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II.

Das junge Ehepaar fuhr inzwischen nach Ravensberg zurück. Alice gab ihrem Befremden über diese Erziehung der jungen Baroneß und ihren Verkehr mit dem Förster unumwunden Ausdruck, aber Bertold nahm die Partei seiner kleinen Jugendfreundin.

»Sie ist trotz alledem reizend, unsere Klein-Rottraud,« sagte er. »Eine Gestalt aus irgendeinem Waldmärchen!«

»Aber sie kann doch nicht bleiben in diesem Waldmärchen,« warf die junge Frau ein. »Die Tage des alten Herrn sind gezählt, das sieht man, und du hast mir ja gesagt, daß Ravensberg dann ihre einzige Zuflucht ist. Da muß sie doch für die Welt dressiert werden.«

»Dressiert – ja wohl,« wiederholte der junge Mann mit leiser Bitterkeit. »Ich fürchte nur, daß Traudl sich dieser Dressur nie fügen wird. Aber meinst du nicht, Alice, daß es trotz alledem ein Glück ist, so frei und lustig aufzuwachsen? Wir beide haben das nie gekannt. Du wurdest in dem ersten Institute Neuyorks erzogen und ich war immer ein schwächlicher kränklicher Knabe, der geschont und behütet werden mußte. Da war von Freiheit nicht viel die Rede.«

Seine Frau streifte ihn mit jenem halb mitleidigen Blick, in dem immer etwas wie leise Verachtung lag.

»Und du hättest sie vielleicht auch gar nicht ertragen, armer Bertold!«

Er preßte die Lippen zusammen, aber er wollte nicht zeigen, wie ihn das verletzte, und sagte abbrechend: »Dem Förster darfst du den vertraulichen Ton nicht übel nehmen. Er hat sein ›Baroneßchen‹ auf dem Arm getragen, als es noch nicht laufen konnte, und als das Unglück über seinen alten Herrn hereinbrach, da hat er ihm in seiner treuherzigen Einfalt helfen wollen mit seinem ganzen Hab und Gut.«

»Der Förster – dem Baron Helfenstein?« das klang ungläubig und spöttisch.

»Jawohl, mit allem, was er besaß. Hofstetter hat nie Weib und Kind gehabt und, bedürfnislos wie er ist, sich immer nur das Notwendigste gegönnt. Da hat er sich in den dreißig Jahren ein kleines Vermögen zusammengespart. Für ihn war es ein Schatz, den er hütete wie ein Geizhals. Aber als nun der Konkurs ausbrach und das Gut zum Zwangsverkauf gestellt werden sollte, da kam Hofstetter anmarschiert, legte ein paar Sparkassenbücher und ein größeres Guthaben bei der Reichsbank auf den Tisch und sagte seelenruhig: ›Hier, Herr Baron! Mehr hab ich nicht, aber vielleicht reicht es doch. Und wenn es auch zum Teufel geht – wir wollen es wenigstens probieren.‹«

»Und der Baron? Hat er es genommen?«

»Nein, natürlich nicht. Es wäre ja auch nicht mehr gewesen als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Aber es kostete Mühe, den Förster davon zu überzeugen. Er wollte sein kleines, sauer erspartes Vermögen hingeben und war ganz trostlos, daß man es ihm nicht gestattete.«

Die junge Frau schwieg, aber es trat ein nachdenklicher Ausdruck in ihre Züge. Sie tat da einen Blick in eine ganz andere Welt, für die ihr das Verständnis fehlte. Ihre unterwürfige, vorzüglich geschulte Dienerschaft in Neuyork wechselte oft genug und benutzte jede Gelegenheit, um in dem reichen Hause für Ihre eigene Tasche zu sorgen. Sie stahl, wo sie nur konnte. Die Herrschaft wußte das natürlich auch, und ließ es hingehen. Es war eben nicht zu ändern.

