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III.

Das große Unternehmen, das William Morland in das Leben gerufen und an dessen Spitze er noch jetzt stand, hatte alle Erwartungen seiner Gründer übertroffen. Mit dem schnellen Wachstum der amerikanischen Städte hatte Hilltown im Lauf eines einzigen Jahrzehnts einen Aufschwung genommen, der es beinahe schon in die Reihe der Großstädte stellte. Jedenfalls war es nicht mehr weit entfernt davon. Seine Lage an dem Hauptknotenpunkt der damals neuen westlichen Bahnlinie, die überaus günstigen Verhältnisse von Boden und Klima taten ja viel, um die Einwohner in Menge herbeizuziehen, aber im Grunde war es doch die rastlose Energie eines einzigen Mannes gewesen, der mit sicherem Blick die Bedingungen dieser beispiellosen Entwicklung erkannt und ihr den Weg geöffnet hatte.

Die Tätigkeit der Gesellschaft, die er leitete und fast unumschränkt regierte, war aber noch keineswegs abgeschlossen. Sie hatte das gesamte Terrain der Umgebung bis zu den Hügeln hin, die die Stadt umgrenzten, und von denen sie den Namen führte, in ihre Hand gebracht und verfügte ausschließlich darüber. Immer neue Straßenzüge entstanden, immer neue Bauten wuchsen empor, und jedes Jahr brachte neuen Gewinn für die Teilnehmer.

Morland selbst hatte sich freilich den Löwenanteil dabei gesichert. In Neuyork zählte man ihn schon zu den Reichen, die über verschiedene Millionen verfügten, mit Hilltown war ihm der große Wurf gelungen, den er stets im Auge gehabt hatte. Sein prächtiges Haus in Neuyork diente nur noch als Absteigquartier, wenn er dort hinkam, sein eigentlicher Wohnsitz war nach Hilltown verlegt worden, wo er begreiflicherweise die erste Rolle spielte. Durfte er sich doch jetzt den Dollarkönigen beizählen, vor deren Macht sich alles beugte.

Nur ein Wunsch war ihm versagt geblieben, die Worte, die er einst seinem kinderlosen Schwager zugerufen hatte, als dieser ihn warnte, alles auf einen Wurf zu setzen: »Ich arbeite für mein Geschlecht!« hatten sich nicht erfüllt. Die Ehe seiner einzigen Tochter war kinderlos geblieben, und sie zeigte nach dem vor drei Jahren erfolgten Tode ihres Gemahls keine Neigung, sich wieder zu vermählen. Die Ravensbergschen Güter befanden sich noch in ihrem Besitz, aber sie war nicht wieder dort gewesen, seit man den Grafen Bertold, den Letzten seines Stammes und Namens, in der Gruft seiner Ahnen bestattet hatte. Sie schien Europa nicht zu lieben und war als Witwe in das Haus ihres Vaters zurückgekehrt, wo sie als erste Dame der Stadt in der Gesellschaft den Ton angab.

Auch Barkley, die einstige Kolonie für die Ingenieure und Arbeiter, die das große Elektrizitätswerk für Hilltown schufen, hatte sich zu einer größeren Ortschaft entwickelt. Die mächtigen Werke forderten allein schon eine ganze Schar von Beamten und Arbeitskräften, die doch versorgt werden mußten. Es besaß längst eine Bahnverbindung mit der Stadt und lag längst nicht mehr in der Wildnis. Die Kultur hatte ihren Einzug gehalten in dies einst so unwegsame Wald- und Flußgebiet. Überall in der Umgegend waren Ansiedlungen entstanden, die oft in stundenlanger Entfernung voneinander lagen, aber überall hatte man auch Wege und Straßen gebahnt, die meist nach Barkley, dem gemeinsamen Mittelpunkt, führten.

Die Hitze des Tages hatte bereits nachgelassen, aber die Strahlen der Nachmittagssonne fielen noch warm und goldig auf eine Farm, die wie eine freundliche Oase mitten in den dichten Wäldern lag. Das Haus, nur aus Holz gebaut, wie Sitte und Klima es hier forderten, hatte ein sehr stattliches Aussehen, an der Vorderseite zog sich eine breite Veranda hin, die dicht von blühenden Schlingpflanzen umrankt war, und auf dem großen Vorplatz wuchs das Graf hoch und üppig empor. Etwas weiter zurück lagen die Ställe und die Wirtschaftsgebäude und dahinter ein umfangreicher Garten, der freilich nur Nützlichkeitszwecken diente. Nirgends irgend etwas Verfallenes oder Verwahrlostes, alles atmete Ordnung, Wohlstand und Behaglichkeit.

Auf der Veranda saß Hofstetter, eine Zeitung in der Hand. Er war grau geworden, aber nicht alt. Die kernige, kräftige Erscheinung des einstigen Försters von Grafenau hatte sich nicht im geringsten verändert, und man sah es ihm an, daß ihm das Leben bei den Wilden da drüben ganz vortrefflich bekam.

Dicht neben ihm stand ein Korbwagen, in dem ein etwa einjähriges Kind schlief, ganz unberührt von dem Lärm, der sich drüben auf dem Grasplatz erhob. Dort spielten zwei kleine Buben, das heißt, sie rauften sich und erhoben dabei das übliche Kriegsgeschrei. Der ältere hatte eben seinen jüngeren Bruder »untergekriegt« und drosch tüchtig auf ihn los. Der Kleine erhob ein Zetergeschrei, aber Hofstetter sah in vollster Seelenruhe zu. Er mischte sich grundsätzlich nie ein, wenn die Jungen sich prügelten, denn erstens hielt er das für eine äußerst gesunde Bewegung, und zweitens war er der Meinung, man müsse es früh lernen, sich zu wehren und seine Fäuste zu gebrauchen.

Aber jetzt nahte Hilfe von anderer Seite. Ein Neger, der seitwärts am Brunnen beschäftigt war, kam herbei und stiftete Frieden. Er befreite den Kleinen, schalt den Großen aus und brachte sie beide zur Veranda.

»Hermann hat wieder angefangen, Master,« meldete er. »Immer fängt er an!«

»Deslagen hat er mich!« weinte der Kleine. »Aus die Nase hat er mich deslagen!«

»Dann schlage ihn wieder auf die Nase!« sagte Hofstetter kurz und bündig. »Heule nicht so, Ady, das schickt sich nicht für einen Jungen. Gib's ihm zurück!«

»Aber ich bin tlein, und er ist so droß!« schrie der erst vierjährige Adalbert, der das G und K noch nicht aussprechen konnte. Das war ein triftiger Grund, den auch Hofstetter gelten ließ. Er nahm sich den Missetäter vor.

»Du darfst den Kleinen nicht so malträtieren, Hermann. Du bist volle drei Jahre älter und viel stärker. Schäme dich!«

»Aber ich habe sonst keinen zum Prügeln, Onkel,« wandte Hermann trotzig ein.

Der unparteiische Onkel mußte auch das zugeben. Der Junge brauchte doch irgend ein Objekt für seine Lieblingsbeschäftigung. Es war wirklich nicht leicht, das zu entscheiden, da mischte sich der Neger wieder ein. Er wollte in den Garten, um Gemüse zu holen, und forderte die Jungen auf, mitzugehen. In dem Falle versprach er ihnen auch eine neue und sehr schöne Jagdgeschichte.

Das wirkte, Trotz und Tränen versiegten, die feindlichen Brüder versöhnten sich sofort und hingen sich rechts und links an ihren schwarzen Freund.

»Von dem Indianerhäuptling, der so viel Feinde skalpiert hat?« forschte Hermann wißbegierig.

»Und von der droßen Schlange, die sechs Lämmer derfressen hat – mit einmal?« fragte Ady ebenso eifrig.

»Sechs Lämmer!« Hofstetter schlug entsetzt die Hände zusammen. »Tommy, schämst du dich denn gar nicht, diesen unschuldigen Kindern so erschreckliche Lügen zu erzählen? Du verdirbst ihnen ja den ganzen Charakter damit.«

»Wahr, wahr, Master,« beteuerte Tommy, der fließend Englisch sprach, aber das Deutsch noch radebrechte, »ganz gewiß wahr!«

»Lüge du und der Kuckuck!« brummte der Förster. »Und jetzt macht, daß ihr fortkommt. Ihr weckt mir sonst noch das Kind auf!«

Er wollte zu seiner Zeitung zurückkehren, als die drei fort waren, da kam ein Jäger aus dem Walde, die Flinte über der Schulter und die Jagdtasche an der Seite, der über die Wiese schritt und vor dem Hause stehen blieb.

»Spielen Sie schon wieder Großpapa, Herr Förster?« fragte er. »Unser schneidiger Jäger mit der nie fehlenden Büchse als Kinderwärter – ein köstliches Bild!«

»Baron Saleck, Sie haben gar keinen Familiensinn!« sagte Hofstetter mit würdevoller Zurechtweisung.

»Nein, nicht den geringsten,« gab Saleck zu. »Das heißt die Guntramschen Jungen lasse ich gelten. Das rauft sich doch schon und tobt herum, aber solch ein winziges Geschöpf, das noch nicht einmal reden und laufen kann, zählt für mich noch gar nicht zu den Menschen.«

»Alice spricht schon sehr viel,« erklärte Hofstetter beleidigt, »sie nennt uns alle beim Namen, und sie fängt auch schon an zu gehen.«

»Ja, auf allen vieren, und die Namen hören nur Sie heraus aus ihrem Gequatsch. Nun fängt sie gar an zu schreien – das gehört auch so zu den Familienfreuden!«

Er war die Stufen heraufgekommen. Klein-Alice hatte vorhin bei dem Lärm ihrer Brüder ganz ungestört geschlafen, diese beleidigenden Bemerkungen aber nahm sie tödlich übel, sie erwachte und fing zu weinen an. Hofstetter machte allerdings eine etwas komische Figur, als er sich niederbeugte und das Kind zärtlich und behutsam aus seinem Bettchen nahm. Ein anderes Baby hätte wahrscheinlich noch lauter gebrüllt beim Anblick des braunen, bärtigen Gesichtes. Hier wirkte es aber als Beruhigungsmittel. Die Kleine griff sofort mit beiden Händchen in den dichten grauen Bart und begann ihn sehr nachdrücklich zu zausen. Der Baron lachte laut auf.

»Herr Förster, Sie schneiden ein fürchterliches Gesicht! Und dabei lassen Sie sich malträtieren von Miß Alice, wie immer.«

»Das hat sie von ihrer Mutter!« sagte Hofstetter mit schmerzhaft zuckenden Gesichtsmuskeln, aber mit einem ganz seligen Ausdruck. »Die machte es gerade so, als ich sie in Grafenau noch auf dem Arme trug.«

Der neue Ankömmling hatte inzwischen Flinte und Jagdtasche abgelegt und machte sich auf einem der Bambusstühle bequem. Er mochte am Ende der Dreißig stehen, eine nur mittelgroße, aber sehnige Gestalt, der man es ansah, daß sie an Strapazen gewöhnt und ihnen gewachsen war. Das tiefgebräunte Gesicht war in der Jugend sicher schön gewesen, das zeigte sich noch jetzt, aber das Leben hatte unverwischbare Spuren hineingezeichnet, tiefe, scharfe Linien, die ihm etwas ungemein Herbes gaben. Auch die dunklen Augen hatten einen unsteten Ausdruck, leidenschaftlich und müde zugleich – halb erloschenes Feuer unter der Asche.

»Ich glaubte Guntram und unseren neuen Gast schon zu finden,« begann er wieder. »Der Zug ist ja bereits um vier Uhr in Barkley.«

»Sie haben aber noch eine volle Stunde zu reiten von der Station,« warf Hofstetter ein, indem er die kleine Alice sorgfältig wieder in den Korbwagen setzte und ihr statt seines Bartes nunmehr die Zeitung zum Spielen gab. »Sie können übrigens jede Minute kommen.«

»Nun, dann wird man es ja endlich zu Gesicht bekommen, das Ideal der ganzen Guntramschen Familie! Seit dieser Hermann Siegwart seinen Besuch angekündigt hat, ist überhaupt von nichts anderem die Rede als von ihm.«

»Es ist aber auch genug von ihm zu reden! Ich habe es ja immer gesagt, als er noch ein kleiner Bursche war: Aus dem Jungen wird etwas! Und was ist aus ihm geworden! Nun steht's da, sein großes Werk, und alles sperrt Mund und Nase auf darüber. Die Berliner haben ihn gefeiert wie unsinnig bei der Einweihung, und die anderen deutschen Städte reißen sich um seine Pläne und Entwürfe. Eine Berühmtheit ist er geworden – unser Hermann!« Hofstetter blähte sich förmlich auf mit seinem Triumph, während der Baron in etwas kühlem Tone beistimmte: »Ja, ein großes, monumentales Werk! Guntram hat ja genug Photographien davon, übrigens wird der Herr Baumeister den gewohnten feierlichen Empfang vermissen. Mit Glockengeläut und Böllerschüssen können wir hier im Urwalde nicht aufwarten, aber eine Ehrenpforte wäre doch wenigstens am Platze gewesen.«

»Spotten Sie nicht immer!« rief Hofstetter ärgerlich. »Verdienen täte er es schon. Ich bin nur neugierig, ob er in Hilltown bei Mr. Morland gewesen ist, der wird wohl nun endlich seinen Ärger überwunden haben, daß er ihn damals nicht mitnehmen konnte.«

»Wen? Siegwart? Hatten sie denn überhaupt Beziehungen zueinander?«

»Das will ich meinen! Mr. Morland war es ja, der ihn aufgespürt hatte, als er noch völlig unbekannt in dem Nest von Ebershofen saß. Der wußte Bescheid über ihn und sein Talent und wollte ihn absolut kapern für sein Hilltown, das damals gerade im Entstehen war. Aber der Hermann wollte nicht. ›Ich bleibe in Deutschland – Punktum!‹ sagte er, und der Amerikaner mußte abziehen mitsamt den goldenen Bergen, die er ihm versprach. Das wurmte ihn natürlich. Ich glaube, es ist das erste Mal gewesen, daß er etwas nicht durchsetzte, und in allerhöchster Ungnade ging er davon, nach seinem Neuyork zurück.«

Baron Saleck hörte mit offenbarem Interesse zu und war im Begriff, noch weitere Fragen zu stellen, erhob sich aber jetzt, um die junge Frau zu begrüßen, die soeben auf die Veranda trat.

Klein-Rottraud sah allerdings als Gattin und Mutter nicht mehr so kindlich aus wie damals in Uhlenhorst. Gewachsen war sie nicht seit ihrer Heirat, obgleich Hofstetter hartnäckig diese Behauptung aufrecht erhielt, aber sie hatte sich ihre mädchenhaft schlanke Gestalt bewahrt, und das gab der freilich erst fünfundzwanzigjährigen Frau noch ein ungemein jugendliches Aussehen. Das leuchtende Haar wurde auch nicht mehr offen getragen, sondern legte sich in zwei üppigen Flechten um Stirn und Schläfe, und die zarte, rosige Hautfarbe war gebräunt unter der südlichen Sonne. Aber die ganze Erscheinung atmete blühende Gesundheit, warmes, frohes Leben. Man sah es, Traudl Helfenstein war eine glückliche Frau geworden.

»Wo sind die Jungen?« fragte sie resolut. »Das treibt sich wieder wer weiß wo herum!«

»Im Garten sind sie,« versetzte Hofstetter. »Da werden sie wohl auf der Lauer liegen und es schleunigst melden, wenn irgend etwas in Sicht kommt.«

Die junge Frau nahm das Baby auf den Arm, das die Zeitung glücklich zerrissen hatte, schritt die Stufen hinunter und sah sich nach ihren Sprößlingen um.

»Ganz recht, Frau Guntram,« sagte Saleck, »wirken Sie als Familiengruppe mit Ihrer gesamten Nachkommenschaft. Man muß diesen Europäern imponieren! übrigens läßt sich der erlauchte Gast erwarten – wie alle hohen Herren!«

Traudl war viel zu sehr an die Sarkasmen des Barons gewöhnt, um darauf zu achten. Sie hatte auch keine Zeit dazu, denn jetzt brachen die beiden Jungen aus dem Garten hervor.

»Sie tommen! Sie tommen!« schrie der kleine Ady und hastete seinem Bruder nach, der mit lautem Hurra über die Wiese stürmte. Daraufhin setzte sich auch Hofstetter in Bewegung, und die beiden Reiter, die soeben am Saume des Waldes erschienen, wurden von allen Seiten begrüßt und bewillkommt, so daß einige Minuten vergingen, bis sie abstiegen und zum Hause gelangten.

Die junge Frau konnte auf diese Art nicht als Familiengruppe wirken, sondern mußte sich allein mit dem Baby auf dem Arm zeigen. Jetzt aber eilte Hermann auf sie zu und bot ihr die Hand.

»Grüß Gott, Frau Traudl!« sagte er warm und herzlich. »Da bin ich!«

»Ja, da ist er endlich!« fiel Adalbert ein. »Und nun lassen wir ihn fürs erste nicht wieder fort. – Wollt ihr den Onkel wohl in Ruhe lassen, ihr Jungen! Laßt ihn doch mit der Mama reden!«

Die Jungen hatten allerdings Besitz von dem Onkel ergriffen, der ihnen von dem Bilde und den Erzählungen der Eltern her vertraut war, und auch Miß Alice geruhte ihn anzunehmen. Sie griff schleunigst mit den Händchen in seinen schönen blonden Vollbart, denn sie hatte eine entschiedene Vorliebe für diese männliche Zierde.

Adalbert Guntram war kaum wieder zu erkennen. Aus dem schlanken, hübschen Offizier war ein derber, breitschulteriger Mann geworden, eine echte Farmergestalt mit braunem Gesicht und braunen Händen, aber aus den Augen lachte noch die alte Lustigkeit. Hermann Siegwart dagegen war fast unverändert, nur ernster, ruhiger schien er geworden zu sein, und in seiner Haltung lag etwas von dem kraftvollen Bewußtsein des Künstlers, der sich so schnell und so mächtig emporgeschwungen hatte. Der kaum siebenunddreißigjährige Mann stand ja jetzt schon auf der Höhe seiner Erfolge.

»Komm, Dietrich! Laß dich auch vorstellen,« rief Guntram, indem er Saleck, der ziemlich fremd beiseite stand, herbeizog. »Baron Saleck-Rotkirchen – ein früherer Regimentskamerad und jetzt unser lieber Gast – Baurat Siegwart.«

Die Herren begrüßten sich. Die dunklen Augen Salecks hafteten scharf und forschend auf dem Baurat, der den Gruß mit einiger Zurückhaltung erwiderte. Sie sahen sich zum erstenmale, aber es schien, als richte sich gleich im ersten Augenblick eine unsichtbare Schranke zwischen ihnen auf.

Die nächsten Stunden vergingen rasch genug. Siegwart mußte wenigstens das Haus und die nähere Umgebung in Augenschein nehmen, und dabei wurden alte und neue Erinnerungen ausgetauscht. Jetzt war es Abend geworden, die Kinder wurden zu Bett gebracht und Hofstetter spielte wieder einmal Großpapa. Miß Alice hatte ihn so gut gezogen, daß er stets eine Weile an ihrem Bettchen sitzen und sie unterhalten mußte, sonst schrie sie und schlief überhaupt nicht ein. Er unterzog sich dieser Pflicht auch mit rührender Geduld.

Es dämmerte bereits und die Hitze des Tages war einer köstlich kühlen Frische gewichen, als die beiden Jugendfreunde auf der Veranda saßen. Volle acht Jahre waren vergangen, seit Siegwart damals das junge Ehepaar und Hofstetter zu Schiffe geleitete, und wenn man auch durch einen äußerst lebhaften Briefwechsel alles und jedes voneinander wußte, die persönliche Berührung hatte doch gefehlt.

»Es war doch gut, Adalbert, daß du den Degen beiseite legtest,« sagte Hermann. »Als freier Mann auf eigenem Grund und Boden zu leben und ein frohes, rüstiges Schaffen für Weib und Kinder – das heißt das bessere Teil erwählen. Ich habe mir deine Farm und die Verhältnisse hier nicht so groß gedacht. Du bist ja mächtig vorwärts gekommen in den fünf Jahren. Respekt davor!«

»Die drei ersten waren aber auch hart genug,« versetzte Adalbert. »Du siehst Barkley nur als Bahnstation, als Ortschaft. Damals, als wir herkamen, war es nur ein weit in die Wildnis vorgeschobener Posten. Mehr ein Lager als eine Kolonie. Wir hatten keine Verbindung mit Hilltown, das nur mit einem tagelangen Ritt durch die Wälder zu erreichen war. Es fehlte alles, was einem Europäer als selbstverständlich erscheint. Und ich mußte ja bald die Führung und Leitung der Station allein übernehmen.«

»Ich weiß, der eigentliche Stationsleiter starb nach einem Jahre und Morland gab dir den Posten.«

»Ja, es war immerhin ein großer Vertrauensbeweis nach so kurzer Zeit, aber ich fand bald genug Gelegenheit, mich dankbar zu zeigen. Da kam der große Streik, eigentlich war es mehr eine Revolte. Wir hatten schlimmes Gesindel unter dem Arbeitervolk und das hetzte die anderen auf. Es wurden unmögliche Bedingungen gestellt, und als wir uns weigerten, drohten sie mit Zerstörung der erst halbfertigen Werke. Sie fühlten ihre Macht der Handvoll von Ingenieuren und Beamten gegenüber, und wer fragte denn nach Gesetz und Recht hier im Urwalde. Da habe ich noch einmal den Soldaten herausgekehrt. Ich verschanzte mich regelrecht mit den Ingenieuren und den Leuten, die treu geblieben waren, und kommandierte wie in einer belagerten Festung. Zweimal haben wir den Angriff auf die Werke abgeschlagen und die ganze Bande in Schach gehalten, bis die erbetene Hilfe aus Hilltown endlich kam.«

Siegwart lächelte. »Und da bist du der Held und Retter gewesen! Du selbst schriebst mir freilich nicht viel davon, aber durch Hofstetter erfuhr ich alles ausführlich.«

»Nun, wozu ist man denn Soldat gewesen! Ich hatte eben das Kommando. Aber die Berichte, die an Morland abgingen, werden wohl ähnlich gelautet haben. Als er später persönlich kam, reichte er mir die Hand und sagte in seiner trockenen Art: ›Sie haben mir die Werke gerettet, Mr. Guntram – den Dank behalte ich mir vor, bis wir fertig sind‹. Er hätte mir jede Stellung in Hilltown gegeben, aber er wußte, daß mein Sinn auf Unabhängigkeit stand. Da bot er mir eine von den Landstrecken an, die er hier überall angekauft hat, um die Ansiedlung in der Hand zu behalten. Es ist ein Terrain, aus dem man bei uns ein paar Rittergüter schneidet. Ich weigerte mich anfangs und wollte es nur pachtweise übernehmen.«

»Warum? Der Dank war redlich verdient, und ein Mann wie Morland kann auch fürstlich danken.«

Guntram lachte. »Ich kam auch nicht auf gegen diesen Amerikaner. Er hat eine ganz merkwürdige Art, mit den Menschen umzugehen. Er sah mich halb mitleidig, halb spöttisch an und sagte mit vollster Gelassenheit: ›Haben Sie bei uns noch nichts gelernt? Großmut – Zartgefühl – Unsinn! Das ist ein Geschäft zwischen uns beiden, weiter nichts. Hätten Sie sich damals nicht an die Spitze gestellt, so wären meine Ingenieure und Beamten geflüchtet und hätten die Werke preisgegeben. Sie haben mir Millionenwerte erhalten und ich bin nicht gewohnt, etwas schuldig zu bleiben. Ich zahle jetzt die Schuld ab, und übrigens haben Sie bei mir beliebigen Kredit für die erste Einrichtung – dann sind wir quitt.‹«

»Das sieht ihm ähnlich!« bestätigte Siegwart. »Bei dem Manne ist alles Geschäft. Du hast ihm Geldwerte erhalten, er zahlt mit Landwerten dafür. Ein Wort herzlicher, warmer Anerkennung hat er schwerlich für dich gehabt.«

»Nein, aber er brachte es wirklich dahin, daß ich mich meiner Bedenken schämte und zugriff. Den angebotenen Kredit brauchte ich glücklicherweise nicht. Das kleine Kapital, das ich mit herüberbrachte, war noch unangerührt, und Hofstetter, der nur auf eine solche Gelegenheit wartete, gab sein Vermögen dazu. Damit schufen wir die Bauten und die notwendigsten Einrichtungen, und dann ging es los mit dem Kultivieren des Bodens. Er ist vorzüglich und lohnt reichlich jede Mühe. Morgen reiten wir die ganze Farm ab. Du wirst dich wundern, wie tüchtig wir schon vorwärts gekommen sind.«

»Das beste von deiner Farm habe ich ja schon gesehen,« sagte Siegwart heiter. »Deine Frau und die Kinder.«

»Ja, mein Klein-Rottraud!« Adalberts Augen strahlten aus. »Du ahnst es gar nicht, was sie mir gewesen ist, zumal in den ersten, schweren Jahren. Ich war doch ein Mann, aber mir ist es hart genug gewesen, das ganze frühere Leben über Bord zu werfen, sie fügte sich in alles. Nie ein Murren, nie eine Klage! Immer froh und zufrieden bei all den Entbehrungen, an die sie doch so wenig gewöhnt war wie ich. Und was hat sie aushalten müssen. Nicht einmal einen Arzt habe ich ihr schaffen können, als unser Hermann geboren wurde, und es wäre doch so notwendig gewesen. Und als die Revolte losbrach und die zügellose Bande uns und die Werke bedrohte – da hättest du die Traudl sehen sollen, wie tapfer sie mit uns stand in der Gefahr! Solch eine Frau gibt es nicht leicht zum zweitenmale!«

»Gewiß, du hast ein Glückslos gezogen mit deiner Ehe,« sagte der Jugendfreund ernst.

Da tönte eine neckische Stimme von der Tür her: »So machen Sie es ihm doch nach, Hermann! Warum haben Sie noch immer nicht nach dem Glückslos gegriffen?«

»Weil ich die rechte noch immer nicht gefunden habe,« scherzte Hermann.

Frau Traudl, die jetzt ihre Mutterpflichten erledigt hatte, erschien auf der Veranda und nahm zwischen den beiden Herren Platz. Sie hatte ihr frohes, helles Lachen behalten, als sie erwiderte: »Dann wird es eben Zeit, daß Sie ernstlich suchen. Wir haben solange schon auf Ihre Verlobungsanzeige gewartet – fast solange wie auf Ihren Besuch.«

»Ich konnte nicht kommen, Frau Traudl, es ging nicht an. Die paar Wochen Erholung, die ich mir jährlich im Sommer gönnte, hätten nicht ausgereicht zu der Reise hierher, und ich habe es mir nicht nehmen lassen, mein erstes, großes Werk vom Anfang bis zum Ende selbst zu leiten. Jetzt endlich habe ich mich frei gemacht auf ein volles Jahr, denn es soll ja zugleich eine Studienreise werden. Ich will mir die Städte Amerikas ansehen, in Nord und Süd. Schon mein Aufenthalt in Neuyork hat mir gezeigt, wie viel es hier für mich noch zu sehen und zu lernen gibt.«

»Und unser Hilltown? Was sagst du dazu? Du bist freilich nicht lange dagewesen.«

»Weil es mich zum Wiedersehen hierherzog, aber ich fahre nächstens auf ein paar Wochen hinüber, denn diese werdende Großstadt ist mir ungemein interessant. Es ist fast unglaublich, was Morland und seine Gesellschaft in einem einzigen Jahrzehnt da förmlich aus dem Boden hervorgestampft haben. Das nennt man Tatkraft! Soweit sind wir allerdings noch nicht in Deutschland.«

»Er regiert sein Reich aber auch absolut,« sagte Guntram. »Es geschieht in und um Hilltown nichts ohne seinen Willen. Du wirst ihn doch aufsuchen?«

»Nein! Wir sind nicht besonders freundschaftlich geschieden und er gehört zu den Menschen, die nichts vergessen.«

»Sie glauben, er grollt Ihnen noch, weil Sie damals in Deutschland geblieben sind?« fragte die junge Frau, die ebenso wie ihr Mann, nur von der Absage für Hilltown wußte. »Sie haben Ihren Entschluß ja glänzend gerechtfertigt und eine persönliche Berührung wird sich doch nicht vermeiden lassen. – Alice kommt in den nächsten Tagen.«

»Wer? Die Gräfin Ravensberg?« Das klang überrascht, aber vollkommen ruhig.

»Jawohl, sie kommt oft herüber. Die Fahrt nach Barkley dauert ja nur drei Stunden und die Waldstrecken da drüben sind auch Morlandscher Besitz. Alice liebt die Jagd leidenschaftlich, da nimmt sie gewöhnlich bei uns ihr Standquartier und bleibt manchmal wochenlang.«

»So? Die Gräfin lebt ja jetzt wohl dauernd in Hilltown bei dem Vater, ich dächte, Adalbert hätte es mir geschrieben. Und wie ich vor meiner Abreise hörte, sind die Ravensbergschen Güter verpachtet seit dem Tode des Grafen Bertold.«

Er sprach so gleichgültig, als rede er wirklich nur von einer fernen, flüchtigen Bekanntschaft, und das war offenbar nicht erzwungen.

»Ja, der arme Bertold!« fiel Traudl ein. »Daß er so jung sterben mußte, mit zweiunddreißig Jahren!«

»Er war ja immer kränklich,« meinte Adalbert, »und dazu dies rastlose, aufregende Leben! Seine Frau schleppte ihn in der ganzen Welt herum. Bald waren sie in Ägypten, bald in Norwegen, dann gingen sie zur Abwechslung wieder nach Indien oder machten dem Vater in Amerika einen Besuch. Frau Alice brauchte immer neue Sensationen und ihr Wille galt doch allein. Ob ihr Mann das aushielt, danach fragte sie nicht.«

»Das war es nicht,« sagte die junge Frau leise. »Ich will es dir sagen, woran er gestorben ist – an der Verachtung seiner Frau!«

»Aber Traudl!«

»Ich weiß es! Als sie das letzte Mal in Hilltown waren, da hat er es mir bekannt, wie furchtbar er darunter litt. Vor der Welt galt es ja für eine glückliche Ehe. Sie wohnten und reisten zusammen, und man hörte nie von einem Zerwürfnis, aber seit dem Tode des Onkels Ravensberg war alles verschüttet. Da war Bertold nur noch geduldet bei seiner Frau – Rechte hatte er nicht mehr bei ihr. Alice war ja nicht schuldlos an diesem Tode, zu mindestens hat sie ihrem Vater freie Hand gelassen, aber der Ausgang hat sie schwer getroffen. Ich war ja bei ihr, als die Nachricht kam. Ich glaube, sie hat das noch heute nicht verwunden, und das mußte der arme Bertold büßen.

