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Erster Teil.
Die Reise nach Riosucio

Landung als Überlebenssymbol

Die steinalte Vickers Viscount setzt zur üblichen Grenzgängerei an. Anflugraum über dem Nachbarland Ekuador. Die Maschine fliegt seit der Erdbebenstadt, wo wir zugestiegen sind, zu Dreiviertel besetzt. Fünfunddreißig Fluggäste. Ekuadorianische Indios. Stoffhändler. Dicke Hochlandbewohner in der weiß-blauen Tracht, mit dem Filzhut und der prallvollen Reisetasche. Bewohner der kleinen hochandinen, südkolumbianischen Grenzstadt Ipiales. Eine elegante Mutter mit einem Schulbuben. Besucher, Handelsreisende. Ein junger Geistlicher im neu Mode gewordenen römischen Kragen. Er gibt die vergeistigte, munter offene Ausgabe jenes Gesichtes der kleinbäuerlichen Mischbevölkerung ab, die für gewöhnlich tiefe Spuren von Zurückhaltung, kritischer Scheu, harter Arbeit und jahrhundertelangem Leiden in den Zügen trägt. Ekuadorianischer, niedlicher Dialekt flattert wie Vogelgezwitscher in der Kabine herum.

Der Reiseplan entstand am Vorabend. Ich suchte das Zentrum der Missionare auf, das Regionalhaus, wie sie es nennen, das in der erdbebenzerstörten Stadt liegt. Ich kenne Publikationen dieser Gruppe. Missionarische Projekte und private Entwicklungshilfe. Im Haus erklärte ich den Plan, meine journalistische Diplomarbeit über aktuelle Entwicklungshilfe zu schreiben. Am liebsten über Indios, möglichst ein unbekannter Stamm. Ich traf zunächst niemanden, der mir weiterhalf. «Wir haben jetzt nicht Versammlungszeit», enttäuschte mich die rührige Sekretärin trotz des sympathischen Luzerner Dialektes. «Die Leute stecken in der Arbeit, fünfzig Kilometer oder tausendzweihundert von hier. Kommunikation ist bei uns nicht leicht.»

Der Missionar mittleren Alters reiste an. Er hörte mir zu und fädelte ein. Er fliege anderntags zur Grenzstadt Ipiales. «Besitzen Sie Sinn für Improvisation?» Hier sage man, wo kein Weg ist, entstehe der Weg beim Gehen.

Die viermotorige Propellermaschine brummt eintönig und ruhig dahin. Zuhinterst haben wir eine Dreiersitzreihe bezogen. Mein Reiseführer hat die Platzeroberung vor dem Einsteigen so geplant: westseitiger Fensterplatz, also rechts in der Flugrichtung. Nicht über dem Flügel, demnach ganz vorn, oder wieder nach der Mitte. Er überläßt mir den Fensterplatz und sagt beim Start: «Es ist eine optische Täuschung, wenn du meinst, das Flugzeug komme nicht hoch. Das Gelände liegt schief nach oben, und die Steigleistung gewinnt wenig Distanz zum Boden.» Ich atme auf. «Miß den Flug an den Wolken, denen kommen wir näher.»

Erregt öffnet er eine mir fremde Welt. Die Morgensonne steht noch tief und leuchtet die abgewandten, eintönig dunklen Urwaldhänge nicht aus. «Du siehst in der dunklen, grünenden Morgenstimmung kein Haus, aber ich orte die Urwaldweiler Belén, Aguaclara, Vanín. Die Väter der heutigen campesinos, der Kleinbauern, drangen wie hinuntergeworfene Wellen einer Völkerwanderung dort ein.»

Am Zusammenlauf zweier Flüsse erkennt er die Liegenschaft seines Freundes Sofonías. Er ist von den Alten, die einwanderten, ein hartnäckiger Kämpfer. Als der Kokainanbau sich breit machte, wehrte er sich. Nie! Das ist illegal, das ist unmenschlich und verträgt sich mit keinem christlichen Ethos. Sofonías wurde von der kirchlichen Bewegung erfaßt, die die Bibel liest und die überindividualistischen Bauern untereinander in dauerhaften Kontakt bringt, ja sie sogar auf die Utopie der Basisgemeinde hinführt. Im Gegenhang erspäht mein Begleiter als einziger Betrachter des Flugaugenblickes die Hütte des Nachbarn, der im Suff den Sohn Sofonías' erstach. Etwa auf dem gleichen Konfliktstand, wie wenn man die Jaßkarten einmal hinwirft und davonläuft. Aus Freundschaft! Mord aus Freundschaft? Ja! Sonst hätten sie nicht so friedlich zusammen getrunken, bis die Gemüter durchbrannten. Es sind Alltagsgeschehen, und doch wird keiner damit fertig. Die Blutrache zwingt zur bleibenden Vergegenwärtigung, zur mechanischen Wiederholung des Mordens. Sofonías weist die Rache zurück und hält dem Belächeln und Sticheln stand.

In Vanín beeindruckt die Haltung. Die Guerilla warb Jugendliche an. Die Jungen glauben an die hohen Ideale von Freiheit und von neuer Ordnung. Manuel und Alberto zogen mit. Das Töten lernten sie nicht im Frontkampf. Ein Zusammenstoß mit den Regierungstruppen war damals eher ein Unfall als ein taktisches Unternehmen. Das Töten lernten sie bei der täglichen Arbeit. Aber Alberto lernte sein Handwerk nicht. Der Auftrag lautete klar: Todesurteil am Bauern Teodoro. Drei Guerilleros stellten das Hinrichtungskommando. Alberto war Ausführender, die beiden Veteranen stellten die Begleitung. Der Bauer Teodoro soll gestohlen haben, sogar nach zwei Warnungen. Alberto kannte dieses Andental nicht. In Vanín nahm sich ein Dieb nach der ersten Warnung zusammen. Die Diebe dienen taktischen Bedürfnissen. Mit deren Bestrafung erobert die Guerilla das Vertrauen der campesinos und kanalisiert das Minimum an Terror, das sie für ihre eigene Sicherheit braucht. Also denn, die entscheidende Frage beim Morgengrauen vor der erdwandigen Hütte. Wer ist Don Teodoro? Unter den tödlich erschrockenen Augen sprach ein unbewegter Mund. Bruder, ich bin keine schlechte Person. Eine nichtssagende Redensart. Jetzt mußte Alberto das befohlene Todesurteil vollziehen und abdrücken. Vámonos! Alberto riß die überrumpelten Kampfgefährten mit sich. Sie rannten weg. Unmöglich, Don Teodoro ist campesino wie wir. Gott erlaubt das nicht. Die zwei Kampfgefährten glauben nicht an die Argumente, die in einem Menschenrechtskatalog gut aussehen. Alberto hat den Kampflernauftrag nicht ausgeführt. Er wurde im campamento hingerichtet. Von Manuel trafen Lebenszeichen ein, er desertierte.