»Du hast doch nichts gegen einen kurzen Umweg?« hob Bertold wieder an. »Ich möchte am Forsthaus vorfahren, wegen einer Besprechung mit dem Oberförster. Dort steige ich aus und du fährst nach dem Schlosse.«

»Nein, ich gehe zu Fuß,« erklärte die junge Frau. »Papa sagte erst gestern, daß der Fußweg sehr schön sei, und ich kenne ihn noch nicht.«

»Schön ist er allerdings, aber auch ziemlich weit. Du wirst fast eine Stunde brauchen und du kannst doch nicht so ganz allein –«

»Weshalb nicht? Sind unsere Forsten nicht sicher?«

»Das schon, aber Papa wird es nicht gerne sehen, wenn du ohne jede Begleitung –«

»Du erlaubst wohl, darin meiner Ansicht zu folgen,« unterbrach ihn die junge Frau mit einer Entschiedenheit, die ihr Gatte nur zu gut kannte. Er machte gar keinen Versuch zu widersprechen, was doch umsonst gewesen wäre, sondern fügte sich wie immer. Als das Forsthaus erreicht war, stiegen sie aus. Der Wagen blieb zur Verfügung des jungen Grafen und seine Gemahlin trat allein den Waldspaziergang an.

Der Frühsommer brachte diesmal eine Reihe von heißen Tagen. Draußen, auf Feldern und Wiesen schien die Schwüle förmlich zu lagern, und selbst in die sonst so kühlen Forsten war sie eingedrungen. Es regte sich kaum etwas darin, nur hie und da leises Vogelgezwitscher, das auch bald wieder verstummte. Alles schien zu schlummern und zu träumen in der heißen Mittagsstunde.

Auf einem der schmalen, halb verwachsenen Waldpfade, die quer durch die Ravensberger Forsten führten, schritt Hermann Siegwart hin. Er hatte sich auf einige Stunden freigemacht, um es wieder einmal zu fühlen, daß er doch »eigentlich ein Mensch sei«. In Ebershofen machte man ihm das Leben schwer genug mit allen nur möglichen Nörgeleien. Frau Gerold hatte recht, er mußte es büßen, daß er sich nicht gefügig genug zeigte und fünfe gerade sein ließ bei dem Bau, über dessen Kosten die Herren Väter der Stadt Ach und Weh schrien. Er hatte es ja versucht, loszukommen von einer Stellung, die für ihn eine Art Fronarbeit war. Er hatte sich überall gemeldet, die bescheidensten Ansprüche gestellt – umsonst, es fand sich nichts. Da hieß es, die Zähne zusammenbeißen und aushalten.

In finsteres Sinnen verloren achtete er nicht viel auf die Umgebung. Er bog eben in einen der größeren breiteren Wege ein und hätte im raschen Vorwärtsschreiten beinahe einen kleinen Gegenstand zertreten, der vor ihm auf dem Boden lag, bemerkte ihn aber noch rechtzeitig und bückte sich danach.

Es war ein kleines, sehr elegantes Notizbuch mit einem Monogramm und einem vergoldeten Stift. Siegwart öffnete es flüchtig. Die ersten Seiten enthielten nur Notizen in englischer Sprache, aber da in dem Seitentäschchen steckten ein paar Visitenkarten. Er zog eine davon heraus. »Alice Gräfin Ravensberg« stand auf dem zierlichen elfenbeinfarbenen Blatt und darüber eine Grafenkrone.

So, nun war man im klaren! Er steckte den Fund zu sich, um ihn im Forsthause abzugeben, da bemerkte er etwa hundert Schritte vor sich eine Dame, ganz allein in der Waldeinsamkeit. Sie war groß und schlank, ein Strohhut mit weißen Straußenfedern verdeckte den Kopf, aber Toilette und Haltung verrieten die vornehme Dame. Vielleicht war es die Gräfin selbst, deren Namen er soeben aus der Karte gelesen hatte, eine andere hätte dies reich gestickte Batistkleid, unter dem schwere Seide raschelte, wohl kaum so achtlos über den Waldboden hinweggeschleift. Um so besser! Dann konnte er den Fund gleich abgeben. Der Baumeister beschleunigte seinen Gang und holte sie in wenigen Minuten ein. Sie hörte die Schritte hinter sich, wandte sich um und – die Unbekannte vom Wildsee stand vor ihm.

Das Erkennen war gegenseitig, das sah man. Einige Sekunden lang standen sie sich wortlos gegenüber, dann zog Siegwart das Notizbuch hervor.

»Darf ich fragen, ob Sie dies hier verloren haben? Ich fand es im Walde.«

Die junge Frau warf einen flüchtigen Blick darauf.

