Paul Wertheimer
Respektlose Geschichten
Paul Wertheimer

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Erlebnis vom Gardasee

So befand ich mich denn wieder einmal auf dem österlichen Gardaseedampfer. Der See lag vor mir im opalenen Licht, die Schatten des Monte Baldo wehten bläulich darüber hin. Das Wasser schillerte immer türkisblauer im Nachmittagsduft, und der Wind flatterte so lustig, als gäbe es nirgends hochzeitsreisende Paare. Aber die gab es: Ein Summen und Girren, Schnäbeln und Schnalzen ging über Deck durch die Gruppen der Passagiere. Da lehnte »Sie« in rauhem Loden an der Schulter des mit ihr kürzlich Vereinten, den ein gelindes Jägerhemd und milde Filzschuhe zierten. Aus dieser Gruppe vernahm ich die Worte: »Goethe. Der Tasso . . . hier . . . auch die Iphigenie . . . o . . .« Dort trug »Sie« strohblonde Botticelli-Schnecken und verspätete Ibsen-Augen und seufzte zu »Ihm«, dessen Seele sich gleichfalls in einem unerklärlichen Leid zu krümmen schien: »Dante! Dante Rossetti! Diese Farben . . .«

Da sagte ich mir: jedes Vergnügungsschiff ist doch ein Narrenschiff. Man glaubt zu seinem Vergnügen zu reisen und reist nur zum Vergnügen der andern. Du, wir alle – aber köstlich ist es dennoch gewesen.

Welche Fahrt an kleinen, zierlich gesprenkelten, südlich bunten Ortschaften, an weißen, von der 219 Mandelblüte umhegten Villen, an farbigen Stegen und luftigen Zitronenspalieren vorbei, während die gelben und rosigroten Segel der Fischerboote über die blaue, dämmernde Tiefe glitten. Wie herrlich, hier ein paar Tage selbst zu verdämmern, in lauter Sonne und Heiterkeit, in diesen weltstillen Dörfern, deren Namen bereits in italienischer Fülle tönen, drüben auf San Vigilio, der Märcheninsel – wie viele Glocken schwingen in dem Wort.

Da, in Gardone, steigt Paul Heyses, des Italikers, Villa weiß aus den Zypressen. Und ehe wir in Salò gelandet, fliegt eines anderen Dichters, dessen weltfreudige Art mich gerade hier so behaglich umspielt, Otto Erich Hartlebens berühmter, zu früh verwaister halkyonischer Musensitz vorüber.

Ich hatte über der Villa, die sich in Lorbeer- und Myrtenhecken schmiegte, in großen, für die Hinterlassenschaft eines Poeten merkwürdig geschäftstüchtigen Lettern die Aufschrift gelesen: »Pension Halkyone«.

War aus diesem tagentrückten, dem Traum eines verjüngten Griechentums entsprossenen Asyl eines heiter geklärten Künstlers und Genießers wirklich – eine modische Fremdenpension geworden? Wie würde Otto Erich sein geliebter dunkelroter Chianti wässerig und säuerlich schmecken, wenn er plötzlich in seinem Garten nicht immer rein hellenisch gesinnte Kommerzienräte und spitzige Assessoren eingenistet fände, jene Italientouristen, die er selbst, so lang er lebte, verspottet hat.

220 Ach, der dunkelrote Chianti! Otto Erich war in dieses fröhlich-feuchte Studium hinabgetaucht wie nie in seine Pandekten. Und so mußte der ewig durstige Poet, verschlungen von dem Chiantisee, allzubald zu den Schatten hinabsteigen; er konnte nur mehr an den Ufern der Lethe weiterzechen.

Und während der See leis im Abend errötete, ein orangegelber Schleier über die mit einemmal violetten Gewässer hinhauchte, die der Wind sacht zu kräuseln begann, zogen mir allerlei krause Hartleben-Studenten- und -Mädelgeschichten durch den Sinn. Ich sah ihn deutlich vor mir in der Fülle seiner Leiblichkeit, mit dem welligen Haar, dem schwarzen Hornkneifer – ein nie alternder Student: Im Mundwinkel einen Schwank, in jedem Augenfältchen eine scharfe Glosse über Philister, die er stets ingrimmig befehdete. Und seine Halkyone-Kameradin – wohlgemerkt, nur im Winter, im Sommer war er nämlich verheiratet – lebte sie jetzt wirklich in der ihr vererbten Dichtergrotte als betriebsame Pensionsmutter?