Der Pilot leitet die Landung ein. Mein Reiseführer zwängt den Fuß in den ausgezogenen Schuh. Der Arzt wollte die verstauchte Zehe eingipsen. Zwischenfall in der Kirche. Ein Esel stand im Chorraum vor der Sakristei. Der Pfarrer setzte zum Fußtritt an. Der Esel tat dasselbe. So traf Zehe auf Zehe.

Die Vickers Viscount dreht an der ekuadorianischen Grenzstadt Tulcán vorbei, um auf die kolumbianische Piste anzusetzen. Landung ohne Abgleiten. Das Hochland schiebt sich unter das Flugzeug. Tulcán, das mich an Jerusalem erinnert, den Vergleich erlauben mir Fotokenntnisse aus Israel, wo ich nie war, die Stadt Tulcán biegt weg. Die durchflitzende Straße ist fahrzeugleer. Sie reizt zum Füßehochziehen. Unter den Fahrern geht die Mär um, ein landendes Flugzeug habe einem Lastwagen mit dem Fahrwerk die Plane weggerissen. Wir erschrecken keinen zerstreuten Fahrer. Die Maschine schlägt hart auf die Piste. Warum schlingert die Maschine? Halb neun ist noch nicht die Tageszeit für die pfeifenden Schönwetterstürme.

Wir steigen als letzte aus. Die Mechaniker schieben den Wagenheber unter das Fahrgestell. Ein Reifen des rechten Doppelrades ist beim Landen zerplatzt. «Bei den schwierigen Flugbedingungen, die herrschen, kann man nur fliegen, weil die Piloten Kolumbianer sind. Sie werden mit allen Problemen fertig.»

 

Die Panamerikanastraße

In der Grenzstadt Ipiales erklärt mein Reisebegleiter die Fahrgelegenheiten, die mich entweder auf der kolumbianischen oder auf der ekuadorianischen Straße zu den Landsleuten in die Regenurwaldzone hinunterbringen. Er skizziert die Vorteile jeder Route, und ich entscheide mich für die ekuadorianische.

In einer versteckten staubigen Straße treten wir durch die unscheinbare Türe in die curia ein, in das Haus des Bischofs. Der quadratische Innenhof des zweistöckigen Gebäudes ist schlicht angelegt. Den einzigen Luxus bildet die Glasbedachung des Innenhofes. Luxus? Die Anlage behält in der kalten Höhenlage von nahezu dreitausend Meter über dem Meeresspiegel die angenehme Sonnenwärme zurück.

Mein Reisebegleiter sieht sich in einem Büroraum um. Ich warte an der Tür und lese die angeschlagenen Tarife des kirchlichen Friedhofes. Angeboten sind Erdbestattung und Wölbung. Je auf vier Jahre. Knochennischen auf Lebenszeit. Knochennischen? Der junge Türwart ist gesprächig: «Nach vier Jahren wird die Bestattung geräumt. Die Angehörigen sammeln die Gebeine in einer Urne und belegen eine Nische, por vida, auf Lebenszeit.»

Mein Reiseführer sucht die curia vergeblich auf. Der mit Monseñor anzusprechende Kuriengeistliche informiert: «Monseñor (damit ist aber der Bischof gemeint) ist plötzlich abgereist. Er erhielt Weisung, den kanonischen (er meint damit den kirchenreglementarischen) Besuch beim Papst früher als vorgesehen anzusetzen. Unseres Wissens bereist er in diesen Tagen das Heilige Land, während der Papst bekanntlich die erste Andenreise soeben eröffnet hat. Nächstes Jahr erwarten wir den Papst hier. Monseñor hat ihn eingeladen, unser internationales Muttergottesheiligtum zu besuchen. Es bestehen günstige Aussichten, denn er wird sich für Kolumbien gleich viel Zeit nehmen wie jetzt für die Nachbarländer Venezuela, Ekuador, Perú und Bolivien zusammen.»

Mein Reiseführer wünscht mir für die Reise in die Regenurwälder hinunter und für meine Schreibvorhaben viel Glück und verabschiedet sich. Der Kuriengeistliche, der ihn hinausbegleitet, heißt mich warten. Er werde nachsehen, ob Post für meine Landsleute bereitliege. Ich warte. «Nichts», meldet sich Monseñor zurück. Ob ich auch Geistlicher sei und ob ich hier arbeiten wolle?

Nein, Journalist. Wenn er mich für einen Pfarrer hält, dann lasse ich den Studenten am Journalisten gleich weg.

«In welche Zeitung schreiben Sie?»

«Ich bin bei keiner Zeitung. Vielleicht ein Buch. Ich würde gerne über unbekannte Indios schreiben.»

«Passen Sie auf. Zuerst müssen Sie genau wissen, was Sie wollen. Jaime hat es mit einem Buch versucht. Er ist Sohn einer befreundeten Familie. Jaime begann neun Bücher. Nach jedem Anfang hat er nicht weitergefunden und ein neues Thema für einen anderen Roman skizziert. Er studierte in Paris an der Sorbonne. Von Paris hat er seine wechselnden Pläne beschrieben und den Vater um viel Geld gebeten. Unser Geld ist in Europa nichts wert, und nach unseren Ideen werden wir dort nicht gefragt. Junger Mann, ich rate Ihnen, schreiben Sie ein Buch über die Indios Kwaiker. Sie leben dort, wo Sie hinwollen. Über sie hat noch niemand geschrieben. Sie können der erste sein. Ihre Landsleute arbeiten schon zehn Jahre unter diesen Indios und kennen sie. Ihre Landsleute helfen Ihnen zurecht. Die Kwaiker sind nicht wie unsere Indios auf dem Hochland rund um die Stadt. Die Kwaiker sind schwierig zu finden.»