»Er büßte nur seine eigene Schwäche,« sagte Siegwart kalt. »Warum ließ er den Vater so schmählich im Stich? Weil er Furcht hatte vor der Armut, vor der Möglichkeit, arbeiten zu müssen. Er zog es vor, der Mann seiner reichen Frau zu bleiben und sich als ein höherer Lakai behandeln zu lassen – es war seine Schuld allein.«

Diesen Angriff auf ihren Jugendfreund ertrug Klein-Rottraud nicht, sie flammte entrüstet auf.

»Seien Sie doch nicht so hart und grausam, Hermann! Was konnte Bertold dafür, daß er so weich geschaffen war. Und es war auch noch etwas anderes. Er konnte nicht lassen von seiner Frau. Sie hat das freilich nie erwidert und ihn fast zur Verzweiflung getrieben mit ihrer eisigen Kälte, zumal in der letzten Zeit – aber er kam nicht los von dieser Leidenschaft.«

»Soll das ein Milderungsgrund sein, Frau Traudl?« fragte Siegwart herb. »Ein Mann, der da weiß, daß seine Frau ihn verachtet und doch um Liebe bettelt bei ihr – wir wollen lieber abbrechen. Ich möchte Sie nicht verletzen mit meinem Urteil.«

»Ja, es hat nicht jeder Eisen im Blut wie du,« warf Guntram ein. »Wir wundern uns nur beide, daß Frau Alice noch nicht wieder vermählt ist. An dem Namen und der Grafenkrone hängt sie doch nicht, denn Morland zählt jetzt zu unseren Dollarfürsten. Seine einzige Tochter und Erbin kann sich irgend einen europäischen Herzog oder Prinzen leisten, wenn sie will, aber man hört noch nichts davon.«

Das Ehepaar erhob sich jetzt, um in das Haus zu gehen, während Siegwart noch eine Viertelstunde draußen blieb. An die Brüstung der Veranda gelehnt, blickte er, wie in Gedanken verloren, hinaus in die zunehmende Dämmerung.

Er hatte eine Wiederbegegnung mit Morland und seiner Tochter vermeiden wollen, aber wenn es nicht möglich war – ihn ließ das jetzt sehr ruhig. Das Vergangene lag so weit und fern, als liege es um Jahrzehnte zurück. Er hatte es ja stets gewußt, diese Leidenschaft war nur eine Krankheit, ein Fieber in seinem Blute gewesen, weiter nichts. Und mitten in dem Rausch hatte es klar und unerbittlich vor seiner Seele gestanden, daß die Frau, nach der sein Herz und seine Sinne so stürmisch verlangten, nur mit dem Aufgeben seiner ganzen Persönlichkeit zu erkaufen war, daß dies ersehnte Glück das Unglück seines Lebens werden würde. Jetzt war er genesen, jetzt stand er mitten in einem Leben voll großer Aufgaben, voll mächtigen Emporstrebens, und es hatte ihm alles gegeben.

»Alles?« Das kam wie ein Hauch, wie eine leise geflüsterte Frage aus dem dämmernden Nebel, der da über der Wiese webte, aber wie zu einer Antwort richtete er sich trotzig aus.

»Ja – alles! Nur so weiter vorwärts! Noch höher hinaus! Mehr will und fordere ich nicht vom Leben!«


Drüben, an der Grenze der Farm, wurde fleißig gerodet. Ein halbes Dutzend Neger, unter einem weißen Aufseher, waren an der Arbeit, um die alten Waldriesen niederzulegen. Einige davon lagen schon am Boden und die Zeichen der Axt an den Stämmen der anderen ließen erkennen, daß auch sie dem Tode geweiht waren. Es wurde wieder ein Stück Kulturland dem Urwald abgewonnen.

Am Rande der Lichtung stand Hofstetter mit Siegwart, der mit großem Interesse der Arbeit zusah.

»Adalbert hat recht, ihr seid schon tüchtig vorwärts gekommen,« sagte er. »Wie lange wird es noch dauern, dann habt ihr euren ganzen Grund und Boden kultiviert?«

»Ich denke, drei bis vier Jahre,« schmunzelte Hofstetter. »Wir sind aber auch tüchtig an der Arbeit gewesen, Guntram immer voran! Ja, er hat sich gemacht, der Herr Leutnant, und mein Baroneßchen ist eine glückliche Frau geworden. Der Wald hier muß herunter, bis auf den letzten Stamm. Da drüben bei dem Wasserlauf fängt schon Morlandsches Gebiet an. Das geht ein paar Meilen weit und wird weder verkauft noch besiedelt, weil die Gräfin ihr Jagdvergnügen haben will.«

»Hat sie eine solche Vorliebe dafür? Sie kommt ja heute.«

»Ja, und eigentlich habe ich Sie gerade deswegen mitgeschleppt, Hermann. Wir brauchen nicht auch in Reihe und Glied zu stehen bei dem allerhöchsten Besuche. Das ganze Haus steht ja schon Kopf. Guntram und Saleck sind nach der Bahnstation geritten, um Ihre Majestät zu empfangen, der Hermann trägt seinen neuen Matrosenanzug, die Kleinen stecken in weißen Kleidern und Frau Traudl hat überhaupt für nichts anderes Sinn mehr.«

Das klang ärgerlich und gereizt. Hofstetter hatte seinen alten Groll gegen die »Goldprinzessin« offenbar noch immer nicht überwunden. Hermann lächelte.

»Frau Traudl freut sich aber wirklich darauf. Die Gräfin scheint ihr die alte Freundschaft bewahrt zu haben.«

»Ja,« brummte der ehemalige Förster. »Unsere Traudl ist das einzige auf der Welt, was sie wirklich lieb hat. Über die anderen Menschen hat sie ja früher schon so hinweggesehen, als wären es Erdkrümel. Und nun vollends jetzt! Sie haben Morland nur in Ravensberg gekannt, Hermann. Da war er nur ein simpler Millionär, und das will gar nicht viel sagen hier bei uns. Seit er der Herr und Gebieter von Hilltown ist, steckt er die Millionen nur so in die Tasche, wie unsereins früher die Groschen. Wenn er durch die Straßen fährt, dann fehlt nicht viel, daß sie sich platt auf den Bauch legen vor ihm, wie die Chinesen. Eigentlich kann man es ihm und seiner Tochter nicht übel nehmen, wenn sie meinen, die ganze übrige Menschheit wäre nur dazu da, ihnen die Schuhe zu putzen. Das Geschmeiß, das immer um sie herum ist, verdient es nicht besser.«

»Ja, das ist der Fluch dieses uferlosen Reichtums,« sagte Hermann ernst. »Er wird mit dem Glauben an die Menschen erkauft.«

Hofstetter nickte. »Stimmt! Und nun erst die Gräfin, die einzige Erbin! Was nur zum Mannsvolk gehört, rennt sich die Köpfe ein, sobald sie in Sicht ist. Jeder meint, er könnte den Vogel abschießen und die Milliarde einstecken. Ich glaube, Saleck hat sich auch schon etwas in den Kopf gesetzt, weil er ein paarmal mit ihr auf die Jagd reiten durfte, wenn sie hier war. Das könnte ihm passen, dem Junker von Habenichts! Er soll sich nur nichts einbilden. Unter einem Prinzen tut sie es jetzt nicht.«

»Wer und was ist dieser Saleck eigentlich? Ein früherer Kamerad Adalberts, das weiß ich, aber jetzt scheint ihm nicht viel zum Abenteurer zu fehlen.«

»Etwas anderes ist er auch kaum. Dem ist's ähnlich ergangen wie Guntram, aber schlimmer. Es ist ja alter, deutscher Adel, die Saleck-Rotkirchen, und ihre Güter liegen irgendwo am Rhein. Aber das Majorat steht unter Sequester und der Majoratsherr wird von den Gläubigern erhalten mit einer kleinen Jahresrente. Der jüngere Bruder war Offizier und machte Schulden, immer lustig drauf los. Da kam der Krach in der Familie und da mußte er fort, mit schlichtem Abschied. Er ging übers Meer, um sein Glück zu suchen, hat es aber nicht gefunden. Ein paar Jahre war er in Südamerika, dann kam er nach Hilltown, und da hat ihn Guntram aufgegriffen. Jetzt ist er hier bei uns seit drei Monaten.«

»Mir ist er nicht besonders sympathisch,« bemerkte Siegwart kühl. »Solche Naturen, die nirgends Wurzel fassen und immer auf der Jagd nach einem Glücke sind, das ihnen mühelos in den Schoß fallen soll, sind mir zuwider.«

»Mir auch,« bekräftigte Hofstetter, »und dabei höhnt und spottet er über alles. Na, verbittert ist er ja, das Leben ist ja nicht gerade glimpflich mit ihm umgegangen. Aber nun kommen Sie, Hermann, wir müssen nach Hause. Wir dürfen heute nicht warten lassen.«

Er ging zu dem Aufseher, dem er noch einige Weisungen gab und dann traten beide den Rückweg an.

Im Guntramschen Hause herrschte allerdings ein ungewohntes Leben, denn vor einer Stunde war Alice Ravensberg angekommen, in einem kleinen, nur für diese Waldfahrten bestimmten Wagen. Sie nahm ihr Absteigequartier stets in der Farm. Im oberen Stock waren drei Zimmer eigens für sie eingerichtet worden und standen ein- für allemal zu ihrer Verfügung. Sie hatte, wie sonst, nur ihre Kammerfrau und ihren Stallmeister mit zwei sehr schönen Pferden für die weiteren Ausflüge mitgebracht. Sie wollte hier »ganz einfach« leben.

Die beiden Guntramschen Jungen prügelten sich heute ausnahmsweise nicht. Erstens war ihnen das streng verboten in Gegenwart der Tante Alice, und zweitens hatten sie eine heilsame Scheu vor der vornehmen Tante, die ihnen zwar stets eine große Schachtel voll Süßigkeiten mitbrachte, aber sonst nicht viel Notiz von ihnen nahm. Augenblicklich saßen sie einträchtig auf den Stufen der Veranda, denn sie hatten sich in die mitgebrachten Näschereien vertieft, und Klein-Alice krähte vergnügt auf dem Schoße ihrer Mutter, die neben dem Gaste saß.

Alice lag nachlässig in einem der Bambusstühle und hörte der jungen Frau zu, die lebhaft und munter plauderte. Die Gräfin war noch immer blendend schön, mit ihren neunundzwanzig Jahren, schlank, kühl und stolz, wie damals, als sie Bertold Ravensberg ihre Hand reichte. Und doch war sie verändert. Es fehlte die einstige Frische und Elastizität, jene geistige und körperliche Energie, die es ihr möglich machte, in wenigen Jahren alles zu erschöpfen, wozu andere ein ganzes Leben brauchen. Es lag ein Ausdruck von Müdigkeit in ihren Augen, in ihrer ganzen Haltung, und jenes hochmütige Selbstbewußtsein, das einen hervorstechenden Zug ihres Wesens bildete, war einer Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit gewichen, die sich selbst hier, im Gespräch mit ihrer Freundin, verriet. Sie lächelte ja, als Traudl mit dem ganzen Stolze einer jungen Mutter von ihren Kindern berichtete, aber es war ein mattes Lächeln, ohne Heiterkeit.

»Ich freue mich so, dich wieder einmal hier zu haben!« sagte die junge Frau herzlich. »Lange wird es freilich nicht mehr dauern. Dein Vater will dir ja ein eigenes Jagdhaus bauen da drüben. Dann residierst du natürlich dort und kommst nur auf flüchtige Besuche zu uns herüber.«

»Würde dir das leid tun?« fragte Alice, ohne ihre Stellung zu ändern.

»Wie kannst du nur so fragen – wehe würde es mir tun! Aber freilich, du vermissest so vieles hier bei uns und mußt unser einfaches Leben teilen. In deinem Jagdschloß – denn es wird wohl ein Schlößchen werden – kannst du die gewohnten Umgebungen haben, deine Dienerschaft –«

»Jawohl! Dann würde ich wieder den ganzen Troß mitschleppen, müßte Besuche aus Hilltown empfangen, Jagdgäste einladen; sei ruhig, Kind, es wird nichts daraus. Papa hat allerdings die Idee gehabt und sogar schon den Bauplan entwerfen lassen, ich habe ihn aber gebeten, davon abzustehen. Ich will bei dir sein, wenn ich hinauskomme, will auch einmal leben und Menschen um mich sehen.«

»Wie das klingt! Lebst du denn nicht in Hilltown, unter all den Menschen?«

»Nein – da langweile ich mich nur.«

Traudl lachte fröhlich auf.

»Das kenne ich freilich nicht. Ich habe gar keine Zeit, mich zu langweilen, am wenigsten jetzt, wo wir zwei so liebe Gäste im Hause haben – dich und Hermann Siegwart! Du weißt es doch schon, daß der Jugendfreund meines Mannes angekommen ist?«

»Ja, Guntram erzählte es mir während der Fahrt.«

Das klang genau so kühl und gleichgültig, wie die früheren Bemerkungen, aber die junge Frau rief lebhaft: »O, wir haben uns so gefreut, als er endlich kam! Wir verdanken Hermann ja so vieles. Wäre er damals nicht so energisch eingetreten für uns, auch bei deinem Vater, wer weiß, wann und wo Adalbert sich dann eine neue Existenz hätte gründen können. Doch das weißt du ja alles.«

»Ja, so ungefähr! Ich glaube, Papa interessierte sich für diesen Siegwart und sein Talent. Ist denn etwas aus ihm geworden?«

»Aber Alice!« fuhr die junge Frau fast beleidigt aus. »Ob etwas aus ihm geworden ist? Hermann Siegwart! Der Schöpfer des Nationalmuseums in Berlin, eine der ersten, künstlerischen Größen, eine unserer Berühmtheiten! Er siegte ja schon damals in der Preisbewerbung über unsere ersten Architekten und schlug deshalb das Anerbieten deines Vaters aus, mit nach Hilltown zu gehen. Hast du denn das alles vergessen? Mr. Morland weiß sicher besser Bescheid über ihn und seine Leistungen.«

»Möglich, Papa hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis,« sagte Alice nachlässig. »Aber du ereiferst dich ja förmlich darüber. Für euch war das eben Freundschaftssache, mich hat es damals nicht viel interessiert und jetzt liegt es um Jahre zurück. Wer kann denn alles im Kopfe behalten!«

Traudl sah noch immer etwas gekränkt aus. Für sie war freilich in jener Zeit die Entscheidung über ihr Leben gefallen. Jetzt aber wurden die Jungen unten lebendig. Sie ließen ihre Schokolade im Stich und rannten hinüber, wo eben Onkel Hermann und Hofstetter in Sicht kamen und dem Hause zuschritten.

Hofstetter machte seine »Reverenz« so stramm und militärisch, wie einst vor seinem alten Herrn Baron. Er wußte, was sich gehörte vor der Tochter William Morlands. Sobald er sich aber dieser unbequemen Pflicht entledigt hatte, schlug er sich schleunigst seitwärts und verschwand in einem der Wirtschaftsgebäude, während Siegwart die Stufen hinaufschritt.

»Da sind Sie ja, Hermann!« rief die junge Frau Guntram. »Wir haben eben von Ihnen gesprochen, aber Sie brauchen sich nichts einzubilden darauf. Gräfin Alice erinnert sich Ihrer kaum noch.«

Hermann verbeugte sich mit voller Unbefangenheit.

»Ich bin auch nicht so kühn, einen Platz in der Erinnerung der Frau Gräfin zu beanspruchen,« versetzte er. »Ich habe ja hauptsächlich mit Mr. Morland verkehrt.«

Alice hatte sich halb aufgerichtet und reichte ihm die schöne, kühle Hand, die er nur ganz flüchtig berührte.

»Jedenfalls freue ich mich, Sie wiederzusehen, Mr. Siegwart. Sie waren bereits in Hilltown, wie mir Guntram sagte?«

»Nur vorübergehend, da ich hier erwartet wurde. Aber ich hoffe, diese großartige Schöpfung Mr. Morlands noch eingehend kennen zu lernen.«

»Und dann werden Sie meinen Vater doch aufsuchen? Er interessierte sich stets für Sie und wird gern die Gelegenheit ergreifen, Sie wiederzusehen.«

»Ich werde nicht verfehlen.« Das klang in höflicher Zustimmung, und doch lag etwas in dem Tone Siegwarts, das verriet, er werde der Einladung nicht nachkommen. Er nahm den Damen gegenüber Platz und begann eine Unterhaltung, bei der er und Traudl hauptsächlich die Kosten trugen. Die Gräfin nahm nicht allzuviel teil daran. Sie war in ihre lässig bequeme Stellung zurückgesunken, und während sie hie und da eine Bemerkung einwarf, musterte sie den Baurat wie einen völlig Fremden.

Er hatte sich unleugbar zu seinem Vorteil verändert. Das Männliche, Energische in seiner Erscheinung trat jetzt schärfer und ausgeprägter hervor, und seine Haltung zeigte, daß er gewohnt war, in jedem Kreise zu verkehren und sich zu behaupten. Es war die ruhige Überlegenheit eines Mannes, der, ohne jede Überhebung, doch weiß, was er wert ist und welche Stellung ihm gebührt. In früheren Zeiten hatte er diese Freiheit und Sicherheit des Benehmens nicht gekannt, die ihm jetzt zur zweiten Natur geworden zu sein schien.

Freilich das, was einst die junge Amerikanerin so seltsam angezogen hatte, jenes blitzartige Hervorbrechen eines stürmischen, nur mühsam gebändigten Temperamentes, jenes halb unbewußte Aufflammen einer verschlossenen und doch tief leidenschaftlichen Natur war verschwunden. Er saß ihr gegenüber und sprach von seinen Reiseeindrücken, seinem Aufenthalt in Neuyork, sprach seine Bewunderung über das schnelle Wachstum von Hilltown aus und erörterte seine weiteren Reisepläne, die sich bis Südamerika hin erstreckten.

Und das war derselbe Mann, der damals vor ihr gestanden hatte, im Kampfe mit einer Leidenschaft, der er nicht unterliegen wollte, und die doch sein ganzes Wesen in Glut und Flammen setzte. In dem jede Fiber bebte, als sich das Geständnis aus seinem Inneren losrang, widerwillig, erzwungen, aber ein Liebesgeständnis! Der Mann, der sich schließlich doch losriß, weil er sich nicht knechten lassen wollte. War das denn je überhaupt gewesen? Jetzt erschien alles an ihm so maßvoll, so korrekt, jetzt war er wie all die anderen, die Alltagsmenschen. Er hatte ja Karriere gemacht, war bekannt und berühmt geworden, und dabei war der alte Hermann Siegwart mit seiner, trotz aller Schroffheiten, doch so mächtig anziehenden Persönlichkeit zu Grunde gegangen – schade darum!

Jetzt erschienen Guntram und Saleck auf der Veranda, der letztere in einem ganz neuen Sportsanzuge, und er schien damit auch einen neuen Menschen angezogen zu haben. Sonst sah man es ihm doch sehr an, daß er mehr als ein Jahrzehnt lang ein Abenteurerleben geführt hatte, jetzt, in Gegenwart der Gräfin Alice, zeigte er nur den Kavalier, den einstigen Offizier eines der vornehmsten Regimenter, der die Formen der Gesellschaft noch vollkommen beherrschte. Er faßte sofort Posto neben ihrem Stuhl, und das wurde nicht ungnädig aufgenommen. Sie sah zu ihm empor und fragte flüchtig: »Werden wir diesmal eine gute Jagd haben, Baron Saleck?«

Seine Augen blitzten auf. Wir! Darin lag ja das Zugeständnis, daß er sie auch diesmal begleiten durfte.

»Über Erwarten gut,« bestätigte er lebhaft. »Ich habe bereits Ihr ganzes Jagdgebiet durchstreift, Frau Gräfin, um die besten Standplätze für Sie auszusuchen. Wir können diesmal sogar auf eine Bärenjagd rechnen. Ich habe die Fährten gefunden.«

Das müde Antlitz der jungen Frau belebte sich.

»Ah, das wäre endlich einmal interessant. Es ist selten genug geworden, seit die Ansiedlungen in der Umgegend sich so mehren.«

»Du bist doch auch dabei, Hermann?« fragte Guntram. »Das ist etwas anderes als die zahme Jagd in unseren deutschen Wäldern.«

»Ist der Herr Baurat auch Jäger?« fragte Saleck kühl. Guntram lachte.

»Aber Dietrich, wie kannst du einen Förstersohn so fragen! Der schießt und trifft besser als du und ich.«

»Ich habe allerdings schon in meinem vierzehnten Jahre die Büchse in der Hand gehabt,« versetzte Hermann ruhig. »Und ich hoffe, doch nicht so ganz aus der Übung gekommen zu sein, um hier zu versagen.«

»Wenigstens sind Sie ein guter Reiter, Herr Baurat,« bemerkte Saleck, mit einer Nachlässigkeit, die etwas Absichtliches hatte. »Überraschend gut für jemand, der in Berlin lebt.«

»Ich habe keine Zeit zum Spazierengehen und muß mir doch die nötige Bewegung machen. Da habe ich mir ein Reitpferd angeschafft und reite täglich in den frühen Morgenstunden. Man braucht nicht gerade die Urwälder, um sattelfest zu sein, Herr Baron.«

Traudl lachte laut auf.

»Wie komisch das klingt, wenn die Herren sich so feierlich ihre Titel geben! Wir sind das hier gar nicht mehr gewohnt.«

»Nein, Frau Guntram, wir nicht,« spottete Saleck. »Aber die Herren Europäer legen unendlichen Wert darauf, und dem muß man Rechnung tragen.«

»Die Europäer – zu denen Sie doch wohl auch gehören?« warf Siegwart ein.

»Früher! Ich habe den ganzen Plunder längst über Bord geworfen. Aber ich respektiere durchaus Ihren Titel, Herr Baurat.«

»Ich verachte ihn nicht gerade, denn er ist erworben. Es liegt immerhin eine Summe von Arbeit und Können darin, wenn ich auch nicht besonderen Wert darauf lege. Mit ererbten Titeln ist das freilich etwas anderes. Vor denen ist mein Respekt noch größer als der Ihrige – Herr Baron!«

Saleck biß sich auf die Lippen und ein wütender Blick schoß auf den Mann, der seinen Spott so meisterhaft zu parieren und auf ihn selbst zurückzuwerfen verstand. Gräfin Alice amüsierte sich offenbar bei diesem Geplänkel, aber Guntram, dem der gereizte Ton der beiden nicht entging, hielt es doch für nötig, einzugreifen.

»Ich denke, ihr haltet es beide mit unserer amerikanischen Sitte,« meinte er. »Sie ist hier besser am Platze. Also – Herr von Saleck – Herr Siegwart – wir sprechen ja immer deutsch in der Familie. – Hast du den prächtigen Goldfuchs schon gesehen, Hermann, den die Gräfin diesmal mitgebracht hat? Ein herrliches Tier! Komm, ich muß es dir zeigen!«

Hermann verstand den Wink und ging sofort darauf ein. Er hatte keine Lust, sich mit diesem Fremden herumzustreiten. Sie gingen nach den Ställen hinüber. Auch Traudl erinnerte sich jetzt ihrer Hausfrauenpflichten und nahm die Kinder mit sich, während die beiden anderen auf der Veranda zurückblieben.

»Sie haben den kürzeren gezogen, Baron,« sagte Alice spöttisch. »Mr. Siegwart versteht es, sich zu wehren.«

»Oder vielmehr, er wurde ausfallend. Das ist überhaupt seine Stärke, ich habe bereits Proben davon erhalten.«

»Und diesmal hatte er sogar das große Unrecht – recht zu haben, als er Ihnen die Lehre gab.«

Saleck schwieg und nagte an seiner Unterlippe, dann, nach einer Pause, fragte er plötzlich ganz unvermittelt: »Glauben Sie an Vorahnungen, Frau Gräfin?«

»Nein!« war die kalte Antwort.

»Nun denn, an gewisse Instinkte der Menschenseele. Dieser Siegwart war mir völlig fremd, ich hatte ihn nie vorher gesehen, und doch, als er mir das erste Mal gegenübertrat, da fühlte ich – von dem Manne droht dir etwas! Das ist ein Feind! Wahre dich vor ihm!«

»Aberglaube!«

»Möglich, aber wenn solch ein Gefühl plötzlich aufwacht, ohne jeden Grund, mit so unheimlicher Klarheit, dann glaube ich ihm – und werde mich wahren!«

Alice zuckte halb mitleidig die Achseln.

»Haben Sie auch romantische Anwandlungen? Sonst spielen Sie ja immer den Realisten. Aber nun zu unserer Jagd! Wollen Sie auch diesmal mein Kavalier dabei sein?«

Der Strahl flammte wieder heiß aus in den Augen Dietrichs.

»Ob ich will? Gräfin, Sie wissen es doch am besten, daß das eine Gunst ist, eine unverdiente!«

»Nun, so verdienen Sie sich diese Gunst – aber da werden wir zu Tische gerufen.«

Traudl kam jetzt in der Tat, um ihren lieben Gast selbst zu holen, und der Baron schloß sich den Damen an. Er konnte es nicht hindern, daß eine wilde, verwegene Hoffnung in ihm aufstieg. »Nun, so verdienen Sie sich diese Gunst!« Den Ton und Blick hatte die schöne Frau früher nie für ihn gehabt. Sie behandelte ihn kühl und hochmütig, wie alles, was in ihre Nähe kam, nur Traudl und Guntram waren Ausnahmen. Sie befahl einfach über ihre Umgebung.

Saleck hatte ja auch wohl manchmal geträumt von einem Märchenglück, das ihm plötzlich aus den Wolken in die Arme fallen sollte, aber er war wirklich zu sehr Realist, um solche Träume ernst zu nehmen. Er, der Abenteurer, der nichts mehr sein nannte, der sich seit zwölf Jahren mit Not und Entbehrungen herumschlug und kämpfte, um nur zu leben! Aber schließlich – einer würde doch den Preis gewinnen, den Millionenreichtum, den die Tochter William Morlands mit ihrer Hand zu vergeben hatte. Einer! – und Dietrich Saleck war doch immerhin der Abkömmling eines alten, deutschen Adelsgeschlechtes. Das allein war ihm geblieben von der Vergangenheit, und das fiel doch vielleicht ins Gewicht, wenn Gräfin Ravensburg sich wieder vermählte. Sie war immer sehr souverän in ihren Entschlüssen – vielleicht auch in ihrer Wahl. –

Hofstetter hatte inzwischen eine neue, ganz unerwartete Bekanntschaft gemacht. Als er in das Wirtschaftsgebäude trat und in den großen Raum, wo die Dienstleute der Farm zu essen pflegten, fand er dort einen Fremden, der am Tische saß und sein Gepäck, eine Art Rucksack, auf die Bank gelegt hatte. Er hatte offenbar gewartet, stand jetzt aber auf und streckte dem Eintretenden die Hand hin.

»Grüß Gott, Herr Landsmann – da bin ich!«

»Wer sind Sie?« fragte Hofstetter, verwundert über die Begrüßung und die deutsche Anrede.

»Der Hans Henning,« war die Antwort, die so vertraulich klang, als sei damit alles gesagt.

»So? Mir ganz unbekannt!«

»Besinnen Sie sich nur, Herr Förster! Ich bin ja auch aus Ostpreußen – da aus der netten Gegend von Ravensberg, Grafenau, Ebershofen.« Er schnurrte die Namen nur so herunter. »Ich bringe Ihnen einen schönen Gruß aus unserer alten Heimat.«

Hofstetter schaute sich den Mann jetzt genauer an, der einen sehr abgerissenen Anzug trug, sonst aber ziemlich wohlgenährt und höchst vergnügt aussah.

»Ich kenne jeden Menschen und jedes Kind aus unserer Gegend,« versetzte er. »Sie habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Wo kommen Sie denn eigentlich her?«

»Von Barkley. Habe da bei unserem Landsmann, dem Winkler, gewohnt, der das deutsche Gasthaus hat. Sie wissen doch, der Sohn von dem alten Inspektor von Grafenau. Der hat mir von Ihnen erzählt und von Ihrer Farm, und da habe ich mir gedacht: an den deutschen Landsleuten darfst du nicht vorbeigehen, denen mußt du Grüß Gott sagen! Und da bin ich!«

»Das sehe ich! Der Winkler hat uns schon manches herausgeschickt, was sich Deutsch nannte und es leider auch war – aber Gescheites war nicht darunter.«

»Ich bin gescheit!« rief Henning, sich auf die Brust schlagend. »Ich bin ein ehrlicher Mann, ein braver Deutscher!«

»Davon kann man aber in Amerika nicht leben. Sie müssen doch sonst etwas sein. Treiben Sie ein Handwerk?«

»Bah, Handwerk – ich bin ein Künstler! Das heißt, eigentlich habe ich studiert, die Gottesgelahrtheit, weil ich einen Onkel hatte, der Pastor war. Ich studierte auch auf den Pastor, bin aber nur bis zum Gymnasium gekommen. Da schlug das Genie bei mir durch. Ich sattelte um und wurde Maler.«

»Aber viel hat das wohl nicht eingetragen?« fragte Hofstetter, mit einem kritischen Blick auf den abgerissenen Anzug des Ankömmlings.