Da schwirrt ein Abenteuer in die Luft – nun hatte es, weiß Gott, schon durch einen halbnackten, braungerösteten Sendboten meinen Koffer an sich gerissen. Der braune Kerl trug eine Mütze mit der Firma »Pension Halkyone« und um die nackten Lenden eine knallrote, goldbefranste Schärpe, so daß er, im ganzen betrachtet, aussah wie eine echte, importierte Havanna mit einer Bauchbinde, wahrscheinlich noch eine der letzten Aufmerksamkeiten, 221 mit denen Otto Erich seine Freundin zu überraschen pflegte.

Aus dieser nicht eben tiefsinnigen Betrachtung wurde ich auf das vergnüglichste geweckt. Eine junge Dame, gebräunt, sehr wienerisch, mit einem lustig aufgestülpten Näschen, trendelte vor mir her, immer in der Richtung gegen die halkyonische Villa zu. Sie war mir schon vorher auf dem Steg aufgefallen. Sie hatte mit ihrem Tüchlein eifrig gegen das Schiff hin gewinkt. Offenbar erwartete sie – wen – am Ende gar ihren Bräutigam? Als er nicht kam, wäre sie fast vor Enttäuschung in das Wasser gepurzelt: Oh, wie hätte ich sie gerettet! »Tja«, dachte ich mir nun sogleich, da sie vor mir herpendelte, in meinem bereits hartlebenisch aufgeregten Gemüt – »sollte das Abenteuer im Stile des Meisters schon begonnen haben?« Und es wurde wirklich ein so mutwilliges Erlebnis im Schatten Otto Erichs, daß es immer, wenn der Frühling durch die Gassen streicht, wie mit feinen, lustigen Glocken durch meine Erinnerung klingelt.

Einstweilen schlug mir aber das blonde und braune Abenteuer, eben als ich, von dem dunklen Blick angeblitzt, mich ihm nähern wollte, ein schweres, bronzebeschlagenes Haustor vor der überraschten Nase zu. Ein Lachen verklang irgendwo, ich stand draußen in dem frischgefallenen Schnee der Kastanienblüten. Angesäuselt von Otto Erichs schalkhaftem Geist, entschloß ich mich kurz, in das fremde Haus einzudringen und stand auch schon 222 im Flur einer Villa. Es war die »Pension Halkyone« – dies erkannte ich aus den Photographien im Entrée, die des immer durstigen Dichters Entwicklung von der Säuglingszeit bis in seine trinkfesten Mannesjahre darstellten, also gewissermaßen vom Fläschchen zur Flasche.

Da klopfte mir ein amerikanisch zurechtgestutzter Herr mit einer gewissen zerknitterten Freundlichkeit auf die Schulter, und siehe – es war der gegenwärtigen Pensionsmutter nunmehriger Gatte, Otto Erichs Nachfolger. »Hochinteressantes Fremdenhaus, was? Unser Dichter! Unser Otto Erich! Rosenmontag – Donnerwetter, was – Grillparzerpreis, was! Schillerpreis, was? Hochinteressant, was?« schnaubte er den Eintretenden halb munter, halb mit einer gewissen ingrimmigen Begeisterung an.

»Und erst die oberen Räume, alles erinnert an unsern unvergeßlichen Otto Erich«, fügte er beflissen und knurrig zugleich hinzu.

Und er führte mich sogleich durch das Haus, durch Veranden, Säle und Loggien in das obere Stockwerk. Überall der Geist eines aparten Lebens- und Kunstgenießers. Da sah ich ihn jäh – den Schatten des Dichters: aus einer antiken Vase stieg er feierlich; sein Blick umschloß verstehend eine Achatschale und einen grünen, edel geformten kupfernen Kessel.