Ein junger Mann stürmt auf den Geistlichen los. Er unterbricht, denn er habe den Wagen draußen stehen. Er wendet sich vertraulich an ihn, obwohl er ihn mit Monseñor anspricht: «Auf wann melden wir die Rückkehr seiner Exzellenz?» Er meint den Bischof. Der Kuriengeistliche weiß es nicht, stellt dagegen mich vor: «Jaime, dieser señor ist auch Journalist. Er will seine Landsleute besuchen. Ich habe ihm geraten, sich bei den Indios Kwaiker umzusehen. Er wäre der erste, der über sie ein Buch schreiben würde.»

Er wendet sich an mich: «Das wollen Sie doch? Ein Buch schreiben?»

«Du hast den Wagen frei?» lädt er den jungen Mann ein: «Kannst du nicht diesen señor über die Grenze bringen?»

Jaime begrüßt mich als Berufskollegen, verabschiedet sich von Monseñor, läßt sich vom Burschen an der Haupttüre den Ausgang zur Straße öffnen und erreicht nervös das parkierte Fahrzeug.

Um Jaimes enormen Chevrolet herum stehen drei Jugendliche. Jaime knurrt sie an. Sie entfernen sich. Jaime öffnet vom Führersitz her mit Mühe die Türe auf der Mitfahrerseite. Ich verstehe die Schimpfworte nicht, die der kleinste der wegtrottenden Jugendlichen zurückschreit.

Jaime heißt mich Platz nehmen und erzählt: «Der stille Straßenabschnitt vor dem Bischofshaus ist ein neuralgischer Punkt. Selbstverständlich werden sogar am Hauptplatz vor der Kathedrale unbewachte Fahrzeuge ausgeraubt. Die Diebe beschaffen sich jeden erdenklichen Wagenschlüssel. Aber hinter der Bischofskirche ist der Platz unvergleichlich gemütlicher. Vorgestern holte der Pfarrer von San Lucas kirchliche Dokumente ab. Die Mutter blieb im Wagen. Ein Unbekannter sprach sie durch das halboffene Wagenfenster an, ob sie Doña Ana, die Frau des Händlers am Dorfplatz von San Lucas, kenne. Er schulde der Frau das Geld für ein Kätzchen. Doña Ana ist eine sehr besorgte Verwandte der Familie, die nicht auf das Geld aus ist. Aber heute möchte er, da er gerade die verehrte Mutter des reverendo padre, des Pfarrers von San Lucas so unversehens antreffe, die Schulden begleichen. Es kostet fünfhundert Pesos, aber da er es nicht vorgesehen habe, besitze er nur eine Tausendernote. Ob die verehrte Mutter des reverendo padre vielleicht wechseln könnte. Unterdessen schoben die Kumpanen den Stoßkarren unter die hintere Wagentüre und holten aus dem vollbeladenen Geländefahrzeug den reparierten Lichtmotor heraus. Der Spaß ist leicht zu planen. Da der padre den Motor in der Reparaturwerkstätte abholte, bestand eine hohe Sicherheit, daß das Ding an der Türe des Bischofs zu beziehen war.»

Jaime hat sich selbstgefällig in das Ereignis und bis in die Entrüstung hinein gesteigert. «Die Straßen bieten den Kriminellen alle Sicherheit. Daran ist auch die koloniale Bauart der Häuser nicht unschuldig: introvertiert, denn der Lebensraum ist der Innenhof. Du siehst, auch die bischöfliche Verwaltung kennt keine auf die Straße offenen Fenster. Die Gesellen fühlen sich nicht beobachtet.»

Jaime weidet sich an meiner Sprachlosigkeit. «Du glaubst wohl, das Bischofshaus strahle auf alle Menschen guten oder bösen Willens Recht und Ordnung und moralisches Gefühl aus.»

Jaime drückt den Anlasser. Der Motor springt nicht an. Jaime anerkennt: «Auch in den schlechtesten Kerlen steckt ein gesunder Rest der alten sympathischen malicia indígena, der praktischen Vernunft unserer Altvordern, die Bauernschlauheit der eingeborenen Indios, samt der klugen und maliziösen Anwendung.»

Der Motor gibt den Stößen des Anlassers nach. Jaime fährt den riesigen Straßenkahn langsam durch die enge, graue Einbahnstraße. Der Asphaltbelag ist staubig wie eine Naturstraße, und der kräftige Wind, der frisch über den Altiplano, über die andine Hochebene in die Grenzstadt hineinbläst, wirbelt Staubfahnen und Papierfetzen hoch. Jaime hat heraufgeschaltet, und die Karosserie zittert bei der niedertourigen Kraftübertragung. Ein Passant winkt Jaime, der eine verneinende Handbewegung in die Windschutzscheibe hinein macht. Ich schaue ihn fragend an.

«Du hast nicht bemerkt, daß mein Wagen als Taxi bezeichnet ist. Da du vorne sitzest, meinen die Leute, die ein Taxi suchen, der Wagen sei frei. Meist sitzt der Fahrgast hinten. Vorne fahrt etwa ein begleitender Angehöriger oder ein arbeitsloser Kollege zum Zeitvertreib mit. Und weil der Wagen ein Taxi ist, fahren wir jetzt zum Schwager und sehen, ob der Renault frei ist. Mit dem Renault fahre ich über die Grenze, was man dem Taxi nicht gestattet.»

Er wechselt das Thema: «Parlez-vous français?» Ich setze auch auf Französisch, muß aber auf Spanisch zurückwechseln. Jaime ist jetzt in seinem Paris: «Ich habe an der Sorbonne in Literatur und Journalistik abgeschlossen. Zuerst wollte ich beaux arts studieren. Aber wer in der Kunst nicht berühmt wird, bringt es zu nichts. In unserem Land ist die Kunst für wenige ein Brotberuf. Sie setzen sich ab. Nach Europa, oder nach Nordamerika, zu den gringos. Oft habe ich an schriftstellerische Tätigkeit gedacht. Aus der tropischen Menschenwelt sprudeln endlose Anregungen. Als ich mit dem Diplom von der Sorbonne heimkehrte, begann ich mit dem Schwager zu arbeiten. Er hatte diesen Chevrolet neu angeschafft. Der Taxibetrieb rund um das Grenzgeschäft lohnt die Arbeit.»