»Künstlerlos – aber uns gehört die Zukunft! Jetzt suche ich Motive für ein neues, großes Bild. Urwaldstimmung – Sonnenuntergang oder -aufgang, wie es gerade paßt – Sie setze ich in den Vordergrund, Herr Förster, als Staffage, es wird großartig werden, und jetzt bitte ich ganz bescheidentlich um ein Abendessen und ein Obdach für die Nacht. Werden Sie das einem Landsmann verweigern?«

»Nein, Sie sprechen wenigstens deutsch. Ostpreußisch sprechen Sie nicht, aber wir haben noch keinen, der bei uns einsprach, hungrig und obdachlos fortgeschickt. Bis morgen können Sie bleiben.«

Damit öffnete Hofstetter die Türe zu der anstoßenden Küche und rief ein paar Worte hinein, als ihm die beiden jungen Herren Guntram in die Hände liefen. Sie wollten sich den fremden Mann, den Tommy vorhin in Empfang genommen hatte, einmal genauer ansehen, und wurden von ihm höchst freundschaftlich begrüßt.

»Ah, die Kinder! Die Söhne von dem Herrn Guntram – nicht wahr? Kommt einmal her! Wie heißt ihr? Hermann und Ady. Schön! Willst du reiten, Ady?« Damit hob er den Kleinen auf seine Kniee und ließ ihn lustig hopsen, während er, zu dem Förster gewandt, erklärte: »Ich bin ein großer Kinderfreund. Habe ja selbst Kinder gehabt – sechs Stück. Natürlich auch die Frau, die dazu gehört, und eine alte Großmutter.«

»Wo sind sie? Hast du sie alle mitdebracht?« fragte Ady, und Hermann reckte den Hals nach dem Fenster, denn er war auch der Meinung, diese ganze achtköpfige Familie stehe draußen und begehre Einlaß. Aber Hans Henning schüttelte wehmütig den Kopf.

»Die sind überhaupt nicht mehr! – Alle tot und begraben – auch die Frau, auch die alte Großmutter. Ja, das ist eine sehr traurige Familiengeschichte! – Was willst du, Kleiner? Galopp reiten – das können wir machen. Hopp, hopp, Hurra!« Und er ließ den Ady reiten, daß dieser laut aufjauchzte.

»Sie scheinen die traurige Geschichte ganz heiter zu nehmen,« bemerkte Hofstetter.

»Was will man machen, Herr Förster, Schickung des Himmels – die muß man tragen. Aber es ist trostlos, so im Leben allein zu stehen, als verwaister Witwer und Familienvater. Und ich bin so sehr für die Familie. Was meint ihr, Jungen, soll ich bei euch bleiben?«

Die beiden Jungen schienen dem Vorschlage nicht abgeneigt zu sein, aber Hermann erkundigte sich erst vorsichtigerweise: »Kannst du auch Geschichten erzählen?«

»Von der droßen Schlange,« ergänzte Ady.

Der verwaiste Familienvater zuckte verächtlich die Achseln.

»Bah, Schlange – das ist gar nichts. Von einer Seeschlacht kann ich euch erzählen, wo ich selbst dabei war. Das hättet ihr sehen sollen, wie unser Schiff in Brand geschossen wurde, wie die Pulverkammer in die Luft flog – wir alle mit in Stücke zerrissen!«

»Aber du bist doch noch ganz und lebendig,« warf der etwas kritisch angelegte Hermann ein.

»Ich bin davongekommen, ich allein von fünfhundert. Ich fiel ins Wasser und schwamm ans Land. Ja, man erlebt allerlei, wenn man, wie ich, seit fünfzehn Jahren durch die ganze Welt zieht!«

»Was?« fuhr Hofstetter entrüstet aus. »Seit fünfzehn Jahren ziehen Sie durch die Welt und bringen mir einen nagelneuen Gruß aus der Heimat? Das ist ja der reine Schwindel!«

Hans Henning geriet keineswegs aus der Fassung bei diesem Vorwurf, er entgegnete kaltblütig: »Heimat bleibt Heimat und Gruß ist Gruß! Ich habe ja nicht gesagt, daß er nagelneu ist. – Ah, da kommt das Essen – Gott sei Dank! Seit acht Tagen habe ich keinen Bissen gegessen, gar nichts und auch nichts getrunken!«

»Jetzt hören Sie aber endlich auf mit dem Lügen!« unterbrach ihn der Förster ärgerlich. »Wir haben schon einen im Hause, der das besorgt, der Tommy, aber der ist der reine Waisenknabe gegen Sie. Satt essen können Sie sich bei uns und ein Nachtquartier werden Sie auch bekommen, bis morgen, länger nicht. Verstanden? Kommt mit, ihr Jungen!«

Er ging hinaus, die Jungen kamen aber nicht mit. Sie wollten wissen, wie das war, wenn jemand acht Tage lang nichts gegessen hatte und nun endlich etwas bekam. Sie stellten sich deshalb rechts und links von dem Gast aus und sahen mit höchster Wißbegierde zu. Es war wirklich erstaunlich, sie hatten noch nie einen Menschen mit einer solchen Ausdauer und Energie essen sehen.


Unter einem der alten Urwaldbäume, die man hatte stehen lassen, um in der Nähe des Hauses ein paar schattige Plätze zu schaffen, saß Frau Traudl und schaute ihren Sprößlingen zu, die sich auf der großen Wiese tummelten. Klein-Alice machte unter hilfreicher Assistenz ihrer beiden Brüder dort die ersten Gehversuche. Die wilden Jungen sahen ein, daß das Baby noch kein Objekt zum Prügeln war, und behandelten es mit einer gewissen schonenden Ritterlichkeit. Sie hatten das Schwesterchen an beiden Händen gefaßt und lehrten es laufen. Es ging ja noch sehr ungeschickt auf den unsicheren Wackelbeinchen, aber es ging. Schließlich jedoch fand die Kleine die Sache zu unbequem, sie ließ sich auf den Boden nieder und kroch auf allen Vieren vergnügt umher.

Die Brüder leisteten ihr dabei Gesellschaft, indem sie »Wildes Tier« spielten, auch auf allen Vieren, und augenblicklich walzte sich die ganze Gesellschaft im hohen Grase und im hellen Sonnenschein.

Traudl sprach mit Hofstetter, der neben ihr stand, das heißt, sie hielt ihm eine nachdrückliche Strafpredigt, die nur leider nicht viel Eindruck zu machen schien. Klein-Rottraud hatte sich zu einer sehr energischen kleinen Frau entwickelt, die in ihrem Hause das Regiment führte. Ihr Mann ebenso wie Hofstetter tanzten nach ihrer Pfeife, sie regierte die Dienstleute, daß es nur so eine Art hatte, und ihre beiden Jungen hatten mehr Respekt vor ihr als vor dem Vater, denn sie ging gegebenenfalls rücksichtslos mit Ohrfeigen vor. Aber es war nicht zu leugnen, daß die Farm und all ihre Insassen sich wohl befanden unter diesem Regiment.

»Und ich bitte mir jetzt aus, daß du manierlicher wirst,« schloß sie ihre Rede. »Alice ist unser Gast, ist die Tochter Morlands, dem wir alle so viel verdanken, das weißt du doch am allerbesten.«

»Ich tu' ja doch meine Schuldigkeit,« brummte der ehemalige Förster. »Ich mache ihr jedesmal meine Reverenz, wie es sich gehört.«

»Aber mit einem Bärengesicht! Und sobald sie sich zeigt, marschierst du davon. Glaubst du, sie merkt das nicht?«

»Nein, denn für die Frau Gräfin bin ich ja überhaupt nicht da. Sie sind da, Frau TraudI und Guntram und allenfalls auch noch Saleck. Der ist ja auch ›hochgeboren‹! Aber unsereins existiert gar nicht und wenn man auch dreißig Jahre lang in Liebe und Treue seinem alten Herrn gedient hat, man ist eben ein Diener gewesen, weiter nichts. Der großmächtige Mr. Morland macht es gerade ebenso, und das nennt sich freie Amerikaner und will demokratisch angelegt sein. Hol der Kuckuck die ganze gespreizte Gesellschaft!«

Traudl geriet einen Augenblick lang in Verlegenheit, denn es war etwas Wahres an der Sache. Im Guntramschen Hause genoß Hofstetter natürlich Familienrechte und wurde als der allgemeine Onkel des Hauses behandelt, aber für Gräfin Alice war und blieb er der einstige Förster von Grafenau, sie nahm kaum Notiz von ihm. Trotzdem nahm die junge Frau die Bemerkung sehr übel und sagte strafend: »Ein abscheulicher Wunsch – schäme dich, Hofstetter!«

»Ich schäme mich gar nicht,« war die verstockte Antwort. »Ich habe es Ihnen ja schon damals in Uhlenhorst gesagt, Frau Traudl – die müßte einen haben, der sie unterkriegt, aber gründlich. Der arme Graf Bertold verstand das nicht, und Saleck ist auch nicht danach, wenn er auch jetzt so ungeheuer gnädig behandelt wird, daß man sich beinahe Gedanken machen könnte. Der ist viel zu sehr der ergebene Diener, und das verträgt die Frau Gräfin nicht. Die braucht einen Mann, der sie kommandiert. Einer, der nichts fragt nach ihrem Gelde – kurz und gut einen, der sie unterkriegt! Herrgott, wenn ich das erlebte! Ich glaube, ich stellte mich vor Vergnügen auf den Kopf, wie es die Jungen da eben probieren. Ady bringt es nicht fertig, der purzelt, aber der Hermann setzt es wahrhaftig durch – da steht er!«

Der Älteste brachte wirklich das Kunststück zustande, einige Sekunden lang auf dem Kopfe zu stehen. Jetzt kam er wieder auf die Beine und benutzte sie schleunigst, um seinem Vater entgegenzulaufen, der eben mit Siegwart durch den Garten kam.

»Wo seid ihr den ganzen Vormittag gewesen?« empfing sie die junge Frau. »Im Walde?«

»Nein, Frau Traudl, wir waren drüben bei den Maisfeldern und sonstigen neu angelegten Kulturen. Ich bekomme immer größeren Respekt vor Adalbert und auch vor Ihnen, Onkel Hofstetter.« Hermann hatte jetzt auch das anfängliche »Herr Förster« aufgegeben und schloß sich dem allgemein üblichen »Onkel« an. »Wenn das so fortgeht, repräsentiert die Farm ein Vermögen, wenn die Jungen groß geworden sind. Dann laßt ihr sie wirtschaften und zieht euch als reiche Leute zurück.«

»Will's Gott, ja!« sagte Adalbert fröhlich. »Für jetzt heißt es noch tüchtig arbeiten, aber das tun wir gern, wenn es so aufwärts geht. Die erste Rate meiner Schuld habe ich dir ja schon abtragen können und hoffe in den nächsten Jahren den Rest zu zahlen.«

Hermann lächelte. »Wenn es dir so eilt damit – ich brauche es nicht.«

»Das glaube ich. Dein großes Bauwerk hat dir eine hübsche Summe eingebracht, und was hast du inzwischen alles geschaffen an Plänen und Entwürfen! Ja, wenn man erst drin ist in der großen Laufbahn, dann kommt es von allen Seiten. Aber wo bleibt denn heute unsere Gräfin – noch nicht zurück von der Jagd?«

»Sie wollten um die Mittagsstunde heimkommen,« entgegnete Traudl. »Aber Saleck wird wohl wieder unermüdlich sein und alle möglichen Fährten aufspüren. Dem steckt die Jagdleidenschaft auch im Blut.«

»Nun, ob es gerade die Leidenschaft ist,« warf Guntram humoristisch ein. »Erjagen möchte er ja etwas, aber das schöne, stolze Wild ist keine leichte Beute. Es sieht freilich aus, als sollte er Glück haben.«

»Ich begreife Alice nicht,« sagte Traudl nachdenklich. »Als sie das letzte Mal kam, war Saleck ja schon hier und hat sie auch meist auf der Jagd begleitet. Er ist ein guter Jäger, und da war es ihr bequem, ihn zur Seite zu haben, aber im übrigen zeigte sie sich gleichgültig und unnahbar wie immer. Diesmal behandelt sie ihn in einer Weise, daß es kein Wunder ist, wenn er sich verwegene Gedanken macht. Haben Sie das nicht auch bemerkt, Hermann?«

»Ich?« Siegwart, der neben der jungen Frau Platz genommen hatte, zeichnete gleichgültig mit seinem Stocke Figuren in den Sand. »Ich habe wirklich nicht viel darauf geachtet. Übrigens glaube ich nicht, daß Mr. Morland einer solchen Partie zustimmen würde, am wenigsten in seiner jetzigen Stellung.«

Adalbert zuckte die Achseln.

»Morland wünscht vor allen Dingen, daß seine Tochter sich wieder vermählt, wünscht es dringend und mit vollem Recht. Was soll denn aus dem Riesenvermögen werden, wenn sie Witwe und kinderlos bleibt? Er hat allerdings wohl die hohe europäische Aristokratie im Auge – in dem Punkte hat der kühle, klare Selfmademan auch seine Achillesferse – aber wenn Alice ernstlich will, gibt er nach. Sie ist es gewohnt, ihren Willen wie ihre Launen durchzusetzen. Schließlich sind die Saleck ja auch ein altes Adelsgeschlecht. Sie würde nur den Freiherrn für den Grafen eintauschen, und Dietrich würde aus dem Hintergrunde der großen Ravensberger Herrschaft immerhin eine bedeutendere Rolle spielen als Graf Bertold. Ich finde gar nichts so Unwahrscheinliches an der Sache.«

Siegwart schien sich zu langweilen bei dieser Erörterung. Er stand plötzlich auf und sagte, kurz abbrechend: »Kommen Sie, Onkel Hofstetter, wir wollen zu den Kindern gehen.«

Hofstetter, der mit ärgerlicher Miene zugehört hatte, war sogleich bereit.

»Daran müssen Sie sich gewöhnen,« spottete er, wahrend sie hinübergingen. »Auch bei uns dreht sich alles um die Frau Gräfin; wenn sie hier ist, da gibt's kein anderes Gespräch und Interesse. Sie regiert eben überall.«

»Und endigt mit der Wahl eines Glücksritters, der, wie man zu sagen pflegt, mit allen Hunden gehetzt ist. Seine Spekulation scheint wirklich zu glücken!«

Die Worte klangen in schneidender Schärfe, Hofstetter nickte.

»Vielleicht! Sie gehen ihr auch aus dem Wege, Hermann, wo Sie nur können. Ich hab' es recht gut gemerkt, und ich glaube beinahe, Hochdieselben ärgern sich darüber. Wir beide lassen uns nicht unterkriegen. Oho! Wir sind Männer und halten den Nacken steif, aber wir sind auch die einzigen.«

Hermann gab keine Antwort, denn die Kinder hatten bereits Besitz von ihm genommen, sogar Klein-Alice jauchzte ihm entgegen. Hofstetter beugte sich nieder und nahm zärtlich sein Herzblatt auf den Arm, aber dabei brummte er doch mißvergnügt: »Wenn du nur nicht Alice hießest!« –

Aus einem der Waldwege, die aus dem Morlandschen Jagdgebiet nach der Farm führten, ritt Gräfin Ravensberg mit ihrem Begleiter. Die Tiere, die beiden schönen Reitpferde, die sie mitgebracht hatte, gingen im Schritt, während in einiger Entfernung der Stallmeister und ein Neger mit der Jagdbeute folgten. Saleck machte sich sehr gut zu Pferde. Er war überhaupt ein verwegener Reiter, der die ausdauernden, aber meist wilden und störrischen Pferde, wie sie hier in der Gegend benutzt wurden, zu meistern wußte. Aber man sah ihm die Freude an, wieder einmal ein edles Tier unter sich zu haben, das nicht Peitsche und Sporen brauchte und dem leisesten Zügeldruck gehorchte. Er sprach eben von den Verhältnissen in seiner Heimat und sprach sich mit einer Offenheit darüber aus, die bei seiner sonstigen Verschlossenheit etwas befremdend war.

»Ja, mein Bruder hat auch ein schweres Los zu tragen. Er konnte das Familiengut nicht halten, verkauft durfte es nicht werden als Majorat, also kam es unter Sequester. Den Wohnsitz in Rotkirchen hat man ihm ja gelassen und eine knappe Rente, kaum genug, daß er mit den Seinigen davon leben kann. Da sitzt er nun auf der Scholle, wo er Herr gewesen ist, und sieht zu, wie der von den Gläubigern bestellte Verwalter wirtschaftet. Zu sagen hat er nichts mehr. Sein Sohn wird dereinst das Majorat wieder antreten, er selbst erlebt es schwerlich, daß die Schulden getilgt werden.«

Alice hörte zu, wie es schien, mit einigem Interesse; sie zeigte wenigstens nicht die müde Gleichgültigkeit, die ihr sonst eigen war, als sie fragte: »Und das kostete auch Ihnen die militärische Laufbahn?«

»Selbstverständlich. Ich war auf meinen Bruder angewiesen, und als er verkrachte, flog ich mit in die Luft. Guntram hatte mehr Glück, der fand Freunde und Helfer, die für ihn eintraten, er konnte wenigstens mit Ehren gehen. Ich ging mit schlichtem Abschied. Sie wissen vielleicht, Frau Gräfin, was das heißt in der deutschen Armee. In der Heimat war meines Bleibens nicht mehr. Da ging ich in die Fremde. ›Ins Elend!‹ wie man in alten Zeiten sagte. Es ist etwas Wahres an dem alten Worte, ich habe es erprobt.«

Er sprach mit der ganzen Bitterkeit eines Mannes, der vielleicht mit den höchsten Ansprüchen und Hoffnungen in das Leben treten durfte, und dem dies Leben nun verschüttet ist. Alice streifte ihn mit einem prüfenden Blick. Ihr, dem Kinde des Reichtums, lag ein solches Schicksal ja fern genug, aber es gefiel ihr, daß er keinen Versuch machte, seine Verhältnisse vor ihr zu verschleiern, daß er sich mit voller, herber Rücksichtslosigkeit als das gab, was er in der Tat war – eine gescheiterte Existenz.

»Werden Sie bei Ihrem Freunde bleiben?« fragte sie.

»Nein,« erklärte er mit voller Bestimmtheit. »Er hat es mir ja angeboten unter dem Vorgeben, ich könne ihm hier sehr nützlich sein, aber ich weiß es besser. Er und Hofstetter genügen völlig zur Bewirtschaftung der Farm, ein dritter ist da überflüssig, und ich denke nicht daran, dieser Überflüssige zu sein. Ein paar Monate lang kann ich ja die Gastfreundschaft annehmen von dem einstigen Kameraden. Ein weiteres ist Almosen, und das nehme ich nicht. In ein paar Wochen ziehe ich wieder fort.«

»Und wohin?«

»Das weiß ich noch nicht, und danach frage ich auch blutwenig. Irgendwohin ins Blaue! Ich bin noch stets durchgekommen, und komme ich einmal nicht mehr durch – dann wird eben ein Ende gemacht. Wer wie ich gewohnt ist, immer va banque zu spielen, der legt keinen Wert darauf, ein paar Jahre mehr oder weniger zu leben.«

»Wenden Sie sich an meinen Vater,« sagte die junge Frau rasch. »Ich werde ihm Ihren Namen nennen, das genügt.«

»Ich danke Ihnen, Gräfin, aber ich bitte, den Namen nicht zu nennen.«

»Weshalb nicht? Mein Vater kann mit einem Wort –«

»Ich weiß, aber ich will nicht!«

Alice sah ihn befremdet an.

»Ich verstehe Sie nicht.«

Er lächelte, aber in diesem Lächeln lag dieselbe Bitterkeit wie vorhin in seinen Worten.

»Vielleicht nennen Sie es Bettelstolz – meinetwegen! Sie sind Gast hier bei den Guntrams, ich auch. Für Sie bin ich Dietrich von Saleck, gleichviel, was ich sonst bin. Irgend ein ›Gnadenbeweis‹ Mr. Morlands hebt das auf. Er ist Ihr Vater, und ich will Ihnen frei gegenüberstehen. Mein Wahlspruch ist immer gewesen: Alles oder nichts! Ich bin dabei freilich nur auf das Nichts gestoßen.«

»Und was heißt hier alles?« fragte Alice langsam.

»Das Glück! Ein Märchenglück, das man nicht gesucht, von dem man höchstens einmal geträumt hat. Das nun in öder Felsenwüste, wo jeder Weg verloren scheint, wo nur Klüfte gähnen, plötzlich auftaucht, wie eine blendende Verheißung, wie ein leuchtendes Traumbild! Was würden Sie dem Verwegenen zurufen, der die Hand danach ausstreckt? ›Du bist ein Tor! Ein Narr!‹ Und wenn er trotzdem danach greift?«

Um die Lippen der jungen Frau spielte ein halb verächtliches Lächeln, und sie versetzte kühl und ruhig: »Ich würde ihm sagen: Du bist nicht der erste, der danach greift, und wirst nicht der letzte sein. Das Traumbild hat ja ›goldigen‹ Schimmer.«

Dietrich zuckte leicht zusammen, dann aber neigte er sich zu ihr – die Pferde gingen jetzt Seite an Seite – und seine Stimme gewann einen tief leidenschaftlichen Klang.

»Und wenn er Ihnen nun antwortete: Ich liebe Sie, Gräfin, Sie selbst, nicht Ihr Gold – Sie würden das nicht glauben?«

»Nein!« war die kalte Antwort.

»Sie unterschätzen sich! Halten Sie es denn nicht für möglich, daß Alice Ravensberg umworben wird um ihrer selbst willen? Wenn Sie das nicht glauben können und wollen, dann freilich wäre es ein Fluch, der an Ihrem Reichtum hängt.«

»Es ist ein Fluch!« sagte Alice leise.

Saleck gab sein Spiel noch nicht verloren. Er sah es ja, daß diese kühne, der Tochter Morlands ganz ungewohnte Sprache trotz alledem Eindruck machte, und die letzten Worte hatten einen eigentümlich wehen Klang. Das gab ihm Mut.

»Da habe ich denn doch noch mehr Vertrauen zu den Menschen,« begann er wieder. »Mir hat das Schicksal nie und nirgends Wort gehalten, mich hat es hinausgestoßen in eine fremde, feindliche Welt – und doch, ich weiß, daß ich noch voll und heiß empfinden kann, warum nicht auch die anderen. War es immer nur Berechnung, die Ihnen nahte? Sind Sie nie einer echten Empfindung begegnet?«

Die Augen der jungen Frau verloren sich in den grünen Waldestiefen, es war ein seltsam dunkler, träumerischer Blick.

»Doch – einmal! Sie haben recht, es gibt solche Menschen, Idealisten, die imstande sind – gleichviel – es sind Toren, die man auslacht und doch beneidet um das grenzenlose Glück dieser Torheit.«

Dietrich stutzte, es stieg etwas wie ein unbestimmter Argwohn auf in seinem Inneren.

»Und wo haben Sie diese Erfahrung gemacht?« fragte er rasch. »In Europa vermutlich?«

Alice schien zu erwachen. Sie richtete sich plötzlich hoch auf im Sattel und maß den kühnen Frager.

»Mein Vater war es, der die Erfahrung machte, ich nicht,« sagte sie eiskalt »Es war eben eine Ausnahme. Eine zweite lasse ich nicht gelten – lassen Sie sich das gesagt sein, Baron Saleck.«

Dietrich erbleichte bei dieser schonungslosen Zurechtweisung und preßte in verhaltenem Zorn die Lippen zusammen. Es war doch nicht so leicht, der schönen Frau nahe zu kommen. Jetzt mußte er es büßen, daß sie sich in einem Moment der Selbstvergessenheit zu einer Art Vertraulichkeit herabgelassen hatte, die sie im nächsten schon bereute. Mit einem Schlage war sie wieder unnahbar geworden.

Sie ritten schweigend weiter. Er war zu tief verletzt, um das Gespräch wieder aufzunehmen, und sie schien das gar nicht zu bemerken. Als sie die Guntramsche Farm erreichten, befand sich nur noch Siegwart auf der Wiese im Spiel mit den Knaben. Er ließ den kleinen Ady eben hoch in die Luft fliegen und fing ihn äußerst geschickt wieder auf zum großen Jubel der beiden.

Die Heimkehrenden ritten nach dem Hause, und Saleck, der während der letzten Viertelstunde kein Wort gesprochen hatte, sprang aus dem Sattel, um seiner Dame beim Absteigen zu helfen. Sie berührte dabei sonst nur ganz flüchtig seine Schulter, heute ruhte ihre Hand sekundenlang darauf, und sie neigte sich nahe zu ihm, während sie leise sagte: »So empfindlich, Baron? Das müssen Sie sich abgewöhnen, wenn Sie auch künftig mein Kavalier sein wollen. Oder verzichten Sie darauf? Das würde mir leid tun.«

Dietrich sah sie an. Was wollte das heißen? Tat ihr die schroffe Abweisung von vorhin wirklich leid, oder war es nur eine Laune gewesen? Es lag etwas in ihrem Ton, was ihn plötzlich aufflammen ließ; und was da in seinem Auge blitzte, das war doch etwas von jener echten Leidenschaft, an die die Tochter des Dollarfürsten nicht glauben wollte. Sie sah das freilich nicht, denn sie wandte sich eben nach der anderen Seite, zu den Kindern, die mit Siegwart herbeikamen.

»Eine gute Jagd gehabt, Frau Gräfin?« fragte er.

»O ja,« versetzte sie nachlässig. »Aber wir trafen kein Hochwild.«

»Schade! Doch eine geübte Jägerin, wie Sie, weiß sich zu helfen.«

Alice streifte ihn mit einem raschen Blick. Hatte er jene anscheinende Vertraulichkeit vorhin bemerkt? Sein Gesicht verriet nichts davon, er war vollkommen ruhig, und die Worte schienen ganz absichtslos gesprochen zu sein.

Saleck übergab inzwischen die Pferde dem nachfolgenden Stallmeister. Er hatte mit dem Baurat nur einen kurzen, kühlen Gruß gewechselt. Dieser verneigte sich jetzt und trat zurück; er ließ dem Baron, wie selbstverständlich, das Recht, seine Dame ins Haus zu geleiten.

Die Kinder hatten noch nicht genug von dem lustigen Spiel. Sie wollten es fortsetzen und hingen sich bittend an den Onkel, aber dieser schüttelte sie unsanft ab.

»Jetzt nicht – ein andermal – laßt mich in Ruhe!« sagte er rauh, drehte sich kurz um und ging nach den Ställen hinüber.

Die beiden Jungen sahen ihm ganz verblüfft nach. Es war das erste Mal, daß Onkel Siegwart sie so unfreundlich behandelte.

»Was hat er denn?« fragte Hermann schmollend.

»Er ist böse,« sagte Ady geheimnisvoll. »Auf die Tante Alice ist er böse.«

»Was hat sie ihm denn getan?«

»Weiß nicht. Aber vorhin, als sie vom Pferd destiegen ist, da hat er Augen demacht – hu!«

»Ady, du bist ein Schaf,« erklärte der Ältere kurz und bündig.

Das nahm aber der Kleine übel, er gab ihm einen brüderlichen Puff, das ließ sich der Große nicht gefallen, er antwortete prompt mit der Faust. Und als Hofstetter einige Minuten später auf der Bildfläche erschien, fand er die beiden wieder in der schönsten Prügelei, die diesmal besonders ausgiebig war.


Auf der Farm ging das Leben seinen gewohnten oder eigentlich ungewohnten Gang, denn die Gegenwart von Alice Ravensberg machte sich überall geltend. Sie wollte zwar hier draußen ein ganz einfaches Waldleben führen, und ihr erschien es auch einfach und anspruchslos genug. Sie war es eben gewohnt, daß ihre ganze Umgebung sich ihren Wünschen dienstbar machte, und merkte es gar nicht, wie viel Mühe man sich gab um ihretwillen. Die Kinder wurden von den sonst gemeinsamen Mahlzeiten ausgeschlossen, weil sie störten mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem Übermut. Man aß anders, lebte anders als sonst und hatte eine ganz andere Tageseinteilung, um der Verwöhnung des vornehmen Gastes Rechnung zu tragen. Die heitere Gemütlichkeit freilich, die in der ersten Zeit nach der Ankunft Siegwarts in der Familie herrschte, ging dabei mehr oder weniger verloren.

Guntram und Hermann traten eben aus dem Hause. Der letztere war im Jagdanzuge und hatte die Flinte über der Schulter.

»Also entschuldige mich bei deiner Frau, wenn ich nicht rechtzeitig heimkomme,« sagte er. »Ich möchte heut einmal so ganz nach Herzenslust durch eure Wälder pirschen.«

»Warum tust du denn das nicht öfter?« fragte Adalbert. »Alice und Saleck machen ja fast täglich Jagdausflüge. Aber du reitest höchstens mit, wenn ich dabei bin, sonst nie.«

»Weil es mir kein Vergnügen macht, hoch zu Roß mit der Frau Gräfin, ihrem Kavalier, dem Stallmeister und sonstigem Zubehör durch den Wald zu ziehen. Ich muß allein sein mit meiner Büchse, muß jagen und umherstreifen können, wie es mir paßt. Ich will das Weidwerk treiben, nicht das Courmachen, wie dein Herr Kamerad.«

In den Worten lag ein herber Spott, Adalbert machte ein ärgerliches Gesicht.

»Höre, Hermann, das wird nachgerade ungemütlich zwischen dir und Dietrich. Wenn ihr überhaupt miteinander redet, dann gebt ihr euch Spitzen, und man muß immer gewärtig sein, daß ihr aufeinander losfahrt wie ein Paar Kampfhähne.«

»Von mir hast du das nicht zu fürchten. Ich weiß das Gastrecht zu ehren, aber eine ganz besondere Hochachtung vor diesem abenteuernden Baron kannst du mir nicht zumuten.«

»Er ist doch in dies Abenteuerleben hinausgestoßen worden. Was wäre denn aus mir geworden, wenn du mir nicht Hilfe geschafft hättest – vielleicht nichts Besseres! Ich hatte meine Arbeit und hatte meine Traudl zur Seite, das sind mächtige Stützen. Dietrich ist allein, heimatlos, und verbittert schweift er in der Fremde herum.«

»Warum mußte er denn in die Fremde? Weil er toll darauf los gelebt und einen ganzen Berg von Schulden angehäuft hatte, wie sein Bruder, der Majoratsherr. Nein, Adalbert, mit dir war das doch anders! Du glaubtest einen reichen Vater zu haben, und als dir die Wahrheit klar wurde, hast du das so furchtbar ernst genommen, daß man dich zurückreißen mußte vom Abgrunde. Du hast dein neues Leben fest in die Hand genommen und gemeistert, wie ein echter, rechter Mann. Saleck hat wohl nie an die Pistole gedacht. Er geht auf die Millionenjagd, das ist bequemer und einträglicher, als zu arbeiten. Nun, vielleicht macht er hier eine glänzendere Karriere, als sie ihm je in seiner Heimat beschieden war. – Also auf Wiedersehen und erwartet mich nicht zu Tische.«

Er ging dem Walde zu. Guntram ärgerte sich, als er in das Haus zurückkehrte, über die offenbare Ungerechtigkeit seines Freundes und mußte sich doch eingestehen, daß dessen Abneigung begründet, daß Salecks Benehmen manchmal geradezu herausfordernd war. Die kühle Zurückhaltung, in der die beiden anfangs verkehrten, war jetzt zu einer förmlichen Gegnerschaft geworden.