Der Schatten glitt jetzt über die dicken Teppiche, Boecklin-Bilder und Bücher; er betrachtete nicht 223 ohne Schmunzeln seine eigenen ausgewählten Werke und schaute beglückt durch das Fenster in den Garten hinab, an dessen Rand der See plätscherte.

Otto Erichs Schatten begleitete mich höflich, er lüftete die Studentenmütze und lächelte mit seinem selbstironischen Spott, als er meine Verwunderung über die vielen Sitz- und Liegemöglichkeiten überall im Hause bemerkte.

Ich habe nämlich noch kein Dichterhaus gesehen, das der Muse so viele Gelegenheiten zum Ausruhen geboten hätte wie dieses. Sie konnte sich in Schaukelstühlen räkeln, in ungezählte tiefe Klubfauteuils sinken, auf zahllosen Diwans schlummern. Alles sprach und zeugte nur von dem toten, bequemen Dichter, von dem lebendigen, beweglichen Pensionswirt aber, der an Muse und Dichter verdienen mußte, meldete kein Sang, kein Heldenbuch.

Ich äußerte dem Braven vorsichtig mein Befremden hierüber und fragte ihn, ob er sich denn nicht durch den Kult seines Vorgängers in seiner eigenen Würde gekränkt fühle. Er schien es mit Humor zu tragen, aber dann polterte doch sein lang zurückgedämmter Groll einem teilnehmenden Fremden gegenüber hervor.

»Na, wegen dem Geschäft sind mir ja die Andenken an unseren Otto Erich äußerst wertvoll. Deshalb kommen ja die Fremden in die Pension.« – »Eine frühere Dichtervilla als Pension, das zieht«, bemerkte ich vertraulich, »da kann man zehn Prozent auf die Weine aufschlagen, weil sie 224 der Selige so gern getrunken hat.«

»Tja – es ist mir ja auch sehr angenehm: erstens, daß er ein berühmter Dichter war und zweitens, daß er schon tot ist. Aber Sie werden begreifen, daß es mich langsam zur Raserei treibt, daß ich da oben zwei Germanisten den ganzen Winter in den besten Zimmern gratis ausfüttern muß, damit sie in Ruhe die Liebesbriefe meines Vorgängers an meine eigene Frau studieren können!« – »Ja, wie haben Sie denn eigentlich Ihre gegenwärtige Gattin kennengelernt?«

»Durch mein Geschäft. Ich war nämlich früher ein einfacher Pelzhändler«, begann er klagend. »Sie hatte in der Auslage meines Geschäftes einen schönen schwarzen Astrachanpelz, mein bestes Stück«, setzte er wehmütig fort, »gesehen. Den wollte sie als Trauerpelz für Otto Erich. So hat es angefangen, und seitdem geht es fort: Otto Erich hin und Otto Erich her, und ich muß mich darüber noch freuen, weil es für das Geschäft gut ist.« Nun lachte er selbst, ein jovialer Herr im Grunde, weil er den Humor seiner Situation erkannte.

Ich hatte nun einen Blick in sein mit Recht leidendes Gemüt getan, aber von meinem braunäugigen Abenteuer einstweilen noch nicht einmal ein Stiefelspitzchen zu Gesicht bekommen. So stieg ich denn nach Vornahme der dem Musenmann in der Fremde bei Sonnenuntergang gebotenen frommen Waschungen hinunter in das Allerheiligste, den Table-d'hôte-Raum. Er schien eigens so 225 geschmäckerisch erdacht, um den »im Geist Befreiten« eine heitere Gaststätte zu gewähren. Leichte, weise Gespräche sollten sich hier um bekränzte Becher schwingen. Aber statt der Schüler Platos saßen in den Nischen pedantisch-steife Figuren. Aus diesem automatenhaften Kreis der Gäste schwebte mir nun in ernster Haltung, aber mit schnurrigen Augen, die an den vormaligen Herrn dieses Hauses selbst erinnerten, eine formenbegabte Dame entgegen. Sie trug die nonnenhafte Tracht der Pensionsmutter, und siehe, es war Otto Erichs vormalige Gefährtin. Sie begrüßte den neuen Ankömmling, als wisse sie bereits von ihm allerhand, mit pensionsmütterlichem Wohlwollen und geleitete ihn zu seinem Erstaunen, vergnügt zwinkernd, sogleich an die Spitze der Table d'hôte.