«Wie hat es dich nach Paris verschlagen?»

«Mein Vater wurde Balkanbotschafter in Rumänien, als ich die Mittelschule abschloß. Die Nähe von Bukarest erlaubte, mich in Paris zu matrikulieren.»

«Ist dein Vater Diplomat?»

«Unser Land kennt die Einrichtung der Berufsdiplomatie kaum. Die Partei schiebt verdienten Mitarbeitern einen Diplomatenposten zu. Mein Vater vertrat unser Land zwei Jahre lang.»

«So liegt denn Bukarest in der Nähe von Paris?»

«Die Richtigstellung habe ich von dir erwartet. Ihr Europäer denkt kleinkariert. In der großräumigen Welt legen wir andere Maßstäbe an. Von unserer Grenzstadt bis zum entferntesten Landeszipfel ist es nahezu gleich weit wie von Bukarest nach Paris.»

Das Holzbrett mit der Information «Bewachter Parkplatz» ist an der Hausruine angebracht. Die Mauer des abgebrochenen Wohnhauses steht noch bis zum ersten Stock, und das Gelände ist zum Parkieren eingerichtet. Das Tor aus Metallrohren und starkem Drahtgitter steht offen. Ein Bursche bewegt den Hebel, die abschrankende Kette legt sich auf den Boden und gibt die Einfahrt frei.

Der Parkplatz gehört dem Schwager. Der Renault ist frei. Jaime bespricht sich im Haus mit seiner Schwester, taucht mit der Einladung «aussteigen!» auf, parkiert das Taxi und setzt sich in den kleinen Renault.

Jaimes Schwester begrüßt uns, und das zehnjährige Mädchen möchte mit dem Onkel Jaime nach Ekuador ausfliegen. Das geht aber heute nicht.

«Dem Mädchen hätte ich das Vergnügen gegönnt», entschuldigt sich Jaime. «Es darf mitfahren. Aber nicht über die Grenze; denn dort überraschen unvorhergesehene Verzögerungen, und dann ist man mit einem Kind im Eimer.»

Jaime betätigt das Kassettengerät. Orchesterton. Jaime hebt die Stimme. «Gut, nicht?» strahlt er, «ein Andenken aus Paris! kennst du es?»

Ich folge der markanten fortissimo-Choralmelodie der Blechbläser, die, ähnlich wie Jaimes Stimme den Lautsprecher, die Bläser und Geigen, die Bässe und Schlagzeuge des sinfonischen Orchesters übertönen.

Jaime löst das Rätsel: «Symphonie Phantastique des Franzosen Berlioz. Manchmal höre ich sie jeden Tag.»

«Gehen wir an der Grenze ein Risiko ein?»

«Du verstehst», sagt Jaime, «der Grenzverkehr ist so eine Sache. Unser Land Kolumbien hat in Europa den Ruf des hervorragenden Kokainproduzenten. Das ist nur die halbe Wahrheit, und nicht einmal die halbe. Zugegeben, in den unzugänglichen Gebirgsgegenden, und in den weiten Ostebenen des Amazonasgebietes pflanzen die Bauern Kokain an. Aber die Produktion ist nur ein Teil des Rauschgiftgeschäftes. Bedeutender ist der Handel aus den südlichen Andenländern Perú und Bolivien. Wenn auch viel Rauschgift auf dem Luftweg und über die einsamen Zuflüsse des Amazonasstromes hereinkommt, so übersieh nicht, daß wir auf der einzigen Straße fahren, die Kolumbien mit allen acht Ländern des lateinamerikanischen Subkontinentes verbindet. Niemand verhindert, daß auf unserer Panamerikanastraße beträchtliche Mengen durchgeschleust werden.»

Jaime wechselt das Thema: «Also, du willst zu den Indios Kwaiker hinunter und deine Landsleute besuchen? Schau, wenn du die ekuadorianische Straße hinunterfährst, und auf der kolumbianischen wieder herauswillst, dann überschreitest du die Grenze im Urwald, im Niemandsland. Niemand registriert deine Wiedereinreise nach Kolumbien. Ich bringe dich jetzt unregistriert hinüber. Dann geht es mit deiner nicht registrierbaren Rückreise wieder auf.»

Am Ende des Straßenstückes taucht die Grenzbrücke Rumichaca auf. «Die vielen Leute auf der Brücke sind Lastenträger, denn die Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs zirkulieren selten von einem Land ins andere.»

Die Grenzkontrolle wickelt sich unmittelbar an der Brücke ab. Die Grenzleute kennen Jaime. Er fährt ohne Anhalten durch. «Die Zöllner freuen sich auf meine Rückkehr. Sie erhalten eine Lohnaufbesserung.»

Der Fluß Rumichaca hat einen Graben in die andine Hochebene geschnitten, die wir über eine geringe Steigung erneut erreichen. Die Landschaft bleibt unverändert von fleißigen Indios geprägt. Parzellierte Einzelsiedlungen. Kniehohe Steinwälle oder Mauern grenzen ab. Eukalyptusreihen folgen den Markierungen oder ziehen andere Linien. Das jeweilige Haus der Parzelle ist aus Stein gebaut und mit Stroh, Eternit oder Wellblech gedeckt. Die Welt strahlt in der harten Höhensonne farbig auf. Dunkle, neubestellte Äcker, goldig reifer Weizen, Weideland, Kartoffeln, im Wind bewegte Eukalyptusstämme, deren Blattgrün sich vom Nadelgrün einiger Pinienreihen abhebt. Tiere markieren farbige Punkte, helle die wenigen Kühe, braune und dunkle die Pferde und Maultiere. Das Schwarz der Frauenbekleidung und das Rot des Schals ist die markanteste menschliche Farbe. Ohne sichtbaren Übergang, wie der Hohlraum eines Indioeinbaumes, biegt sich die weite Hochebene in die schneegekrönten Vulkangipfel hinauf. Eine alte Indiofrau wartet unsere Durchfahrt ab. Sie will mit ihrer Holzlast die Panamerikana überqueren. Die Gestalt beugt sich unter dem Brennholz, das sie im Rücken überragt. Das Band um die Stirn hält das Bündel im Gleichgewicht. Die Tragart zwingt sie zu einer starren Kopfhaltung, so daß Körper und Last eins werden. Die marionettenartig steifen Drehbewegungen und die hochgedrehten Augen suchen den Weg über die Straße.