Siegwart hatte den Reitweg eingeschlagen, der nach Barkley führte und, da er oft benutzt wurde, hinreichend gebahnt war. Sonst wäre es ihm nicht möglich gewesen, so stetig vorwärts zu schreiten in der Wildnis, die gleich hinter den Grenzen der Farm begann.

Es war noch in den Morgenstunden. Der Urwald lag in tiefen, kühlen Schatten, aber selbst am hohen Mittage fanden die Sonnenstrahlen nur hie und da den Weg durch das Geäst und Gezweige der Riesenbäume, das sich hoch oben zu einem fast undurchdringlichen Laubdach zusammenflocht. Hier machte sich überall schon die Üppigkeit des Südens geltend, in dessen Zone Hilltown und dessen Umgebung lag. Die mächtigen Stämme waren überwuchert von dichten Schlinggewächsen. Bis in die höchsten Gipfel hinauf klimmten die Lianen und rankten sich von Zweig zu Zweig. Dichtes Buschwerk, das – ein Wald im Walde – hoch aufgewachsen war, hemmte jeden weiteren Ausblick, und daraus hervor leuchtete es in bunter, seltsamer Blütenpracht. Es war eine ganz fremde, wundersame Welt für den Europäer, die sich hier auftat und mit ihren Farben und Formen bereits an die Tropen erinnerte.

Und es regte sich Leben genug in dieser Einsamkeit. Allerlei kleine, dunkle Geschöpfe der Wildnis huschten über den Weg oder schwangen sich mit unheimlicher Geschwindigkeit von einem Ast zum anderen. Vögel, von dem nahenden Schritt des Menschen aufgescheucht, flatterten kreischend auf und ließen ihr feuerfarbenes Gefieder glänzen, und in der Ferne tönte hie und da der Schrei eines Wildes, das sich im unzugänglichen Dickicht barg. Die Jagd war in diesen Wäldern eine leichte, aber nicht immer gefahrlose Mühe.

Siegwart schien jedoch für den Augenblick nicht an die Jagd zu denken. Langsam, wie in tiefen Gedanken verloren, schritt er vorwärts und blieb erst stehen, als ein schmaler, in das Buschwerk gehauener Weg nach rechts abzweigte. Er führte zu den weiten Lichtungen drüben, wo das Wild auch am Tage heraustrat. Dort gab es ein paar vorzügliche Standplätze. Guntram und Hofstetter waren mit ihrem Gast schon öfter dort gewesen, der jetzt ohne weiteres Besinnen den kleinen Pfad einschlug. Nach einer Viertelstunde tat sich denn auch die Lichtung vor ihm auf, und er wollte sich eben einen geeigneten Platz suchen, als er jäh seine Schritte hemmte und eine Bewegung machte, als wolle er umkehren. Doch, es war bereits zu spät. Die Dame, die dort im Schatten der hohen, mit roten Blüten übersäten Gebüsche stand, hatte die Schritte gehört und wandte sich um. Er mußte näher treten.

»Verzeihung, Frau Gräfin! Ich scheine Sie bei der Jagd gestört zu haben.«

»Ich bin nicht auf der Jagd, nur auf einem Spaziergange,« entgegnete Alice. »Ich wollte einmal die Waldeinsamkeit genießen.«

Sie war in der Tat nicht im Jagdanzuge, hatte auch keine Büchse bei sich, und Siegwarts Blick suchte vergebens Dietrich Saleck, der sonst immer an ihrer Seite war. Sie schien heute allein zu sein.

»Also endlich lernen Sie auch einmal unser Land kennen,« fuhr sie fort. »Welchen Eindruck macht es Ihnen?«

»Jedenfalls den großartigsten. Alles, was man hier erblickt und erlebt, geht ins Riesenhafte. In den Städten wie in der Wildnis.«

Die junge Frau lächelte mit unverhehltem Spott.

»Ja, hier ist es anders als in den zahmen Ravensberger Wäldern, wo jeder Baum gezeichnet ist für den Förster, wo der Wildstand so sorgfältig geschont und behütet wird. Hier ist die Jagd frei und der Jäger auch. Er braucht nur eine gute Büchse und eine sichere Hand, die Beute findet er überall.«

»Gewiß, es ist ein unerschöpflicher Reichtum in diesen Wäldern,« stimmte Siegwart bei. »Wenn sie nur nicht so tot wären!«

»Tot?« Alice sah ihn verwundert an. »Bei dem hundertfachen Leben, das sich hier regt?«

»Und das doch keine Sprache hat! Diese einzelnen gestammelten Laute der Wildnis reden doch nicht. Sind Sie einmal zur Frühlingszeit in den Ravensberger Forsten gewesen? Dann haben Sie ja gehört, wie es da singt und klingt von allen Zweigen – ein einziger jubelnder Maienchor. Der wacht auf mit dem Morgenrot und schläft erst ein mit dem Tage. Und im Sommer, wenn das Brautlied der Vögel verklungen ist, da lockt und zwitschert es leise in Baum und Strauch, da schmettern draußen auf den Feldern die Lerchen, und in schwüler Mittagsstille, wenn alles ruht, zieht ein leises Summen und Tönen durch den Wald. All die kleinen geflügelten Lebewesen, die in den Sonnenstrahlen schweben, haben ihren Klang, ihre Melodie. Das ist die Seele des Waldes, die zu uns spricht – hier ist sie stumm. Mein Auge berauscht sich an all der Schönheit ringsum und mein Inneres bleibt leer. Ich kann nicht reden mit dieser Natur, und sie würde mir auch keine Antwort geben.«

Es war wieder das alte Aufflammen, das ihn halb unbewußt fortriß. Er hatte sich so kühl und höflich gezeigt in den acht Tagen dieses Zusammenseins. Der einstige Enthusiast schien so vernünftig und korrekt geworden zu sein wie all die anderen, und nun brach es in einem unbewachten Augenblick doch wieder hervor, jenes blitzartige Aufleuchten einer leidenschaftlichen Natur, das erstorben schien. Der Blick der jungen Frau ruhte mit einem seltsamen Ausdruck auf seinen Zügen, als sie erwiderte: »Sie sind doch unverändert, Mr. Siegwart! Man glaubt Ihnen den nüchternen Alltagsmenschen nicht, soviel Mühe Sie sich auch geben. Der alte Idealist kommt immer wieder zum Vorschein.«

Hermann biß sich auf die Lippen, wie im Ärger über sich selbst, aber er erwiderte mit spöttischer Artigkeit: »Ein unverzeihlicher Fehler in Ihren Augen – ich weiß! Ich fürchte, diese unbequeme Charaktereigenschaft liegt mir im Blute. Das Leben hat sie mir noch immer nicht abgewöhnt.«

Alice antwortete nicht. Sie pflückte wie zerstreut einige der purpurroten, schwer niederhängenden Blüten des Gesträuches, in dessen Schatten sie stand. Siegwart war vorhin an ihre Seite getreten, und nun blickten sie beide hinaus in die Lichtungen, die sich da mitten im Dickicht auftaten. Weite, grasbedeckte Flächen, über die der Sonnenschein hinflutete, rechts und links von den Wäldern umsäumt, und dort drüben, wo sie endeten, wieder die dunklen Massen des Urwaldes.

Die beiden hatten schon einmal so allein auf einer Waldhöhe gestanden, vor langen Jahren, im fernen Deutschland, und mit ganz, ganz anderen Empfindungen. Hier war kein Raum für jene Traumstimmung, für jenen geheimnisvollen Schauer, den die Menschen fühlen, wenn ihnen eine Schicksalsstunde naht. Hier war es hoher Tag, heller Mittag – und in dem grellen Lichte lag die Landschaft mit ihren großen, ruhigen Linien. Ringsum die ganze Stille und Größe, aber auch die ganze Öde der Einsamkeit.

Und doch hatte auch diese Einsamkeit ihre Sprache. Weither aus der Ferne kam ein Rauschen und Wallen, das jetzt laut anschwoll, wie von den Lüften getragen, und dann bis zur Unhörbarkeit herabsank, wie verweht vom Winde. Das war der Strom, der drüben durch die Wälder zog. Dort hatte er noch seine freie, ungebändigte Kraft. Weiter unten, in Barkley, hatte man ihm diese Kraft abgezwungen und sie den Menschen nutzbar gemacht, die sich auch diese Wildnis eroberten. Er sang dort in der Freiheit noch sein mächtiges, einförmiges Lied, wenn es auch unverstanden blieb.

Das Schweigen hatte einige Minuten gewährt, dann wandte sich Alice zu ihrem Gefährten.

»Mr. Siegwart!«

Er sah aus. »Sie befehlen?«

»Als wir uns das letzte Mal sahen in Europa, bei der Bestattung des Grafen Ravensberg – das war eine schwere Stunde für uns alle.«

Hermanns Lippen zuckten leise, aber er erwiderte kalt: »Für den Sohn gewiß und vielleicht auch für mich. Für Sie doch kaum, Frau Gräfin, Sie haben Ihrem Schwiegervater ja stets ferngestanden.«

»Aber ich habe ihn in den Tod gejagt! Glauben Sie, daß eine solche Erinnerung sich leicht trägt?«

Siegwart fuhr auf und sah sie in sprachloser Überraschung an.

»Gräfin –?«

»Sie gaben mir das ja damals schonungslos anzuhören und haben es mir bis auf diese Stunde noch nicht verziehen – ich mir freilich auch nicht!«

Hermann war so betroffen über diese herbe Offenheit, daß er für den Augenblick keine Antwort fand, endlich sagte er langsam: »Ich habe hier weder zu verzeihen noch anzuklagen.«

»Gerade Sie! Es war ja doch Ihr Vater, den Sie verloren!«

»Sie wissen?« fuhr Siegwart aus. »Durch wen?«

»Gleichviel, ich und mein Vater wußten es längst. Ihre Augen und Ihre Züge verraten es zu deutlich, von wem Sie stammen.«

Hermann blickte finster vor sich nieder, dann entgegnete er fest und bestimmt: »Ich heiße Hermann Siegwart und habe dem Namen einen Klang gegeben. Ich bitte, daß jener andere Punkt unberührt bleibt.«

Alice neigte leise das Haupt.

»Wie Sie wollen. Ich möchte nur eines von Ihnen hören. Sie verweigerten damals jedes nähere Eingehen auf den Tod des Grafen, und doch sind Sie allein an seiner Seite gewesen in der Todesstunde. War das ein Zufall?«

»Nein, er wußte, daß er fallen würde, und da forderte er von mir, ich sollte an dem entscheidenden Morgen in dem nahen Jagdhause sein. Ich bin zur Stelle gewesen.«

»Und ist er« – die junge Frau schien nach Worten zu ringen – »ist er im Hasse gegen uns gestorben?«

»Im Hasse? Haben Sie schon einmal einen Menschen sterben sehen, Gräfin? Wenn der Tod herantritt, dann schweigen die menschlichen Leidenschaften. Und hier kam er fast schmerzlos. Was der Sterbende noch an Gedanken und Worten hatte, das war die Liebe für mich, die er mir während seines Lebens nicht geben durfte. In der letzten Minute schlug er noch einmal die Augen auf, groß und klar, dann legte er den Kopf an meine Brust und schlief ruhig ein.«

Er schwieg.

Alice regte sich nicht, sie öffnete nur mechanisch die Hand, welche die Blumen hielt. Die purpurroten Blüten rieselten langsam nieder auf ihr Kleid und sanken dann zu Boden.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie tonlos. »Sie waren in Ravensberg bei der Katastrophe – ahnten Sie den Ausgang?«

»Wie der Graf einmal angelegt war, fürchtete ich ihn. Er stand an der Schwelle des Alters, da läßt sich kein neues Leben mehr aufbauen, wenn das alte zusammenbricht. Was man ihm bot, war ein Schicksal, wie es seinem alten Freunde, dem Baron Helfenstein, beschieden war. Das konnte und wollte er nicht auf sich nehmen – ich hätte es auch nicht gekonnt.«

»Er hatte meinen Vater schwer beleidigt,« warf die Gräfin ein. »Bei ihrem letzten Zusammensein waren Worte gefallen, die nicht verziehen werden konnten. Ein Mann, der alles sich selbst und seiner Tatkraft verdankt, konnte sich das nicht sagen lassen von einem anderen, dessen Verdienst nur die Geburt war.«

»Und da nahm er Rache an diesem anderen,« ergänzte Siegwart. »Er hatte ja die Macht dazu. Ich habe nie gezweifelt, daß Mr. Morland es war, der die Bedingungen diktierte. Er trägt auch die Verantwortung dafür.«

»Nein, denn ich habe zugestimmt. Ich konnte meinen Vater hindern und ließ ihn gewähren. Entlasten Sie mich nicht – ich weiß, was ich getan habe.«

Sie sprach ruhig, anscheinend ohne Erregung, und doch streifte Hermann mit einem langen, düsteren Blick ihr Antlitz, das so bleich und starr war. Es waren harte Worte gewesen, die Schmerz und Erbitterung ihm damals auf die Lippen legten, waren sie ungerecht gewesen? Sie hatte jene Katastrophe noch immer nicht überwunden – das sah man. »Das sind alte, traurige Erinnerungen,« sagte sie, plötzlich abbrechend und wieder in dem gewohnten, müden Ton. »Man kann es nicht lassen, die Vergangenheit wieder aufzuwecken, und es ist doch völlig zwecklos. Ihnen, Mr. Siegwart, hat diese Vergangenheit freilich viel gegeben. Sie sind ja von einem Erfolge zum anderen geschritten. Sie waren immer eine zielbewußte Natur, die fest und sicher ihren Weg aufwärts ging – zum Glück.«

»Wenn Sie Arbeit und Erfolge Glück nennen, gewiß. Mr. Morland hat ja auch errungen, was er für die Aufgabe seines Lebens ansah. Ihm steht jetzt die ganze Allmacht des Reichtums zur Seite. Es ist immerhin etwas Großes, in einem weiten Kreise so unbedingt Herrscher zu sein über Dinge und Menschen.«

Die junge Frau zuckte die Achseln.

»Mein Vater hält nicht viel von den Menschen und braucht sie auch nicht. Er braucht nur Kräfte, die er sich dienstbar macht, und Mitarbeiter bei seinen großen Plänen. Das befriedigt ihn völlig. Er geht ganz auf darin.«

Durch die anscheinend so gleichgültigen Worte klang ein Ton leiser Verachtung, der dem Zuhörer nicht entging. Er fragte plötzlich ganz unvermittelt: »Und Sie, Gräfin – sind Sie glücklich?«

Um ihre Lippen zuckte ein Ausdruck tiefster Bitterkeit.

»Ich bin reich, und das ist ja das Höchste bei uns. Aber Sie kennen doch die alte Midassage? Alles, was mein Vater berührt, wird zu Gold, und auch mir erstarrt darin alles, was sich mir naht, die Menschen mit ihrem Lieben und Hassen – alles! Sie suchen ja nur das Gold, das an mir hängt, strecken nur danach allein die Hände aus. Ich fühle ihn oft genug, den Fluch, daran festgekettet zu sein!«

Wieder ein langes Schweigen. Durch die Stille kam von drüben her das Brausen des Stromes, laut anschwellend und dann wieder verhallend. Endlich sagte Siegwart leise: »Alice!«

Es war ein Klang aus alter Zeit, aus der Abschiedsstunde, wo der Name zum ersten- und letztenmal über seine Lippen gekommen war, aber jetzt schien er keinen Widerhall mehr zu finden.

»Alice, ich habe Sie einst geliebt!«

Sie lächelte mit einem unendlich herben Ausdruck.

»Ja, das haben Sie mir gesagt in der Stunde, wo Sie sich von mir losrissen, weil ich das ›Unglück Ihres Lebens‹ geworden wäre. Sie hatten ganz recht, Hermann. Wir beide stammen aus zwei verschiedenen Welten und hätten vielleicht nie den Weg zueinander gefunden. Sie wollten die Probe nicht machen mit dem Kinde des Reichtums, das nicht lieben und fühlen konnte wie die anderen. Vielleicht hätte ich es damals gelernt. Aber Sie wollten sich Ihre Freiheit, Ihre Zukunft retten und fürchteten dafür, wenn Sie erst kämpfen mußten mit der Frau, die Sie liebten. Ein Kampf wäre es doch gewesen zwischen uns im Anfange.«

»Und vielleicht geblieben!« ergänzte Hermann schwer.

»Möglich. Wir haben es eben nicht gewagt daraufhin. Wie sagten Sie doch damals – einen kurzen Traum des Glückes büßen mit einem ganzen Leben voll Weh, oder sich losreißen im Haß! Davor sind wir bewahrt geblieben und sind jetzt wohl beide zufrieden, daß es vorbei ist.«

Sie wandte sich um und ging, ohne ein Wort des Abschieds. Hermann blieb allein. Vorbei! Das Wort verhallte in der tiefen Stille ringsum.

War es wirklich vorbei? Er war so überzeugt davon gewesen, als er hierher kam, so kühl und ruhig bei dem ersten Wiedersehen. Eine Leidenschaft aus der Jugendzeit – die sprach doch nicht mehr mit in seinem jetzigen Leben, das hatte andere Aufgaben und einen anderen Inhalt.

Das hatte er sich oft genug gesagt während dieses unvermeidlichen Zusammenseins, und es nicht wissen wollen, was in seinem Inneren so ruhelos bohrte und wühlte. Der Stachel der Eifersucht, als er es täglich sehen mußte, daß ein anderer sich verwegene Hoffnungen machte, und vielleicht nicht ohne Grund. Aber jetzt, bei diesem ersten Alleinsein, da half der Selbstbetrug nicht mehr. Da wußte er, daß es wieder aufgewacht war, was er erstorben glaubte, daß die alte Leidenschaft wieder so heiß und stürmisch aufflammte wie einst.

Was ihm damals Mannesmut schien, als er sich losriß – war das nicht im Grunde Feigheit gewesen? Vielleicht hatte dies »Kind des Reichtums« doch eine Seele gehabt, die man nur aufwecken und an sich ketten mußte. Er hatte nicht einmal den Versuch dazu gemacht. Er war geflohen – geflohen vor seinem stolzen, schönen Glück und gab es ohne Kampf verloren.

Aus der Ferne kam wieder das Brausen herüber, das verstummt und verweht schien. Nun schwoll es wieder mächtig an. Dies wilde, stolze Lied der Einsamkeit verklang nicht und erstarb nicht. Diese ewig quellende, ewig klopfende Lebensader der Natur kannte keinen Tod und kein Vergehen.


Der »Landsmann«, der sich in der Guntramschen Familie eingefunden hatte, war noch immer da. Man hatte ihm zwar schon verschiedene Male zu verstehen gegeben, daß es nun genug sei mit der Gastfreundschaft, aber Hans Henning war seßhaft. Wo es ihm gefiel, da blieb er und ging einfach nicht weg, und hier schien es ihm ganz außerordentlich zu gefallen.

Anspruchsvoll war der Herr Künstler ja nicht. Er aß bescheidentlich mittags und abends mit den Dienstleuten der Farm, machte sich überall nützlich in Haus und Garten und wartete sogar äußerst geschickt das Baby, wenn es nötig war. Miß Alice hatte es bald herausgefunden, daß auch er einen sehr schönen, struppigen Bart besaß, in dem sie nach Herzenslust herumwirtschaften konnte; sie schloß also Freundschaft mit dem Besitzer, und die Jungen vollends hingen an ihm wie die Kletten. Tommy war völlig abgesetzt mit seinen Jagd- und Indianergeschichten, die nicht halb so grausig waren. Solche »mordsmäßigen« Dinge, wie Hofstetter es nannte, wußte er nicht zu erzählen. Und alles hatte der brave Henning selbst erlebt, überall war er mit dabeigewesen. Sein ganzes Leben schien nur eine einzige Kette der wundersamsten Abenteuer gewesen zu sein.

Übrigens hatte jeder den dreisten Gesellen gern, ausgenommen Hofstetter, der sich über den »Nichtstuer« ärgerte. Zu einer regelmäßigen Arbeit war Henning nämlich absolut nicht zu gebrauchen. Das hielt er nicht aus, da lief er davon oder machte Dummheiten. Man hatte versucht, ihn als Aufseher bei den Waldarbeitern anzustellen, und er übernahm auch sehr bereitwillig den Posten. Aber als der Förster einmal unversehens zur Kontrolle kam, fand er den Herrn Aufseher bequem und vergnügt unter einem Baum liegen, und die sämtlichen Schwarzen saßen ebenso vergnügt um ihn herum. Er erzählte ihnen gerade eine von seinen »Mordsgeschichten«, die ihnen ungemein gefiel, aber gearbeitet wurde dabei natürlich nicht. Es ergab sich, daß diese Unterhaltungen an der Tagesordnung waren. Hofstetter fuhr zwar mit einem Donnerwetter dazwischen, aber das brachte die verlorene Arbeitszeit nicht wieder ein.

Augenblicklich saß Hans Henning friedlich im Garten mit seinem dankbarsten Publikum, den beiden Knaben, und hatte den Korbwagen mit dem schlafenden Baby neben sich stehen, dem er mit einem Zweige die schwirrenden Insekten abwehrte. Dabei erzählte er eine Geschichte, die ebenso fürchterlich als interessant war, und die Jungen hörten mit gruselndem Entzücken zu. Hermanns Augen wurden immer größer dabei, und Ady sperrte seinen kleinen Mund ebenso groß auf. Da kam Hofstetter, der eben vom Pferde gestiegen war, in den Garten. Er nahm nicht viel Notiz von der Begrüßung der Kinder, sondern sagte unwirsch: »Geht hinüber zu Tommy! Ich habe zu reden mit dem Henning, und das braucht ihr nicht zu hören.«

Die Jungen erhoben Protest, sie wollten erst die Geschichte zu Ende hören, aber mit dem Onkel Hofstetter war heute nicht zu spaßen. Er wiederholte seine Weisung so bestimmt, daß sie folgten und zu Tommy liefen, der drüben ein Gemüsebeet umgrub. Henning schien zu merken, daß so etwas wie eine Gerichtsszene bevorstand, aber er fragte ganz harmlos: »Schon zurück von Barkley, Herr Förster?«

»Ja!« versetzte dieser mit grimmigem Nachdruck. »In Barkley bin ich gewesen und auch bei unserem Landsmann, dem Winkler.«

»Oh, das habe ich nicht gewußt, sonst hätte ich einen schönen Gruß geschickt. Ich bin ja doch vier Wochen lang in seinem Hause gewesen.«

»Bis er Sie hinauswarf – das stimmt! Ich wollte einmal ordentlich über Sie Bescheid wissen, Henning, und bin gleich vor die rechte Schmiede gegangen. Nun weiß ich's. Ein Schwindler sind Sie, ein Erzschwindler!«

»Oho, Herr Förster!« protestierte der Beleidigte. »Das ist eine Injurie, das kann ich mir nicht gefallen lassen.«

»Sie halten jetzt den Mund!« Hofstetter fuchtelte mit der Reitpeitsche, die er noch in der Hand hielt, so bedrohlich umher, daß der andere wirklich den Mund hielt. »Sie haben den Winkler ausgefragt über die Ravensberger Gegend, als Sie hörten, daß Frau Guntram und ich da herstammen, und dann haben Sie sich als Landsmann bei uns eingeschlichen. Sie sind gar nicht aus Ostpreußen. Aus Stargard sind Sie, und das liegt in Pommern.«

»Oh, liegt es wirklich in Pommern?« fragte Henning höchst erstaunt. »Merkwürdig! Ich habe immer geglaubt, es liegt in Ostpreußen. Nun, das tut nichts, es ist ja dieselbe Himmelsgegend.«

»Ich werde Ihnen die richtige Himmelsgegend beibringen! Und an der ganzen rührseligen Geschichte, die Sie uns aufgebunden haben, ist auch kein wahres Wort. Sie sind weder Witwer noch verwaister Familienvater. Ledig sind Sie und haben nie Frau und Kinder gehabt.«

»Aber beinahe hätte ich sie gehabt, es fehlte gar nicht viel daran. Ich hatte nämlich eine Braut, die ich über alles liebte. Aber sie heiratete einen ganz anderen, dem sie dann die sechs Kinder schenkte. Das hätten doch eigentlich meine Kinder sein sollen. Darüber grämte ich mich, und das wurde bei mir zur fixen Idee. Ja, Herr Förster, es gibt solche schrecklichen Seelenzustände. Und die alte Großmutter habe ich wirklich gehabt. Mein Ehrenwort darauf!«

»Daraus machen Sie sich wohl gar noch ein Verdienst?« rief Hofstetter wütend. »Jeder Mensch muß doch einmal irgend eine Großmutter gehabt haben! Und das mit der Künstlerschaft ist auch gelogen. Sie wollen hier Urwaldstimmung malen? Bei dem Winkler haben Sie die Stuben gemalt und das Gastzimmer auch noch dazu.«

»Das tat ich aus reiner Freundschaft, und weil ich –«

»Weil Sie Ihre Rechnung nicht bezahlen konnten und er Ihnen mit dem Friedensrichter drohte. Der Mann wollte wenigstens einigermaßen zu seinem Gelde kommen, und da ließ er Sie seine sämtlichen Stuben streichen. Aber die Farben hat er auch kaufen müssen.«

Hofstetter hatte seinen Landsmann in Barkley offenbar sehr gründlich ausgefragt, und der hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Aber Henning nahm eine tiefgekränkte Miene an.

»Winkler ist sehr undankbar gegen mich,« behauptete er. »Ich habe ihn ja doch auch gemalt. Brustbild in Lebensgröße. Hat er es Ihnen denn nicht gezeigt? Es hängt im Gastzimmer.«

»Nein, auf dem Speicher steht es, unter dem alten Gerümpel. Die Gäste haben ihn so lange damit gehänselt, bis er es fortschaffte. Gesehen habe ich es freilich, dies Untier von einem Bild! Das ist ja eine schändliche Physiognomie, die Sie da auf die Leinwand gebracht haben, und dazu rot und grün und gelb – und das soll der brave dicke Gastwirt sein?«

»Es ist Sezession,« erklärte Henning. »Modern realistisch aufgefaßt. Das ist jetzt Trumpf, und ich bin sehr für das Moderne.«

»Meinetwegen!« Hofstetter fuchtelte wieder mit seiner Reitpeitsche dicht vor der Nase des Missetäters herum. »Aber wenn Sie mich so aufgefaßt hätten, ich hätte Ihnen die moderne Realistik um die Ohren geschlagen. – Doch nun genug mit den Redensarten. Lügner und Schwindler können wir nicht brauchen. Sie schnüren jetzt auf der Stelle Ihr Bündel und dann – marsch!«

»Aber Herr Förster!«

»Nicht eine Stunde mehr! Ich werde es vertreten bei Herrn Guntram, wenn er zurückkommt.«

Hans Henning sah so zerknirscht aus, daß es einen Stein hätte erbarmen können, aber er gab sein Spiel noch keineswegs verloren.

»So lassen Sie mich wenigstens von den Kindern Abschied nehmen,« bat er. »Sie sind mir ja so ins Herz gewachsen wie meine eigenen« – er wich sehr gewandt aus, als Hofstetter ihm drohend aus den Leib rückte – »ich meine die Kleinen, die ich hätte haben können. Ady! Hermann! Kommt einmal her!«

Die Jungen kamen schleunigst herbei, in der angenehmen Erwartung, nun die Fortsetzung der Geschichte zu hören. Aber als Henning ihnen mit dem nötigen Pathos klarmachte, daß es nun überhaupt mit dem Erzählen zu Ende sei, daß er fortgehe, noch heute, weit fort und nie wieder käme, weil es der Herr Förster absolut nicht wolle – da brach ein förmlicher Ausstand aus gegen den sonst so geliebten Onkel, der ihnen ihren Freund und Spielkameraden nehmen wollte.

»Ich leide es nicht!« trotzte Hermann, »ich sag's dem Papa!« und Ady fing jämmerlich an zu weinen: »Nicht fortgehn! Nicht fortgehn!«

Hofstetter wollte sich der Jungen bemächtigen, um sie fortzubringen, aber sie wiedersetzten sich und brüllten noch lauter. Drüben erwachte Klein-Alice, und als sie ihre Brüder schreien hörte, tat sie kräftig mit. Es war ein Höllenlärm.

»Da hören Sie es aus dem Munde der Unmündigen!« rief Henning mit schmerzlicher Wehmut. »Ja, ich bliebe so gern bei euch, so gern. Aber wenn der Herr Förster mich fortschickt, muß ich ja gehen – so schwer es mir auch wird!«

Jetzt fing er auch an zu schluchzen. Hofstetter hielt sich verzweiflungsvoll die Ohren zu.

»Nun schreien sie alle! Henning, Sie sind ein heilloser Mensch! Sogar die unschuldigen Kinder stiften Sie zur Revolte an. Aber das hilft Ihnen nichts, Sie müssen fort und das noch heute!«

Er blieb bei seinem grimmigen Ukas, da erschien Frau Traudl, die auf der Veranda den Lärm gehört hatte und ein Unglück befürchtete. Sie fand ihre drei Sprößlinge noch in dem höchst unmusikalischen Terzett. Hofstetter dräuend und wetternd mitten darunter und Tommy, der sein Gemüsebeet im Stich gelassen hatte, mit offenem Munde dabeistehend.

