Geschenk: ein dickes Heft, ein leeres Heft, und einen Kugelschreiber, einen langlebigen, sauberen kilométrico.

Der junge Lehrer bedeutet Don Marco Aurelio: «Die Eltern der Schulkinder sind zu einem Zuschuß an den Lehrer zu verpflichten.»

«Die Eltern bestreiten die Verpflegung.»

«Schon. Aber man hat Anrecht auf Geldlohn.»

Der junge Lehrer hat ein Buch mitgebracht. Ein Taschenbuch. Die bedeutungsvolle Erzählung werde mir die Zeit verkürzen.

Ich lese vor dem Einnachten den angriffigen Buchanfang des kolumbianischen Autors. Banditenüberfall auf eine Hacienda in den einsamen östlichen Tiefebenen. Der zwanzigjährige Sohn des Besitzers macht sich in der dicht belaubten Krone des mitten im Hof stehenden Baumes unsichtbar und bekommt die Ermordung des Vaters, der schreienden Mutter, der jüngeren Geschwister, der Knechte und Mägde und zweier Besucher vorgeführt, sowie den Raub der beträchtlichen Barvorräte. Die Banditen legen Feuer, und der Flüchtling im Baum erstickt beinahe in Hitze und Rauch.

Manuel Pacho, ich schreibe ihn Patscho, damit er im Deutschen zum Klingen kommt, trägt in der glühenden Tageshitze der Orinokoebene kein Hemd, aber gegen die gleißenden Flammen sucht er Schutz, und er bewegt den Strohhut in die Rauchschwaden. Bevor ihn der Rauch um sein Bewußtsein bringt, zieht die Räuberhorde weg, und Manuel Patscho macht sich frei.

Die großflächige Hacienda ist mit zweitausend Tieren bestückt, ein ansehnlicher, aber kein überragender Reichtum. Der Nachbar Don Juan redet ohne Übertreibung vom doppelten Viehbestand. Die Banditen betreiben Viehraub. Auf den Weiden sammeln sie dreihundert junge Tiere ein und brechen zum wochenlangen Abtransport auf, ins Nachbarland Venezuela. Nach dem Gesetz des Stärkeren war die Hacienda wachsamer zu schützen. An Waffen fehlte es nicht, doch die Überraschung erleichterte den Banditen die Arbeit. Sie selber ließen nur einen einzigen Toten zurück, einen jungen Burschen, der mit den anderen Leichen im gebrandschatzten Hofgelände herumlag.

Manuel Patscho überlebte als einziger. Unmöglich, alle Toten zu begraben. Aber den eigenen Vater, den Sohn eines eingewanderten Spaniers, mußte er nach christlichem Brauch im Dorf bestatten. Ins Dorf ritten sie in einem halben Tag. Doch der Pferdebesitz stampfte nun nach Venezuela.

Manuel Patscho knüpfte die Hängematte vom Baum, wickelte sie um den erschossenen Vater, schnürte das dicke Tuch zu einem Sack zusammen und lud den Toten auf die Schultern. Tief unter der Last gebeugt, marschierte er gegen das Dorf. Beim Schreiten liefen Manuel Patscho in der Erinnerung alle Jahre wie ein Film ab, das Leben, das der auf ihm Lastende gezeugt hatte. Der Totengang Manuel Patschos ist ein Entwicklungsroman, die Geschichte Manuel Patschos. Manuel Patscho legte Pausen ein und kämpfte sich auch in der Nacht noch eine Strecke weiter. Selbst am Abend des zweiten Marschtages befand er sich noch zu weit vom Dorf und vom christlichen Begräbnis entfernt. Der Totenträger ermattete unter der Last des Leichnams. In der glühenden Tageshitze setzte unbarmherzig die Verwesung ein. Die Aasgeier schwebten tief über ihm. In der Nacht schützte Manuel Patscho den Toten unter einem Ästehaufen. Die Geier erreichten den verwesenden Körper nicht. Manuel Patscho setzte sich in die Nachtbrise, die den heftigen Totengeruch wegblies, lag aber nicht zum Schlafen hin. Die fliegenden Totenräuber flatterten wild um ihn herum, und wenn sie es zu weit trieben, eigentlich zu nahe, verjagte er sie mit einem Stock.

Manuel Patscho schaffte es am Morgen nicht mehr. Der Tote drückte zu schwer. Den Vater, den Sohn eines stolzen Spaniers, in der Wildnis verscharren? Der Sohn des Spaniersohnes verwarf den Gedanken. Aber die Arme brauchte er nicht mitzubringen. Er gewährte dem Toten auch ohne Arme ein christliches Begräbnis. Er hackte sie mit der Matschete ab, und es erleichterte. Die Aasgeier ließen den Totenträger eine Zeitlang in Ruhe und begnügten sich mit den hingeworfenen Abfällen. Manuel Patscho schweifte auf dem taumelnden Gang nicht zu weit in die Erinnerung ab. Die Totenlast und der Verwesungsgeruch bedrängten ihn. Die Beine! Die Erleichterung half.

Während der glühendsten mittäglichen Hitze legte Manuel Patscho den toten Rumpf vor den Altar der stolzen, den südamerikanischen Barock nachahmenden Dorfkirche, holte den Sigristen, zeigte ihm den Totengeruch verströmenden Sack vor dem Altar, setzte sich auf die erste Kirchenbank, fiel erschöpft hin und schlief ein.

 

Die Hütte des Indios

Nun ist meine Begegnung mit Indios nicht in Riosucio anzusetzen, sondern auf dem Herweg vom ekuadorianischen Dorf. Don Marco Aurelio eilte es damals nicht. Wir begaben uns am späten Montagvormittag auf den Weg. Nach vier Stunden erreichten wir das Tagesziel, eine Siedlung von zwanzig Häusern, als der Himmel die Schleusen öffnete. Der Weg war leicht begehbar und folgte ohne nennenswerte Zwischensteigungen den Viehweiden und Waldbeständen des Grenzflusses. Ich hielt nicht Schritt, und er wartete häufig auf mich.

Jeden Tag reisten wir nur bis zum Mittag und trafen erst am Donnerstag am Schauplatz meines Unfalles ein. Wir turnten durch versumpftes Gelände und dichtes Gestrüpp, von Wurzel zu Wurzel, behindert und zerstochen. Die paradiesisch friedliche Urwaldwelt blieb stets dieselbe, und die üppige Orchideenvielfalt hielt sich im Halbdunkel der geschlossenen Baumkronen ungebührlich zurück. Zweimal übernachteten wir bei Bauern, die wie Don Marco Aurelio den Boden von Kwaikerindios günstig erstanden hatten. Die letzte Nacht verbrachten wir in der Hütte der Kwaikerfamilie Alvaros.

Wir näherten uns der Indiohütte. «Sie sind nicht bösartig. Vor den Fremden fürchten sich die Indios, wehren sich aber nicht, sondern fliehen.»

Wir traten in die Lichtung. «Gucken Sie! Die Familie Don Alvaros vermöchte vom Haus weg nach hinten in den Wald zu entwischen, ohne daß wir Ankommenden es bemerkten. Aber Don Alvaro kennt mich. Er arbeitet manchmal bei uns in Riosucio, und heute übernachten wir bei ihm.»