»Ihre Nichte«, versicherte sie mir dabei mit dem nämlichen vertraulichen Zwinkern, »wird sogleich erscheinen, die Tante Ihrer Braut, Herr Oberrechnungsrat, Ihre Schwester muß oben im Zimmer bleiben, sie hat leider wieder das Rheumatische, die Arme.« Und sie steckte in mein Knopfloch, während ein hustendes Lachen und Kichern um den Tisch lief, einen Myrtenzweig.

So saß ich da, geschmückt und ahnungslos, ergeben auf die Suppe wartend, und dem lieben Gott wohlgefällig wie ein Bräutigam, für den man mich auch offenbar hielt. In diesem Augenblick ward es an der Tür rege. Ein Lackstiefelchen streckte sich vor, ein blühweißes Kleidchen folgte, der braune 226 Blick hatte mich rasch erfaßt, ein Zopf war durch den vorwärts strebenden Appetit der kleinen, geschwinden Person fast ins Baumeln geraten, und dieses ganze Wunderwerk von Blond und Braun und Weiß ward ohne weiteres mir gegenüber postiert. Ich verneigte mich, und in mir fing sogleich ein gar schönes Lied Otto Erich Hartlebens zu summen an: »Blüh' auf, mein Herz, blüh' auf.« Da wandte sich die Pensionsherrin mit ermunternder Geste zu mir: »Aber warum denn so feierlich, Herr Oberrechnungsrat? Wenn ein junges Mädchen das Glück hat, einen noch so jungen Onkel zu besitzen, der sie eigens zu Ostern am Gardasee besucht, so will sie doch ein bißchen nett behandelt sein. Geben Sie doch Ihrer Braut einen Kuß, Onkel Emil. Wir wissen doch alle hier Bescheid, nicht wahr, Frau Armenrätin?« Jetzt ging das Kichern am Tisch in ein gelindes Meckern über. Anny wurde weiß und rot und glich einem der rosig überhauchten Kirschbäume draußen. Mir aber war so hell zu Mut, als blickte ich direkt in den musizierenden Osterhimmel.

Ich näherte mich dem, wie es mir schien, nicht allzu ernsthaft entrüsteten Kind. Ich küßte ihr gemessen die Hand. »«Wie galant«, akkompagnierte süßlich die Armenrätin. »Mein Fräulein«, flüsterte ich ihr dringend zu, indem meine Stimme sanft, wie bei angehenden Romanhelden stets, erbebte. »Man hält mich hier offenbar für einen Oberrechnungsrat, den braven Emil, Ihren Onkel und Bräutigam. 227 Seien Sie fidel, wie es der Otto Erich war, sehen Sie nur, wie er sich freut. Lassen Sie mich diese Rolle spielen, den Bräutigam für zwei Tage, markieren Sie die Partnerin! Sehen Sie dort in der Ecke jetzt den Schatten Otto Erichs, wie er sich eben aus dem allertiefsten Klubfauteuil, dem allerbequemsten, hebt – wie er uns lachend beglückwünscht.« Und sie ließ es mit einem kurzen, schrägen Blick zu mir geschehen, daß ich zunächst einen nur oberrechnungsrätlichen Kuß auf die errötende Stirne senkte. »Wie reputierlich«, stöhnte die Armenrätin, die doch dem ganzen Zustand nicht zu trauen schien, und ein neues, beifälliges Gemecker verbreitete sich um die Table d'hôte.