Es dauerte eine Weile, ehe sie sich überhaupt Gehör verschaffte, da alle durcheinander schrieen. Dann aber richtete sich die kleine Frau zu ihrer ganzen, allerdings nicht bedeutenden Höhe auf und kommandierte resolut: »Ruhe! Seid ihr alle verrückt geworden? Was ist eigentlich los?«

Die beiden Jungen stürzten sich auf ihre Mutter, um ihr den Sachverhalt mitzuteilen, wurden aber sehr energisch zur Ruhe verwiesen, und als Hermann nicht folgte, erhielt er eine tüchtige Ohrfeige, die dann auch die gewünschte beruhigende Wirkung hatte. Dann wurde Henning vor die Schranken gerufen und Hofstetter mußte als öffentlicher Ankläger die ganze Geschichte noch einmal erzählen.

Hans Henning hielt es für das klügste, zu schweigen, da er ja doch nicht leugnen konnte, und überließ es der Jugend, seine Sache zu führen. Er stand da mit der Miene eines Märtyrers, dann beugte er sich über das noch immer mörderisch schreiende Baby, nahm es auf den Arm und versuchte es zu beruhigen, was ihm auch einigermaßen gelang.

Traudl war allerdings sehr ärgerlich bei dem Bericht über all diese Missetaten, schien aber die Sache gar nicht so schwer zu nehmen. Sie hatte den dreisten, lustigen Gesellen gern, der immer gefällig und anstellig war, ausgenommen bei einer wirklichen Arbeit. Er war gerade jetzt, wo der Besuch aus Hilltown ganz besondere Rücksichten beanspruchte, überall zu brauchen und im Haushalt fast unentbehrlich geworden. Sie zog deshalb ihren alten Freund beiseite und sprach leise und angelegentlich auf ihn ein. Es kam schließlich ein Kompromiß zustande. Man wollte warten, bis Guntram, der mit Siegwart und seinen anderen Gästen auf die Jagd geritten war, zurückkam, und ihm die Sache vortragen. Er sollte entscheiden.

Vorläufig trat also Waffenstillstand ein. Hofstetter ging mit wütendem Gebrumm, denn er war durchaus nicht einverstanden mit dem Aufschub des Strafgerichtes und fest entschlossen, es bei Guntram durchzusetzen. Traudl nahm die Kinder mit sich in das Haus, und Hans Henning behauptete allein das Feld. Solange noch jemand von der Familie sichtbar war, stand er wie gebrochen da, scheinbar ganz erdrückt von seinem Schuldbewußtsein. Dann aber richtete er sich auf und sagte seelenvergnügt: »Ihr bringt mich noch lange nicht fort. So gut ist's mir ja noch nirgends gegangen – ich bleibe hier!« –

Die Heimkehr der Jäger verzögerte sich. Sie hatten schon am Nachmittag zurück sein wollen, und jetzt ging es auf den Abend. Traudl fing an sich zu beunruhigen, und Hofstetter war in der übelsten Laune, daß er nicht hatte mit dabei sein können, denn heute ging es auf den Bären.

Das Tier, dessen Fährte man schon vor Wochen gefunden hatte, war auf einmal verschwunden gewesen und nicht wieder aufzuspüren, soviel Mühe sich Saleck auch gab. Es mußte seinen Aufenthalt gewechselt haben. Heute morgen kamen auf einmal die Waldarbeiter mit der Nachricht, der Bär sei wieder da. Er habe drüben in den Morlandschen Waldungen sein Lager, in einem fast unzugänglichen Dickicht. Die seltene Jagdbeute durfte man sich nicht entgehen lassen und konnte nicht auf Hofstetter warten, der schon in aller Frühe nach Barkley geritten war. Alice und die drei Herren brachen sofort auf nach der bezeichneten Waldung.

Traudl wäre auch gern mitgezogen. Sie hatte das im Anfang ihrer Ehe stets getan und war auch jetzt oft genug dabei mit ihrer geliebten Büchse. Aber die drei kleinen Kinder machten doch ihre Rechte geltend. Das Baby, das Zähne bekam, hatte die halbe Nacht hindurch geschrieen. Da erlaubten die Muttergefühle der jungen Frau nicht, es im Stich zu lassen und mit auf die Bärenhatz zu reiten.

Endlich, die Sonne stand schon nahe hinter den Baumwipfeln, kehlten die Jäger zurück. Die Jagd war prächtig gewesen, der Bär erlegt, aber Hermann Siegwart war dabei in die äußerste Lebensgefahr geraten. Die angeschossene Bestie ging grade auf ihn los, er kam zu Fall, und hätte Saleck nicht mit einem ebenso sicheren als glücklichen Schuß das Tier niedergestreckt, so hätte die Jagd vermutlich ein verhängnisvolles und blutiges Ende gefunden.

Es gab einen förmlichen Aufstand aus der Farm. Alles stürzte herbei, Hans Henning natürlich zuerst, um den Bären zu sehen, der von den mitgenommenen Leuten im Triumph herbeigeschleppt wurde. Es war ein ungewöhnlich schönes und großes Exemplar. Die Knaben jubelten, Traudl beglückwünschte die Jäger, und Hofstetter besichtigte mit ebensoviel Neid als Interesse die seltene Beute. Merkwürdigerweise war die Jagdgesellschaft nicht in der freudigen Stimmung, die man hätte voraussetzen sollen, und für sie war die überstandene Gefahr doch nur ein Reiz mehr beim Weidwerk gewesen. Gräfin Alice erklärte sich gleich nach der ersten Begrüßung für sehr ermüdet und zog sich in ihre Zimmer zurück. Siegwart und Saleck waren auffallend schweigsam, und nur Guntram schien heiter und vollkommen befriedigt. Während noch alles um den erlegten Bären versammelt war, trat Hermann zu dem Baron, der abseits stand.

»Ich habe Ihnen nur erst flüchtig danken können, Herr von Saleck,« sagte er halblaut. »Und ich habe Ihnen doch mein Leben zu danken. Ihre sichere Kugel hat mich gerettet, sonst wäre ich verloren gewesen.«

»Ich kann den Dank nicht annehmen,« versetzte Dietrich kurz und hochmütig. »Ich hatte als Jäger nur die Beute im Auge. Daß Sie dabei in Gefahr kamen, war ein reiner Zufall. Der Schuß galt dem Bären allein.«

Das klang in herber, beinahe feindseliger Abweisung. Siegwarts Augen ruhten fest, aber mit einem rätselhaften Ausdruck auf seinem Gesicht, als er entgegnete: »So nehmen Sie wenigstens meine Bewunderung für diesen Meisterschuß. Die Kugel flog haarscharf an meinem Kopfe vorüber dem Bären ins Auge und ins Hirn. Ich glaubte auch ein guter Schütze zu sein, aber seit heute beuge ich mich unbedingt Ihrer Überlegenheit.«

»Ein Meisterschuß!« wiederholte Saleck mit einer Art von Hohn. »Ja, das ist er gewesen! Ich glaube, Herr Siegwart, Sie können zufrieden damit sein.«

Er wandte sich kurz um und ging nach dem Hause. Hermann sah ihm schweigend nach, aber es lag ein finsteres Grübeln in seinen Zügen, als er ihm nach einigen Minuten folgte und sich in sein Zimmer begab.

Traudl hatte sich inzwischen ihres Mannes bemächtigt, der ihr und Hofstetter den Hergang noch einmal erzählen mußte, was er auch bereitwillig tat.

»Ja, beinahe hätte uns die Geschichte unseren Hermann gekostet!« berichtete er. »Wir hatten das Dickicht umstellt und uns möglichst gesichert auf unseren Plätzen. Alice und Dietrich auf der einen Seite, Siegwart und ich auf der anderen, und dann wurde der Bär aufgejagt. Er brach auf unserer Seite durch. Ich kam zuerst zum Schuß, fehlte aber, unmittelbar darauf schoß Hermann und traf auch, aber nicht tödlich. Rasend vor Wut ging das schwerverletzte Tier auf ihn los, der keine genügende Deckung hatte. Im Zurückweichen, eben im Begriff zum zweiten Male zu schießen, blieb er im Gestrüpp hängen und fiel. Es war ein furchtbarer Anblick, sogar Alice schrie laut auf dabei. Ich hörte es, wagte aber nicht zu schießen, ich fürchtete, Hermann zu treffen, denn der Bär war schon beinahe über ihm. Saleck wagte es. Seine Kugel fuhr der Bestie in das Auge. Sie brach zusammen, wie vom Blitz getroffen, wälzte sich am Boden und verendete nach wenigen Minuten.«

»Gott sei Dank, daß die Sache so glücklich abgelaufen ist!« sagte Traudl mit einem tiefen Atemzuge, während Hofstetter beifällig nickte.

»Bravo! Das nennt man treffen! Ich bin ja sonst nicht gerade sehr eingenommen für den Herrn Dietrich, aber Respekt vor ihm als Jäger und vor seiner Büchse!«

Er benutzte die Gelegenheit, jetzt gleich die Sache mit Henning zu erledigen, erzählte, was er in Barkley erfahren hatte und forderte nachdrücklich die Entfernung des »Lumpen«. Er stieß aber auch hier auf einigen Widerstand, Guntram schüttelte den Kopf.

»Grade heute, wo es bei meinem liebsten Freunde um Leben und Tod gegangen ist? Das sollen wir damit feiern, daß wir einen armen Teufel hinausjagen, der dann vielleicht hungern muß? Er hat ja keine Existenzmittel.«

»Er ist ein Schwindler!« rief Hofstetter erbost. »All seine Mordgeschichten sind erlogen. Den Kindern verdirbt er den Charakter damit, und die Leute hält er von der Arbeit ab. Er selbst ist ja nicht zu brauchen dafür. Schwatzen kann er, weiter nichts.«

Jetzt schlug sich aber auch Traudl auf die Seite Hans Hennings.

»Laßt ihn doch noch ein paar Wochen hier bleiben,« bat sie. »Uns kommt es ja nicht darauf an, und er ist überall zu brauchen, jeder hat ihn gern. Die Jungen schreien sich halbtot, wenn er fortgeht, und unser Baby wartet er so sorgsam wie die beste Kinderfrau.«

Es half nichts, der dreiste Bursche saß zu fest in der allgemeinen Gunst. Hofstetter wurde überstimmt und mußte sich der Majorität fügen. Es wurde beschlossen, den beharrlichen Gast noch bis zum Ende des Monats zu behalten, ihm dann aber unweigerlich den Laufpaß zu geben.

Dietrich Saleck hatte sich vorhin nicht in sein Zimmer begeben, sondern stieg hinauf in den oberen Stock, wo Gräfin Alice wohnte. Auf der Treppe begegnete er ihrer Kammerfrau.

»Bitte, Mrs. Brown, wollen Sie mich der Frau Gräfin melden,« sagte er kurz.

Mrs. Brown sah ihn verwundert an.

»Frau Gräfin hat sich zurückgezogen und will heute nicht mehr gestört sein.«

»Ich weiß, aber sie wird eine Ausnahme machen mit mir. Mein Kommen wird erwartet – bitte!«

Das klang so bestimmt, daß die Kammerfrau sich zu der Meldung entschloß. Nach einigen Minuten kam sie zurück und gab dem Baron einen Wink, daß er eintreten dürfe.

Die drei Zimmer, die Alice sich für ihre Jagdausflüge eingerichtet hatte, lagen nach der Gartenseite hinaus. Sie waren verhältnismäßig einfach möbliert, im Stil eines Jagdhauses, enthielten aber alles, was einer vornehmen Dame für unentbehrlich gilt, auch wenn sie die Laune hat, ein paar Wochen lang in der »Wildnis« zuzubringen.

Sie hatte den Jagdanzug bereits abgelegt und lag im weißen Morgenkleide auf einem Ruhebett. Sie sah bleich und angegriffen aus, schien aber in der Tat auf das Kommen Salecks vorbereitet, denn sie tat keine Frage. Er war es, der das Gespräch begann: »Ich habe soeben den Dank Siegwarts für seine ›Rettung‹ entgegennehmen müssen. Wie lange wünschen Sie, Frau Gräfin, daß dieser Dank noch gelten soll?«

»Lassen Sie es dabei,« sagte Alice müde. »Es kommt ja schließlich nicht darauf an, wem er gilt.«

»Meinen Sie? Was ich dabei empfinde, danach fragen Sie nicht. Freilich, ich hätte sogleich widersprechen müssen, als Sie Guntram zuriefen, ich hätte geschossen. Sie wußten es doch am besten, aus wessen Büchse die Kugel gekommen ist. Alice – warum das verschweigen?«

Die Frage klang beinahe drohend. Alice hatte es vor wenigen Tagen widerspruchslos geduldet, als ein anderer sie mit diesem Namen nannte. Hier richtete sie sich beleidigt aus.

»Baron Saleck, Sie vergessen sich!«

Er trat einen Schritt näher, aber seine Augen brannten in unheimlicher Glut.

»Vergessen! Habe ich kein Recht, zu fragen, wem das Spiel galt, das Sie mit mir zu treiben geruhten? Jetzt weiß ich es! Ich Narr, der sich darauf die unsinnigsten Hoffnungen machte! Es sollte ja nur ein anderer damit gestachelt und gereizt werden. Einer, der sich nicht stacheln läßt. Ich hatte freilich keine Ahnung davon. Er und Sie standen sich ja so fremd gegenüber, als liege eine Welt dazwischen. Nichts ahnte ich, bis zu dem Augenblick, wo ich den Schrei neben mir hörte, einen Schrei der Todesangst! Wo ich sah, daß Sie eine Bewegung machten, als wollten Sie sich zwischen ihn und den Bären stürzen. Es wäre zu spät gewesen, das wurde Ihnen wohl klar in dem Moment. Da rissen Sie die Büchse an die Wange und drückten los! Oder wollen Sie mir vielleicht das Zeugnis meiner eigenen Augen ableugnen?«

Die junge Frau hatte sich erhoben. Man sah es, wie die Worte sie peinigten, aber sie behauptete ihre Fassung.

»Ich werde Ihnen weder etwas ableugnen noch zugeben,« erklärte sie. »Warum schwiegen Sie im entscheidenden Augenblick?«

Er lachte bitter auf.

»Sollte ich ihn vielleicht selbst seinem Glück in die Arme treiben? Wüßte er die Wahrheit, dann stände er hier an meiner Stelle, und was dann erfolgt wäre, das läßt sich erraten. Das war's, was mir durch den Kopf fuhr, als ich die Lüge duldete, und aus unserem Heimritt ist dann noch manches andere mir klar geworden. Ich habe anfangs geglaubt, er weiß nichts. Es gibt ja solche Menschen, die blind an ihrem Glück vorübergehen, ohne es zu begreifen. Er will nicht, hat vielleicht schon früher nicht gewollt als Sie sich in Europa begegneten. Und gerade damit hat er Sie bezwungen. Es scheint, daß es Frauen gibt, die man nur gewinnen kann, wenn man sie verwirft.«

Alice zuckte zusammen, dann richtete sie sich empor mit sprühenden Augen.

»Verlassen Sie mich! Ich will nichts weiter hören! Gehen Sie!«

»Wie Sie befehlen. Ich gehe sofort hinunter und sage ihm die Wahrheit. Wünschen Sie das?«

Die Gräfin antwortete nicht, aber sie wiederholte auch den Befehl nicht, sondern trat mit einer heftigen Bewegung an das Fenster.

Dietrich stand unbeweglich und sah sie an. Der Instinkt der Eifersucht hatte ihn hellsehend gemacht. Er hatte alles erraten. Endlich nach einem minutenlangen Schweigen wandte sich die junge Frau wieder um und sagte mit mühsam beherrschter Stimme: »Sie werden schweigen – ich rechne darauf. Ich will nicht, daß Siegwart es erfährt.«

Er lächelte mit überlegenem Hohn.

»Sie vergessen eins, Gräfin. Ich bin nicht mehr der ergebene Diener Ihrer Wünsche, seit drei Stunden bin ich es nicht mehr. Ich werde allerdings schweigen, wenigstens vorläufig, denn ich will ihm nicht auch noch den Triumph bereiten. Ich habe es ja gehört aus Ihrem eigenen Munde. Einmal ist Ihnen einer genaht – der also ist's gewesen! Der hat den Preis errungen und wird ihn besitzen, wenn ihr beide auch jetzt noch Komödie miteinander spielt. Und ich? Nun, ich werde abgedankt, da ich das Spiel durchschaut habe und nicht mehr tauge dafür. Glauben Sie, daß ich mich so ohne weiteres fortschicken lasse?«

Alice schwieg und duldete den Hohn. Sie wußte es ja, sie war in seiner Hand mit jenem Geheimnis, das nur sie beide kannten und das Siegwart nicht erfahren durfte. Der Mann, der sich damals von ihr losgerissen und ihre Hand zurückgewiesen hatte, durfte nicht wissen, was er ihr war. Ihr ganzer Stolz empörte sich dagegen. Und Saleck wußte seine Macht zu brauchen. Er sah es, wie er sie folterte damit, und übte schonungslos seine Rache.

»Ein Meisterschuß!« begann er wieder. »So nannte er ihn selbst, nur daß er sich damit an die falsche Adresse wandte. Ich weiß es, wer ihn getan hat, und mache Ihnen mein Kompliment über diese unglaubliche Sicherheit in solchem Seelenzustande. Wie die Kugel da an seinen Schläfen vorüberpfiff! Nur einen Zoll breit seitwärts und Sie hätten ihn getroffen – was dann?«

Jetzt verlor die junge Frau ihre Selbstbeherrschung. Sie ertrug das nicht mehr und tat das Unvorsichtigste, was sie tun konnte, sie reizte ihren Gegner aufs äußerste.

»Was dann?« wiederholte sie mit verzweifelter Entschlossenheit. »Nun, dann hatte ich noch Kugeln in der Büchse, und der zweite Schuß – wäre für mich gewesen!«

Dietrich wurde totenbleich und ein Laut unterdrückter Wut kam von seinen Lippen.

»So also lieben Sie ihn?«

»Ja – so!«

Ihr Auge begegnete flammend dem seinigen. Das war nicht mehr die müde, gleichgültige Alice Ravensberg, nicht mehr die kühle, vornehme Weltdame. Es war ein Weib voll glühender Leidenschaft, das diese Leidenschaft jetzt rückhaltlos bekannte. Sie mußte es schon in der nächsten Minute büßen, daß sie es grade vor diesem Manne bekannte. Er trat dicht vor sie hin und seine Stimme sank zum Flüstern herab, aber es lag etwas Furchtbares darin.

»Nehmen Sie sich in acht! Sie verraten mir die Stelle, wo auch Sie verwundbar sind – das ist gefährlich!«

Alice bebte unwillkürlich zusammen vor dem Blick, der sie dabei traf.

»Baron Saleck, Sie haben bisweilen etwas Tigerartiges in Ihren Augen,« sagte sie leise.

»Wenn der Tiger in mir geweckt wird! Weichen Sie doch nicht so vor mir zurück. Ihnen droht ja keine Gefahr. Aber ich verstehe es auch zu treffen, wo ich treffen will, und dann könnte etwas anderes fallen als nur ein Raubwild!«

Die junge Frau fuhr auf in tödlichem Schreck.

»Sie könnten es wagen –?«

»Was ist da zu wagen! Ich habe nichts mehr zu verlieren – nichts! Wenn ich bisher noch kämpfte um Leben und Existenz, jetzt liegt mir nichts mehr daran. Sie haben meiner Liebe nicht glauben wollen, nun denn, so sollen Sie meinem Hasse glauben. Vielleicht zeigt der Ihnen, daß ich denn doch mehr war als einer von den Spekulanten auf Ihr Gold!«

Er ging, ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu lassen, und sie konnte nicht im Zweifel sein über den Ernst der Drohung. Ein Mann wie Saleck gab sich nicht mit leeren Worten ab, und er machte sich auch kein Gewissen daraus, den zu treffen, der ihm jetzt als Todfeind galt. Er würde ihn zu finden wissen. Siegwart war ja oft genug allein draußen in den Wäldern mit seiner Büchse.

Alice legte die Hand an die Stirn, als wolle sie die betäubende Angst bannen, die sie unfähig machte, zu denken. Nur ein Gedanke stand klar vor ihrer Seele, die beiden durften nicht beieinander bleiben. Man mußte sie trennen um jeden Preis. Saleck würde nicht gehen, jetzt sicher nicht, nun denn, so mußte Hermann fort aus seiner Nähe. Aber wie das ermöglichen? Wie ihn warnen, ohne zu verraten, von welcher Seite die Gefahr drohte und weshalb sie drohte?

Eine halbe Stunde lang war die junge Frau ruhelos auf und ab gegangen im Zimmer. In ihrem Kopf drängten sich hundert Pläne und wurden wieder verworfen, weil sie unausführbar waren. Endlich blitzte ein rettender Gedanke auf! Sie eilte zum Schreibtisch und begann mit fliegender Hand einen Brief zu entwerfen. Er enthielt nur wenige Seiten. Dann klingelte sie und übergab das Schreiben, das die Adresse ihres Vaters trug, der Kammerfrau. Ein Bote sollte es noch heute nach Barkley bringen, dann war es morgen in Hilltown.

Der Brief war fort. Alice hatte am Fenster gestanden und den Boten abgehen sehen. Mit einem tiefen Aufatmen preßte sie beide Hände auf die Brust. Was nun kam, das mußte man abwarten.


Der Aufenthalt der Gräfin Ravensberg nahte sich seinem Ende, schon in den nächsten Tagen wollte sie nach Hilltown zurückkehren. Sie wußte es ganz unauffällig zu veranlassen, daß während dieser Zeit Guntram und Siegwart sie stets auf den Jagdausflügen begleiteten, und schien es nicht zu bemerken, daß Saleck dann stets unter einem Vorwande zurückblieb. Jetzt war die Abreise beschlossen, da kam die unerwartete Nachricht, Mr. Morland werde höchstselbst seine Tochter abholen.

Die Veranlassung dazu war allerdings gegeben. Er wollte nach Barkley, um das dortige Elektrizitätswerk zu besichtigen. Es sollte vergrößert und seine Leistungsfähigkeit noch gehoben werden. Man beabsichtigte zu diesem Zwecke einen der Nebenflüsse mit starkem Gefäll heranzuziehen und sich dessen Kraft dienstbar zu machen.

Der König von Hilltown, wie er im Munde der Leute hieß, pflegte in solchen Dingen stets selbst zu entscheiden. Er wußte seine Stellung zu wahren, in geschäftlicher wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Wo er auch erschien, er war immer der Erste, der Mittelpunkt, um den sich alles drehte, und dabei unnahbar für jede engere Vertraulichkeit, selbst den Gästen seines Hauses gegenüber.

Daß seine Tochter bei ihren Jagdausflügen die Guntramsche Familie so bevorzugte und stets deren Gast war, galt als eine besondere Auszeichnung für diese. Es erklärte sich übrigens aus der Jugendfreundschaft der Gräfin mit Mrs. Guntram. Daß aber William Morland nach der Besichtigung in Barkley in eigener Person die Farm eines seiner früheren Angestellten besuchte, war ein Ereignis, das ganz Barkley und die gesamte Nachbarschaft mit ehrfurchtsvollem Staunen erfüllte.

»Nun, wie findest du ihn?« fragte Adalbert, als der Empfang vorüber war und Morland sich mit seiner Tochter in deren Zimmer zurückgezogen hatte. »Du hast ihn acht Jahre lang nicht gesehen, scheint er dir verändert?«

»Kaum,« versetzte Siegwart, der mit ihm aus der Veranda stand. »Noch etwas mehr Selbstbewußtsein und hochmütige Überlegenheit und noch um einige Grade kühler und nüchterner als damals! Das ist im Grunde begreiflich, wenn man so riesenhafte Erfolge errungen hat. Wärmeren Regungen war er überhaupt nicht zugänglich. Vielleicht für seine Tochter, aber auch das hat er nie äußerlich gezeigt.«

»Jedenfalls ist mir dieser überraschende Besuch nicht unangenehm,« sagte Guntram heiter. »Ich werde jetzt eine vielgenannte und gesuchte Persönlichkeit werden, in Barkley wie in Hilltown. Die Zeitungen der Stadt berichten ja stets ganz genau über die Reisen und den jeweiligen Aufenthalt des großen William. Sie werden auch dies registrieren. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sich demnächst ein paar Reporter einfinden, um mich zu interviewen, was er denn eigentlich bei mir gewollt hat, und dann eine ganz genaue Beschreibung meiner Farm liefern – nun, mir kann's recht sein!«

Siegwart zog leicht die Stirn zusammen.

»Geht die Anbetung des Dollars so weit bei euch? Das ist ja fast noch ärger als das Hofschranzentum bei unseren Fürsten. Kein Wunder, wenn solche Größen dann völlig den Maßstab verlieren für Menschen und Dinge und sich als absolute Alleinherrscher fühlen!«

Er wollte ins Haus, als Adalbert ihn zurückrief.

»Hermann – ist dir Dietrichs Wesen nicht aufgefallen in den letzten Tagen?«

»Er scheint sehr ungesellig geworden zu sein. Fast immer ist er draußen in den Wäldern mit seiner Büchse.«

»Und immer allein. Bei Alice scheint er in Ungnade gefallen zu sein. Sie bestand darauf, mit uns auf die Jagd zu reiten, und hat ihn vielleicht gar nicht aufgefordert. Weißt du etwas darüber?«

»Nein. Ich wäre doch der letzte, den Herr von Saleck zum Vertrauten machte in solchen Dingen.«

»Ich hoffte, der Vorfall auf der Jagd würde dem gespannten Verhältnis zwischen euch ein Ende machen,« sagte Guntram vorwurfsvoll. »Du dankst ihm doch das Leben!«

»Ich habe ihm gedankt, aber er wies das in so schroffer Art zurück, daß ich unmöglich darauf zurückkommen kann. Mir ist dabei überhaupt manches rätselhaft. Der Schuß kam doch zweifellos aus seiner Büchse?«

»Natürlich. Ich hatte gefehlt, und du stürztest, ehe du zum zweiten Schuß kamst. Überdies rief Alice uns ja zu, Saleck habe meisterhaft getroffen.«

»Jawohl,« bemerkte Siegwart einsilbig. »Nun, wenn er den Dank nicht will – ich habe meine Schuldigkeit getan.«

Damit wandte er sich um und trat in das Haus, als wolle er das weitere Gespräch abbrechen.

Oben, im Wohnzimmer der Gräfin, stand Morland am Fenster. Er war auch äußerlich kaum verändert, obwohl er die Sechzig überschritten hatte, aber in seinem Gesicht lag nicht ein einziger Zug, der aus Müdigkeit, aus ein Nachlassen der Kraft deutete. Für seine stählerne Natur war die Arbeit ein Lebenselixir. Solange er noch mitten im Wirken und Schassen stand, schien ihm das Alter nicht nahen zu können.

»Du siehst, ich bin deinem Wunsche nachgekommen, obwohl du mir keine Gründe angabst,« sagte er zu seiner Tochter gewandt. »Ich möchte aber nun wirklich hören, was dich dazu veranlaßte.«

»Der Wunsch war ja leicht genug zu erfüllen,« versetzte Alice ausweichend. »Du warst in Barkley, und anstatt dich dort zu treffen, wie wir verabredet hatten, bat ich dich, mich hier abzuholen. Die Fahrt dauert nur eine Stunde.«

»Das kommt nicht in Betracht. Du weißt aber, was mein persönliches Erscheinen bedeutet, wo es nicht geschäftlich geboten ist und als Besuch gilt. Ich hege Wohlwollen für Guntram, er hat sich damals in meinen Diensten trefflich bewährt. Auf eine solche Auszeichnung aber hat er nicht den mindesten Anspruch.«

Der ganze Hochmut des Dollarfürsten verriet sich in den Worten. Der Mann, der ihm damals seine Werke geschützt und erhalten hatte, galt ihm eben nur als eine brauchbare Arbeitskraft. Er war entsprechend dafür bezahlt worden, irgend ein persönliches Interesse durfte er nicht beanspruchen. Die Gräfin erhob sich und trat zu ihrem Vater.

»Du hast doch meinen Besuchen bei Traudl und meiner Freundschaft mit ihr nie etwas in den Weg gelegt. Und da komme ich gleich mit einer zweiten Bitte! übermorgen tritt in Hilltown der Kongreß der amerikanischen Journalisten zusammen. Du willst ja auch einen großen Empfang geben, Papa, und ich kürze eigens deswegen meinen Aufenthalt ab, damit die Dame des Hauses nicht fehlt. Ich habe so oft schon die Gastfreundschaft der Guntrams angenommen, und sie kommen so selten heraus aus ihrer einsamen Farm. Möchtest du sie nicht einladen für die nächste Woche? Selbstverständlich dann auch Siegwart, der ja jetzt der Gast seines Jugendfreundes ist.«

»Warum tust du das nicht selbst?« fragte Morland befremdet. »Du weißt es ja, daß ich dir darin vollkommen freie Hand lasse. Deshalb war es doch nicht nötig, mich herzuzitieren.«

Die junge Frau blieb die Antwort schuldig. Traudl und ihr Mann wären gern ihrem Wunsche gefolgt – Siegwart wäre nicht gekommen, das wußte sie mit voller Bestimmtheit. Und hier kam es doch nur darauf an, ihn aus Salecks Nähe zu entfernen. Wenn aber ihr Vater persönlich die Einladung aussprach, so konnte sie füglich nicht abgelehnt werden. Einen Mann von der Stellung und Bedeutung William Morlands beleidigte man dadurch. Da war jede Weigerung ausgeschlossen. Aber Alice hatte Scheu vor den scharfen, forschenden Augen des Vaters, deshalb kam sie seinen weiteren Fragen zuvor.

»Muß ich denn durchaus meine kleine Intrige eingestehen?« fragte sie scherzend. »Nun ja, ich wollte diese Auszeichnung haben für Guntram – deinen persönlichen Besuch. Ich kenne ja meinen Papa, der mich so verwöhnt hat, daß er mir jeden Wunsch und nötigenfalls auch manchmal eine Laune erfüllt.«

»Das tue ich nur zu oft,« sagte Morland ernst. »Aber ich finde keine Erwiderung bei dir, Alice. Du weißt, welchen Wunsch ich hege, den Lieblingswunsch meines Lebens – du hast ihm bisher noch nicht Rechnung getragen.«

Über das Gesicht der Gräfin flog ein Schatten, sie verstand die Hindeutung nur zu gut.