Der Indio Alvaro saß im hohen Raum unter der Hütte, die auf Pfählen stand, wie in einer Werkstatt. Mit den zwei älteren Buben flocht er Körbe, von welchen einige unfertig herumlagen.

Die Hütte stand nicht am Weg wie jene der Bauern. Wir bogen im Urwald an einer Stelle ab, die durch ein Kreuz bezeichnet war. Das Kreuz aus dem Holz der Tschontapalme war mit dünnen Schlingpflanzen an einen Baum befestigt und mit Palmzweigen geschmückt. Don Marco Aurelio kannte das Zeichen. Der Indio hat einen Feind. Alvaro warnt ihn mit dem Kreuz aus Tschontapalme, sich der Hütte zu nähern.

«Don Alvaro», fragt Don Marco Aurelio, «kann ich mit diesem gringuito, mit diesem kleinen gringo bei Ihnen übernachten?» Wir durften. Die Hütte Alvaros stand allein in der Waldlichtung, während die Hütten der Bauern offene Streusiedlungen darstellten, die mit ihrem zusammenhängenden Kulturland den Urwald aufbrachen. Die vier Kinder Alvaros bewunderten mich und wurden nicht müde, an meine hohe Figur heraufzuschauen und den Touristenrucksack zu bestaunen, den ich damals noch mit mir herumtrug. Sie flüsterten einander zu. Ich erklärte den Kindern, daß ich von weither komme und alles, was ich brauche, da drin mitschleppe. Die Kinder liefen zur Hütte, und Don Marco Aurelio bedeutete mir, daß sie mich nicht verstehen, denn nur Don Alvaro spricht christlich. Der Indio Alvaro stieg den angelehnten und mit Steigkerben versehenen Baumstamm in die Hütte hoch, die auf höheren Pfählen stand als bei den Bauern. Unter einer türartigen Öffnung guckte aus dem Innenraum die Frau des Indios mit einem Auge heraus. Gestalt und Gesicht blieben zur Hälfte hinter der Bambuswand verborgen. Er flüsterte der Frau zu, wie sie sich um das Wohlergehen der Gäste kümmern soll. Der Regen setzte heftig ein, und er sagte uns: «Schützen Sie sich unter dem Dach. Es regnet.»

Die mit dem Blätterdach gedeckte Hütte war symmetrisch angelegt, rechteckig der Hauptteil, die Wände des geschlossenen Raumes aus ungehobelten Brettern, die sich nicht dicht berühren. Darüber ein hoher First und die beiden steilen Dachhälften, die das Regenwasser leicht abgießen. Die Frau des Indios hielt sich im Küchenteil auf. Der Hauptteil der Hütte war die geräumige offene Veranda. Ich balanzierte über den als Stiege ausgekerbten Baumstamm auf die Veranda und installierte mich an der Hüttenwand. Wir befanden uns im Gästeraum, der auch für die Nacht dient, und auf dessen elastischem Boden aus Tschontaholz geschlafen wird.

«Don Alvaro, spricht man in ihrem Haus die bekannte Kwaikersprache?»

Er wehrte ab: «Diese Sprache kennen wir kaum.»

Zwei liegende Baumstrünke dienten Don Marco Aurelio und mir als Sitzplatz. Beim Eingang hing ein xylofonartiges Musikinstrument, das, nach der Zahl der Holzstücke beurteilt, einen die Oktav übergreifenden Tonumfang aufwies. Marimba. Sie hing waagrecht, einen Meter über dem Hüttenboden, an grobem Seilmaterial, das an den Tragstangen des Daches befestigt war. Die Marimba mißt in der Länge einen Meter. Unter jedem Tontäfelchen aus dem Holz der Tschontapalme fängt eine senkrechte Resonanzröhre aus Bambus den Ton auf. Die Tonhölzer und die Resonanzröhren nehmen in ihrer Länge ab, entsprechend der ansteigenden Tonhöhe. In der Nacht spielten uns der Indio Alvaro und ein Bub vierhändig auf dem wohlklingenden Urwaldinstrument vor; der Vater die hohe Melodiestimme, der Bub die tiefe rhythmische Marimbabegleitung, kein virtuoser, aber ein exotischer Klang im gleichförmigen Nachtregen.

Die Familie Alvaros unterschied sich in der Kleidung nicht von den Bauern, aber alle schauten ärmlicher drein.

Vorerst setzte sich Alvaro zu uns. Ein Mädchen reichte den eingetroffenen Reisenden gastfreundlich den tinto. Beim Kaffeetrinken erspähte ich an der einzigen Wand der Veranda, nämlich an der Wand zum Innenraum, drei Bambusröhren, in denen zweigartige Hölzer steckten. Auch armlange Blasinstrumente hingen dort, und ich fragte, wie man sie spiele, denn die glatten Holzröhren verrieten keine Spielart, wie bei den andinen Flöten.

Alvaro erklärte mir den Gebrauch. Die Bambusröhren enthalten Jagdpfeile. «Den Köcher binde ich mit dem angehängten Seil um den Leib. Mit dem Blasgerät schießt man die Pfeile. Im Wald hausen nur wenige Tiere, die man jagt. Den kleineren Tieren stellt man Fallen. Bald läßt der Regen nach, und ich kann Ihnen eine Falle zeigen, die ich neu eingerichtet habe.»

Als das Mädchen den Teller mit den weichgekochten Maiskolben brachte und Alvaro uns bedeutete zu essen, fragte er Don Marco Aurelio, ob drüben der Mais auch krank sei. Der Mais ist auch krank. Die Hühner ernähren sich nur im Wald und legen keine Eier. Wenigstens gedeihen die Schweine im Wald.

Als der Regen nachließ, tönte ich erneut die Tierfallen an. Wir brachen auf. Zum Zeitvertreib kam auch Don Marco Aurelio mit, und aus dem gleichen Grund die größeren Buben. Unternehmungslustig kreisten zwei Hunde um uns und bellten, als ob sie zur Pirsch ausrückten. Alvaro führte uns nicht tief in den Urwald. Die Falle war für kleine Waldtiere eingerichtet. Don Marco Aurelio sagte mir später verächtlich: «Für Waldratten.» Aber Alvaro sprach von den animalitos, den Tierlein.

Die Falle bestand aus einem Laufkäfig, der mit niederen Zweigen ausgesteckt war, und ein Holzprügel bildete dessen Decke. Die Aufhängung des Prügels erfolgte über ein Hebelsystem, das auf der halben Strecke des Laufkäfigs, wenn das Tierlein den Köder frißt, ausgelöst wird und den Prügel niederfallen läßt.

«Ich betreibe zehn Fallen, und wir essen Fleisch», rundete Alvaro sein Jagdthema ab.

 

Die Widerspenstigen

Die Bewaffneten tauchten überraschend in den friedlichen Regenurwäldern Riosucios auf. Sie verteilten sich zu zweit auf die Hütten der Bauern. Nicht auf alle Hütten, denn sie zählten nur ein gutes Dutzend, junge Burschen, und im Gegensatz dazu nicht etwa ältere, sondern zwei Frauen, die erste wie alle Burschen in einer Bauernhütte aufgewachsen, die andere mit Universitätsbildung, wie der comandante.

