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Tábanos auf der Kabelbrücke

In einem Heft steht:

Der Indio Marco Aurelio wiegt voraus. Ich schaue ihm die Bewegung auf den beiden Stahlseilen ab. Die Füße kehrt er nach innen. Sie umklammern das Gehseil. Das Führungsseil hilft der linken Hand. Drähte verbinden das Führungsseil mit dem Gehseil, so daß sie synchron über dem rauschenden Fluß schwingen. Der Indio stützt sich nicht ins Handseil. Er balanziert nur mit der Hand am Stahlseil nach. Gestern habe ich die Überquerung an einer Hängebrücke mit drei Stahlseilen gelernt. Für jede Hand eine Führung. Dieser Fluß ist breiter und reißender. Ich steige ein, sobald der Indio drüben anlangt und ich nur meine eigene Bewegung auskorrigieren muß.

Der Indio ist federleicht durch den Baum auf den Ast und auf die Seilbrücke hinausgestiegen. Er wollte den Rucksack hinübertragen. Ich hätte nachgeben sollen. Ein giftiges Tábanosummen treibt mich zur Eile. Blick aufs gegenseitige Ufer. Die Füße quer, als ob ich mit den Schuhen gleich wie der Indio in seinen Sisalsandalen nachgreifen könnte. Das aggressive Summen bleibt nicht im Baum zurück. Die Tábanos kleben sich im Haar fest, dick wie Fliegen, wie Wespen beinahe. Ich greife in die Tasche, spüre nach der gelben Mütze und fange mich mit dem ganzen Gewicht im Führungsseil auf. Ich drücke es knietief nieder. Der Rucksack schlingert und ich kippe ins Wasser.

In der Streßreaktion fliege ich eine Ewigkeit lang als Fallschirmakrobat auf das undurchsichtige Hochwasser zu. Flacher Aufprall. Ich befreie mich vom Rucksack und behaupte mich in der Flut. Ich erreiche eine ruhige Untiefe. Ich hinke ans Ufer. Ich verschnaufe. Aus dem undurchdringlichen Ufergehölz taucht der Indio auf. « El costalito?» Ich mache eine Handbewegung gegen das Wasser. Das Rucksäcklein, wie er es nennt, ist weg. Er führt mich durch das Ufergehölz und schlägt mit der Matschete, dem langen Allerweltsbuschmesser, das dichte Gestrüpp nieder. Wir erreichen den Weg und nähern uns über sanft ansteigendes Weidland der Hütte auf Holzpfählen, der Hütte des Indios Marco Aurelio, zu der wir seit vier Tagen unterwegs sind. Der Schmerz im Fuß sticht, und ich nehme keinen der erstaunten Zuschauer wahr, die mir bald so liebe Menschen werden sollten.

Ich schleppe mich trotz brennendem Fußgelenk über die Steigkerben eines angelehnten Holzklotzes auf den Hüttenboden. Ich ahne, daß ich eine Zeitlang nicht gehe.

 

Briefe

So weit meine Nachtlektüre aus Patrick Meiers Heften. Mich überkam der Schlaf. Ich legte die Hefte weg und vergaß sie, bis der Brief aus Zentralamerika eintraf. Patrick Meier schrieb: «Mir graut vor dem Panorama des Kriegsschreckens. Es muß einen anderen Weg geben.» Er will Theologie studieren und die gesellschaftliche Veränderung vom Innern des Menschen her suchen. Ohne Transzendenzbezug, also ohne Öffnung auf Gott hin, wird aus dem Menschen nichts. Er vergammelt wie ein Drogensüchtiger, wenn er auf die einzige, auf die absolute Freiheit verzichtet und sich darum drückt, zu werden, was er sein dürfte.

Die Hefte? Er wird möglicherweise über Zentralamerika schreiben. Kolumbien ist weit weg, und er mag nicht mehr darauf zurückkommen.

Ich las die Hefte durch. Patrick Meier ist Sohn einer spanischen Mutter und erfaßt die Sprache bis in die Verästelungen, so daß ich ihn ermunterte, aus den Aufzeichnungen etwas zu machen. Er blieb aber dabei, daß die Geschehnisse am trüben Fluß von anderen Fragen und Erlebnissen überlagert seien. Er überlasse das Schicksal der Hefte meinem Gutdünken.

 

Einsamkeiten

Patrick Meier schreibt in den Heften:

Ich darf hier bleiben. « Es su casa, das ist Ihr Haus», sagt der Indio Marco Aurelio auf Spanisch. Er spricht nur Spanisch. Die Urwaldsiedlung heißt Riosucio, Trüberfluß. Auch der reißende Fluß heißt Riosucio. Ich erspähe zwei Hütten über dem jenseitigen Flußufer, und die Urwaldschule.

Der Hüttenboden der Veranda ist aus der aufgeschnittenen Rinde der Tschontapalme, gibt elastisch nach, und ich fühle mich wie auf unsicherem Stahlkabel. Mit dem gesunden Fuß fürchte ich durchzutreten und zu den Hühnern und Schweinen hinunterzufallen.