Ich war nun als Onkel und Bräutigam anerkannt und konnte, während ich Anny Bräutigamsreverenz erwies, den Blick um meine Mitgäste spionieren lassen. Da störte mich der Pastor zu meiner Rechten auf, der eben ein Huhn zerlegte: »Waren Sie schon einmal, Herr Oberrechnungsrat«, begann er die Table-d'hôte-Unterhaltung, »in Sizilien und haben Sie daselbst das sogenannte Kamelbrot gegessen?« Ich war dieses Genusses noch nicht teilhaftig geworden, aber ich versprach, eigens zu diesem Zweck, hoffentlich recht bald, mit meiner jungen Frau Sizilien aufzusuchen. »Ach, wären wir schon so weit«, lispelte Anny mit Augenaufschlag und band ihr Serviettchen vor; denn es wurde soeben Chaudeau serviert.

»Lieber Emil«, seufzte sie, sichtlich gepreßt, 228 »möchtest du nicht einstweilen, ehe wir zum Kamelbrot gelangen, von diesem Chaudeau nehmen?« »Den Chaudeau hat gewiß Otto Erich auch sehr gern gehabt«, säuselte jetzt eine Dame zart zu seinem Repräsentanten herüber. Sie trug ein himmelblaues Kleid, einen Busen ohne Komfort und war aus Erfurt. »Unser lieber Otto Erich hat sich überhaupt eines vorbildlichen Appetits erfreut, auch die beiden Herren, die hier gesessen und seine Briefe durchsucht haben«, knurrte der weiland Pelzhändler ingrimmig. »Ach, hätte er erst die richtigen Wiener Mehlspeisen gekannt, die man hier leider so selten bekommt«, phantasierte begehrlich mit einem strafenden Blick gegen die Pensionsmutter eine dünne Dame am unteren Tische, »dann hätte er wohl noch viel rührender gedichtet.« Sie trug ein amarantfarbenes Kleid, keinerlei Busen und war aus Hannover. Außerdem spielte sie die Harfe und sah selbst wie eine gezupfte Saite aus. »Mehlspeisen machen zu dick und daher träg zum Dichten, Else«, unterbrach ihr Vater belehrend die kulinarische Begeisterung. Er war Turnwart und Obmann einer freiwilligen Feuerwehr. »Haben Sie heute, wie Sie sich vorgenommen, wirklich die Riesenwelle einfach im Zimmer probiert?« schnaubte der Turnwart jetzt, indem er heftig eine Nuß knackte, die Himmelblaue an. »Nein, ich war schon in Gedanken in Verona. Ich bin zu neugierig, ob die kleine Palme, die Herr Meier, mein Tischnachbar, im vorigen Jahr daselbst im botanischen Garten neben der 229 Palma di Goethe gepflanzt hat, die Palma di Meier, auch gut gediehen ist. Überhaupt Goethe! Wie himmlisch! Und erst Otto Erich«, fügte sie pflichtbewußt hinzu. »Er war, wie schon sein Name besagt, jeder Zoll ein vaterländischer, ein germanischer Sänger, kernig durch und durch«, wetterte der Turnwart, der eben die Nuß geknackt hatte. »Er war, nehmt alles nur in allem, ein sittlicher Dichter«, knarrte der Assessor, indem er sein Monokel vor einem Versuch bewahrte, sich selbstmörderisch in die Terrine zu stürzen. »Er hat ja auch so etwas geschrieben, ein Stück, glaub' ich, die ›sittliche Forderung‹.« »Er liebte aber doch wohl die Frauen«, klagte die Himmelblaue, indem sich ihr Mieder hob. »In Ehren, wollen wir hoffen«, replizierte die Amarantene und nahm die komplementäre Farbe an. »Er war ja verheiratet«, schloß der Pastor die Debatte und nickte der Hausfrau anerkennend zu, während der Pelzhändler überlegen lächelte.

Während dieser in das Wesen des Bohèmepoeten so tief eindringenden Gespräche sah ich, wie sich eine dunkle Gestalt vom Kamin, allwo sie sich ein wenig gewärmt haben mochte, heftig vorbewegte.