Der comandante, und noch mehr die junge Frau mit Universitätsbildung legten den Bauern die Ziele der Bewaffneten auseinander. Die Regierung hat sich an die Oligarchie und an den internationalen imperialistischen Kapitalismus verkauft und überläßt die proletarischen Massen dem Elend und der Selbstentfremdung. Die geschichtliche Stunde schlägt, und das Volk steht auf.

Die Bewaffneten betrieben damals den Marsch auf die große Stadt. «Die Massen des Volkes warten auf uns. Wir werden viele Leute unter den Waffen sammeln und die große Stadt erobern. Die von den imperialistischen Yankees gesteuerte Regierung wird sich feige an den Verhandlungstisch setzen. Sie werden die große Stadt an die Revolution abgeben und glauben, das eigene Fell zu retten.»

Die Bewaffneten warben Freiwillige an und übten keinen Zwang aus. Auch den Bauern drängten sie die neuen Ideen nicht verpflichtend auf, sie suchten aber nach den Parasiten der Gesellschaft und nach Gegnern der Revolution. Die Bauern von Riosucio wußten nichts von Parasiten der Gesellschaft. Sie pflegten untereinander gute Beziehungen und akzeptable Zusammenarbeit. Und von Gegnern der Revolution war nichts nachzuweisen. Die Bauern machten sich erst mit den revolutionären Gedanken vertraut, und die sprachlichen Hindernisse räumte die Frau mit Universitätsbildung trotz der akademisch einwandfreien Erklärungen nicht aus der Welt.

Als die Frau mit Universitätsbildung nach Sekten fragte, hob sich wie ein Regenurwaldnebel in der Rotwildsonne, so nennen die Bauern das Abendglühen, ein ungeformter Verdacht der Volksfeindlichkeit in den Köpfen der Bauern ab.

Die Familie Don Absaloms gehörte einer Sekte an. Der sie besuchende Pastor betrieb unter den Bauern Werbung. Mehrere Familien nahmen am Kult der evangélicos teil, bis die Bauern erfaßten, immerhin mit Hilfe des padre, daß das Zusammengehen unter ihnen gestört wurde. Die Bauern gestatteten dem Pastor die Werbetätigkeit nicht mehr, und sie ertrugen es, daß sich eine einzige Familie am trüben Fluß nie an den Nachbarschaftsarbeiten beteiligte. Die Familie, die der Sekte anhing, benützte die Kabelbrücke. Sie hatte sich aber vom weltlichen Geschäft des Kabelspannens enthalten, als die Bauern die alte Bambusbrücke durch den zeitgemäßen, dauerhaften Stahl ersetzten. Noch viel weniger schleppte sie vorher an den Stahlseilen, während die Bauern zwischen der Straße und dem trüben Fluß zornigen Schweiß vergossen. Don Marco Aurelio brachte die Bauern für das dritte Stahlseil nicht mehr zusammen, auch nicht viel später, als der Zorn verraucht und die Nachteile eines einzigen Handseils unbarmherzig offen zutage traten.

Die der Sekte angehörende Familie schickte die Buben zur Schule, mied aber die Unterhaltsarbeiten an der Schulhütte. Seit die Bauern an ihren Zusammenkünften den vom padre angeordneten kurzen Kult einhielten, stellten sich auch Don Absalom und Doña Magdalena ein. Sie griffen bei den Gesprächen über die gelesenen Bibeltexte zu, klebten an den Worten und hinderten die Bauern, die Texte aus ihren alltäglichen Sorgen und Fragen heraus zu verstehen.

Der Bibelstreit beschäftigte die Bewaffneten nicht im geringsten. Angefragt, bekannte die der Sekte anhangende Familie, die Bibel schreibe ein Leben ohne weltliche Sorgen vor, wenn es die Bewaffneten jedoch verlangten, würden sie sich an Nachbarschaftsarbeiten beteiligen. Die Bewaffneten traten gemessen auf, schossen nicht drauflos, und die Pläne einer exemplarischen und Respekt heischenden Hinrichtung fielen ins Wasser.

Der comandante schaltete Don Marco Aurelio in die umwälzenden Abläufe ein. «Don Marco Aurelio, wir fühlen uns belästigt, weil die Pfarreiequipe in Riosucio eintrifft. Wir verlegen uns ins Tal gegen die Grenze. In zwei Wochen kehren wir zu einer bedeutungsvollen Arbeit zurück. Die Frau Don Absaloms sperrt sich gegen unsere Wünsche. Sie steht auf der Hinrichtungsliste. Achten Sie darauf, daß sie nicht entweicht. Im Vertrauen, Don Marco Aurelio, Sie sind der einzige Eingeweihte. Wenn Sie das Kriegsgeheimnis lüften, flieht die Frau, und Sie verraten die Sache der Revolution. Ich zähle auf Ihre Zuverlässigkeit.»

Don Marco Aurelio schlief nicht mehr. In seiner Hand lagen zwei Leben. Er war zum Richter über das eigene und über ein fremdes Schicksal bestellt. Er rettete Doña Magdalena nicht, ohne das eigene Leben zu verlieren. Und wie sollte er vor seiner Familie weg und flüchten?

Das Pfarreiteam hielt sich zwei Tage lang in Riosucio auf, die Anreise am Vorabend und die Abreise nicht mitgerechnet. Es herrschte festlicher Betrieb. Die Bauern kleideten sich sonntäglich, und das vom Dorf an der Straße hereingezogene Team hob sich in den Jeans werktäglich und salopp ab. Die verantwortlichen Förderinnen des Gesundheitswesens und die Leiter der umliegenden Streusiedlungen und selbstverständlich jene von Riosucio, trafen sich zu den Bildungsversammlungen und überlegten nicht nur die mitgebrachten Ideen des Teams, sondern auch die in der Zusammenarbeit und im Urwaldleben gemachten Erfahrungen und die erlebten Begrenzungen in ihren Zielen. Vom unmittelbar vorausgegangenen Besuch der Bewaffneten redete niemand. Es entsprach nicht den festlich herausgehobenen Tagen, die hastig verdrängte Störung aufleben zu lassen. Aber noch ein anderer Umstand ließ das wohltuende Stillschweigen geschehen. Die Krankenschwester des Teams, und der Katechet samt dem padre stießen schlichthin nicht auf die Frage, ob bewaffneter Besuch vorausgegangen sei. Der Informationsaustausch zwischen den Anwohnern und den Besuchern über die bis unter die Haut gehende und unter den Nägeln brennende Erinnerung entstand nicht, bis Don Marco Aurelio gegen Ende des Pfarreiteambesuches eine Gelegenheit fand, mit dem padre unter vier Augen zu reden. A solas, allein hätte er mit ihm, dem padre, etwas zu besprechen; denn ihn bedränge die Morddrohung und die erzwungene Komplizenschaft.