»Hat denn das solche Eile?«

»Eile? Du bist seit drei Jahren Witwe. Wann wirst du zu einer zweiten Wahl schreiten, die mir das geben soll, was ich bei deiner ersten Vermählung vergebens erhoffte – Erben meines Blutes? Für wen habe ich gearbeitet? Für wen sammle ich noch immer neue Reichtümer? Sie fallen dereinst an dich, aber wenn du allein bleibst, so kommen sie schließlich doch in fremde Hände. Begreifst du denn nicht, wie bitter mir der Gedanke ist, in all meinem Wirken und Schaffen?«

»Doch, ich begreife es. Aber der Preis ist meine Freiheit!«

»Hast du die etwa entbehrt an Bertolds Seite? Du würdest sie dir auch in einer zweiten Ehe zu sichern wissen. Dem, was jetzt an deiner Hand hängt, beugt sich jeder Mann. Damals war ein Graf Ravensberg eine annehmbare Partie für dich, jetzt kannst du höhere Ansprüche stellen, so hoch du willst. Aber es scheint, das reizt dich nicht mehr.«

»Nein!« erklärte die junge Frau herb. »Das ist fremdes Blut und Leben für uns, das verstehen wir nicht, so wenig wie es uns versteht. Ich habe es erfahren – beim Tode meines Schwiegervaters!«

Morlands Stirn faltete sich, er ließ sich nicht gern erinnern an jene Katastrophe.

»So wähle hier, unter unserer Hochfinanz! Unser letzter Aufenthalt in Neuyork hat dir doch gezeigt, was man da überall hofft und erwartet. Mr. Thornton kennt keinen höheren Wunsch, als dich Tochter nennen zu dürfen. Er wird übrigens unser persönlicher Gast sein bei dem Kongreß. Ich habe ihm mein Haus angeboten.«

»Er kommt mit seinem Sohne?«

»Nein, vorläufig allein. Du hast den jungen Mann wenig genug ermutigt, aber es hängt nur von dir ab und in wenigen Tagen ist er da. Thornton ist als Besitzer des ›Herald‹ eine Macht in unserem Lande. Sein Blatt ist das einflußreichste von allen. Ich brauche dir wohl nicht erst auseinanderzusetzen, was es heißt für mich, diesen Einfluß unbeschränkt zur Verfügung zu haben. Du hast es bei den Ravensbergern peinlich empfunden, nur ein Ziel der Berechnung gewesen zu sein. Die Thorntons stehen uns fast gleich, du kennst ihren Reichtum.«

»Und der sucht wieder den Reichtum! Oder glaubst du, daß Mr. Thornton seinem Sohne erlauben würde, eine arme Frau zu wählen? Der Handel bleibt sich im Grunde gleich.«

Das Wort klang bitter und verächtlich, Morland zuckte nur die Achseln.

»Wir in unserer Stellung können nicht wählen wie der erste beste. Der Besitz legt uns Pflichten aus, ebenso wie denen da drüben ihr Adelswappen. Und einer Pflicht soll man sich beugen, das ist mein Standpunkt. Einmal freilich bin ich davon abgegangen, dir zuliebe, aber da stand dem Manne seine Zukunft zur Seite. Er ist ja jetzt wieder ganz unerwartet in deinen Gesichtskreis getreten, dieser Hermann Siegwart – nun?«

Alice hatte die Frage kommen sehen und war darauf vorbereitet.

»Was nun, Papa?« fragte sie kühl. »Das liegt ja fast um zehn Jahre zurück. So etwas vergißt sich doch mit der Zeit. Übrigens hat Siegwart jetzt einen Künstlernamen, der ihn berechtigt zu der Einladung bei unserem Fest. Er hat Wort gehalten mit seinem Talent.«

»Das wußte ich, sonst hätte ich mir keine Mühe um ihn gegeben,« erklärte Morland. »Ich bedaure es noch heute, daß er nicht für uns zu haben war und daß, was er seitdem geschaffen hat, nicht in Hilltown steht. Hätte er sich und seine Zukunft meiner Leitung überlassen, so zählte er jetzt hier zu den Reichen. In Deutschland hat er höchstens das, was man ein glänzendes Einkommen nennt – da drüben.«

Der spöttische Ton verriet, wie hoch der Amerikaner dieses Einkommen bewertete. Er ließ sich in der Tat täuschen durch die Ruhe seiner Tochter. Sie hatte auch einmal im Leben ihren Roman gehabt wie jede Frau, und er hatte zugestimmt, weil er sich die Kraft des Mannes sichern wollte, weil er wußte, daß dessen Zukunft dieselben Möglichkeiten bot wie einst die seinige. Der Starrkopf hatte nicht gewollt und sein Glück verscherzt. Daß aber solche romantischen Aufwallungen der Zeit und der Trennung nicht standhielten, auf beiden Seiten, war natürlich. Für einen Mann wie Morland, der mitten im praktischen Leben stand, war es sogar selbstverständlich.

»Ich werde deine Wünsche erfüllen,« sagte er abbrechend. »Ich rechne aber dann darauf, daß auch die meinen bei dir Gehör finden, Alice. Die Gegenwart Thorntons gibt dir volle Gelegenheit dazu.«

Er trat in das Nebenzimmer. Alice hatte nichts erwidert, das war geglückt. Jetzt kam es nur darauf an, Siegwart einstweilen in Hilltown festzuhalten und das würde nicht schwer sein. Er plante ja ohnehin einen längeren Aufenthalt in der Stadt. Wenn er zurückkehrte, war Saleck fort, mußte fort sein. Die junge Frau hatte bereits ihren Plan entworfen, und der Besuch Mr. Thorntons kam ihr sehr gelegen.

Es war in den Frühstunden des nächsten Tages. Morland, der ein Frühaufsteher war und am Nachmittag mit seiner Tochter nach Hilltown zurückkehren wollte, machte einen kurzen Morgenspaziergang. Er schritt langsam am Rande des Waldes hin und betrachtete die prächtig gedeihenden Reispflanzungen drüben. Da tauchte plötzlich ein Mann vor ihm auf, der ehrfurchtsvoll, aber mit höchst vergnügter Miene seinen Hut zog.

»Guten Morgen, Mr. Morland!«

Der Angeredete nickte kaum merklich und setzte seinen Weg fort, ohne weiter Notiz von dem Manne zu nehmen, aber dieser blieb an seiner Seite und fing ohne weiteres ein Gespräch an.

»Schöne Waldungen – nicht wahr? Und prächtiger Kulturboden da drüben! Aber Mr. Guntram versteht es auch, etwas daraus zu machen.«

»Wer sind Sie?« fragte Morland statt aller Antwort.

»Hans Henning – zu dienen. Ein braver Deutscher, aber schon seit Jahren in Amerika. Famoses Land, großartig in allem! Damit können wir uns nicht messen in Deutschland. Aber dafür haben wir etwas anderes, was die Amerikaner nicht kennen – das deutsche Gemüt! Ja, Gemüt haben wir und sind stolz darauf.«

Mr. Morland schien durchaus nicht geneigt, sich in eine Debatte über amerikanische Größe und deutsches Gemüt einzulassen. Aber es war ihm neu, daß jemand, der ihn doch kannte, sich unterstand, ihn in so vertraulicher Weise anzusprechen. Er sah sich den kecken Gesellen näher an.

»Sie sind von der Farm?«

»Zu dienen. Das heißt, vorläufig bin ich nur als Gast hier, ohne bestimmte Stellung. Ich bin schon überall herumgekommen und auch sechs Wochen lang in Hilltown gewesen, aber es ist mir nicht geglückt, Sie da zu Gesicht zu bekommen. Alles mögliche habe ich schon gesehen, Potentaten, Berühmtheiten, Größen jeder Sorte. Da habe ich mir gesagt, den großen William Morland mußt du auch sehen, absolut –«

»Was ist Ihr Anliegen?« unterbrach ihn dieser trocken.

Hennings Respekt wuchs. Von der Gemütsseite war dem Mann nicht beizukommen, das merkte man, und von Redensarten und Umschweifen schien er auch nicht viel zu halten. Da war es wohl am besten, man ging geradeswegs auf das Ziel los.

»Ich möchte die Gastwirtschaft an den oberen Werken in Barkley pachten,« sagte er. »Der jetzige Pächter kann sie nicht halten und muß gehen. Ich halte sie, ich habe das Zeug dazu. Bin wie geschaffen zum Gastwirt.«

»So wenden Sie sich an den Direktor der Werke. Er hat die Pacht zu vergeben.«

»Ja, das weiß ich längst. Aber da wird eine Kaution gefordert, und Geld habe ich nicht.«

»Sie haben kein Geld?«

»Nicht einen Cent!« erklärte Henning treuherzig und mit der vergnügtesten Miene von der Welt. »Ich weiß schon, daß das die allergrößte Sünde ist hier in Amerika, aber ich hab's nun einmal nicht! Ich bin ein ganz armer Teufel, aber eine grundehrliche Haut. Geben Sie mir die Pacht, Mr. Morland, ohne Kaution, auf mein ehrliches Gesicht hin. Sie werden es nicht bereuen.«

Morland sah ihn an mit jenem scharfen Blick, der in einer Minute den ganzen Menschen taxierte. Dann sagte er: »Ich werde mich nach Ihnen erkundigen.«

»Vergelt's Gott!« rief Henning begeistert. »Erkundigung! Das ist schon eine halbe Zusage. Vergelt's Gott, Mr. Morland, und ich bedank' mich auch schön.«

Damit streckte er ohne weiteres dem Milliardär seine biedere Rechte hin, aber jener trat einen Schritt zurück und sah ihn von oben bis unten an. Dann machte er eine Bewegung mit der Hand, ungefähr so, wie man eine lästige Fliege fortscheucht.

»Wir sind fertig – bleiben Sie zurück!«

Henning sah dem Davonschreitenden etwas verblüfft nach.

»Ja so, das hat er übelgenommen! Wenn man diesen Dollarprinzen gemütlich kommt, dann werden sie ungemütlich. Meinetwegen! Jetzt gebe nur der Himmel, daß ihm nicht gerade der Hofstetter in die Arme läuft bei der Erkundigung, denn der gibt mir eine Zensur – daß Gott erbarm.«

Die schlimme Ahnung sollte sich leider bestätigen. Als Morland von seinem Spaziergange zurückkam, war der erste Mensch, der ihm begegnete, Hofstetter, und den fragte er natürlich. Der einstige Förster von Grafenau stand in strammer Haltung da und machte »Reverenz« vor dem Manne, dem er und Guntram ja doch den Besitz der Farm verdankten. Als er aber den Namen Hans Henning hörte, da brach sein Ärger aus.

»Ja, der ist bei uns und ist nicht wieder loszuwerden,« sagte er. »Er geht einfach nicht vom Fleck. Ein Hanswurst ist er, der zu keiner rechten Arbeit taugt, nur zum Schwatzen. Und er schwatzt denn auch das Schwarze vom Himmel herunter.«

Morland nickte bestätigend. »Ist er ehrlich?«

»Das schon, bis auf die Lügerei. Er lügt nämlich, daß sich die Balken biegen. Was nur auf der Welt passiert ist – überall ist er dabei gewesen, alles hat er selbst mitgemacht. Und dann erzählt er Dinge, daß den Leuten die Haare zu Berge stehen. Und grade damit behext er sie förmlich. Unsere beiden Jungen sind nicht wegzubringen von seiner Seite. Unsere sämtlichen Leute laufen ihm nach, wie dem Rattenfänger im Märchen. Wenn er mitten unter ihnen sitzt und eine von seinen Mordsgeschichten zum besten gibt, dann vergessen sie Arbeit und Essen, und er kann mit ihnen machen, was er will – sonst ist er ehrlich!«

Diese nicht grade schmeichelhafte Charakteristik hätte vermutlich jeden anderen abgeschreckt, wie sie auf Morland wirkte, ließ sich nicht erraten, denn sein Gesicht blieb unbewegt, als er sagte: »Rufen Sie den Mann her!«

Er hatte längst bemerkt, daß Henning drüben an der Gartenseite lauerte, allerdings mit beklommener Miene, denn er konnte sich denken, wie die »Zensur« von dieser Seite ausfiel. Er kam denn auch, nicht dreist wie sonst, sondern ziemlich zaghaft heran und erwartete den Urteilspruch, der jetzt erfolgte: »Sie scheinen tauglich für den Posten. Sie sollen die Pacht haben, ohne Kaution und vorläufig auf ein Jahr. Melden Sie sich bei dem Direktor, ich werde ihm Weisung zugehen lassen. Keine Redensarten – die Sache ist erledigt!«

Wieder ein kurzes, steifes Nicken und Mr. Morland schritt nach dem Hause. Die beiden anderen waren so verdutzt über diese gänzlich unerwartete Entscheidung, daß sie ein paar Minuten lang stumm blieben.

Endlich fragte Hofstetter: » Was ist erledigt?«

»Hurra!« rief Henning, der jetzt die Sprache zurückgewann. »Ich habe sie! Ich habe die Wirtschaft in den oberen Werken und ohne Kaution! Das ist ein Mann! Der sieht sich seine Leute an, der weiß, wozu ich tauge. Hurra!«

»Schreien Sie nicht so, man hört's ja da drüben!« fuhr ihn Hofstetter an, der jetzt auch die Sache begriff. »Also den haben Sie auch gekapert! Ist denn kein Mensch sicher vor Ihnen? Lassen Sie mich los! Loslassen sage ich, oder ich werde grob.«

Die letzten Worte galten der stürmischen Umarmung, mit der Hans jetzt seinen alten Widersacher überfiel, aber das Sträuben und Schimpfen half diesem nichts.

»Werden Sie grob, Herr Förster!« rief Henning in heller Begeisterung. »Das sind Sie ja eigentlich immer, aber das macht mir jetzt nichts mehr. Ich habe die Pacht, das Gasthaus, und ich werde fertig damit. Ich werde die Barkleyer schon heranziehen und festhalten mit meinen Geschichten. Keiner soll mir vom Platz, bis er so viel gegessen und getrunken hat, wie er nur bezahlen kann. Ich werde dem Winkler Konkurrenz machen, seine ganze Kundschaft nehme ich ihm vor der Nase weg. Morgen früh marschiere ich nach Barkley und stelle mich vor bei dem Direktor, und dann werden Sie mich auch los, Herr Förster, ganz und gar los!«

Er stürmte fort, um der ganzen Farm sein Glück zu verkündigen. Hofstetter sah ihm halb grimmig, halb befriedigt nach und brummte dann vor sich hin: »Nun, dann hat die Sache doch etwas Gutes!«

Morland hielt seiner Tochter Wort. Schon gestern abend hatte er die Einladung ausgesprochen, und da Guntram und seine Frau sofort annahmen, gab es für Siegwart keine Möglichkeit einer Ablehnung, zu der jeder Vorwand gefehlt hätte. Das Ganze machte sich überhaupt so unauffällig und selbstverständlich bei der Gastfreundschaft, die Alice so oft auf der Farm genoß, daß nicht einmal Saleck irgend einen Plan argwöhnte.

Er war natürlich dem Gast vorgestellt worden als Freund und einstiger Regimentskamerad des Hausherrn, und Morland, der die Verhältnisse ja nicht kannte, schien anzunehmen, daß der deutsche Baron auf einer längeren Vergnügungsreise in Amerika begriffen war. Siegwart wurde mit kühler Höflichkeit behandelt als ein früherer Bekannter aus Europa, aber doch mit der Rücksicht, die seiner jetzigen Stellung zukam. Der Amerikaner versagte einer Kraft, die sich bewährt hatte, nie die Anerkennung.

Augenblicklich saß er auf der Veranda mit dem Baurat. Sie hatten zunächst von Deutschland gesprochen, und Hermann bemerkte mit Überraschung, daß jener über seine künstlerischen Leistungen vollkommen unterrichtet war. Das Nationalmuseum, das seinen Ruf begründete, hatte ja eine Berühmtheit erlangt, auch die auswärtigen Blätter hatten sämtlich Abbildungen davon gebracht, aber seine anderen Pläne und Entwürfe gingen doch nur die betreffenden deutschen Städte an. Morland kannte alles. Endlich ging er auf ein anderes Thema über.

»Sie haben Hilltown bereits gesehen?«

»Ja, auf dem Wege hierher. Ich war aber nur etwa eine Woche dort und kenne eigentlich nur die Physiognomie der Stadt.«

»Das ist genug. Und Ihr Urteil?«

Siegwart lächelte.

»Wollen Sie auch meine Bewunderung anhören, Mr. Morland? Neu ist Ihnen das ja wohl nicht mehr. In einem einzigen Jahrzehnt eine Schöpfung von dieser Größe und Mächtigkeit ins Leben zu rufen – das konnten eben nur Sie. Das ist eine von den unbegrenzten Möglichkeiten Ihres Landes. Bei uns ist das nicht möglich, darin haben wir uns zu beugen.«

»Und hätte es Sie nicht gereizt, mit an der Spitze einer solchen Schöpfung zu stehen?«

Es war die erste Hindeutung auf die Vergangenheit, und Siegwart nahm sie in voller Unbefangenheit aus.

»Gewiß,« versetzte er, »aber Sie wissen ja, was mich in Deutschland festhielt. Sie haben mir damals eine Stellung im Stabe Ihrer Architekten angeboten –«

»Für den Anfang. Das hätte nicht lange gedauert, denn ich sah Ihre künstlerische Entwicklung mit voller Bestimmtheit voraus. In wenigen Jahren wären Sie der erste gewesen in diesem Stabe. Der jetzige Chef des Bauwesens ist beteiligt an unserer Gesellschaft, selbstverständlich in einer Höhe, die seiner umfassenden Tätigkeit entspricht. Er ist bereits Millionär.«

Es lag eine unverkennbare Absichtlichkeit in der Bemerkung, die der Baurat nur zu gut verstand, aber er blieb sehr gelassen dabei.

»Ich zweifle nicht daran. Er hat vermutlich auch den Bauplan und die ganze Anlage der Stadt geschaffen?«

»Unter meiner Leitung. Ich behalte mir die Entscheidung stets selber vor. Was soll die Frage?«

»Nichts, Mr. Morland. Es war nur eine Bemerkung.«

»Sie haben aber einen Hintergedanken dabei, ich sehe es. Was meinten Sie?«

»Ich bin ein Fremder hier im Lande,« sagte Hermann ausweichend. »Da möchte ich mir kein Urteil erlauben.«

»Ich wünsche es aber von Ihnen zu hören – rückhaltlos. Ich bin die Offenheit ja gewöhnt von Ihrer Seite.«

»Nun denn – haben Sie sich schon einmal gefragt, was aus Ihrem Hilltown wird, wenn irgend eine größere Katastrophe darüber hereinbricht?«

»Nein,« versetzte der Amerikaner mit kühler Überlegenheit. »Wir gründen unsere Städte auf das Gedeihen und Emporwachsen. Mit unwahrscheinlichen Möglichkeiten rechnen wir nicht. Welche Katastrophe meinen Sie?«

»Irgend ein Elementarereignis, sei es Feuer oder Wasser, das sich nicht eindämmen läßt mit den vorhandenen Mitteln. In dem Falle ist die innere Stadt verloren, und die Vorstädte sind zum mindesten schwer gefährdet. Ein einheitlicher Plan kann bei der Anlage nicht vorhanden gewesen sein. Man hat immer nur gebaut, wie es das augenblickliche Bedürfnis und das unglaublich schnelle Wachstum der Stadt forderten. Man hat nur geschaffen, ohne zu sichern. All diese Straßenzüge, diese Hotels und Paläste müssen ja entstanden sein, wie von dem Zauberstabe Merlins aus dem Boden gerufen – in Monaten, wo wir Jahre gebraucht hätten. Aber wie man gebaut hat, das, Mr. Morland, hält irgend einer Gewalt, die von außen kommt, nicht stand.«

Das war wieder die rückhaltlose Offenheit, mit der einst der junge Baumeister in Ravensberg dem Manne gegenübertrat, der schon damals keinen Widerspruch kannte und jetzt vollends an die unbedingteste Bewunderung gewöhnt war. Er antwortete denn auch nicht, sondern hörte schweigend, aber mit finster zusammengezogenen Brauen zu.

Nach einer kurzen Pause hob Hermann wieder an: »Sie hatten mir eine erste Stelle in dem Stabe Ihrer Architekten zugedacht? Das wäre nicht von Dauer gewesen. Was ich jetzt aussprach, das hätte ich schon beim Entstehen der Stadt geltend gemacht und bis aufs äußerste vertreten. Und Sie hätten sich natürlich nicht beeinflussen lassen von dem Widerspruch eines Ihrer Untergebenen.«

»Nein!« war die kalte Antwort.

»Dann wäre ich eben gegangen, hätte gehen müssen. Die Verantwortung für dies Hilltown hätte ich nicht getragen.«

Morland erhob sich mit einer Bewegung, die etwas von verhaltenem Zorn an sich hatte.

»Sie wären dazu imstande gewesen!« sagte er halblaut.

»Zürnen Sie mir wegen meiner Offenheit?«

»Nein, ich forderte sie ja von Ihnen. Aber Sie haben damals die richtige Wahl getroffen. Wir beide taugen nicht zusammen, und Sie taugen nicht nach Amerika. Wenn ich mit Ihrer deutschen Gründlichkeit und Schwerfälligkeit gerechnet hätte, dann wäre Hilltown jetzt nicht viel weiter als Barkley. Lassen Sie es sich gesagt sein, Mr. Siegwart, wir arbeiten hier für die Gegenwart, für das, was Tag und Stunde fordern, und haben keine Zeit für solche Bedenken. Für uns existiert nur das, was ist und wird – nicht das, was einmal sein könnte

Hermann neigte das Haupt.

»Ich beuge mich Ihrer Kenntnis und Beurteilung der Verhältnisse. Meine Überzeugung bleibt unberührt davon.«

Morland wandte sich nach der Tür des Hauses.

»Also morgen erwarte ich Sie, rechne aber mit Bestimmtheit darauf, daß Sie länger bleiben. Sie sahen Hilltown nur flüchtig, sehen Sie es sich diesmal genauer an. Lernen Sie es kennen mit all seinen Hilfsquellen, mit all dem Leben, das sich darin regt. Dann werden Sie begreifen, daß man so etwas nur schaffen kann, wenn man rücksichtslos vorwärts geht, ohne rechts und links zu blicken, immer nur das Ziel im Auge. Das ist in solchen Dingen das erste, oft sogar das einzige Gebot.«

Er ging. Sie schieden wieder im vollsten Widerspruch, aber merkwürdig – die ganze einstige Vorliebe des Amerikaners erwachte von neuem, als er wieder unter dem Einfluß von Siegwarts Persönlichkeit stand. Der durfte ihm sagen, was kein anderer hätte wagen dürfen, und er zürnte ihm nicht einmal darüber.

Der Milliardär verachtete gründlich die Menge, die sich an ihn drängte, sich vor ihm bückte und sich um seine Gunst mühte. Er hielt nicht einmal viel von seinen eigenen Standesgenossen, und was sonst in Beziehung zu ihm stand, das maß er nach dem Wert seiner Arbeitskraft. Nur der eine, der ihm da drüben in Europa begegnet war, hatte ihm imponiert mit seiner starken, zwingenden Natur. Der wollte nichts von ihm, beugte sich nicht, und als ihm der höchste Preis geboten wurde, riß er sich los und ging davon.

Vergessen hatte ihm das William Morland nicht. Er vergaß nie etwas. Aber es war einmal ein Mensch in seinen Weg getreten, einer, den er hatte an sich ketten wollen um jeden Preis – und grade der war und blieb verloren für ihn!


Hilltown stand im Zeichen des Kongresses, der zum erstenmal in seinen Mauern tagte. Der große Verband amerikanischer Journalisten war eine der ersten und jedenfalls die einflußreichste Vereinigung in einem Lande, wo die Macht der Presse fast unbegrenzt war. Daß sie diesen Ort erwählte, bedeutete zugleich seine Anerkennung als Großstadt. Alle diese Hunderte, die von nah und fern herbeikamen, sandten Hunderte von Berichten und Artikeln an die Zeitungen, die sie vertraten. Man konnte im Laufe dieser Woche kein Blatt in die Hand nehmen, ohne auf den Namen Hilltown zu stoßen. Morland wußte, was er tat, als er es mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, durchsetzte, daß die Wahl diesmal auf seine Stadt fiel.

Hilltown war denn auch vollkommen auf der Höhe der Lage. Der Empfang und die Aufnahme der Gäste übertrafen alle ähnlichen Veranstaltungen. Die Reichen und Reichsten wetteiferten in einer großartigen Gastfreundschaft. Die sämtlichen Hotels waren belegt, und hier machte die Stadt selbst den Wirt für die eintreffenden Gäste. Jeder Sitzung des Kongresses folgte irgend eine Festlichkeit, und der große Empfang, der bei William Morland angesagt war, sollte den Schluß dieser Festwoche bilden.

Das palastartige Haus des Präsidenten der Gesellschaft, dem Hilltown sein Entstehen verdankte, lag im Gartenviertel, wo die »oberen Tausend« wohnten. Hier schlossen sich überall Gärten und Parkanlagen an die Besitzungen, hier hatte sich die erste Gesellschaft niedergelassen, die sich vornehm abgeschlossen hielt von der eigentlichen Stadt und ihrem Treiben. Auch oben auf den Hügeln, die das ganze, weite Tal umgrenzten, war eine Villenkolonie entstanden, meist kleinere, zierliche Landhäuser, die nur selten zum ständigen Aufenthalt dienten. Man machte Ausflüge dorthin, wo die Höhe einen prächtigen Ausblick über die Stadt und das Tal bot. Auch Morland besaß eine derartige »Cottage« und pflegte an schönen Abenden öfter mit seiner Tochter hinauszufahren, um dort zu speisen.

Sein Haus besaß selbstverständlich eine Anzahl von Gastzimmern, aber sie waren diesmal sämtlich in Anspruch genommen. Mr. Thornton allein verfügte über drei oder vier Räume, und in seiner Begleitung befanden sich noch einige Herren, erste Mitarbeiter des »Herald«, die gleichfalls besondere Rücksichten beanspruchten. Die Einladung, die auf den Wunsch von Alice erst in letzter Stunde erfolgte, war nicht vorgesehen, und so entschloß man sich denn, die Gäste in jener hochgelegenen Villa unterzubringen.

Traudl war ganz entzückt von dieser Anordnung, als sie mit ihrem Manne und Siegwart eintraf. Die kleinen, aber mit allem erdenklichen Komfort eingerichteten Räume waren weit mehr nach ihrem Geschmack, als das große Morlandsche Palais. Es war allerdings ein Vorzug, hier oben zu wohnen, mit dem prächtigen Landschaftsbilde vor Augen, und mit dem Automobil, das jederzeit zur Verfügung stand, ließ sich die Stadt in einer halben Stunde erreichen. Der Empfang bei Morland, der die Festlichkeiten abschloß, übertraf in der Tat alles bisher Gebotene. Die weiten, lichtstrahlenden, mit einer verschwenderischen Blumenfülle geschmückten Räume imponierten selbst diesen, zum Teil sehr verwöhnten Gästen. Die Dekoration der Säle und Zimmer, die Anordnung der Tafel und was sonst zum Feste gehörte, ließ an Glanz und Pracht alles Gewohnte weit hinter sich zurück. So etwas konnte sich nur ein Mann leisten, der mit dem Golde als solchem überhaupt nicht rechnete und dem es nicht darauf ankam, ein Vermögen auszugeben für diesen einzigen Abend. William Morland durfte es sich leisten.

Gräfin Alice, die in blendender Toilette, strahlend von Juwelen, an der Seite ihres Vaters die Gäste empfing, wurde selbstverständlich umdrängt von allen Seiten. Alles bewunderte sie, huldigte ihr, und sie nahm das auf mit der Miene einer Fürstin, die an einen derartigen Tribut gewöhnt ist. Sie war es in der Tat, und Morlands Blick ruhte mit stolzer Genugtuung auf ihr. Er wußte, was er an seiner schönen Tochter besaß. Es war doch schließlich besser, daß sie die zweite Wahl hier in Amerika traf. Als Mrs. Thornton lebte sie in Neuyork, wohin er selbst oft genug kam und würde dann wochenlang mit ihrem Gatten in Hilltown weilen. Auf diese Weise verlor der Vater sie nicht. Alice schien sich in der Tat seinen Wünschen zu fügen. Sie war wahrend der ganzen Zeit voll liebenswürdiger Aufmerksamkeit gewesen Mr. Thornton gegenüber, der denn auch völlig von ihr begeistert war.

Siegwart, der sich einem gemeinsamen größeren Ausflug angeschlossen hatte, verspätete sich etwas dabei. Guntram und seine Frau waren schon fort, als er nach der Villa zurückkehrte. Er traf sie erst auf dem Feste und da benutzte Adalbert die erste Gelegenheit, um ihn beiseite zu ziehen.