«Die Indios arbeiten hart und unermüdlich, aber nur jene Familien, die die karge Hochebene aufgeben und in die Kokainanbaugebiete abwandern, bringen es zu etwas. Auf dem Altiplano geht's wirtschaftlich nur noch abwärts.»

Ich erinnere mich an Monseñor und an das Büro in der curia. «Jaime, bist du Journalist?»

«Radio. Ich arbeite mit einer lokalen Station. Man muß seinem akademischen Beruf Ehre antun.»

«Hast du ein Ressort, oder wie man es nennt?»

«Unser Radiowesen ist anders als in Europa aufgebaut. Wir haben auf dem Weg in die Moderne das literarische Zeitalter übersprungen und wenden die hergebrachte mündliche Kommunikation auf das Radio an. Statt lokaler Zeitungen baute Lateinamerika Radiostationen auf. Unsere Stadt wird von drei Sendern bedient. Sie strahlen Volksmusik, Sport, Nachrichten und Reklame aus. Unsere Station ist einer nationalen Kette angeschlossen, die uns viel Sendezeit liefert. Am Sonntagmorgen betreue ich eine religiöse Stunde mit Monseñor, den du kennst. Unter der Woche liefere ich kirchliche Nachrichten, aber selten, weil nicht viel los ist. Gegenwärtig versuche ich, als erster das Datum bekanntzugeben, wann der Bischof aus Rom zurückkommt. In einem Sonntagsprogramm wird er mir ein Interview über das Heilige Land geben müssen.»

«Müssen?»

«Der Bischof unterstützt mich wenig. Er besitzt eine eigene Radiostation. Zudem gehört die unsrige einem Politiker, der nicht Ziegel leckt. Ziegel? Als die Ziegel als Bauart aufkamen, war in den Dörfern das Haus des padre, des Pfarrers, meist das erste Ziegelhaus. Du verstehst? mein Patron ist nicht kirchenfreundlich. Ich werde mich von der Radiotätigkeit zurückziehen. Für den Besitzer der Station ist die sonntägliche Kirchensendung eine demagogische Farce, und das kirchliche Thema überzeugt mich auch nicht mehr so wie früher, als die Erinnerung an die Schulzeit lebendig war. Damals haben wir Jungen von der Kirche viel erwartet. Eine neue Volksnähe auf der Höhe der Zeit. Die Gesamtkirchenkonferenz erklärte, die verarmte Bevölkerung sei, samt ihren berechtigten Erwartungen, für die Kirche das Wichtigste. Ich sehe immer weniger, wie sich die kirchliche Politik von jener der Parteien unterscheidet. Die Kirche müßte hoch moralisch zu ihren beschlossenen Programmen stehen.»

«Jaime, schmuggeln ist moralisch?»

«Geschäft!»

«Rauschgiftschmuggel rechtfertigt sich nicht als Geschäft. Kokain zerschlägt in den Konsumentenländern Millionenschicksale.»

Jaime wird rot: «Als es nur um die lateinamerikanische Bevölkerung ging, die mit billigen Rohstoffen den Reichtum im Norden aufbaute, jahrhundertelang! und selber nicht zu leben hatte, da hielt niemand moralische Überlegungen. Der heutige Kokainpflanzer kümmert sich nicht darum, was mit dem Produkt geschieht. Er will leben, nur leben. Wenn die Familie der holzbeladenen Indiofrau morgen den Boden aufgibt, der sie nie ernährt hat, dann steht dahinter der alleinige Entschluß, übermorgen nicht zu sterben. Du fährst jetzt im nördlichen Territorium des alten Inkareiches. Es ist den Indios vom ersten Tag der Eroberung an nicht gut gegangen. Der Inkakönig füllte dem Eroberer Pizarro ein Haus mit reinem Gold, als eingehandelter Preis fürs bloße Überleben. Pizarro hielt sich nicht an die Abmachung und erschlug den Inka. Es gab in der Kirche einen jungen Indiopriester. Er ist vor Wochen auf dieser selben Panamerikanastraße bei hellichtem Tag ermordet worden. Es heißt, Indios werden morgen in der ekuadorianischen Hauptstadt Quito dem Papst eine Bibel zurückgeben. Symbolisch. Die vernichtende Ausbeutung der Indios geschah im Namen des Evangeliums.»

Aus der Hochebene erhebt sich der Hügel der ekuadorianischen Grenzstadt Tulcán, Jaimes Reiseziel und meine Umsteige.

 

Der tropische Regenurwald

Der Bus fahrt in Tulcán gleich weg. Tulcán hat sein wirkliches Kedrontal. Der Fahrer lenkt den Bus in die Abkürzung. Die Straße fällt steil bis an den Fuß des Stadthügels ab. Mit unbekümmerter Ruhe behält er das Fahrzeug im Griff. Er scherzt mit der jungen, gealtert aussehenden Indiofrau und korrigiert die Bremskraft des Motors mit Hinunterschalten. Der erste Gang reagiert zäh. Der Fahrer würgt am Ganghebel herum. Nichts zu machen. «Festhalten!» Bremsversager.

Die Fußbremse spricht nicht an, und der Bus beschleunigt. Der städtisch gekleidete Jugendliche im Sitz vor mir blitzt zur offenen Wagentür und verschwindet nach draußen. Frauen schreien. Die Handbremse! Schon bin ich vorn. Die Handbremse spricht nicht an. Ich kehre zum Sitz zurück und stütze mich mit den Händen gegen die vordere Rücklehne ab. Der Fahrer meistert die Kurve. Der Bus schwankt in das Flußtal ein und auf die sanfte Gegensteigung los. Der Fahrer schaltet hinauf und steht aufs Gas. «Der Junge!» Der Fahrer wartet mit aggressiv heulendem Motor und ungeduldiger Hupe. Der Junge keucht herein.

«Sangre! Blut!» schreit es. Doch der Jugendliche lacht und zeigt den blutverschmierten Arm. Er hinkt an den Sitz.

«Dios no quiso! es war nicht Gottes Wille. Gott sei Dank», seufzt mein Sitznachbar.