Ich erkannte ihn sogleich wieder: Otto Erichs gemütlichen Schatten. Aber diesmal schien er gar nicht wohlgelaunt. Er trug die Studentenmütze schief und schwang im Zorn gegen den Assessor und gegen den Turnwart die Pfeife. Er hatte einen Zug scharfen Spottes und feixte in gereizter Poeteneitelkeit seine Gäste, die zu ihm kamen, ohne 230 ihn gelesen zu haben, entrüstet an. »Ja, mein lieber Otto Erich«, sagte ich zu dem erbosten Schatten, »ich bin ganz deiner Meinung. Ich finde ja die Herrschaften auch nicht lieblich. Aber du wirst zugeben müssen: sie sitzen mit einem gewissen Recht hier. Warum sollten sie nicht auf deinen Diwans schlummern und deinen Wein trinken und mit dem gleichen Wohlbehagen einschlürfen, mit dem du seinerzeit solche Philistervisagen in dich eingeschlürft und literarisch verzapft hast? Du hast dir deinen halkyonischen Ruhesitz doch nur aus den Honoraren für deine Verulkung solcher Leutchen erworben. Ist dein Pfarrer hier nicht genau dein ›Gastfreier Pastor‹, aus dessen fünfter bis zehnter Auflage du dir das Souterrain der ›Villa Halkyone‹ gebaut hast? Eine solche Himmelblaue und die amarantene Zitherspielerin mit der durchbrochenen Bluse, lieferten sie dir nicht die durchsichtigsten Fenstervorhänge hier? Hast du nicht aus einem ähnlich gearteten Assessor das Leder des Stuhles gezogen, auf dem dieser selbst jetzt sitzt?«

Und Anny, die trotz der kurzen Brautzeit bereits meine eigenen Gedanken zu erraten schien, setzte laut fort, indem sie sich scheinbar harmlos an die Pensionsmutter wandte: »Eigentlich ist es wunderbar, gnädige Frau, wie sehr Sie die Erinnerung an Otto Erich hier lebendig zu erhalten verstehen. Er hätte aus dieser Pension gewiß eine Menge für ihn sehr wertvoller Anregungen gezogen. Meinst du nicht auch, lieber Emil?« lächelte sie verschmitzt, 231 während der Schatten Otto Erichs ihr dankbar zunickte, weil er sich endlich gelesen und verstanden fühlte. »Jawohl, er hat sich immer nur in unsrer, nur in der besten Gesellschaft bewegt, er war eben doch Kollege, Referendar S. M., bevor er Literat geworden ist«, schnarrte wieder der Assessor und resümierte so unter allgemeiner Zustimmung den Gesamteindruck.

Anny aber, den Humor dieser ganzen, wie aus einer vergnüglichen Hartleben-Geschichte selbst geschnittenen Situation mit Verständnis erfassend, lächelte ihrem Pseudo-Emil mit dem nämlichen, noch verbesserten Blick so freundlich zu, daß ich als Zeichen geheimen Einverständnisses meinen kolossalen Bergschuh sacht, ganz sacht und vorsichtig in die Nähe ihres Lackstiefelchens zu schieben suchte. Dabei geriet ich jedoch unseligerweise an den Fuß des Tisches. Da hob sich der Tisch langsam zu meinem Schrecken. Die Himmelblaue rief: »Wenn es nur kein Erdbeben wird, wir sind ja in Italien!« Und alles eilte kopfschüttelnd, die sonderbare Erschütterung besprechend, in die Veranda und in den Garten hinaus.

Draußen im Garten hatte sich Otto Erichs Schatten inzwischen sinnend auf ein umgestürztes römisches Kapitäl gesetzt. Er schien die Schönheit dieser Nacht tief in sich zu schlürfen.

Da wir beide, Anny mit ihrem Emil, Glanz und Fülle dieser Stunde innig erlebend, dicht aneinandergeschmiegt, durch den blauen Mondschein in der 232 summenden Magnolienallee wandelten, die geisterhaft im weißen Licht leuchtete, winkte uns der Schatten, der sich dieser Nacht immer heiterer zu freuen schien, mit unhörbarem Gruße nach.

Wie umhüllt war diese Frühlingsnacht. Die Sterne flimmerten in dem weißen, zitternden Nebelhauch wie an einem silbrigen Brautschleier, das Mondlicht hing verlangend in den gelben Kätzchen, in dem violetten und schneeweißen Gesträuch. Der See plätscherte in weicher, sehnsüchtiger Melodie an den Kies, von der Veranda herüber zogen verliebte italienische Volkslieder, die ein Paar bunt drapierte Burschen zur Laute und Viola sangen.