»Jawohl, es ist mein Eigentum. Aber ich glaube – wir sehen uns nicht zum erstenmal.«

»Nein, wir trafen uns schon einmal. Es war vor zwei Jahren in der Schweiz.«

»Am Wildsee, ich erinnere mich! Und jetzt treffen wir uns hier in den ostpreußischen Wäldern?«

»Ja, an einer ganz anderen Ecke Europas,« sagte Hermann. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich die Visitenkarte las, aber ich glaubte mich berechtigt, dem Eigentümer nachzuforschen. Hier, Frau Gräfin!«

Er überreichte ihr das Notizbuch, das er noch in der Hand hielt. Sie steckte es achtlos zu sich und bemerkte dann in ihrer gewohnten kühlen Weise: »Der Fußweg nach dem Schlosse wurde mir als sehr schön geschildert. Er ist es auch wirklich, und da Sie wohl gleichfalls auf dem Spaziergange sind –« eine leichte Handbewegung lud den Baumeister ein, sich anzuschließen.

Er tat das mit einer gewissen Befangenheit, die sonst gar nicht in seiner Art lag. Er hatte nur selten und flüchtig jener Begegnung gedacht und hätte sie wahrscheinlich längst vergessen, wäre sie nicht zufällig verknüpft gewesen mit der Erinnerung an den Wildsee, der ihm damals so schön erschienen war in seiner weltfernen Einsamkeit.

Also das war die Gräfin Ravensberg! Er begriff gar nicht, weshalb ihn das so peinlich berührte. Sie oder irgend eine andere, das galt doch völlig gleich. Aber er konnte der merkwürdigen Empfindung nicht Herr werden. Er schwieg und überließ es ihr, das Gespräch fortzusetzen. »Und wie kommen Sie hierher?« fragte die junge Frau, während sie langsam weitergingen. »Sie sprachen damals doch von Berlin, als Ihrer Heimat.«

»Damals lebte ich auch in Berlin, aber ich bin abhängig von meiner Arbeit und muß dort sein, wohin sie mich ruft.«

»Die Arbeit?«

»Gewiß, Frau Gräfin. Ich gehöre nicht zu den oberen Zehntausend und bin auf meine eigene Kraft angewiesen. Sie stehen auf der Höhe, und da weiß man gewöhnlich nicht viel von dem, was sich da unten müht und ringt.«

Er sprach mit vollster Artigkeit und die Worte bargen im Grunde doch denselben verhaltenen Spott wie damals, als der vermeintliche Führer sich erlaubte, der vornehmen Dame eine Lehre zu geben. Er wurde auch diesmal verstanden, aber sie hob mit einer raschen, beinahe unwilligen Bewegung den Kopf.

»Mein Vater ist ein Selfmademan. Er war auch einmal ›da unten‹, und die Arbeit hat ihn emporgetragen und groß gemacht.«

Siegwart sah sie überrascht an. Er wußte natürlich nicht, wie Morland sein Vermögen erworben hatte, aber er glaubte, die Gräfin Ravensberg würde eine solche Vergangenheit ihres Vaters eher vergessen als betonen. In seinen Augen hatte diese junge Amerikanerin, die sich mit dem Gelde ihres Vaters eine deutsche Grafenkrone kaufte, gar keinen Anspruch auf besondere Hochachtung. Die Äußerung stimmte nicht recht mit dem Bilde, das er sich von ihr entworfen hatte.

»Mr. Morland darf jedenfalls stolz sein auf seine Erfolge,« versetzte er. »Es ist nun nicht jeder so glücklich, den rechten Boden zu finden, in dem er wurzeln und emporwachsen kann.«

»Mein Vater hat sich diesen Boden auch erst geschaffen,« erklärte Alice. »Wo ein Wille ist, da ist ein Weg! sagt unser Sprichwort. Der Wille ist eine Macht – die freilich nicht jeder besitzt.«

Es lag ein Ton von Geringschätzung in den letzten Worten und Siegwart schien sie als eine Art von persönlichem Vorwurf zu nehmen. Er richtete sich jäh empor und sagte mit vollem Nachdruck: »Ich will!«

Die junge Frau schwieg betroffen. Sie hatte das Wort ja schon öfter gehört aus dem Munde ihres Vaters, aber dies hier klang viel ernster, wuchtiger. Es lag eine eiserne Festigkeit in diesem: Ich will! Es hatte einen Klang wie von Erz.