Der Jugendliche vor mir dreht sich nach hinten: «Felix war Traxführer in Quito. Er hat den Bus gekauft und selber hergerichtet.»

Meine Spannung löst sich und ich zittere. Erst bei der Einfahrt ins Dorf nehme ich wieder Eindrücke auf und rede mit den sympathischen Ekuadorianern. Der Jugendliche vor mir ist nicht Ekuadorianer. Vom Dorf marschiert er zu Fuß eine halbe Stunde weit in sein kolumbianisches Dorf. Er studiert Rechte an der Uni in der Provinzhauptstadt. Über sein ausländisches Tulcán reist er schneller und billiger. Ob ich zu ihm nach Hause komme? Übermorgen fahre wieder ein Bus. Ich bezahle der Frau die heiße Tasse Kaffee, auch die des Rechtsstudenten, den ich dazu eingeladen habe.

Der Fahrer hat das Bremskabel nachgestellt und trommelt die Passagiere zusammen. Ich palavere mit dem Rechtsstudenten über meine Absage. Der Fahrer ruft: «El mono alto, der hohe Affe bleibt hier?» Affe als Neckwort. Ist mir neu.

«Vielen Dank für die Einladung. Ich habe die ganze Strecke bezahlt. Ich reise heute.»

Der Rechtsstudent bedauert: «Mono, gute Reise!»

Die Straße windet sich in die sanft ansteigende Hochebene hinein. Aus dem Strohgras wächst wild der Frailejón, der mannshohe Hochandenstrunk, dunkler, schlanker Stamm, oben grüner und weißer Blätterblumenkopf. Mönchsähnliches Aussehen, das im spanischen Namen Frailejón mitgesagt ist. Gestalt und Name lassen sagenähnliche Geschichten vermuten. Ich werde nachfragen.

Zwischen den Wolkenfetzen glänzt der Gipfelschnee des Vulkans. Die Indios tragen Eis herunter und verkaufen es im Dorf und in der Grenzstadt. Am Ende der schiefen Ebene setzt der dichtbestandene Frailejón aus. Der Bus hat die Höhengrenze des frommen, samtblätterigen Schopfbaumes erklommen. Viertausend Meter. Das strohartige Weidland sieht ungenutzt aus. Der Berg ernährt die Schafe nicht. Sie gingen ein.

Über den Gebirgspaß fegt der Wind. Das Busfenster klemmt und schließt nicht. Regen treibt herein. Er ist mit Schnee vermischt. Wir fahren auf einem einzigen Grad nördlicher Breite, sozusagen auf dem Erdäquator, und es schlagen nasse Schneeflocken ins Gesicht. Mitten im tropischen Äquatorialgürtel wird meine Reise je südlicher desto kälter.

Die Straße fällt in die tropischen Regenurwälder hinunter. Der Sitznachbar erkundigt sich: «Sind Sie padre»

«Nein, aber ich besuche den padre da unten.»

«Ein Verwandter?»

«Nein, Landsmann.»

Die beißende Kälte nimmt ab. Wir gewinnen Tiefe.

«Wohnen Leute in diesen Urwäldern?» wende ich mich an den schweigsamen Sitznachbarn.

Der Bus bremst die Fahrt und rauscht durch fließendes Wasser. Der Fahrer hält sich an die Bergseite. Das Straßenbett ist zur Hälfte weggerissen. Es reicht zum Durchfahren. Ich strecke den Kopf in den Platzregen und erblicke bloß die austretenden Wasser. Von der Straße nichts. Das Doppelrad unter mir schafft es. Der Motor heult auf. Der Fahrer schaltet in den vierten Gang hoch, steht froh ins Gas, gewinnt Taltiefe, schlägt auf die Fußbremse und meistert die Kurven.

«Sind wir bald unten?» Mit einer Handbewegung nach vorne suche ich den Kontakt voranzutreiben. «Reisen Sie nach Hause?»

« Sí como no, ja wie nein.»

Lokalausdruck? Ich interpretiere aus der Tonlage: jawohl.

Ich frage nicht, ob er den Pfarrer kenne, sondern direkter, wo er wohne.

«Im ersten Dorf. Der Bus fährt bis zum anderen.»

Der Bus stoppt. Niemand steigt aus. Der Fahrer knorzt an der Schaltung. Zäh zittert es rückwärts. Vor der Kühlerhaube taucht Geschiebe auf, schlammfarbige Sandsteinkugeln, Geschiebe und Wasser, und aus dem dichten Gehölz schiebt es nach.

Man steigt aus. Die Vegetation auf waldfreien Hängen verrät mittlere Höhenlage. Nach der Kälte am Vulkan liegt nun ein Hauch von Wärme in der feuchten Luft. Ich schaue mich um. Die Passagiere beladen sich mit Säcken und Taschen und steigen durch das offene Grasland ab. « Vámonos, gehen wir auch», fordert mich der schweigsame Begleiter auf, während ich einem alten Bauernpaar und zwei halbwüchsigen Mädchen nachgucke, die sich auf den Abstieg begeben haben. Alternativreisen in der Dritten Welt macht man mit Wanderschuhen, habe ich gelesen, und man soll Lesestoff und ein Taschenradio bei sich führen, um Wartezeiten herumzubringen.

Für heute taugt mein Lateinamerikalesestoff von Armin Bollinger nicht. Auch der Sonytaschenradio bleibt trocken im Rucksack.

Ich lasse den schweigsamen Sitznachbar vorausgehen. «Ich war jünger als Sie. Ich drang mit meinem Vater vom Hochland in dieses Tal des Flusses San Juan hinunter. Damals stiegen wir am kolumbianischen Gegenhang ab. Dort sieht man den Weg. Aber seit die ekuadorianische Regierung die Straße gebaut hat, fahren wir über Tulcán.»

Im Gegenhang kracht es. Der Bach tritt wie ein Lavastrom aus dem Wald in die schmale Ebene des Talflusses hinaus. Das rote Geschiebe verbreitet sich in ein langes Dreieck. Die linke Verbreiterung zielt auf die einsame Hütte, umfließt sie und schiebt sie mit. Als der Geschiebestrom die Hütte stehen läßt, öffnet sich die Türe. Ein Mann, eine Frau, ein Mädchen, ein Junge, zwei Kinder, eine alte Frau treten vor die Tür. Die Kinder heulen schrill und übertönen das Rauschen des angeschwollenen Talflusses. Ein Kind schickt sich an, über das Geschiebe den nahen, festen Boden zu erreichen. Es sinkt ein und schleppt sich zur Hütte zurück.