»Ich muß dir doch etwas Merkwürdiges mitteilen,« begann er. »Heute mittag erhielt ich einen Brief von Dietrich. Denke nur – er ist auf dem Wege nach Neuyork!«

»Dietrich Saleck?« fragte Hermann überrascht. »Er hat ja nie ein Wort verlauten lassen von dieser Absicht.«

»Er hat sie wohl auch gar nicht gehabt und sich nichts träumen lassen von dieser Aufforderung. Aber ein Mann in seiner Lage schlägt natürlich so etwas nicht aus.«

»Welche Aufforderung?«

»Vom ›Herald‹, und noch in letzter Stunde! Du weißt ja, das Blatt rüstet eine Expedition aus zur Erforschung des Nordpols. Wir debattierten erst kürzlich darüber, als die Sache in verschiedenen Artikeln erörtert wurde.«

»Ich erinnere mich, aber hat Saleck denn irgendwelche Beziehungen zum ›Herald‹ oder zu seinen Kreisen»?«

»Nicht im geringsten. Die Einladung kam ihm selbst ganz unerwartet, wie es scheint.«

»Dann hat Gräfin Ravensberg die Hand dabei im Spiel,« erklärte Siegwart mit Bestimmtheit. »Mr. Thornton ist ja der Gast ihres Vaters.«

»Ich habe auch schon daran gedacht,« versetzte Guntram. »Es ist immerhin möglich, daß Dietrich sich verwegene Hoffnungen gemacht, vielleicht sogar eine Erklärung versucht hat. Er ist der Mann dazu, und er war in den letzten Tagen entschieden in Ungnade bei Alice. Es sah freilich manchmal aus, als ermutige sie ihn. Das mag ihr jetzt leid tun, und da ist sie für ihn eingetreten.«

»Oder sie will ihn entfernen,« warf Hermann nachdenklich ein. »Aber warum?«

»Vielleicht erfährt Traudl etwas darüber, sie war ebenso überrascht als ich. Rätselhaft bleibt es immer. Die Teilnehmer sind ja längst schon bestimmt, denn die Expedition geht in drei Wochen ab. Da muß eine mächtige Fürsprache tätig gewesen sein!«

»Vermutlich,« sagte Siegwart zerstreut, er schien noch immer über etwas nachzusinnen.

»Gleichviel, wie die Sache zusammenhängt, sie gibt seinem Leben eine ganz andere Richtung,« meinte Adalbert. »Für die nächsten zwei oder drei Jahre ist er überhaupt jeder Existenzfrage enthoben als Gast des ›Herald‹, wie alle Teilnehmer der Expedition. Und wenn er glücklich zurückkehrt, öffnen sich ihm alle möglichen Beziehungen. Das hat er wohl auch erkannt und nicht einen Augenblick gezögert, zuzugreifen.«

Da trat Traudl zu den beiden, die abseits in einer Fensternische standen. Sie sah heute allerliebst aus in ihrem duftigen, rosigen Festkleide, freilich sehr einfach gegen all die vornehmen Damen der Stadt, die an Glanz der Toiletten und sonstigem Luxus miteinander wetteiferten. Aber die junge Frau in ihrer blühenden Frische und noch so mädchenhaften Anmut behauptete sich vollkommen daneben. Die Pracht des Morlandschen Hauses war ihr ja nicht fremd. Sie kam öfter nach Hilltown und wohnte dann stets bei ihrer Freundin, aber sie gehörte zu jenen glücklich angelegten Naturen, die sich überall zurechtfinden. Sie nahm stets dankbar und freudig an, was die Stunde ihr bot, und kehrte dann neidlos und ebenso freudig zurück in ihre einfachen Verhältnisse.

»An Alice ist heute gar nicht heranzukommen,« sagte sie heiter. »Ich konnte kaum ein paar flüchtige Worte mit ihr wechseln. Nun, Hermann, was sagen Sie zu diesem Fest? So etwas kennt man doch nicht in unserer alten Heimat.«

»Nein, Frau Traudl, Gott sei Dank! Solche Feste des Königs Mammon, der all seine Getreuen zu sich entbietet, um sich von ihnen huldigen zu lassen, haben wir vorläufig noch nicht. Das hat das freie Amerika vor uns voraus.«

Die Worte sollten scherzhaft sein, klangen aber recht bitter, und die junge Frau nahm auch eine strafende Miene an. »Das war eine recht häßliche Äußerung! Schämen Sie sich, wir sind doch Gäste hier im Hause.«

»Zu pflichtschuldiger Bewunderung eingeladen. Ich bin nun leider nicht angelegt dafür. Ich habe eine sträfliche Gleichgültigkeit gegen solche Schaustellungen des Reichtums, die mir nicht im mindesten imponieren.«

Traudl lachte ihr frohes, helles Lachen, das so herzerfrischend klang.

»Wie ernsthaft Sie das alles nehmen! Wir haben es vergnügt mitgemacht, ohne viel Nachdenken, und schön ist's gewesen – o, so schön! Gib acht, Adalbert, deine Frau ist schon ganz verdorben hier in Hilltown. Sie wird dir künftig das Leben schwer machen, du wirst deine Not und Mühe mit ihr haben.«

»Nein, da kenne ich meine Traudl besser,« widersprach Adalbert. »Der schadet es nichts, wenn sie auch einmal diesen glänzenden Trubel mitmacht. Oder würdest du mich und die Kinder hingeben dafür?«

»Sehen Sie, Hermann, es nützt gar nichts, wenn ich mich schlecht mache,« schmollte die kleine Frau. »Er glaubt es mir nicht, er weiß es besser. Freilich, wenn wir morgen heimfahren, dann freue ich mich ebensosehr auf die Kinder, auf den Onkel Hofstetter und unser stilles, sonniges Heim. Er kennt mich schon, der Ady!«

Sie lächelte ihrem Manne zu, der halb verstohlen Ihre Hand in die seine schloß.

»Mein Klein-Rottraud!« sagte er leise, aber mit vollster Innigkeit.

Siegwart sah schweigend auf die beiden, die mitten in diesem schimmernden, glanzvollen Treiben sich so fest und sicher ihres Glückes bewußt waren. Ja, diese kleine Traudl, die, ein halbes Kind noch, mit dem geliebten Manne in den Tod hätte gehen wollen und jetzt im Leben so treu und tapfer an seiner Seite stand. Und so würde sie neben ihm stehen, in Glück und Not, bis ans Lebensende. Das war sein Ideal einer Frau. So mußte das Weib sein, das er sich dereinst in sein Haus holte, das allein verbürgt das Glück.

In der Gesellschaft gab sich eine Bewegung kund. Eben trat Gräfin Alice in den Saal am Arme Mr. Thorntons. Alle Blicke richteten sich auf die beiden, und überall wurden leise Bemerkungen ausgetauscht. Man sprach ja bereits von einer geplanten Verbindung der Häuser Morland und Thornton. Die Gerüchte traten mit großer Bestimmtheit auf und blieben unwidersprochen.

Auch Siegwart hatte es gehört und zweifelte kaum mehr daran. Das war ja auch das einzig Richtige. Da kam Art zu Art. Die Frau, die sich hier huldigen ließ wie eine Fürstin, würde es nie vergessen, daß sie eine Krone trug, die Krone des »Königs Mammon«. Die Ravensberger hatten das erfahren müssen.

Alice schritt mit ihrem Begleiter langsam durch den Saal. Hie und da blieben sie bei einer Gruppe stehen, um ein paar Worte zu spenden oder ein kurzes Gespräch anzuknüpfen. Es war eine Art Cercle, den sie abhielten. Der Blick der Gräfin glitt dabei zerstreut über die Gesellschaft hin, da trafen sie plötzlich zwei Augen, die mitten in all der lächelnden Liebenswürdigkeit und Bewunderung ringsum finster, beinahe feindselig auf sie gerichtet waren, und doch hielten sie ihre Augen wie gebannt fest. Es dauerte nur eine Minute, dies stumme und doch so vielsagende Anschauen, dann wandte sich Siegwart ab. Aber er wußte es doch in diesem Augenblick, daß er sich überhaupt nie ein Weib holen würde, daß er verdorben war für das friedliche, stille Glück seines Freundes. Er würde niemals eine andere in die Arme nehmen mit dieser Leidenschaft im Herzen, die ihm doch nun einmal zum Verhängnis geworden war.

Mr. Thornton hatte seine Dame in die Nebenräume geleitet, die eigens zum Plaudern und Zurückziehen bestimmt schienen. Ein kleines Kabinett, matt erhellt, traulich und blumendurchduftet. Er nahm dort an ihrer Seite Platz.

»Verzeihung, Gräfin, wenn ich Sie auf eine Viertelstunde der Gesellschaft entziehe,« sagte er. »Ich wollte Ihnen doch gern persönlich die Nachricht bringen, daß Ihr Wunsch erfüllt ist. Ihr Schützling trifft heute abend in Neuyork ein.«

»Wirklich?« fragte Alice lebhaft. »Er hat also angenommen?«

»Haben Sie etwa daran gezweifelt? Er hat natürlich zugegriffen mit beiden Händen, und das war wohl selbstverständlich.«

»Nicht so ganz, denn wir hatten hier mit dem Stolz und der Empfindlichkeit eines Mannes zu rechnen, der seine Vergangenheit noch immer nicht vergessen kann. Ich sagte es Ihnen ja bereits, Baron Saleck durfte sich drüben zu den ersten Kreisen zählen, bis der Ruin seiner Familie ihn hinausjagte in die Fremde. Deshalb machte ich es auch zur Bedingung, daß er nicht erfahren dürfe, von welcher Seite die Fürsprache kam. Eine Gunst aus meiner Hand hätte er nie angenommen.«

»Seien Sie unbesorgt, Ihr Inkognito ist gewahrt und wird es bleiben. Hoffentlich macht dieser Mr. Saleck Ihrer Empfehlung Ehre.«

»Davon bin ich überzeugt. Er ist ein trefflicher Schütze, ausdauernd, an Strapazen gewöhnt und dabei verwegen bis zur Tollkühnheit. Bei diesem Leben, voll von Gefahren und Aufregungen, ist er in seinem Elemente. Sie werden Ihre Wahl nicht bereuen.«

Mr. Thornton lächelte.

»Von einer Wahl unsererseits war hier eigentlich nicht die Rede, nur von Ihrem Wunsche, Gräfin, denn Sie traten erst in letzter Stunde damit hervor. Solch ein Unternehmen wird ja lange vorbereitet. Schon zu Anfang des Jahres wurden die Teilnehmer bestimmt. Es meldeten sich nur allzuviele, bekannte Namen, unter denen wir eine Auswahl treffen mußten. Dieser deutsche Baron hatte als Fremder und Ausländer nicht den mindesten Anspruch auf eine solche Bevorzugung: aber Sie traten für ihn ein. Da habe ich die Sache kurzerhand meinem Harry übergeben. Ich teilte ihm mit, es sei Ihr dringender Wunsch, und er solle sich einen Dank bei Ihnen verdienen – da wurde natürlich noch ein Platz geschaffen.«

Er betonte nicht umsonst die Schwierigkeiten der Erfüllung, und Alice verstand die letzte Hindeutung nur zu gut, aber sie ging leicht darüber hinweg und reichte ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen, Mr. Thornton, Sie haben mir eine große Freude damit gemacht. Bleibt es wirklich dabei, daß Sie uns schon morgen verlassen?«

»Ich muß, der Kongreß ist zu Ende, und mich erwarten dringende Geschäfte in Neuyork. Ihren Dank lehne ich ab, denn ich selbst habe kaum etwas getan, das war Harrys Sache. Aber wenn er selbst sich den Dank holen dürfte – er ist jede Stunde bereit.«

Die junge Frau schwieg einen Augenblick, dann entgegnete sie halb scherzend: »Aber wir sehen uns ja schon in vierzehn Tagen im Seebade. Es wurde doch ausgemacht, daß Sie und Ihr Sohn uns dort besuchen. Ich denke, wir lassen es dabei.«

»Wenn Sie darauf bestehen, dann müssen wir uns allerdings fügen. Darf ich Sie jetzt zur Gesellschaft zurückführen?«

Alice lehnte den dargebotenen Arm ab.

»Ich möchte noch ein paar Minuten hier bleiben. Es ist so erstickend heiß in den Sälen, und ich brauche einen Moment des Ausruhens.«

Thornton fand, daß seine zukünftige Schwiegertochter in der Tat angegriffen aussah. Kein Wunder! Diese letzte Woche war anstrengend genug für sie gewesen. Sie hatte ja überall erscheinen und repräsentieren müssen, und der heutige Abend stellte nun vollends hohe Anforderungen an die Dame des Hauses. Er sah es, daß sie allein zu sein wünschte, und kam mit voller Artigkeit diesem Wunsche nach.

Mit einem tiefen Atemzuge lehnte sich die junge Frau zurück in den kleinen Diwan, auf dem sie saß. Sie hatte während all dieser Tage nur ein Ziel vor Augen gehabt, Saleck zu entfernen, möglichst weit, um jenen anderen zu schützen, für dessen Leben sie zitterte. Das war erreicht, aber nun wurde der Preis dafür gefordert. Sie hatte dem Vater mehr oder weniger bestimmte Hoffnungen gemacht für die Werbung seines Sohnes und konnte diesen nun nicht zurückweisen, wenn er kam. Das wäre eine Beleidigung gewesen, die sich selbst die Tochter William Morlands nicht erlauben durfte einem Thornton gegenüber.

Es gab ja auch keine Wahl mehr, die Entscheidung war ja im Grunde schon gefallen, und der kurze Aufschub änderte nichts daran. Was kam es denn auch darauf an, wem man schließlich die Hand reichte! Harry Thornton oder ein anderer, das galt gleich. Und doch konnte Alice den Blick nicht vergessen, der sie vorhin mitten in dem glänzenden Gewühl des Festes getroffen hatte, und doch klammerte sie sich an jenen Aufschub wie an einen Rettungsanker. Da half kein Selbstbetrug. Sie war wieder völlig im Banne des Mannes, der sie einst die Liebe kennen lehrte.


Die festliche Woche war für Hilltown vorüber, und es nahm wieder sein Alltagsgesicht an. Schon am nächsten Vormittag entführten die Expreßzüge die Teilnehmer des Kongresses nach allen Himmelsrichtungen. Mr. Thornton kehrte mit den Herren seines »Stabes« nach Neuyork zurück, Guntram und seine Frau reisten gleichfalls ab, nur Siegwart blieb noch einige Tage. Er konnte die bestimmte Aufforderung Morlands dazu nicht abweisen nach all der Gastfreundschaft, die er und seine Freunde hier genossen hatten. Freiwillig wäre er nicht geblieben, er wußte am besten, was es ihn kostete, noch immer hier in dieser Nähe zu verweilen.

Es war um die Mittagsstunde. Hermann stand am Fenster der Villa und wartete auf das Automobil, das ihn nach der Stadt bringen sollte. Das Wetter war in der Nacht umgeschlagen, nach der Hitze und Trockenheit, die in dieser Jahreszeit mondelang herrschte, war der scharfe Nordost eingefallen, der in Hilltown einigermaßen gefürchtet wurde. Er wehte oft tagelang und richtete gewöhnlich irgendwo Schaden an. Das sonst so anziehende Landschaftsbild hatte heute seine ganze Schönheit verloren. Unter einem bleifarbenen Himmel lag die Stadt, ganz eingehüllt in wirbelnde Staubwolken, der Wind, der im Laufe des Vormittags zum Sturme geworden war, jagte sie immer wieder von neuem auf. Er fuhr hier oben um die zierlichen Landhäuser mit einer Gewalt, als wollte er sie wegfegen vom Erdboden, und die Bäume und Gesträuche bogen sich sausend unter seinem wilden Atem.

Hermann blickte hinaus, ohne viel zu sehen, er war ganz wo anders mit seinen Gedanken, aber allmählich fiel es ihm doch auf, daß die Staubwolke dort über der inneren Stadt so merkwürdig fest und dicht stand. Sie schwankte wohl bisweilen hin und her, ballte sich aber immer wieder zusammen und dehnte sich immer weiter aus. Er sah schärfer hin, nahm schließlich sein kleines Fernglas zur Hand und entdeckte nun, daß da unten etwas vorging. Wagen jagten durch die Straßen, Menschen schienen sich anzusammeln. Plötzlich blitzte eine furchtbare Ahnung in dem Beobachtenden auf, die schon im nächsten Moment zur Gewißheit wurde. Das war nicht Staub, das war Rauch – Qualm! Jetzt fuhr ein Windstoß mitten hinein und teilte ihn, und da lohte es blutigrot auf – Hilltown brannte.

Siegwart stürzte hinaus und trieb seinen Chauffeur zur Eile an. Er jagte nach der Stadt hinunter, zunächst nach dem Hause Morlands. Dort wußte man natürlich schon von der Sache, schien aber nicht übermäßig besorgt zu sein. Es hatte ja schon öfter gebrannt, und man besaß eine vorzügliche Feuerwehr, die bereits in voller Tätigkeit war. Mr. Morland wollte sich allerdings selbst zur Brandstätte begeben und war nur noch auf einige Minuten zu der Gräfin gegangen, um sie zu verständigen.

Einer der Sekretäre, der den Baurat als Gast des Hauses kannte, gab ihm diese Auskunft. Sie standen in einem der Empfangszimmer, als die Türe sich öffnete und Morland mit seiner Tochter heraustrat.

»Ah, Sie sind auch da, Mr. Siegwart,« sagte er. »Sie haben den Brand wohl von oben gesehen, wir sind eben dabei, ihn zu lokalisieren und einer weiteren Gefahr vorzubeugen, aber ich möchte Sie um eine Gefälligkeit ersuchen. Geleiten Sie meine Tochter nach der Villa hinaus. Ich möchte nicht, daß sie beunruhigt wird durch den Lärm in der Stadt.«

Er sprach mit seiner gewohnten Gelassenheit, aber Hermann sah es doch, daß er nicht so ruhig war, als es den Anschein hatte. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, und darin stand derselbe Gedanke. Die Warnung, die damals ausgesprochen und mit einem Achselzucken abgelehnt worden war, tauchte wie ein drohendes Gespenst auf.

»Ich stehe zur Verfügung,« erklärte Siegwart. »Wenn die Gräfin es wünscht –«

»Nein, ich möchte hier bleiben,« unterbrach sie ihn unruhig. »Das sieht ja aus, als müßten wir flüchten, und hier draußen ist doch keine Gefahr vorhanden.«

»Das nicht, aber die Menschen verlieren nur zu leicht den Kopf bei solchen Ereignissen. Man wird dich ängstigen mit allen möglichen Übertreibungen – wozu das? Ich wünsche, daß du hinausfährst.«

Er wandte sich zu dem Diener, der mit Hut und Überrock wartend dastand. Während er den letzteren anlegte, trat Alice zu dem Baurat und fragte rasch und leise: »Ist Gefahr vorhanden?«

»Ich fürchte –« gab er ebenso leise zurück.

»Was fürchten Sie?«

»Bei diesem Sturme – alles!«

Sein Blick ergänzte die Worte, und die junge Frau verstand ihn, sie richtete sich mit voller Entschiedenheit auf.

»Ich bleibe hier, Papa! Ich bin ja doch kein furchtsames Kind, das man hüten muß vor jedem Schrecken. Mr. Siegwart, begleiten Sie meinen Vater, gehen Sie ihm nicht von der Seite! Ich rechne darauf, ich bitte Sie darum!«

Morland machte eine Bewegung der Ungeduld und schien widersprechen zu wollen, aber Hermann stand bereits an seiner Seite und wiederholte mit vollem Nachdruck die Bitte: »Lassen Sie mich mit Ihnen gehen! Ich bleibe ja doch nicht zurück.«

Der Amerikaner zuckte die Achseln, aber er gab nach. »So kommen Sie,« sagte er kurz. »Auf Wiedersehen, Alice! Bis zum Abend ist die Gefahr beseitigt, verlaß dich darauf!«

Er gab dem Sekretär, der sich zur Begleitung fertiggemacht hatte, einen Wink, zurückzubleiben, und ging mit Siegwart hinaus. In der nächsten Minute saßen sie beide im Automobil, das sie zu der Brandstätte führte. –

Wie das Feuer entstanden, was die Veranlassung dazu gewesen war, das wußte niemand. Um die Mittagsstunde schlugen die Flammen plötzlich aus dem oberen Stockwerk eines Hauses, das in einer der engsten Straßen lag. Als die Bewohner herausstürzten und die Menschen sich ansammelten, brannte bereits der Dachstuhl, und als die ersten Löschmannschaften anrückten, auch schon die beiden Nachbarhäuser. Eine Stunde später stand die ganze Straße in Flammen.

Die Feuerwehr von Hilltown war in der Tat vorzüglich organisiert und tat in vollkommenstem Maße ihre Pflicht. Energisch und besonnen ging sie dem Feuer zu Leibe und wäre seiner zweifellos Herr geworden bei ruhigem Wetter. Aber der noch immer wachsende Sturm spottete der Menschenkräfte. Er jagte die Flammen von Dach zu Dach, von Straße zu Straße und trug die brennenden Trümmer nach allen Richtungen hin, bis in die Vorstädte hinaus! Während man sich noch mühte, die innere Stadt zu retten, brannte es dort draußen bereits. Und dazu die vor Angst und Schrecken halb wahnsinnige Bevölkerung, die, von einer wilden Panik ergriffen, entweder besinnungslos flüchtete oder tollkühn versuchte, noch irgend etwas zu retten von ihrer Habe – es war ein verzweifeltes, furchtbares Durcheinander.

Freilich zeigte sich daneben die Kaltblütigkeit und der Mut der Amerikaner im vollsten Lichte. Dieselbe Energie, die Hilltown geschaffen hatte, verteidigte es jetzt auf Tod und Leben gegen das entfesselte Element. Als die Hilfsmannschaften nicht mehr ausreichten, bildeten sich sofort Korps von Freiwilligen, die unverweilt in Tätigkeit traten. Morland hatte die sämtlichen Ingenieure seiner Bureaus herbeigerufen, sie übernahmen das Kommando. Brücken wurden gesprengt, Verbindungen eingerissen, um dem Feuer den Zugang zu den anderen Stadtteilen abzuschneiden. Immer neue Wassermassen wurden hineingeschleudert in das glühende Verderben – vergebens, es nahm seinen Lauf! Im eigentlichen Herd des Brandes stürzten die Häuser krachend zusammen, und ganze Straßenzeilen flammten von neuem auf.

Auch Alice verlebte furchtbare Stunden. Im Anfang hatte sie noch Nachrichten erhalten von ihrem Vater, dann hörten sie auf. Morland hatte keine Zeit mehr dazu. Gegen Abend kam nur sein strikter Befehl, das Haus sofort zu räumen und sich mit der gesamten Dienerschaft hinauf nach der Villa zu begeben, auch die Vorstadt sei in Gefahr. In Hast und Eile wurde aufgebrochen – der Befehl sagte genug.

Man hatte in der Tat mit dem hereinbrechenden Abend die innere Stadt völlig preisgeben müssen. Es war nicht mehr möglich, einzudringen in diese Hölle von Dampf und Gluten. Jetzt galt es die Vororte zu schützen. Dort hatte überall das Flugfeuer gezündet und überall schlugen Qualm und Funken auf. Die »Gartenstadt«, der Stolz Hilltowns, wo der Reichtum sich niedergelassen hatte, war in schwerster Gefahr. Sie lag im Westen, grade in der Richtung des Sturmes, und dieser peitschte die Flammen dorthin. Hier gab es ja keine engen Straßen, aber hier wurden die Parkanlagen verhängnisvoll, die all diese Prachtsitze umgaben. Die mondenlange Trockenheit hatte sie widerstandslos gemacht gegen die anstürmenden Gluten, sie flammten auf wie Zunder. Bald standen all die Villen und Paläste wie in einem Feuergürtel, man konnte nicht herankommen. Die Hilfsmannschaften, die unermüdlich immer wieder von neuem vordrangen, kämpften vergebens gegen diese Unheilsmacht, die, mit reißender Schnelligkeit fortschreitend, ein Opfer nach dem anderen ergriff.

Auch das Haus William Morlands blieb nicht verschont. Gegen Mitternacht war es von dem Feuer erreicht worden und brannte nun hell, wie eine Fackel. Die Stätte, wo »König Mammon« gestern noch eins seiner Märchenfeste gefeiert hatte, leuchtete wie ein Märchenschloß, in furchtbar glühender Pracht. Aus allen Fenstern wehten die Flammenbüschel und lohten über das Dach hinaus, bis der Widerstand der Mauern gebrochen war. Sie neigten sich und stürzten zusammen. Die rasend gewordenen Elemente, der Sturm und das Feuer, vollendeten ihr Werk, das Werk der Vernichtung! Als am Horizont das erste Grau des Morgens aufdämmerte, da war das Schicksal Hilltowns besiegelt. Die Hoffnung, wie die Arbeiten hörten auf – es gab nichts mehr zu retten!

Der Tag kam grau und trübe. Der Himmel war dicht umwölkt und noch immer wehte der Wind mit vollster Heftigkeit. Droben in der Morlandschen Villa hatte Alice eine schwere Nacht durchwacht. Sie wußte nichts von ihrem Vater, und wie es in Hilltown stand, erfuhr sie nur durch die Flüchtlinge, die alles da unten im Stiche lassen mußten und nun auf den Höhen Zuflucht suchten. Da schwirrten die wildesten, unsinnigsten Gerüchte durcheinander, aber die junge Frau bedurfte kaum mehr der Nachrichten. Sie sah es ja von hier oben mit eigenen Augen, wie das Feuer immer weiter fortschritt, wie es einen Stadtteil nach dem anderen ergriff, und mußte es schließlich mit ansehen, wie ihr eigenes Heim in Rauch und Flammen versank.

Und Morland harrte noch immer aus da unten. Ihr einziger Trost war der Gedanke, daß Siegwart sich bei ihm befand, daß er ihm nicht von der Seite gehen würde. Er hatte es ja versprochen, aber auch er ließ nichts von sich hören. Die telephonische Leitung nach der Villenkolonie war freilich längst zerstört, es mußte ein Bote heraufkommen oder die beiden kamen selbst.

Und sie kamen auch endlich. Es war schon heller Tag, als das Automobil Morlands sichtbar wurde, aber nicht in der gewohnten schnellen Fahrt, man hatte keine Eile anzukommen. Alice war hinausgegangen und atmete auf, als sie ihren Vater lebend und unverletzt sah, aber als er nun ausstieg, langsam, mühsam, von Siegwart gestützt, da erschrak sie doch tödlich. War denn das noch William Morland, dieser müde, gebrochene Mann, der in der einen Nacht um Jahre gealtert schien? Er erwiderte ihre Umarmung nicht, gab keine Antwort auf ihre angstvollen Fragen, sondern schritt nur wie mechanisch nach dem Hause. Sie führte ihn die Stufen hinauf und er bedurfte der Stütze, aber als sie ihn zum Sofa geleiten wollte, machte er nur eine stumm abwehrende Bewegung und trat an das Fenster. Dort stand er, die Stirn gegen die Scheiben gepreßt und starrte hinab auf sein Lebenswerk, das er geschaffen hatte und das nun vernichtet war.

Siegwart war den beiden gefolgt, jetzt wandte sich Alice zu ihm und fragte halblaut: »Es ist alles verloren?«

»Alles!« sagte er langsam. »Hilltown ist – gewesen!« Alice hatte nicht geweint während dieser ganzen, schrecklichen Nacht, jetzt aber schlug sie mit einem lauten Aufschluchzen beide Hände vor das Gesicht. Da fühlte sie, wie diese Hände sanft herabgezogen wurden und eine Stimme sagte voll tiefster Innigkeit: »Alice!«

Sie schüttelte heftig den Kopf und entzog ihm ihre Hände.

»Nein, Hermann – jetzt gehöre ich meinem Vater, ihm allein! Er braucht mich.«

Er begriff das und gab sie frei. Sie trat zu dem Vater, der noch immer unbeweglich an seinem Platze verharrte und nichts sah und hörte von dem, was im Zimmer vorging. Alice legte beide Arme um ihn. Jetzt in der schwersten Stunde, die er und sie durchlebten, brach ihre ganze Liebe zu ihm hervor und sie fand einen Ton der Zärtlichkeit, den sie sonst nie gekannt hatte.

»Papa, ich bin bei dir! Ich trage es mit dir!«

Morland antwortete nicht, aber er lehnte das Haupt schwer an ihre Schulter. Dort unten lagerte eine dichte Rauchwolke, die das ganze Tal erfüllte. Gestern hatte da noch eine Stadt gestanden, voll von brausendem Leben, mit der Arbeit und dem Ringen von Tausenden, mit dem Reichtum von Hunderten, die emporgestiegen waren auf diesem Boden. Heute –? Der Wind jagte Dampf und Qualm immer wieder auseinander, und was sich da entschleierte, war ein grauenhaftes Bild der Zerstörung. Die innere Stadt ein wüstes Chaos, ein glühender Trümmerhaufen! In den Vorstädten brannte es noch überall, aber es waren nur Ruinen, die da flammten, es hatte keinen Zweck mehr, sie zu schützen. Hilltown war – gewesen!

Siegwart hatte Vater und Tochter allein gelassen und sich zurückgezogen, aber er blieb in der Villa und ließ gegen Mittag bei der Gräfin anfragen, ob er sie sprechen dürfe. Er fand sie sehr bleich und ernst, aber gefaßter als er glaubte.

»Wie geht es Mr. Morland?« fragte er.

»Er ruht jetzt endlich. Meine Bitten haben ihn vermocht, sich niederzulegen. Als ich ihn verließ, schlief er.«

»Gott sei Dank! Die Erschöpfung wird ihre Rechte fordern. Zwanzig Stunden lang hat er ausgehalten da unten, in dieser furchtbaren Aufregung, dieser seelischen Folter, wo er alles zusammenstürzen sah, was er geschaffen. Das war zuviel für einen Sechzigjärigen.«

Sie schwiegen beide. Die junge Frau hatte den Kopf in die Hand gestützt und Hermann stand neben ihr, endlich sagte er leise: »Alice!«

Es war derselbe Klang wie vorhin, als er ihren Namen nannte. Sie bebte zusammen, aber sie antwortete nicht.

»Alice, vorhin wolltest du mich nicht anhören und hattest ja auch recht. Da gehörtest du einzig deinem Vater. Aber nun sind wir allein und nun mußt du die Frage, die Bitte hören, mit der ich zu dir komme!«

Sein Ton, das Du aus seinem Munde, ließ die Frage erraten, Alice hob langsam die Augen empor.