Don Marco Aurelio war in den Nächten die rettende Vermutung aufgestiegen, es drehe sich kaum um das Leben der Frau Don Absaloms, sondern der comandante wollte sich nur der Zuverlässigkeit bei den wichtigsten Bauern versichern. Oder könnte der padre persönlich die Frau Don Absaloms warnen und die Identität Don Marco Aurelios schützen? Mit welchem Ergebnis? Die Gewarnten würden sich als die von der Volkskirche bedrohte Sekte fühlen und die gutgemeinte Hilfeleistung unschön und zu Ungunsten der im Land mit der Etikette der allmächtigen Kirche versehenen großen Schwester belasten. Die Person des padre würde zudem Don Marco Aurelio nicht im entferntesten schützen, da dessen freundschaftlicher Umgang mit dem padre bekannt war. Mein Gastgeber saß damals in einer Zwangslage, die ihn bei jeder Handlungsweise als faßbaren Verräter der Bewaffneten entlarvte. Die Konversation erzielte nicht die blind erhoffte glückliche Wende zum Besseren, und unerleichtert hielt er sich ans Schweigen, an die stärkste Waffe, mit der sich die Bauern verteidigen.

 

Die Indioforscher

Drei Rucksacktouristen steigen die Viehweide herunter. Es dunkelt ein. Der heftige Regen des Nachmittags ist in ruhiges Gießen übergegangen. Der Dritte der Wandergruppe setzt sich ins nasse Gras, ohne Rucksack. Die andern nähern sich bald der Hütte. Einer trägt zwei Rucksäcke.

Don Marco Aurelio lädt ungefragt ein unterzukommen. Während ich gegen die Dunkelheit kämpfe und das letzte Material des Tages im Schreibheft festhalte, taumeln sie zur Veranda herein. Auf dem elastischen Tschontaboden stutzen sie und tasten ihn mit den Füßen nach Sicherheit ab. Sie nehmen mich wahr und grüßen: « Good night», da man bei angebrochener Dämmerung buenas noches sagt, gute Nacht. Ich antworte auf Spanisch. Sie fragen auf Englisch, ob ich Amerikaner sei. Nein?

Sie suchen sich aus den Rucksäcken Kleider zum Wechseln heraus. Der zurückgebliebene Dritte klettert die Sprossen des Baumstammes auf die Veranda herein, taumelt, schreitet erschöpft, behutsam, mit offenen Fußsohlen, wie es sich gleich herausstellt. Die Ersteingetroffenen schätze ich in meinem Alter. Der Fußgeschundene könnte dreißig sein und erhält den ihm gehörenden Rucksack zugeschoben: «Sie bürden den Menschen schwere Lasten auf, rühren sie aber selber mit keinem Finger an.» Der Angesprochene antwortet deutlich und langsam in einer unverständlichen Sprache. Er fügt hinzu: «Aber von dieser Awá-Sprache versteht ihr dummerweise nichts. Und wer führt euch bei den Indios ein, ohne daß sie Angst bekommen und davonrennen?»

«Geistige Werte», kontern die jüngeren, «laßt ihr euch mit den harten Lasten des Volkes bezahlen.»

Alle lachen.

Als sie nicht mehr so naß sind, stellen sich die zwei jüngeren vor. Der ältere nicht. Er hat sich an der Wand hingelegt, erhält später eine Decke und schläft bis in den tiefen Morgen hinein.

«Wir sind von der Universität der Provinzstadt und beschäftigen uns mit den Indios Awá. Wir werden eine umfassende Untersuchung veröffentlichen: Geografie, und alle demografischen, ethnologischen und anthropologischen Aspekte.»

Als Rosalba mit Reis und Kochbananen und eingemischtem Ei aufwartet, essen die zwei Anthropologen mit eiligem Appetit, und bedeutende Mengen.

«Wir brachen in der Nacht vom Urwalddorf auf, ohne Proviant. Wir glaubten den Bauern nicht, daß wir an keinem Haus vorbeikommen, und haben nichts gegessen.»

Der Kollege hat sich schon gestern die Füße zerschunden, auf dem Weg von der Straße ins Urwalddorf. Heute macht er schlapp. Sie frieren. Schlimmer als die kalte Nässe ist der sumpfige Weg. Im Aufstieg des Morgens war der Weg noch begehbar. Sanfte Lagen von Weidland wechselten mit steilen Urwaldstücken. Die Steigung und die frühe Sonneneinstrahlung erschöpften sie. Die Waldhöhe lieferte den erwünschten Schatten, aber der Weg versumpfte und der weiche Boden bildete Geländefurchen und sammelte Unmengen von Wasser. Sie bewegten sich mit endlosen Turnübungen voran und maßen die Schritte und Sprünge von den Wurzeln zu den Steinen und auf nasse, tragende Erde. Sie glitten aus und ermüdeten.

Das Forschungsunternehmen ist international. Viele Awá leben über der Grenze im Nachbarland Ekuador.

Ich orientiere mich: «Man hat mir gesagt, daß hier die Indios Kwaiker wohnen.»

«Kwaiker ist falsch! Wir führen den Namen Awá ein und werden eine Umbenennung erreichen.»

Den Namen Kwaiker gaben ihnen die Mestizen, die Nichtindiobevölkerung. Sie selbst nennen sich Awá, was «Menschen» heißt.

Beim Morgenessen sitzen die wissenschaftlichen Forscher dem Verandageländer entlang am Boden und strecken die Beine von sich. Sie forschen auch nach meinem Hiersein.

Ich lege meine Absicht auseinander, über einen möglichst unbekannten Indiostamm zu schreiben. «Ein bischöflicher Beamter der Grenzstadt verwies mich auf die Indios Kwaiker, auf die Awá, wie ihr sagt. Er erwähnte meine Landsleute, die mit den Kwaiker kirchlich arbeiten und sie gut kennen. Über die Kwaiker soll nichts publiziert sein.»

« Tu eres cura? bist du Pfaffe?»

«Journalist.»

«Mit allem Respekt vor deinen Landsleuten, aber die Kirche mischt sich ungebührlich bei den Awá ein. Sie verlieren die mythischen Vorstellungen, die zum Urwaldleben gehören. Die Kirche zerstört die reinen Traditionen, und die Menschheit verliert ursprüngliche Kulturen.»

« Oye! höre!» wird der ältere Kollege ungehalten, «wenn du erst bei den Awá forschst, streichst du alle Erwartungen ab. Die Kirche ist für die Lage der Indios nicht verantwortlich, der Einfluß ist unbedeutend. Aber ob du mir überhaupt richtig forschst, ist eine andere Frage. Du läßt dich nicht einmal verantwortungsvoll in die Urwaldeinsamkeit ein. Wie ich das meine? Einer, der lange Forschungsreisen machte, nahm immer eine häßliche Frau mit, und wenn sie ihm zu gefallen anfing, war es Zeit zum Umkehren. Du aber wirst überhaupt nicht mehr umkehren und dein Leben lang im Urwald bleiben.»

Die beiden jüngeren Kollegen lachen sich an und danken für das Kompliment. Sie sind ein Paar und glücklich darüber, daß sie ins gleiche Team eingeteilt wurden.

Die Identität des älteren Kollegen verraten sie, als niemand die Gästegruppe beachtet und bewundert. Er ist Geistlicher aus dem Nachbarland Ekuador, studiert in seiner Hauptstadt Quito Soziologie, widmet sich Indiofragen und arbeitet ein Semester lang im Forschungsprogramm der Awá mit. Er trägt den Wunsch vor, einen Tag lang in Riosucio den geschundenen Fuß zu schonen. Das Anthropologenteam verhandelt mit Don Marco Aurelio, spricht eine Entschädigung für die Mahlzeiten ab und beschließt zu bleiben.