Da lagerten wir uns, dem Hause fern, umlispelt von einem Myrtensträuchlein, den Blick in den See hinuntertauchend, in jenem marmornen Halbbogen am Ufer, dessen Sitze wie Stühle einer Akademie lauter liebe deutsche Dichternamen tragen. Ich hatte, glaub' ich, auf Gerhart Hauptmann Platz genommen, während das Liebchen über Max Halbe zu sitzen kam. »Liebste Anny«, sagte ich zu dem süßen, bräutlich bebenden Mädchen, das sich mir leis entziehen wollte, »lassen Sie mir Ihre Hand. Hat uns nicht der Schatten Otto Erichs, dessen frohe, junge Weisheit wir beide jetzt ganz erfassen, so rasch zusammengeschlossen? Er will, daß wir, die beiden einzigen seiner Überlieferung getreuen Gäste, in seinem Garten eine Geschichte, wie er sie erfunden hätte, wirklich erleben.« »Oh, . . . aber . . . und ich kenne Sie ja auch gar nicht.« »Aber 235 ich bin doch ein oberrechnungsrätlicher Onkel, Anny, und ich kann dir genau vorrechnen, daß du das hübscheste Bräutchen um den Gardasee bist.« »Wer sind Sie, wer bist du denn, du schrecklicher Mensch?« »Ich bin ein Stück Poet, wenigstens in dieser Stunde, und auf der Italienwanderschaft, und morgen bin ich wieder weit fort in Verona, bei der Palma di Meier, und dann sehen wir uns wohl niemals wieder. Dein Onkel Erich wird bald wirklich kommen – hoffentlich erst, wenn ich schon wieder weg bin – und du wirst heiraten und auch einmal eine rundliche Frau werden, aber ich hoffe, nicht so rundlich wie die Himmelblaue. Nur die eine Stunde in der Osternacht schenke mir noch vorher, lasse mich diese Kirschenblüte fortküssen, die jetzt über deine Lippen spaziert.« Und über der zarten Blüte schlossen sich unsre Lippen zusammen, und sie schlossen sich immer wieder; immer durstiger hing sie in erster, immer süßer erwachender Leidenschaft in meinem Arm. Auch dieser Durst war im Schatten Otto Erichs natürlich. Und es bedurfte meiner ganzen mich bändigenden Würde, der Erkenntnis, daß ich für heute Emil, der Onkel, zu sein hatte; sonst hätte ich wirklich in dieser Stunde Emil, der Bräutigam, werden können.

Inzwischen schlenderte der Schatten des Dichters, sichtlich ergötzt, an uns und seinem arkadischen Hain vorüber. Er war aber ein wohlerzogener Schatten und viel zu diskret, um zu stören.

236 Weniger diskret waren freilich der Turnwart und der Assessor, die Zitherspielerin und die Himmelblaue. Sie kamen aus der Veranda, herbeigelockt durch das verdächtige Geräusch in den Myrten. Sie postierten sich im Gebüsch, und bei dem innigsten Kuß applaudierte eine so lebhaft, daß Anny mit einem kleinen Schrei zurück in die Veranda purzelte. Der Turnwart und der Assessor, die Zitherspielerin und die Himmelblaue lustwandelten aber noch lange und sprachen über die Sittenverderbnis der Brautpaare von heute. Dann wiesen sie einander die Plätze, wo sie sich Otto Erich im intimen Rendezvous mit der Muse dachten. »Hier ruhte der Dichter! Hier raste der Dichter im schönen Wahn! Hier hat ihn die Muse geküßt!« – vernahm ich erschaudernd aus den Gebüschen.

Da floh Otto Erichs Schatten wie rasend, aus seinem eigenen Garten vertrieben, den Becher in der Hand, nach San Vigilio hinüber, der wunderbaren Insel, die einsam drüben im Mondlicht schlief.