»Dann ist auch der Weg offen!« sagte sie endlich, gefesselt von der eigentümlichen Richtung, die das Gespräch wieder nahm. So war es auch damals gewesen. Sie hatten von gleichgültigen Dingen gesprochen und dabei hatte sie einen Blick getan in eine Natur, wie sie ihr bisher noch nicht begegnet war. Das flammte blitzartig, unbewußt auf, wie eben dies trotzig stolze Wort und verschwand dann ebenso schnell. Und sie wußte noch nicht einmal, wer und was dieser Mann eigentlich war!

»Wir sind uns so flüchtig begegnet,« hob sie wieder an, »und ebenso flüchtig wieder geschieden, als völlig Fremde. Das sollten wir doch nicht wiederholen. Sie kennen meinen Namen bereits – darf ich nun auch um den Ihrigen bitten?«

Siegwart antwortete nicht sogleich. Er hatte es bisher vermieden sich zu nennen, denn er ahnte, was dann kam. Aber die bestimmte Frage ließ kein Ausweichen zu und sein Zögern dauerte auch nur einige Sekunden, dann sagte er fest und ruhig: »Baumeister Siegwart – gegenwärtig in Ebershofen!«

Alice wich zurück, und es legte sich ein förmlich eisiger Ausdruck auf ihre Züge. In sprachloser Überraschung blickte sie den Baumeister an, der das nur zu gut verstand.

»Sie scheinen den Namen zu kennen, Frau Gräfin,« sagte er langsam. »Vielleicht ist er Ihnen schon einmal genannt worden.«

»Ja!« Die Härte des Wortes wurde durch nichts gemildert.

»In Verbindung mit dem Namen Guntram?«

»Ja!« Sie trat noch weiter zurück, als sei schon diese Nähe eine Beleidigung für sie, und maß ihn verächtlich vom Kopf bis zu den Füßen. Aber das glitt ab an dem Manne, dessen Augen plötzlich wild und drohend aufflammten.

»So muß ich es Ihnen überlassen, wie Sie urteilen oder verurteilen, aber der Schein trügt bisweilen. Darf ich fragen, ob Sie meine Begleitung jetzt noch wünschen?«

Die Worte klangen in schneidender Bitterkeit und doch lag etwas darin wie atemlose Erwartung. Aber die junge Frau neigte nur mit einer hochmütigen, kaum merklichen Bewegung das Haupt.

»Ich danke, Herr Baumeister!«

Er verneigte sich. »Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Frau Gräfin!«

Damit wandte er sich um und schritt den Weg zurück, den er gekommen war.

Erst nach etwa zehn Minuten blieb er stehen und blickte zurück. Die Gräfin war nicht mehr sichtbar, war längst in der Biegung des Weges verschwunden. Sie hatte Eile gehabt, sich in Sicherheit zu bringen vor dieser Nähe. Auf dem Gesicht Hermanns lag eine fahle Blässe – also auch hier verfemt, geächtet! Er durfte nur seinen Namen nennen, dann wandte man sich von ihm. Im Berndtschen Hause war natürlich die Rede von ihm und Guntram gewesen. Auch hier verurteilt, ohne gehört zu werden – das alte Lied!

Es waren finstere, verzweifelte Gedanken, die in dem Manne wühlten. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg! Jawohl – er hatte den Weg erzwingen wollen mit seiner ganzen energischen Willenskraft und das Resultat war die tägliche Fronarbeit in Ebershofen. Das beste war, er ging hinaus in die weite Welt. Da war vielleicht noch Raum für ihn irgendwo – hier blieb er nun einmal ausgestoßen! Aber da bäumte es sich wieder auf in ihm, der alte trotzige Wille und riß ihn empor. Er wollte sie doch schließlich alle zwingen, an ihn zu glauben. Alle und sie zuerst, die da vor ihm gestanden hatte mit der Verachtung in den stolzen, kalten Zügen, die vor ihm zurückgewichen war wie vor einem Gebrandmarkten. Und wie ein Gelübde kam es wieder von seinen Lippen, das Wort, das fast allmächtig ist im Menschenleben, wenn es ernst gemeint ist – das stolze kraftvolle: »Ich will!«


Es war am nächsten Tage, in den Vormittagsstunden, als ein leichter, offener Jagdwagen, wie er meist auf den umliegenden Gütern benutzt wurde, am Hause der Frau Gerold vorfuhr. Ein junger Mann stieg aus und erkundigte sich dann im Hause, ob Herr Baumeister Siegwart daheim sei.