 

Die Hürde

Die Gespräche verschleppen das Morgenessen. Der Landarbeiter Paco tritt an die Anthropologen heran, bückt sich zum jüngeren und streckt ihm die Hand vors Gesicht. Jener guckt hoch, legt den Eßlöffel auf den Teller und reicht die Hand. «Paco», stellt sich der Landarbeiter vor. Der junge Anthropologe kaut und antwortet nicht. Beim Ekuadorianer wiederholt Paco die Handreichung. Der Anthropologin reicht er die Hand nicht. Auch mir nicht, denn er wirft mir das kurze: « Mono! qué tal?» hin.

Anthropologen seien sie? Er sei Landarbeiter. Er habe nicht viel Arbeit. Er würde sie gerne im Wald führen, er kenne sich aus, und es mache ihm Vergnügen, unbekannten Wald kennenzulernen. Er ziehe gerne herum.

Die Regeln der Universität verlangen kleine Teams, damit sie die Indiofamilien nicht erschrecken und nicht belasten. Paco zieht sich nach draußen zurück und widmet sich erst später eine Zeitlang den Anthropologen, als die beiden jüngeren uns Fußrekonvaleszenten sitzen lassen und sich draußen umsehen, bevor sie der Mittagsregen wieder unter das Palmenstrohdach treibt.

Aber zuerst berät man mich.

« Mono, ohne gründliches Studium schreibst du nichts Kluges über die Awá. Die Probleme der Indios erfaßt du nicht im Wald. Sieh dich in den ethnologischen und anthropologischen Fragestellungen breit um. Dann tust du den nächsten Schritt und erarbeitest jene wissenschaftlichen Hypothesen, die die Wirklichkeit am sichersten erfassen. Erst dann gehst du in den Wald und stellst Punkt für Punkt fest, was zutrifft und was du berichtigst.»

Die Anthropologen erforschen die Geschichte der Indios, und sie fragen nach dem Zusammenleben, dem Hüttenbau, dem Anbau und der Tierhaltung, dem Kunsthandwerk, der Kleidung, nach Musik und Religion. Allerdings ist bei den Awá das Wichtigste, nämlich die Stammesgeschichte, nicht überliefert.

«Wo holt ihr die Geschichte her?»

« Mono, deine Frage deckt einen bedeutenden Unsicherheitsfaktor auf. Zwei Vorgegebenheiten passen zusammen. Die erste ist ihre vererbte Angst, im Stamm Verantwortung zu übernehmen, so daß sich außer den Kleinfamilien nichts Zusammengehörendes vorfindet. Die Familien leben weit voneinander weg und gerieten in eine tragische Vereinzelung, die sie wehrlos macht. Das seltsame Verhalten ist ein gewichtiger Hinweis auf eine Stammeskatastrophe, und damit wären wir beim zweiten Punkt.»

In der Geschichtsschreibung der Eroberung des Kontinentes ist ein rebellischer Stamm erwähnt, der in den Urwäldern am Pazifischen Meer drunten massakriert wurde. Die Eroberer köpften die gesamte Führung. Wahrscheinlich spüren die Awá noch nach vier Jahrhunderten, daß nur die einsamen Regenwälder in den weitgestreckten Gebirgsausläufen sie schützen; und wer den Kopf über die andern erhebt, verliert ihn. In ihrem Angstverhalten ziehen sie sich auch vor den Bauern zurück, die neue Boden suchen.

«Wie gehen wir mit der unmenschlichen Einsamkeit der Awá denn um?» fragt die Anthropologin.

Ihr Freund: «Alle Lebensformen bringen auch Vorteile. Die Einsamkeit sichert den locker gestreuten Indios die lebensnotwendigen Werte.»

«Reiner Zweckoptimismus», werfe ich ein.

«Die dichten Regenurwälder täuschen dich, mono, darüber hinweg, daß die Gegend nicht fruchtbar ist.»

Die Awá gehen mit dem wenigen sparsam um. Ihre Streuung der Wohnlagen gewährt dem Boden das ökologische Gleichgewicht. Auch die Fauna, das Tierleben überlebt ausgeglichen, und der Indio Awá jagt nur so viele Tiere, als er zur bescheidenen Ernährung benötigt. Der Awá ist ein sorgfältiger Jäger. Den Ungeschickten, der ein angeschossenes Tier entkommen läßt, bestraft er als Frevler.

Don Marco Aurelio ist Zuhörer und wendet ein: «Seit die Indios ihre Jagdgewehre besitzen, erjagen sie alles, was ihnen über den Weg läuft.»

Yon Fredi fällt etwas anderes ein: «Der Indio Alvaro hängte ein zerstückeltes Kreuz bei der Weggabelung auf. Als er bei uns arbeitete, fragten wir, ob er sich nicht fürchte, das Kreuz so zuzurichten. Er sagte, daß aus den Fallen die Beute gestohlen wurde, und so, wie er das Kreuz zerhackt habe, werde er mit dem Täter umgehen, wenn er ihn erwische, und der Bösewicht werde sich hüten, ihm, Alvaro, nochmals Schaden anzurichten.»

«Siehst du, mono, feste gesellschaftliche Umgangsformen in der Einsamkeit.»

Recht und Gerechtigkeit halten sich in einem ausgeglichenen sozialen Rahmen. Der Umgang mit Aggression, Streitlust, Rachegefühl, Wut und Zorn ist eingespielt und auf das Überleben hin kanalisiert. In der Vorstellungswelt der Awá bezieht sich der Schutz der Distanz bis auf den magischen Bereich. Hexereien und Verwünschungen überwinden zwar die Urwalddistanzen, die zwischen den Familien liegen, verlieren aber bei zunehmender Entfernung die schädlichen Kräfte.

Das Anthropologenprogramm will die Regierungen der Länder Kolumbien und Ekuador auf die Awá aufmerksam machen. Ohne Außenhilfe überleben sie nicht. Es ist Pflicht des Staates, die Minderheiten zu fördern.

Die Anthropologin: «Die Regierungen sind die einzigen Stellen, die anthropologisch ausgebildetes Personal einsetzen.»

«Und bezahlen», lächelt der Ekuadorianer, «denn Anthropologie sollte ein Brotberuf sein.» Er ist dafür, daß die Regierungen gefordert werden und daß ihnen unersetzliche Aufgaben zukommen. Aber die offiziellen Anstrengungen reichen nicht aus. Die Anregungen und Impulse zu Veränderungen wirken nicht, wenn sie bloß von außen an die Leute herankommen.

Der jüngere: «Wenn wir den Awá unsere richtigen Ergebnisse zurückbringen und richtig darlegen, werden sie sie auch zu ihrem Nutzen anwenden.»

Der ältere: «Welche richtigen Ergebnisse?»

Der jüngere: «Jene, die wir nach der Forschungsperiode ausarbeiten.»