Am nächsten Morgen war ich, von inneren Stimmen wie von einer festlichen Musik geweckt, mit der erwachenden Sonne auf. Der Ostertag funkelte über Salò. San Vigilio tauchte weiß aus den Wellen, wie ein silberner Helm aus einem wogenden Felde; das Olivenwäldchen, das den Hügel über dem Hause krönt, flimmerte in der Aprilsonne. Musik wirbelte vorüber, Burschen und Mädel zogen singend mit roten, wehenden Tüchern zur Kirche. Blicke flogen und Farben blitzten.

237 Da wartete Emil auf seine Anny in der Frühstückslaube. Und sie kam, in ein kurzes, luftiges Frühjahrsmäntelchen gewickelt, und mit einem roten Sonnenschirmchen wie mit einem Kapellmeisterstabe bewehrt.

Sie schlug damit kreuzvergnügt in die Luft, und auf dieses Zeichen hin flatterten von überall aus den Magnolien, die sich über Nacht geöffnet hatten, kleine musizierende Frühjahrsengel. Die gaben uns singend, tanzend, trillernd das Geleite, als wir Hand in Hand hinauf in den silbrigen Olivenwald zogen. Und sie sangen noch lange in uns weiter, als wir an einem Abhang unter einer Pinie ruhten, die sich aus dem Mauerwerk einer alten Burg aufgerichtet hatte und neugierig über den See mit den orangegelben und rötlichen Segelfaltern, mit den schäumenden Dampfern und farbigen Booten hinunterblickte. Und sie sangen in uns noch immer, als wir später am Nachmittag, in einer Kalesche – heimlich . . . ganz heimlich in die Kissen gedrückt – über Land fuhren.

So hell und laut musizierten die kleinen Liebesengel, daß sie das Geschrei übertönten, das sich hinter uns, den Fortziehenden, erhob. Der Turnwart, die Amarantene und die Himmelblaue konnten das Geräusch von gestern zwischen den Myrten nicht verwinden. »Nun ja, sie sind allerdings verlobt – gut – aber so haben sich auch Brautpaare – in unsrer Zeit wenigstens – niemals aufgeführt!« – »Abscheulich!« – »Entsetzlich!« – »Dieser 238 Onkel – man sollte der Kleinen die Augen öffnen!« – »Man wird ja hier nicht mehr wohnen können, wenn die Sittenlosigkeit so weiter grassiert.«

Und sie grassierte wirklich weiter, und der Turnwart und die Himmelblaue, sie mußten es mitansehen und haben es gleich nach Erfurt berichtet: War so etwas von einer Braut erhört?! Anny setzte sich samt ihrem roten Schirmchen unter den Zypressen in aller Unschuld zwanglos auf meinen Schoß, und die Amarantfarbene vernahm zwischen den Oliven das nämliche verdächtige Geräusch von Lachen und Küssen, das zwischen den Myrten begonnen hatte.

Sie brachte sogleich die Kunde in die »Halkyone«, und noch in dieser Stunde verließen alle, Turnwart, Assessor und Pastor, die Himmelblaue samt der Amarantenen die »entweihte Dichterstätte«.

Als wir heimkamen, war das Haus von Gästen frei, und wir konnten ungestört Abschied nehmen. Auch mir schlug jetzt leider die Stunde. Ein Tränlein im Auge, gab mir Anny zum Steg das Geleite. Ich küßte noch einmal die Kinderwange mit dem wohnlichen Grübchen. Sie winkte mit dem Tüchlein und mit dem roten Schirmchen lange, lange. Und als ihre liebe, zärtliche Gestalt in der Dämmerung hinglitt, war mir, als sei ein Stück Jugendland hinter mir versunken. Die Villa Halkyone leuchtete aber noch lang zu mir herüber.

Und auf dem obersten Balkon sah ich – nun 239 erkannt' ich ihn genau – den wieder freudig bekränzten Schatten des Dichters. Er war jetzt, durch uns befreit, wieder allein in seinem halkyonischen Sitz, und fröhlich und dankbar winkte er mir, dem Scheidenden, zu. Dann schwenkte er den Becher, gefüllt mit dunkelrotem Chianti, hoch und warf ihn, heiter lächelnd, hinab in die blaue Flut.


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