«Wie retten wir die Familie?»

«Über den Talfluß führt keine nahe Brücke. Don Crisóstomo hat einer Frau ein Zeichen gegeben. Sie helfen.»

Der geduldige Umgang mit der Naturkatastrophe ist ein Rätsel. Sind diese Bauern unempfindlich? Sind sie verhärmt? Sind sie Fatalisten?

 

Die Wirtin

Der Landsmann ist zum Papstbesuch nach Quito verreist, in die Hauptstadt auf dem geografischen Äquator, zur Mitte der Welt. «Residencias San Juan» schreibt sich ein Holzhaus an einer der beiden Dorfstraßen. Also Unterkunft für Fremde.

Eine junge Frau heißt mich freundlich willkommen. In der Ecke hinter der Türe steht der Eßtisch. Gegenüber der Eingangstür zeigt die Wand ein Gestell mit Lebensmitteln und Gebrauchsartikeln, den Dorfsupermarkt. Am einzigen Tisch sitzt der Regierungsbeamte. Seit einer Woche hier. Noch bis nächste Woche.

Ich setze mich an den Tisch, stoße mit den Knien gegen das tiefe Verstrebungsbrett und verschütte ihm das Getränk. Der Beamte ärgert sich nicht. Ich spreche dem warmen Essen zu, Fidelisuppe, eine Banane, Huhn an der roten Sauce. Besteck aus dem blaubemalten unterteilten Holzkasten.

Die junge Frau fragt: «Sind Sie padre? Sie kommen für die Messe am Sonntag?»

Würde in diesem ärmlichen Restaurant ein Pfarrer auftauchen, oder wackelte gar die Alphüttentreppe in das Pensionszimmer hinauf? Aber der Regierungsbeamte ißt nicht Huhn. Haben sich die Wirtsleute schon bei der ungefragten Menuofferte in der Person geirrt?

«Ich bin Landsmann des padre. Auf Besuch.»

Unter der Türe erscheint ein Bursche, groß und hager, vielleicht älter, als er auf den ersten Blick aussieht. Er war auch Buspassagier. Wohnt hier ‹Doña María›, und der Familienname tönt indianisch. Cantincús. Erinnert an ein altes Weihnachtslied. Das Mädchen der jungen Frau ruft gegen den hinteren Raum die Mutter herbei. Die Begrüßung klingt nach Tante und Neffe und nach Familienkrach. Der Vater gebe ihm nie Geld, er suche Arbeit. Der Bruder sei weggegangen, ins Kokaingebiet in die Amazonasebene hinunter. Es sei dort gefährlich. Viele kommen um. Er möchte hier bleiben.

«Fährst du Geländewagen? Nein? Aber bleib da.»

Er setzt sich an den Tisch. Ob es hier gut sei mit der Arbeit? Der Bursche merkt erst nach und nach, daß ich fremd und überhaupt ein Ausländer bin. Dreizehn sind sie, auf fünf Hektaren Weidland. Kartoffelanbau und Weizen. Zwei Brüder leben mit den Frauen im Haus. Er habe im Dorf Viehzucht gelernt. An drei Samstagen. Die Landwirtschaftsbank führt im Hochland eine neue Rasse ein. Wenn der Vater unterschriebe, würde ich den Zuchtstier kaufen. Die Bank gewährt einen Kredit ohne Anzahlung. Wir könnten mit täglichen Einnahmen vom Stier rechnen. Mit dem Stier ist es nicht so harte Arbeit wie mit dem Acker. Der Vater sagt: »Nicht wie der Onkel Juan!»

Der Onkel Juan habe im Tiefland den Viehstand verbessert, von vier Häuptern auf vierzehn. Kredit von der Landwirtschaftsbank. Als er die Schulden bezahlen sollte, waren zwei Häupter tot, eine Kuh gestohlen, und nach der Schuldentilgung blieben zwei Rinder, die Hälfte von vorher. Der hagere Mann zittert vor Erregung.

Rechnungsfehler und Vatersohnkonflikt. Der Sohn träumt dem großen Los nach, das ihm der harte Vater vermasselt hat.

Ich klettere die Alphüttentreppe hoch. Ich habe mich im Regen erkältet und schwitze. Im Haus herum wimmert ein Transistorradio. In der Nachbarschaft tröstet in einer Fuselbar die überlaut abgespielte Schallplatte: «Weil du mich verlassen hast, du Undankbare, muß ich den Schmerz im Branntwein ertränken!» Ich versuche, den schleppenden Schreigesang zu überhören. Nicht jedes Geräusch hält wach. Erst wenn es tief drinnen anstößt, kostet es eine durchwachte Nacht. Die beiden unabgestimmten Lautsprecher untergraben meinen kleinkarierten Anspruch auf Rücksicht. Und wenn dennoch die Welt in Ordnung wäre? Weiter erinnere ich mich nicht mehr. Ich schlafe tief, und tief in den Morgen.

« El seco, das Trockene.» Die Frau tischt das Morgenessen auf. Ich löffle an der Suppe mit Fettaugen und unzerstückelten Kartoffeln. Das Trockene: Reis, duftende Bratbananen, Spiegelei, Bratfleisch. Ich bedanke mich. Der Beamte ist auch spät dran. Er bedankt sich nicht. Erst als er sich an die Arbeit verzieht, verschwindet er mit einem: « gracias, oye! vielen Dank!» Ich werde es ihm nachmachen, mich danklos bedienen zu lassen und die Anerkennung beim Abtragen mitzuliefern. Und wenn ich die Haare dunkel färbe, bin ich ein Hiesiger.

Der junge Mann hat die Erregung von gestern nicht ausgeschlafen. «Vor dem Viehzuchtkurs arbeitete ich mit dem Bruder in der Amazonasebene. Damals standen die Möglichkeiten ausgezeichnet. Wir verdienten besser als im Hochland, mehr als das Zehnfache. Der Bruder fuhr sein Geländefahrzeug. Ich kaufte für die Sonntage eine schwere Honda, jeder fährt am Sonntag seinen Töff. Das Motorrad ist das Gütezeichen des Kokainanbaues.»