Der ältere: «Du sattelst das Pferd, bevor du es von der Weide holst. Unser Wissen bedeutet den Indios nichts. Wenn du den ersten Awá erlebt hast, wirst du merken, wie wenig du aus ihnen herausholst. Und ebenso wenig wirst du in sie hineinstecken. Sie sind sich der eigenen Art nicht bewußt. Sie verstehen nicht, was du mit einer Idee meinst. Du mußt lange mit ihnen leben, und das macht dem Beamten noch mehr Schwierigkeiten als den kirchlichen Leuten, die sich in solche Verhältnisse einlassen. Fehler? Ja, Fehler haben wir in der Kirche zuhauf gemacht. Wir waren immerhin vierhundert Jahre lang die einzigen, die unter den Indios arbeiteten. Und gelernt haben wir daraus auch. Du aber hast noch nie gesehen, daß sie in den Dörfern wie Hunde behandelt werden. Die Awá schleppen ihren Tragkorb prallvoll mit Mais und Kochbananen hinaus. Als Bezahlung erhalten sie den Schnaps, der den Gegenwert nicht erreicht, weder im Geldbetrag noch moralisch. Die Weiblein warten, bis die Männlein in der dreckigen Dorfstraße den Rausch ausschlafen, und treiben sie in den Bergurwald zurück. Auf dem langen Weg erholen sich die Ehemänner vom Kater. Im Tragkorb liegt kein Fetzen Stoff, und kein billiges Blechwerkzeug. Vielleicht das nächstemal. Vielleicht. Vielleicht ganz sicher auch das nächstemal nicht.»

Der jüngere: «Ihr Erbe überliefert die geheimnisvollen Naturheilmittel. Wenn wir sie vor den Segnungen der chemischen Medizin schützen ...»

«Denkst du! Die Awá leiden Hunger. Der Mais und die Kochbananen sind von Pilzen befallen. Die Bauern führten schlechtes Saatgut in die Regenurwälder ein, und die Pflanzen widerstanden nicht. Im Kontakt mit den Mestizen holten sich die Awá Tuberkulose, Keuchhusten, Masern und Kinderlähmung.»

Ihre Kräutermedizin versagt vor den neuen Seuchen. Auch die Magie reicht nicht, dieses kultische Gesundsprechen, das uralte Eindringen in die unbewußten Tiefenschichten, wo sie die Überlebenslust des Kranken wecken.

«Sag mir jetzt nur noch, die Sprache halte sie zusammen! Sie schämen sich, weil sie nicht Spanisch sprechen. Die Bauern verlachen sie deswegen. Und der gringo, der Sprachforscher Lee, verzweifelte beinahe, bis ihm ein Awá die ersten Wörter und Sätze aufsagte.»

Der jüngere: «Nein, nicht die Sprache ist ihr geistiger Wert, sondern die absolute Freiheit.»

«Du», greift die Freundin ein, «und wenn deine Freiheit nichts anderes als ihr Gefängnis ist? Die Awá begaben sich nicht in die Freiheit, sondern retteten sich schlicht und einfach vor der Verachtung, die sie bei jedem Außenkontakt wie der tägliche Regen durchnäßt.»

Er: «Unsere Forschung erhellt solche Hintergründe.»

Der Ältere: «Die Universitätsuntersuchung erhellt nicht das, was wir vorfinden. Das Ergebnis hängt von unsern eigenen Methoden und vorgebildeten Meinungen ab, mit denen wir uns vorantasten.»

Sie: «Und die Zeit reicht nicht aus. Die Arbeit müßte nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Jahre dauern. Wie lange hat wohl jener Pedro im Urwald gearbeitet, der ein Buch über die sozial-wirtschaftlichen Bedingungen der Awá veröffentlichte?»

Die Anthropologen versuchen es mit Don Marco Aurelio: «Kennen Sie einen gewissen Pedro, der über die Awá ein Buch geschrieben hat?»

Don Marco Aurelio kennt ihn. «Jener señor kam oft nach Riosucio. Pedro arbeitete mit dem padre, in der Equipe der Pfarrei. Er ist mein compadre; er stand Pate, als wir Pedro tauften, das Kind meiner Tochter. Auch der gringo schrieb ein Buch. Er schrieb manchmal hier bei uns, gleich wie unser mono. El gringo, el señor Lee sprach mit den Awá in ihrem Dialekt. Er war nicht von unserer Religion, er war evangélico, aber nicht wie die anderen evangélicos, die kommen; er schimpfte nicht über uns.»

Es schält sich heraus, wie es in Riosucio früher mit den Awá aussah. Auf unserer Flußseite lebte ein Indio, als sich gegenüber schon die Bauern angesiedelt hatten. Er überließ das Gelände Don Marco Aurelio, zog sich tiefer in den Bergurwald zurück und arbeitete bei Aussaat und Ernte als Taglöhner bei ihm.

Sie: «Der Autor Pedro betont, daß die Awá leicht auf die eindringenden Bauern eingehen und ihnen den Boden gegen geringe Entschädigung überlassen. Wenn sie sich nachher als Taglöhner anbieten, steigen sie sozial auf, denn dies existierte im hergebrachten kulturellen Erbe nicht.»

«Nein, mi amor, lieber Schatz! Sie arbeiten nur aus Schollenverbundenheit bei den Bauern. Der Awá bleibt mit dem Boden verbunden, auf welchem seine Altvordern lebten, und auf diesen Boden zieht es ihn immer wieder zurück.»

Sie: «Die Ansichten werden wir mit den Awá besprechen, so daß du darüber Klarheit bekommst.»

Sie wendet sich halb an den Freund und halb an uns, den Ekuadorianer und mich: «Auf was ruht wohl im letzten ihre Kultur, wenn jeder Fremdeinfluß sie aus den überlieferten Gewohnheiten und dem angestammten Lebensraum hin-* auswirft? Im Grunde genommen programmieren sie ihren eigenen Tod.»

«Und sind Überlebenskünstler, denen es niemand nachmacht.»

Aber der jüngere erinnert an den Schutzplan, an die Lösung der vielen Fragen also. «Die Uni erwirkt ihnen ein fest umgrenztes Gebiet, ein Reservat, das die Awá vor der chemischen Medizin, der Kirche, den Sekten und der Geldwirtschaft schützt.»

«Und vor Anthropologen», fallt der ältere ein. «Wir drei Brillenträger machen sie glauben, daß sie falsch aussehen, und daß sie so, wie sie sehen, nichts sehen.»

Das Anthropologenpaar bedankt sich für das angeregte Zuhören und schaltet einen Rundgang ins Freie ein.

 

Kokainimport

Auch Knut und Inge antworten dem Anthropologenpaar nicht auf Englisch. Und von ihrer Herkunft erzählen sie nichts.

Paco hat die zwei Anthropologen auf den Weg gewiesen, geht aber nicht mit. Die Hütte nahe am trüben Fluß ist nicht zu verfehlen. Bevor sie das aufgehängte Glöcklein finden, hören sie ungeordnetes Flötenblasen. Sie läuten den geforderten Silberton und warten ab. Aus Rufweite fragt eine weiche Männerstimme nach dem Begehr, dann nach dem Frieden, und nach angemessener Weile schwebt Knut im alten, weißen Gewand, das bis zu den Knöcheln reicht, daher, blickt die jungen Besucher aus den tiefen, dunklen Augen ruhig und abwesend an und heißt sie mit leiser Stimme willkommen. «Friede!»