Der Indio weist mir die hintere Ecke des verandaartigen, halboffenen Hüttenraumes an. Einmal abgesessen, stehe ich zum Kleiderwechseln nicht mehr auf. Der Fuß schmerzt entsetzlich. Gebrochen oder nicht gebrochen? Der Indio Marco Aurelio bringt ein Hemd und eine Hose. Zu klein. Aber ich wechsle, denn es gießt in Strömen, und ich kann mich an keiner Nachmittagssonne trocknen. Dann bringen sie den tinto, wie sie den schwarzen Kaffee nennen. Ein Kind Marco Aurelios reicht einen Teller mit spiegeleigekröntem Reis. Etwas Warmes. Ich spüre unter der Haut noch die Kälte des Flußwassers.

Ein Säugling schreit. Omaira trägt ihn vom Innenraum heraus. Sie sagt Marco Aurelio etwas, das ich nicht erfasse, und das er nicht zur Kenntnis nimmt. Mit ihm beurteile ich den verletzten Fuß. Gebrochene Knochen müßten ärztlich behandelt werden. Den Sturz in den Urwaldfluß möchte ich nicht mit lebenslänglichen Folgen bezahlen.

«Der Fuß ist nicht gebrochen», schließt Marco Aurelio, «und wir fragen jetzt gleich Omaira.» Er verwendet den Diminutiv von «jetzt gleich», ahoritica, von ahora. Zwei Schulkinder klettern über die Kerbenstiege herein. Das Regenwasser tropft aus den Haaren ins Gesicht und aus den Kleidern auf den Boden. Sie lachen, der Lehrer sei ausgeglitten und bis an die Ellenbogen voll nasser Erde. Auch der Lehrer steigt unter das schützende Palmendach herein. Die Arme hat er im Regen vorgewaschen. Er wirft den weißen Plastikschutz, der vom Ausrutschen voll nasser roter Erde ist, den lachenden Kindern nach, lehnt sich bei der wasserreichsten Tropfstelle über die gürtelhohe Verandaabschrankung und wäscht sich ab. Aus dem inneren Hausraum stiehlt sich die Großmutter mit Plastikbeutel und Grabwerkzeug hinaus und klettert ohne Regenschutz die steile Viehweide bis an den Urwald hinauf, vergräbt den Plastikbeutel und steigt vollständig durchnäßt herunter. Ledrig und wetterfest lebt sie ungeschützt und leidlos die harte Urwaldexistenz.

Omaira schaut mich an. Ich stelle mich vor: «Patrick Meier».

«Omaira» und so weiter, denn den Familiennamen verstehe ich nicht. Und das übliche: « a sus órdenes, zu Ihren Diensten», die Floskel des täglichen Umgangs.

«Der Fuß.» Ich solle ihn bewegen. Ich kann nicht. Warum nicht? Die Bewegung schmerzt zu sehr. Ich solle so viel bewegen, wie ich könne. Auch Omaira meint, der Fuß sei nicht gebrochen. Aber eine Fehldiagnose verpaßt mir einen Denkzettel fürs Leben. Nein. Der Fuß ist ganz sicher nicht gebrochen. «Eine Verstauchung haben Sie aufgelesen.» Sie legt mir die Beweise auf den Tisch. «Ihr Fuß hat eine normale Stellung, und Sie können ihn bewegen. Sie haben beim Sturz innere Blutgefäße zerrissen, sind unterblutet und haben daher eine blau gefärbte Haut. Der Schmerz nimmt bald ab. Sie werden einen Monat hier bleiben und ausheilen.» Sie erbittet ein Hemd, bindet den Fuß fest und verhindert das Weiterbluten. In der Nacht müsse ich den Fuß hochlagern.

Wie alt mag Omaira sein, zu deren Scheu die selbstsichere erste Hilfe kontrastiert? Achtzehn oder vierundzwanzig? Ob sie eine Schmerztablette bringen soll? Ich nehme nie Medikamente. Ich kann schon schlafen, und wenn nicht, so verpasse ich nichts.

Omaira verläßt die Hütte und zieht ungeschützt durch den strömenden Regen. Nach einer Stunde ist sie wieder da und bringt etwas Aspirinartiges. Es sei sehr gut. Ich verspreche ihr, es vor dem Einschlafen zu nehmen. Sie geht, denn es dunkelt.

Halte ich vier Wochen in Riosucio aus? Wir Erben der alten abendländischen Kultur ertragen die Einsamkeit nicht, wenn wir unbeschäftigt sind. Wir färben die Urwaldeinsamkeit romantisch, weil wir zu ihr keinen Zugang haben. Aber ich könnte mich an die Einsamkeit heranpirschen. Der Lehrer schenkt mir ein leeres Heft und den Kugelschreiber. So würde es gehen. Ich zeichne auf.


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