Das schwere Geld schaufelte er nicht mit dem Taglohn herein. Vierteljährlich gab es einen Transport. Das war damals ungefährlich, sogar ohne Spesen an die Polizei. Selbstverständlich nicht auf der Panamerikanastraße. Von der Amazonasebene bis in die Umschlagstadt Medellín ohne Zwischenlandung. Durchs halbe Land, zweieinhalb Stunden Kleinflugzeug. Medellín besitzt geheime Pisten. Sie verfrachten es mit internationalen Flügen zu den gringos, nach Nordamerika.

Die gleichen fliegen nicht häufig mit. Er brachte das Pulver von der geheimen Piste dem Einkäufer in die Stadt, kassierte das Geld und zahlte es den Bauern am Amazonas aus. In den Ostkordilleren, im Ostgebirge, baute die Armee aber die Stützpunkte gegen die Untergrundkämpfer aus. Die Armee fliegt nicht nur Kampfeinsätze. Sie holen auch Kokainsendungen herunter. Der Pilot machte sich das letztemal in den Wolken unsichtbar. Die Armee behilft sich mit Radar. Dann entwischt keiner.

Ich erzähle den Manimatterwitz vom Sportkollegen, der dem Piloten auf alle He? und Was? zuschreit, der Brennstoff gehe aus, und als der Motor aussetzt, nochmals stöhnt, er habe schon lange gesehen, daß der Brennstoffanzeiger auf Null steht, und der Pilot zornig, er hätte das früher melden müssen. Der junge Mann versteht den Witz, er kennt den Lärm in der Maschine, er nickt und lächelt ungelöst.

Das letztemal fuhr er mit dem Bus zurück. Man reist in drei Bussen. Jedesmal zwölf Stunden. Während er schlief, wurde er bestohlen. Er verlor eines der drei Geldpakete. Es sei schwer, alles zu verstecken. Er sollte die Summe ersetzen. Der Bruder riet, sich zurückzuziehen, denn er wolle nicht die Jahresernte in die Schulden werfen. Eine Woche später war der Bruder tot, und die Anpflanzung fiel an die Gruppe. Die Schwägerin zog zu einem anderen. Sie waren nicht verheiratet. Seine Mutter zieht das Mädchen auf. Der Bub blieb bei der Schwägerin. Er arbeitet schon.

Nein. Sie rauchten das Kokain nicht selbst. Aber tief im Urwald verkaufen sie es nicht mehr, sie sind nur noch Selbstversorger. Am hinteren Fluß machten vier Dörfer ihre Millionenvermögen. Heute arbeitet niemand. Kinder und Großmütter rauchen basuko. Bei den Bauern an der Straße haben die Untergrundkämpfer eingegriffen. Die Süchtigen werden verwarnt. Die meisten lassen die Hände davon. Andere hauen ab in die Stadt. Übriggebliebene schießen sie nach Verwarnung ab.

Ich sehe mich im kleinen Dorf um. Ich mache einen Indio aus, der bereit ist, mich zu den Landsleuten an der kolumbianischen Straße mitzunehmen. Am Montag!

 

Die Basisgemeinde

Das halbe Dorf versammelt sich in der sechseckigen Kirche. Sie strahlt romanische Ruhe aus und lädt zu benediktinischer Kontemplation ein. Die Frau der Pension zeigt mir die beiden Wandbilder. Die Darstellung des Herrn des Flusses, mit einer Sicht talaufwärts auf das Dorf, auf farbigen, gebrannten Kacheln dargestellt, die an die Wand geheftet wurden. Der Künstler ist ein Indio im Hochland. Er war noch nie im Dorf und hat ein Foto als Vorlage verarbeitet.

Die Gottesdienstversammlung singt charismatische Pfingstlieder und solche aus der Protestbewegung. Moderne Klagepsalmen, in denen der Straßenarbeiter, der Schuhputzjunge, der Hungrige und der Betrogene ihre Hoffnung vor Gott tragen. Eine Gruppe leitet die Versammlung. Meine Wirtin singt nicht die Lieder vor, liest auch keinen der beiden Texte aus der Schrift, aber sie ergreift wie ein Gesprächsleiter das Wort und bezieht die Versammlung ein. Sie zielt auf die sozialen Strukturen ab und deckt das Verhältnis zu den Indios als rassistisch auf. Sie schält heraus, daß die Indios auch Leute seien. «Heute schäme ich mich, wenn ein betrunkener Indio in einem Straßengraben liegt. Früher habe ich ihnen Schnaps gegeben, weil sie nur Tiere waren, und keine Leute. Aber heute verstehen wir, daß wir den Cristo abfüllen, wenn wir es weiterhin so mit ihnen treiben und für den Mais kein Geld und keine Ware herausgeben, sondern nur Fusel.» Ich stelle mir vor, daß die Wirtin auf bestimmte Dorfbewohner abzielt, die nicht den gleichen Standpunkt in der Indiofrage einnehmen. Einzelne Argumente tönen konstruiert, aber alles weist auf den Entwicklungsprozeß hin, in welchem die Dorfbewohner stehen.

 

Der Indio

Am Montag sucht mich der verabredete Indio auf. Er heißt Marco Aurelio. Er sei ein Freund des padre in jenem Dorf, wo ich hinwolle.

Aus dem runden Gesicht schauen Augen, die zwar nicht asiatisch geschlitzt sind, die aber breit und klein wirken. Die Figur erscheint mittelgroß, gemessen an den Leuten des Urwaldtales. Er lacht beim Sprechen, und die Augen strahlen Freude aus, eigentlich auch Güte. Das Gesicht ist nicht bärtig, aber der dünne Haarbestand ist nicht sauber rasiert. Gegen die Sonne und den Regen schützt ihn der Strohhut. Auch die Sandalen sind aus vegetalem Material. Über der linken Schulter trägt er eine längs zusammengefaltete ruana, die quadratische Allerweltsdecke aus Wolle, die unterwegs vor dem Regen schützt. Jetzt polstert die ruana die Schulter gegen eine angehängte, prallvolle Jutentasche. Die gutgenährte Figur trägt keine Indiotracht, sondern Hemd und Hose wie die Bauern.

 


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