«Knut wird böse und Inge schimpft, wenn ein Besucher es wagt, ungeheißen einzudringen», hat Paco sie verabschiedet.

Knut führt das Anthropologenpaar durch den kurzen Waldweg, der vom Riosucio in eine Waldlichtung abbiegt. Die Lichtung ist mit hellblättrigen Kokainbüschen bestellt. Inge liegt vor der ramada, mit dem weißen Kleid bedeckt, im Schatten der nahen hohen Urwaldbäume. Sie sieht wie eine Krebskranke aus, ausgemergelt und verhungert. Sie schaut die Besucher an und lächelt mit leerem Ausdruck.

Knut trägt Inge des morgens vor die Hütte. Sie wiegt nicht schwer. Wenn am Mittag der Regen einsetzt, trägt er sie unter das Hüttendach zurück, das den Hauptteil an der ramada ausmacht, denn nur wenige Äste bilden die Wände.

Knut und Inge trafen am Abend eines Ostersonntages in einem Bergdorf ein, zu welchem keine Straße führte. Damals besaßen sie noch Reisegepäck, das sie beim Umladeplatz am Ende der Bergstraße einem Maultiertreiber mitgaben. Er solle es beim Bürgermeister oder beim Pfarrer abliefern, und dort werde auch bezahlt. Knut und Inge sahen in den neuen, weißen Gewändern wie heilige Autoritäten aus, und nur in der Messe des padre hatten der Maultiertreiber und die übrigen Leute, die Bauern und der Fahrer des Busses, der die Friedenskinder und die andern Passagiere eingefahren hatte, bis anhin solch feierlichen Auftritt erlebt.

Der Bürgermeister trank am Ostersonntag, und das Büro blieb auf jeden Fall geschlossen. Es blieb nur der Pfarrer, der am Ostertag Dienst hatte. Der Pfarrer sprach etwas Englisch, aber die Blumenkinder, die eine zarte Jugendlichkeit ausstrahlten, radebrechten mit ihrem neu angelernten und kaum verständlichen Spanisch, das aber keinen nordamerikanisch englischen Akzent verriet. Der Pfarrer setzte auf das mildere Französisch, aber Knut und Inge verstanden es nicht.

Sie hätten gerne im Haus des Pfarrers übernachtet, aber es war kein Platz in der Herberge. Da sie an das Schlafen ohne Komfort gewöhnt seien, wären sie mit einer Ecke im Hof unter freiem Himmel zufrieden. Der Pfarrer befürchtete, daß die Friedenskinder ihren Pfarrhausstandort als Prestige ins Spiel bringen würden, und verweigerte die Aufnahme. Die Friedenskinder ertrugen es, wenn er den Frieden nicht annehmen wolle. Die lärmigen Kinder bestaunten sie noch lange. Sie sprachen mit Dorfbewohnern da und dort und verbrachten die Nacht einige Schritte vom Dorf entfernt auf der Felsplatte am Weg.

Sie fanden eine leerstehende Hütte in Dorfnähe und baten einen Bauern, sie ihnen zu überlassen, hielten sich wie Mauerblümchen zurück und weihten ausgewählte jugendliche Freunde in esoterische Geheimnisse ein, in das Glück des begierdelosen Friedens und in die Wahrheit der Unsterblichkeit.

So nahe beim Dorf durften die Bauern den Kokainanbau nicht ausdehnen. Sie hielten nur einzelne Büsche. Sie kauten die Blätter. Geerbte Indiositte, der aber nur noch die Alten, und nicht alle Alten frönten. Die Friedenskinder Knut und Inge zogen weiter, über das Gebirge zu den Bauern ins Niemandsland, zwanzig Stunden tief in die Regenurwälder, wo die Bauern gesund und bescheiden vom Maisanbau und den Bananenhainen, von Milchvieh und Kälberzucht und von den Schweinen lebten. Der Kokainanbau entwickelte sich blitzartig, und zwar nicht nur um die gleich wie in Riosucio aussehende ramada der Blumenkinder herum. Wie ein Regenschauer, der seinen grauen Mantel an den Berghängen entlangzieht und sie in Nässe hüllt, die dampft und trieft, so verwandelten sich die Weiden in Landschaften, die von Fetzen weicheren Grüns durchsetzt waren. Jugendliche Erntehelfer vom Dorf belebten die verschlafene Gegend. Die Bauern bezahlten mit Blättern für den Selbstkonsum oder mit dem vorläufigen, für den Abtransport geeigneten Pulver. Und die Leiber der Bauern bedeckten sich mit roten Flecken. Sie rührten von Messern und Bleikugeln, waren meist tödlich und verletzten nicht nur die körperlich Betroffenen, sondern auch die Gefühle der Angehörigen, die aus den astronomisch hohen Ernteeinnahmen des Kokains über die Mittel verfügten, die Liquidation des vermutlichen oder wirklichen Täters vornehmen zu lassen.

Jemand fand heraus, daß die Friedenskinder im tiefsten Grund die Umwälzung verursacht hätten. Knut und Inge begaben sich erneut auf die Wanderschaft, diesmal nicht allein, sondern mit dem Pferd, das sie erstanden hatten. Der Weg führte sie durch dichter besiedeltes Gebiet, sie stießen auf Unverständnis, wurden verprügelt, fanden das Pferd erstochen vor und zogen weiter, bis sie sich vor vielen Kokainjahren in Riosucio niederließen.

Die jungen Anthropologen sorgen sich um den Zustand von Inge. Sie brauche Medikamente und Diät. Knut wird nervös. Inge ist immer so, sie liebt die Sonne, die Ruhe, das Leben, die Flötenmusik. Das Leben sei ewig, und überhaupt, die Zeit für ihren Besuch sei um.

 

Methoden

Der fußgeschundene Ekuadorianer fragt nach meiner Schreibarbeit. Ich halte Autorenlesung: der Flug nach der Grenzstadt Ipiales, in der dritten und vielleicht letzten Überarbeitung eines Reiseerlebnisses, das mich beeindruckt hat. Ihm gefällt das Kapitel, das ich in freier Übersetzung auf Spanisch vorlese. Er ergänzt Einzelheiten, die ich einarbeite.

«Zeichne nicht nur auf, sondern gestalte die Texte. Wenn du nur Erlebnisse und Abläufe kopierst, beherrschen sie dich. Wenn du sie aber schöpferisch gestaltest, setzt du dich von ihnen ab und machst selber auch Geschichte. Mono, laß die gestaltende Ader fließen! Mich faszinieren schöpferische Menschen. Mehr als Heilige. Zugegeben, die großen Heiligen sind auch zu den schöpferischen Menschen zu zählen, vielleicht sogar zu den menschlichsten und damit zu den besten. Ich beneide schöpferische Menschen. Sie stehen der Handlungsweise Gottes, der Schöpfung ex nihilo, aus dem Nichts, am nächsten. Ich leide daran, daß ich an mir keine Kreativität entdecke, und ich wünschte nur, eine solche Begabung würde bei mir einmal durchbrechen.»