» Jetzt kommst du?«, sagte sie schwer. »Jetzt, wo alles vernichtet ist?«

»Der Reichtum deines Vaters, ja, der ist vernichtet, aber wir retten uns und unser Glück aus seinen Trümmern. Wir können ja doch nicht voneinander lassen, Alice, wir können es nicht, das wissen wir beide. Ich bin so lange feig gewesen! Ja, das war ich und brüstete mich dabei noch mit meinem Mannesstolz, der sich nicht unterwerfen wollte. Jetzt weiß ich's besser. Ich hätte dich damals, als du mein Weib werden wolltest, in die Arme nehmen müssen, ohne Zagen und Zweifel, an dich glauben, deine Liebe festhalten und wir wären glücklich geworden. Jetzt liegen Jahre der Trennung und Entfremdung dazwischen – laß jetzt deinen Stolz nicht sprechen. Daß ich den meinigen nicht beugen konnte, das hat uns Jahre unseres Lebens gekostet. Ich fordere sie von dir, fordere endlich meine Alice – komm zu mir!«

Es war ein Liebesgeständnis, so glühend, so stürmisch wie einst, als er sich noch wehrte gegen diese Liebe, weil sie ihm als Gnade, als Gunst geboten wurde. Es flammte und brach wieder hervor aus seinem Inneren mit der alten Macht.

Und Alice kam! Im heißen, leidenschaftlichen Weinen lehnte sie an seiner Brust. Sie hatten sich die Stunde ihres Glückes wohl anders geträumt, ganz anders, aber es war trotz alledem bei ihnen, wie einst, als es aus dem Wipfel der alten Linde hervorschwebte, unsichtbar, gestaltlos und sie doch umfing mit seiner ganzen Macht. Sie fühlten wieder seinen Hauch und seine Nähe! –

Zwei Stunden später traten die beiden bei Morland ein. Der Kammerdiener hatte ihnen bereits mitgeteilt, er sei auf und in seinem Zimmer. Er saß in der Tat am Schreibtisch, ein Blatt Papier vor sich und eine Bleifeder in der Hand, mit der er Notizen machte. Siegwart blieb betroffen stehen und einen Moment lang durchfuhr ihn ein tödlicher Schreck. Hatte der Mann den Verstand verloren? Er rechnete, rechnete an dem Tage, wo das Schicksal ihm alles geraubt hatte. Es war freilich danach, um nicht bloß körperlich, sondern auch seelisch zusammenzubrechen.

Er wandte sich langsam um und da zeigte ihm allerdings ein Blick, wie es stand, denn Hermann hatte den Arm um seine Braut gelegt und führte sie dem Vater zu. Dieser gab kein Zeichen von Überraschung, er sagte nur halblaut: »Also doch!«

»Ja, nun kommen wir doch!« fiel Siegwart ein. »Alice und ich bitten um Ihren Segen.«

Morland hatte sich erhoben, er stützte sich schwer auf den Sessel und seine Stimme klang matt und gebrochen.

»Sie haben eine schlimme Stunde gewählt für Ihre Werbung. Warum grade heute?«

»Die Stunde, in der Alice und ich uns endlich gefunden haben, ist keine schlimme,« sagte Siegwart ernst. »Für uns bedeutet sie das Glück. Bin ich Ihnen unwillkommen?«

Der Blick Morlands haftete aus seinem ehemaligen Günstling, aber er blieb teilnahmslos. Seine Züge schienen wie erstarrt, und doch war er vollkommen Herr seiner selbst, das zeigte seine Antwort.

»Alice hat frei über ihre Hand zu verfügen. Was da in der letzten Zeit an Plänen bestand, ist zu Ende. Harry Thornton wird seine Werbung nicht wiederholen – sie galt dem, was heute nicht mehr existiert.«

Die beiden anderen wußten das auch. Mit dem gestrigen Tage, mit Hilltown, war auch die geplante Verbindung der Häuser Morland und Thornton gefallen, darüber gab es keinen Zweifel.

»Alice hat bereits entschieden,« hob Siegwart wieder an. »Und Sie wollten mir ja schon einmal Sohnesrechte geben, nur auf meine Zukunft hin. Nun ist diese Zukunft Gegenwart geworden. Die Frau, die ich jetzt in mein Haus führe, braucht nichts zu entbehren von dem, was das Leben schön und frei macht. Sie muß nur dem märchenhaften Luxus entsagen, der sie jetzt umgibt, und das tut meine Alice gern und freudig – ich weiß es!«

Es lag eine helle, frohe Zuversicht in den Worten. Morland verharrte in seiner starren Ruhe, aber er schüttelte wie befremdet den Kopf.

»Was soll das heißen? Meine Tochter kommt ja doch nicht arm in Ihr Haus. Sie ist Herrin von Ravensberg, das ihr uneingeschränkt gehört, und ihre Mitgift, die damals in Deutschland sichergestellt wurde, ist unberührt. Sie hat stets das Einkommen ihres Vermögens bezogen. Das hat mit meinen Verlusten nichts zu tun und für deutsche Verhältnisse ist es ein Reichtum.«

Hermann sah ihn mit unverhehltem Erstaunen an.

»So? Daran haben wir in der Tat noch nicht gedacht, aber umso besser! Dies Vermögen gehört selbstverständlich dem, der es erworben. Sie werden darüber verfügen, Mr. Morland.«

»Gewiß, Papa!« fiel die junge Frau mit vollem Nachdruck ein. »Es gehört jetzt dir und du verfügst darüber.«

Morland richtete sich langsam auf aus seiner gebeugten Haltung, und zum ersten Male zuckte eine Regung über sein Gesicht, ein Ausdruck des Unwillens: »Bin ich schon so weit, daß ich Almosen annehmen muß von meiner Tochter? Was ich dir gab, das bleibt dir! Kein Wort weiter – ich bestehe darauf!«

Siegwart trat ruhig zum Schreibtisch und nahm das Papier auf, das dort lag.

»Hier stehen Notizen und Zahlen: Sie haben eine Berechnung angestellt?«

»Über das, was mir noch bleibt! Mein Haus in Neuyork und mein Anteil an den Werken in Barkley, die zum größten Teil mir gehören. Sie sind wertlos, seit Hilltown in Trümmern liegt.«

»Sie werden es aber nicht bleiben, wenn Hilltown aus diesen Trümmern aufersteht.«

Eine finstere abwehrende Bewegung war die einzige Antwort.

»Papa!« Hermann sprach zum ersten Male den Namen aus, aus den diese Stunde ihm ein Recht gab. »Papa, leugne es doch nicht, du hast ja bereits den Gedanken gefaßt. Du willst zusammenraffen, was dir bleibt – da steht es auf dem Papier. Und wer das kann, nach einer Katastrophe wie die gestrige, der hat auch die Kraft, es durchzuführen. Was sollen Alice und ich denn mit deinen Kapitalien da in Deutschland? Mir hast du es ja oft genug vorgeworfen, daß ich nicht zu rechnen verstehe, für uns bleiben sie tot. Hier in deinen Händen werden sie arbeiten. Nun, da laß sie arbeiten, für deine Kinder – so Gott will –« Seine Stimme wurde leiser, aber sie gewann einen weichen, warmen Klang. »Für deine Enkel, für ein Geschlecht aus deinem Blute!«

Er hatte das erlösende Wort gefunden. Da klang die Saite auf, die in dem alternden Manne immer so schmerzlich gebebt hatte, wenn er daran dachte, daß all seine Reichtümer dereinst in fremde Hände fielen. Er sah auf seine Tochter, auf den Mann, der wie die verkörperte Kraft und das Leben selbst an ihrer Seite stand und plötzlich richtete er sich empor.

»Für meine Enkel!« wiederholte er. »Du hast recht, Hermann, für euch und euer Geschlecht, es ist ja auch das meine. Hilltown soll wieder erstehen! Gebt mir den Boden dazu, ich schaffe es von neuem!«

Es war die alte Energie, die in ihm aufflammte, Müdigkeit und Gebrochenheit fielen ab, und man glaubte es ihm in diesem Augenblick, daß er all das, was dort unten in Trümmern lag, wieder aufbauen werde. Das war wieder der alte William Morland, mit seinem eisernen Willen, seiner ungebrochenen Kraft. Er hatte sich selbst wiedergefunden.


Der Brand von Hilltown machte begreiflicherweise ungeheures Aufsehen überall. Das unglaublich schnelle Wachstum der Stadt, ihr rasches Emporblühen zu Reichtum und Bedeutung, die Kühnheit, mit der sie, die jüngste, erst werdende Großstadt, sich in den Mittelpunkt des betreffenden Staates gestellt und dessen ganzen Verkehr an sich gezogen hatte, waren beispiellos, selbst für amerikanische Verhältnisse. Nun war das alles vernichtet durch eine Katastrophe, wie sie glücklicherweise zu den größten Seltenheiten gehörte. Bei ruhigem Wetter wäre man ja zweifellos des Brandes Herr geworden, der Sturm, der an jenem Unheilstage wehte, hatte Menschenhilfe zur Unmöglichkeit gemacht.

Die östliche Vorstadt, wo der ärmere Teil der Bevölkerung wohnte, war größtenteils verschont geblieben, da sie nicht in der Windrichtung lag. Die innere Stadt war völlig verloren. Was da noch stand, mußte niedergelegt werden, da es mit dem Einsturz drohte. Der Westen hatte schwer gelitten. Die meisten seiner Villen und Paläste, auch das Morlandsche Haus waren dem Feuer zum Opfer gefallen. Nur was weiter hinauslag und vom Flugfeuer nicht erreicht werden konnte, war unversehrt geblieben.

Da, während noch alles die unglückliche Stadt bedauerte und überall Komitees zusammentraten zur Hilfe für die Bewohner, die meist ihr ganzes Hab und Gut verloren hatten, kam eine überraschende Nachricht. Die Gesellschaft, die Hilltown gegründet hatte, war unter dem Vorsitz ihres Präsidenten, William Morland, zusammengetreten und hatte beschlossen, die Stadt wieder aufzubauen. Einfach beschlossen – im Angesicht dieser Zerstörung und dieser Verluste, die sich auf Millionen bezifferten! Man war hier zu Lande so ziemlich an alle Möglichkeiten gewöhnt, aber bei der Kühnheit dieses Entschlusses stutzte man denn doch und verhielt sich anfangs ungläubig.

Doch das dauerte nicht lange. Schon in der nächsten Zeit setzte unter Führung Morlands eine Tätigkeit ein, so energisch und unermüdlich, so zielbewußt, daß das Staunen und Kopfschütteln sich in Bewundern verwandelte. Was nur an Hilfsquellen vorhanden war, das wurde herangezogen, was die Gesellschaft an Einfluß und Beziehungen besaß, in allen nur möglichen Kreisen, das wurde dienstbar gemacht und ausgenutzt und damit der Boden geschaffen für die neue Gründung. Der Grund und Boden war ja überhaupt geblieben und darauf hin wurde der Plan entworfen für das neue Hilltown.

Auf der Guntramschen Farm hatte man selbstverständlich den tiefsten Anteil genommen an dem Ereignis. Traudl zumal war ganz außer sich darüber. Sie hatte sofort an Alice geschrieben, aber die Antwort, die nach einigen Tagen zurückkam, befremdete sie doch etwas, sie war freundlich, aber merkwürdig gefaßt. Die junge Frau schien die Schwere des Unglücks, das den Reichtum ihres Vaters vernichtete, gar nicht so tief zu empfinden. Auch Adalbert fand Anlaß, sich zu verwundern, denn sein Freund, der schon in einigen Tagen hatte zurückkehren wollen, blieb aus. Siegwart teilte ihm kurz mit, er glaube unter den jetzigen Verhältnissen Mr. Morland nützlich sein zu können, und bleibe auf dessen Wunsch an seiner Seite. Das geschah denn auch, aber er ließ, wenn auch öfter, doch immer nur flüchtig von sich hören, ohne auf näheres einzugehen.

Endlich, nach vier Wochen, riß Adalbert die Geduld. Die Bahnverbindung zwischen Barkley und Hilltown war von dem Brande nicht berührt und vollkommen erhalten geblieben, er fuhr also hinüber, um sich nach seinem durchgegangenen Freunde umzusehen. Er brachte ihn auch jetzt nicht mit zurück, dagegen begleitete ihn Gräfin Alice. Ihr Vater hatte darauf bestanden, daß sie sich nach all den Aufregungen der letzten Zeit in dem stillen Waldleben der Farm erhole. Sie hatte zwar anfangs allerlei Einwendungen erhoben, sich aber schließlich doch zu der Reise bestimmen lassen.

Es war gegen Abend. Alice machte einen Spaziergang in der Richtung nach Barkley hin und Guntram, der eben von den Feldern heimgekommen war, saß mit seiner Frau aus der Veranda. Draußen auf der Wiese tummelte sich ihr Ältester mit Klein-Alice, die in den letzten Wochen ganz bedeutende Fortschritte im Laufen gemacht hatte. Sie setzte jetzt tapfer ein Beinchen vor das andere und fiel nur noch ausnahmsweise auf die Nase, was in dem weichen Grase nicht viel auf sich hatte. Ady trieb sich drüben am Waldsaum herum. Er lief einem bunten Vogel nach, der wie neckend dicht vor ihm her flatterte und ihn immer weiter in die Gebüsche lockte.

»Also morgen kommt Hermann endlich?« sagte die junge Frau. »Es ist wirklich Zeit.«

»Ja, wenn sie ihn nämlich los lassen,« warf ihr Mann ein. »Er scheint ja ganz unentbehrlich zu sein in Hilltown. Überhaupt, wie es da drüben zugeht, davon hast du keine Ahnung, Traudl. Ich wußte ja bereits, daß von Wiederaufbau und dergleichen die Rede war, aber ich glaubte doch noch alles in tiefgedrückter, halbverzweifelter Stimmung zu finden. Dazu hatten sie aber gar keine Zeit. In der Morlandschen Villa da oben, wo wir Gastfreundschaft genossen und wo vorläufig das Hauptquartier ist, schwirrt es wie in einem Bienenstock. Da werden Sitzungen gehalten, Pläne entworfen und ausgearbeitet, Depeschen fliegen hinaus und herein nach und von allen Himmelsrichtungen – und das alles, während sie unten noch die Trümmer des Brandes wegräumen. Respekt vor diesen Amerikanern! Das bringen wir nicht fertig!«

»Aber was hat denn Siegwart eigentlich dabei zu tun?« fragte Traudl. »Was geht ihn als Fremden die ganze Sache an?«

»Das weiß der Himmel, aber er schwimmt und plätschert in der doch eigentlich trostlosen Geschichte so munter wie der Fisch im Wasser und ist höchst vergnügt dabei. Er hat sich förmlich zum Adjutanten Morlands gemacht, und der läßt ihn kaum mehr von seiner Seite. Das ist eine Intimität zwischen den beiden, daß mir der Verstand still steht.«

»Und Morland? Hat er sich wirklich wieder ganz aufgerafft nach dem furchtbaren Schlage?«

»Nun, man sieht es ihm noch einigermaßen an, was er durchgemacht hat. Er ist um ein paar Jahre gealtert in jener Unheilsnacht, aber der Mann ist wie von Stahl und Eisen. Er kommandiert, regiert, dekretiert ganz wie sonst und die sämtlichen Herren Aktionäre klammern sich förmlich an ihn und seine Energie und fügen sich in alles. Sie fühlen es, daß von ihm und seiner Persönlichkeit die ganze Zukunft ihrer Gesellschaft abhängt. Hermann hat mir da nur einen flüchtigen Einblick gegeben, aber ich glaube, sie zwingen es wirklich. In so und so viel Jahren steht Hilltown wieder da. Donnerwetter – das nennt man Tatkraft!«

»Ich kann nur aus Alice nicht klug werden,« bemerkte Traudl nachdenklich. »Sie ist sehr still und verschlossen, aber durchaus nicht so niedergedrückt, wie ich fürchtete. Im Gegenteil, manchmal bricht bei ihr eine Heiterkeit durch, die ihr sonst ganz fremd war und dabei ist sie weit liebenswürdiger als früher. – Aber was hat denn Ady?« unterbrach sie sich plötzlich. »Der kommt ja herangestürmt wie auf Tod und Leben!«

Der kleine Ady, der während der letzten Zeit unsichtbar gewesen war, kam wirklich über die Wiese gerannt, so schnell seine noch kurzen Beinchen ihn trugen. Er war ganz rot vor Eifer und Aufregung und rief, kaum bei der Veranda angelangt: »Mama –Papa! Er hat sie detüßt – ich hab' es desehn!«

»Wer hat geküßt und was ist geküßt worden?« fragte Guntram, der diese Meldung ungenügend fand und zu seiner Frau gewendet, fügte er hinzu: »Da ist sicher wieder Tommy hinter der Beß hergewesen und das lassen sie auch noch die Kinder sehen! Ich werde den Burschen nächstens bei den Ohren nehmen.«

Ady schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, nicht Tommy. Onkel Hermann und Tante Alice.«

Ein lautes Gelächter der Eltern war die Antwort.

»Junge, siehst du Gespenster?« rief Adalbert. »Onkel Hermann ist auch grade angelegt dafür und du weißt ja, daß er gar nicht da ist. In Hilltown ist er und kommt erst morgen.«

»Er ist da!« behauptete Ady hartnäckig. »Und detüßt hat er die Tante – immerzu – und dar nicht wieder aufdehört damit.«

So bestimmt das auch klang, es stieß auf entschiedenen Unglauben. Der Vater wollte sich ausschütten vor Lachen und die Mutter sagte kurz und bündig: »Ady, du bist ein kleines Schaf!«

»Ja, Mama,« bestätigte Hermann, der herbeigekommen war und zuhörte. »Das ist der Ady ja immer.«

Der arme kleine Bursche, der doch wußte, was er gesehen hatte, nahm diese allgemeine Verhöhnung sehr übel und die rücksichtslos ausgesprochene brüderliche Ansicht brachte ihn nun vollends außer sich. Er fing laut an zu weinen, aber Frau Traudl kümmerte sich gar nicht darum. Wenn eins ihrer Kinder »den Bock bekam«, wie sie es nannte, ließ sie es ruhig schreien. Sie nahm auch jetzt Klein-Alice auf den Arm und folgte ihrem Manne, der mit Hermann in das Haus ging. Ady aber, in seinem trostlosen Zustande, ließ sich auf den Stufen nieder und bekam nun wirklich »den Bock«. Er schrie seinen Jammer und seine Kränkung laut hinaus und so fand ihn Hofstetter, der bei den Waldarbeiten draußen gewesen war und jetzt nach Hause kam.

»Was hast du denn Junge, hat dich der Hermann wieder gehauen?« fragte er verständnisvoll. »Ich habe es dir schon so oft gesagt, da heult man nicht, sondern wehrt sich.«

Ady hob sein verweintes Gesichtchen empor.

»Und er hat doch detüßt!« behauptete er trotzig. »Immerzu! Aber sie wollen es nicht dlauben und Mama sagt, ich bin ein tleines Schaf und Hermann sagt, ich bin das immer.«

Dann kam ein neuer Jammerausbruch. Hofstetter schüttelte den Kopf; daß sich die beiden Jungen prügelten, war an der Tagesordnung, für das Küssen waren sie aber durchaus nicht angelegt. Er wurde nicht recht klug aus der Geschichte und fragte weiter, als Ady plötzlich wie ein Gummiball in die Höhe sprang und rief: »Da tommen sie – alle beide!«

Der Förster sah sich gleichfalls um und riß die Augen weit auf, denn über die Wiese kamen Hermann Siegwart und Gräfin Alice und zwar Arm in Arm. Ady lief ihnen entgegen, stellte sich dicht vor sie hin und rief triumphierend:

»Du hast die Tante detüßt, Onkel – da drüben im Wald. Ich hab's desehen und ich bin nicht ein tleines Schaf!«

Und nun geschah etwas, was Hofstetter vollends zur Salzsäule verwandelte. Die Gräfin, die vornehme Weltdame, errötete wie ein junges Mädchen. Ihr ganzes Gesicht erglühte bis an die Stirn hinauf, während Hermann lachend sagte: »Aber ein kleiner Spion bist du! Wer heißt dich denn uns belauschen? Onkel Hofstetter, sehen Sie nicht aus, als ob der Himmel eingefallen wäre! Wir sind ein ganz legitimes Brautpaar und wollen uns eben da drinnen vorstellen.«

Er trat mit seiner Braut in das Haus und Ady lief ihnen schleunigst nach. Der Förster aber stand noch immer da, mit offenem Munde und herabhängenden Armen und mühte sich, etwas zu begreifen, das doch absolut nicht zu begreifen war.

Drinnen im Wohnzimmer erhob sich ein förmlicher Aufstand bei der unerwarteten Neuigkeit. Traudl fiel aus den Wolken und ihr Mann tat sehr entrüstet über dies »heimtückische Schweigen«. Sie hatten beide nicht die geringste Ahnung gehabt.

»Nicht einmal einen Wink hast du mir gegeben, als ich in Hilltown war!« rief Adalbert vorwurfsvoll. »Und da seid ihr doch sicher schon einig gewesen.«

»Ja, das waren wir,« sagte Hermann, »aber wir sind mit meinem Schwiegervater überein gekommen, unsere Verlobung gar nicht erst bekannt zu geben unter diesen Verhältnissen, sondern gleich mit der Vermählung hervorzutreten und die findet schon in der nächsten Woche statt.«

»In der nächsten Woche?« wiederholte Traudl überrascht. »Aber Alice, ist denn schon irgend etwas vorbereitet dazu?«

Alice lächelte, ganz sorglos und unbekümmert.

»Hermann sagt, das wäre ganz überflüssig und er hat auch recht. Wir wollen uns ja nur angehören, sobald als möglich. Wir lassen uns drüben in Barkley in aller Stille trauen, Papa kommt natürlich von Hilltown herüber, dann kehren wir mit ihm zurück und werden unsere Villa da oben bewohnen.«

Guntram sah ebenso überrascht aus wie seine Frau und benutzte die Gelegenheit, als Ady sich herbeidrängte, um sich feierlich von der Mama bestätigen zu lassen, daß er kein »tleines Schaf« sei, um seinen Freund beiseite zu ziehen.

»In der Villa wollt ihr wohnen?« fragte er halblaut. »Denkst du denn überhaupt hier zu bleiben?«

»Vorläufig allerdings. Ich kann Alice ihrem Vater jetzt noch nicht nehmen. Er hat doch noch Stunden, wo die Erinnerung an das, was er verloren hat, schwer auf ihm lastet und da braucht er uns. Ich habe ja noch volle acht Monate Zeit, über die ich frei verfüge und so lange bleiben wir bei ihm.«

»Da werdet ihr aber unruhige Flitterwochen haben,« warf Adalbert ein. »Ich habe es ja gesehen, wie es da zugeht, wie in einem Taubenschlag! Man wird euch keine ungestörte Stunde lassen.«

»Im Gegenteil, Morland hält es für notwendig, sein Hauptquartier nach der Stadt zu verlegen und das große Klubhaus im Westen ist ja glücklicherweise unversehrt geblieben. Wir richten bereits die Wohnung für ihn im oberen Stock ein und die eigentlichen Klubräume werden zum Sitz der Gesellschaft umgeschaffen. Ich fahre täglich hinunter, aber im übrigen werden Alice und ich da oben ganz ungestört sein.

»Und deine geplante Studienreise durch Amerika?«

»Die ist natürlich aufgegeben und ohne Bedauern. Meine Mitarbeit bei dem neu entstehenden Hilltown wird mir mehr nützen als die Studienfahrt, und als Schwiegersohn Morlands habe ich eine erste Stimme dabei. Wir sind schon tüchtig an der Arbeit, vorläufig nur erst mit Plänen und Entwürfen, aber sie haben bereits Form und Gestalt gewonnen.«

Währenddessen stand Hofstetter allein auf der Veranda. Er war nun endlich so weit, daß er die ungeheuerliche Tatsache begriff, denn er hörte ja jedes Wort durch die offenen Fenster.

Der Hermann also! Daß er auch an den nicht gedacht hatte! Freilich, der war der richtige für die hochmütige Geldprinzessin, weil er sich von ihr nichts bieten ließ. Und der war auch der Mann danach, sie unterzukriegen und sie zu regieren, aber gründlich! Der Förster hatte nie in seinem Leben eine solche Genugtuung empfunden, wie in dieser Stunde.

Da traten die beiden jungen Frauen an das Fenster, ohne den Lauscher draußen zu gewahren. Traudl konnte sich noch immer nicht finden in diese schnelle Hochzeit. Sie hatte einst so viel gehört von dem Glanz und der Pracht, mit der damals in Neuyork die Vermählung Alice Morlands und Bertold Ravensbergs gefeiert worden war und fragte nun beinahe zaghaft: »Also in der kleinen Kirche von Barkley wollt ihr euch trauen lassen? Und nur dein Vater und wir sollen die Zeugen sein? Das wird ja eine Hochzeit, so still und einfach, wie die unsrige damals in Ravensburg.«

Alice lächelte, ein strahlendes, glückliches Lächeln. Dann beugte sie sich zu der Freundin nieder und sagte mit einem Ausdruck, den diese nie an ihr gekannt hatte: »Ja, Traudl. Ebenso still – und ebenso glücklich!«

Hofstetter hörte auch den Ton und war wieder einmal zu Ende mit seinem Begriffsvermögen. Dann aber faltete er die Hände und brummte mit einem tiefen Atemzuge.

Er hat sie untergekriegt – wahrhaftig! Bravo, Hermann!


Der große Ozeandampfer näherte sich in schneller Fahrt der europäischen Küste. Es war noch früh am Tage und der Morgennebel lagerte noch dicht auf dem Meere, aber der größte Teil der Passagiere befand sich schon auf dem Deck.

Etwas abseits von den übrigen stand ein Paar, ein hochgewachsener Mann, mit blondem Haar und Bart und eine junge Frau im Reisemantel. Sie schauerte leicht zusammen in der Morgenkühle und er beugte sich besorgt zu ihr nieder.

»Wollen wir nicht lieber hinuntergehen? Du darfst dich nicht erkälten, Alice.«

»O nein!« wehrte sie ab. »Ich möchte die Küste auftauchen sehen.«

Er nahm den Plaid von seiner Schulter und legte ihn fest um die ihrigen.

»Fast ein Jahr ist es her, daß ich sie dort entschwinden sah,« sagte er, nach der Richtung deutend, in der das Land sich hinter der Nebelwand barg. »Was liegt nicht alles dazwischen! Es war nun einmal beschlossen vom Schicksal, daß ich für Hilltown arbeiten sollte. Einst sträubte ich mich dagegen und nun habe ich doch mitgeschaffen an dem neuen Hilltown, das jetzt entsteht. Die Pläne sind ja nun endgültig bestimmt und festgelegt.«

»Aber es hat doch Kämpfe gekostet,« warf Alice ein. »Papa mußte dir mit seiner ganzen Autorität zur Seite stehen, um deine Pläne durchzusetzen.«

»Ja, sie wollten durchaus wieder in den alten Fehler verfallen, möglichst schnell und möglichst unvorsichtig zu bauen, ohne sich um die Gefahr einer zweiten Katastrophe zu kümmern. Zum Glück konnte Papa den nötigen Druck ausüben. Er hatte die Mittel dazu in der Hand – tut es dir leid, daß Ravensberg verkauft werden mußte? Das Angebot war glänzend und es handelte sich doch vor allem darum, die deutschen Kapitalien schnell flüssig zu machen.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Nein, Hermann, ich habe Ravensberg nie geliebt. Eine glückliche Stunde hat es uns gegeben, damals als wir uns unserer Liebe bewußt wurden. Was dann folgte, das sind nur bittere schwere Erinnerungen. Jetzt ist es in fremder Hand und mir ist, als könnte ich jetzt erst all das Schwere begraben, das für uns daran haftete.«

Hermanns Stirn furchte sich. Auch er dachte an jene Katastrophe, die dem Grafen Ravensberg das Leben gekostet hatte, an jene Abschiedsstunden in der Nacht vor dessen Tode, aber mit einer entschlossenen Bewegung richtete er sich empor.

»Ja, wir wollen es begraben – das ist vorbei und vergangen! Wir haben uns ja beide durchkämpfen müssen durch so manches Gewölk, bis zur hellen Gegenwart. Und ich bringe dich mit, als Siegespreis! Nun der Zukunft entgegen, zu neuen Zielen und Ausgaben!«

»Denkst du schon jetzt wieder daran?« fragte Alice halb vorwurfsvoll. »Du hast so viel geleistet in den letzten Monaten und müßtest dir doch nun eine Weile Ruhe gönnen.«

»Ruhe? Die brauche ich nicht, will ich nicht. Die Arbeit ist das Glück, ist das Leben! Solange noch Kraft in mir ist, lasse ich nicht davon.«

Dort in der Ferne wurde es lichter, der Nebel wogte und wallte unruhig auf und nieder. Er begann langsam zu fallen und zu weichen vor den Sonnenstrahlen.

»Es war sehr freundlich von Berndts, daß sie uns einluden, einstweilen die Gastfreundschaft ihres Hauses anzunehmen,« hob Siegwart wieder an. »Aber ich bin dir dankbar, daß du es abgelehnt hast. Wir behelfen uns vorläufig noch in meiner Junggesellenwohnung, nicht wahr? Ich habe mir da immerhin ein Künstlerheim geschaffen. Bis zum Herbst kann unser Haus eingerichtet sein, dann führe ich dich hinein, dich – und das, was mit uns kommt in die Heimat!«

In dem Gesicht der jungen Frau stieg eine leise Röte auf, während sie den Kopf an die Schulter ihres Mannes lehnte.

»Papa war sehr, sehr glücklich über unsere Hoffnung,« sagte sie halblaut. »Das hat ihm den Abschied leicht gemacht. Es ist ja doch sein Lebenswunsch gewesen.«

»Und es wird ihm helfen, sein Lebenswerk neu aufzubauen! Er braucht dazu freilich kaum den Sporn mehr, aber was er uns beim Abschied wiederholte: für euch und euer Geschlecht! Das wird er zur Wahrheit machen. Wie das da drüben sich schon überall regt und emporwachsen will! Im nächsten Jahre sollen die Werke von Barkley wieder anfangen zu arbeiten, die neuen Wohnstätten brauchen Licht und Kraft! Sieh, Alice, da taucht das Land auf, unsere Heimat!«

Es war völlig klar geworden, die Nebelmassen verschwebten im weichen Duft, der nur noch wie ein leichter Schleier über der Ferne lag und jetzt wurde ein schmaler Streifen sichtbar, dort über den dunklen, schäumenden Wogen. Die Fahne droben wehte und flatterte im Winde, wie zum Gruße. Das Schiff, das in schneller, glücklicher Fahrt den Ozean durchmessen hatte, grüßte wieder die deutschen Küsten!

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