Seine soziologischen und anthropologischen Studien drehen sich um die Indiofrage. Die Kirche lernt endlich, den Kulturen der Indios zu begegnen. In der Geschichte kamen zwei Missionsmethoden zum Zug, die sich heute als unbefriedigend herausstellen. Die vorherrschende Richtung suchte aus den Indios willfährige Untertanen zu machen. In der alten Zeit sogar über den Widerspruch hinweg, daß die Indios keine richtigen Menschen seien. Den Anstrengungen ist keine Annäherung an die Indios gelungen.

Die bessere Einsicht in der Kirche kämpft um die Menschenwürde der Indios, hat Mitleid und will den armen Wilden helfen. Diese gutgemeinte Hilfe ist das Gegenteil von guter Hilfe, stempelt sie zu Bettlern und raubt ihnen die brüchige Selbsteinschätzung.

Eine neue Ansicht, die sich aber nur langsam durchsetzt, anerkennt den Indios die gleichen Rechte zu, wie sie jedes Volk auf der Welt besitzt. Selbstbestimmung. Das Steuer ihres Schicksals gehört in ihre eigene Hand.

Die katholische Kirche erreicht die Indios als einzige Institution. Staat und private Gebilde befassen sich nur zufällig mit ihnen. Der Kirche fallen bei den Indios entscheidende Aufgaben zu. Unter einer idealen Vorstellung dürften sich die Indios selbst als wichtig erleben und auch das Christliche als etwas Eigenes erfassen. Bis heute gehorchen sie bloß einigen Riten, und wir von der Kirche stellen uns nicht einmal vor, was der kirchliche Kult den Indios bedeutet. Die menschliche Würde, die ihnen aus dem Wort oder der Botschaft erwächst, scheinen sie nicht zu erfassen. Im letzten bleibt es ihnen fremd. Wahrscheinlich fühlen sie sich vom Betrieb der Religion genau so verachtet, wie sie es in den nationalen Verhältnissen erleben.

Von den Bauern her gesehen, welche weiß-indianische Mischlinge sind, gehören die Indios unter die Parias. Sie sagen: Wilde. Moderner gesagt, wären sie ein Lumpenproletariat, also etwas, das nicht Platz hat, mit dem man nicht umgehen kann, und das besser gar nicht existieren würde.

«Die jungen Kollegen vertreten ein elementares Anliegen. Sie sollten es nur nicht so radikal anwenden. Sie spielen den Staat gegen die Kirche aus, auch gegen die indionahe Kirche. Das ist nicht gut. Der Staat kann sicher Veränderungen einleiten, die für die Indios günstig sind. Aber gleichzeitig erfolgen Kontrollen, die sich gegen sie richten. Auf jeden Fall werden politische Veränderungen, die aber nötig wären, verbaut. Denk dir, mono, in meinem Ekuador stellen die Indios über einen Drittel der Bevölkerung. Sie brachten es aber auf keinen einzigen Parlamentsvertreter.»

Er bleibt inkognito. Die Leute sind leichter zugänglich, wenn sie ihn nicht als padre erleben. Mit dem padre verhalten sie sich scheu, oder sie reden zu ihm wie zu Kindern, gewählt und abgewogen, und nicht über alles. Sie reden von den Dingen so, wie sie sein sollten, nicht wie sie sind.

Der Bischof der Grenzstadt gilt als erfahrener Kenner des Waldes. Der Anthropologengeistliche suchte ihn auf, kurz vor des Bischofs Abreise nach Rom.

Das Büro des Bischofs liegt nicht unten, sondern im ersten Stockwerk. Der Ekuadorianer stand neben den Friedhoftarifen für Wölbungen auf vier Jahre und Knochennischen auf Lebenszeit, und verhandelte mit dem Burschen, der die Türe hütete. Der bischöfliche Türhüter eilte flink über die knarrende hölzerne Treppe auf den ersten Stock. Eine hölzerne Terrasse verbindet als breiter Gang die Räume des einzigen Stockwerkes. Sie schmückt den glasgedeckten, quadratischen Innenhof und ächzte unter den Schritten des auf das Büro des Bischofs Hineilenden. Der Bischof trat lautlos auf die Holzterrasse heraus, musterte den die Totentarife lesenden Besucher aus der Nachbarrepublik und ließ die Stimme in den von der grellen Andensonne ausgeleuchteten und angenehm erwärmten Hofraum ertönen. Er hieß ihn zum bischöflichen Büroraum aufsteigen.

Bei den Kwaiker forsche er? Er solle wie folgt verfahren und vor allem die Route ändern. Die señores der Universität verfügten nicht über die geringste Ahnung, wie im Wald vorzugehen sei. Dieser gringo berate das Programm? Eh, ave Maria! Der gringo verfolge andere Absichten, er mache aus den Kwaiker evangélicos, Sekten, und aus den Bauern auch. Die ethnologische Arbeit sei nur ein Vorwand, und über die Erforschung der Sprache bereite er seine Mission im Wald vor. Sie fischen der Kirche die Leute weg. Die Indios seien muy católicos, sie hätten einen gesunden Glauben.

Er legte ihm den gesamten Wald wortgewaltig, bildhaft und ohne Kartenskizzen auseinander. Er entnahm dem metallenen Aktenschrank ein kleinformatiges Schreibheft, las Seite um Seite mit Ausdrücken und Redewendungen der Kwaikersprache herunter und erklärte sie. Er hätte sie selber zusammengetragen, denn im Wald gehörte es zu den Aufgaben der Kirche, nach Sprache und Gebräuchen zu forschen, damit einen die Leute verständen. Anderslautende Ausdrücke? Er hob die Hand, wehrte ab und dehnte die Stimme, die noch lauter wurde. Das käme davon, daß der gringo den zentralen Dialekt der Kwaiker nicht kenne. Und vor allem! und das sagte auch die erhobene Hand aus, sei die erste Aufgabe eines Geistlichen nicht die Forschung, sondern die Anstrengungen hätten den geistlichen Funktionen zu gelten. Er wehrte mit beiden Händen ab und nahm dem Mitarbeiter aus Ekuador den Einwand vorweg. Wenn er in seiner Diözese forsche, schulde er dem Ortsbischof Gehorsam, und nur zweitrangig der Universität. Er werde sich nach seiner Arbeit erkundigen. Ein ausländischer Geistlicher hätte im Wald den Bauern die Messe nicht gehalten. Es sei ein Fall bekannt geworden, der für mehrere Nachlässigkeiten stünde. Er mißbillige falsches Vorgehen.

« mono, damit erreiche ich nichts», wertet der bischöflich instruierte Anthropologengeistliche. «Es liegt nicht im Sinne der Kirche und des Evangeliums, daß wir Serviceerwartungen erfüllen. Wir haben die Aufgabe, die Leute untereinander zusammenzubringen und ein Gemeinschaftsgefühl aufkommenzulassen.»

Im Kirchenbetrieb wird das nicht gerne eingesehen, weil sich die Kirche mit sich selbst beschäftigt. Sie ist nicht auf das angewiesen, was nicht Kirche ist. Sie benötigt nicht einmal, von den Indios verstanden zu werden, läuft aber in einer Richtung davon, die zur Selbstaufhebung führt. Es wird zur Korrektur kommen, vor der Selbstliquidation. Aber die Korrektur ist überfällig und wird unentschlossen vor sich hergeschoben.

 


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