Frau Gerold, die eben aus der Kirche gekommen war, gab selbst die Antwort. Jawohl, der Herr Baumeister war zu Hause. Heute, am Sonntag, wurde ja nicht gearbeitet auf dem Bau. Sie wies dem Besuch den Weg zur Treppe und blickte ihm mit offenbarem Wohlgefallen nach. Ein hübscher, strammer Junge! Er sah aus wie ein Offizier in Zivil, wohl eine Bekanntschaft von Berlin her.

Hermann saß am Schreibtisch und zeichnete. Er rief ein gleichgültiges »Herein!« auf das Klopfen von draußen, fuhr aber plötzlich vom Stuhl auf, als er den Eintretenden erkannte, der die Tür hinter sich schloß und ruhig sagte: »Guten Tag, Hermann! Also hier in Ebershofen muß man dich aufspüren?«

Siegwart war im ersten Moment ganz fassungslos, dann aber richtete er sich empor und fragte kurz und scharf: »Herr Leutnant Guntram – was führt Sie zu mir?«

Der junge Offizier kam ganz unbekümmert näher.

»Zu Befehl! Leutnant Guntram, gegenwärtig auf Urlaub in Grafenau – hast du noch nicht ausgegrollt, in vollen zwei Jahren? Und das alles wegen einer bloßen Dummheit, die dann zu einer förmlichen Katastrophe aufgebauscht wurde! Wäre ich nur damals zur Stelle gewesen, aber kaum war ich in Metz angelangt und du wieder in Berlin, da ging der Lärm los. Ich habe dir ja sofort geschrieben, aber du warst wie ein angeschossener Bär und wütetest auch gegen mich. Ein schändlicher Abschluß unserer schönen, lustigen Schweizerreise!«

Hermann verharrte in seiner eisig ablehnenden Haltung.

»Wollen wir diesen Ton nicht lieber fallen lassen, er paßt nicht mehr zwischen uns. Noch einmal, Herr Leutnant – was wünschen Sie von mir?«

»Da hört denn doch alles aus!« rief Leutnant Guntram, der jetzt auch anfing gereizt zu werden. »Ich komme, um mit dir die Friedenspfeife zu rauchen, und du zeigst mir gleich wieder den Tomahawk. Den Herrn Guntram und den Herrn Leutnant verbitte ich mir. Wie wir miteinander stehen.«

»Gestanden haben!« unterbrach ihn Siegwart mit vollster Schärfe. »Ich dächte, wir hätten uns damals schriftlich auseinandergesetzt.«

Der junge Offizier wurde plötzlich ernst und ließ den übermütigen Ton fallen.

»Daran solltest du mich lieber nicht erinnern. Weißt du noch, was du mir damals geschrieben hast?«

»Jawohl, Wort für Wort!«

»Dann hast du wohl vergessen, daß ich der Sohn meines Vaters bin. Ich war drauf und dran – aber schließlich erinnerte ich mich doch, daß du mein Jugendfreund warst, der liebste, den ich hatte. Da bezwang ich mich und warf den schändlichen Brief ins Feuer.«

»Sehr großmütig! Ich kann das nur leider nicht erwidern. Was damals zwischen uns lag, das besteht noch heute.«

»Zwischen uns liegt überhaupt gar nichts. Du hast dich mit meinem Papa verfeindet – was zum Kuckuck geht das mich an? Was weiß ich von eurem Künstlerstreit? Ihr werdet wohl alle beide recht haben.«

»Ja, du hast es dir damals sehr bequem zurechtgelegt,« sagte Hermann bitter. »Ich bin ja jahrelang der Schüler deines Vaters gewesen und das kam nun zum Vorschein in meiner Arbeit. Unbewußte Anlehnung – Ähnlichkeit der Motive – ganz begreiflich! Es lohnte gar nicht, so viel Aufhebens davon zu machen. Ich sage dir aber, die Sache liegt anders.«

»Nun, dann laß sie in Gottes Namen liegen!« rief Adalbert, dessen gute Laune zurückkehrte, als er wieder das altgewohnte Du hörte. »Damals habe ich geschwiegen, auf solche Briefe antwortet man nicht, einem anderen hätte ich kurz und gut mit der Pistole geantwortet, wenn er mir dergleichen über meinen Vater gesagt hätte. Jetzt ist Gras gewachsen über die Geschichten und jetzt bin ich hier. Gib dir keine Mühe, mich fortzubringen, kehre meinetwegen deine ganze Bärenhaftigkeit heraus. Ich gehe nicht vom Fleck, bis du wieder zur Vernunft gekommen bist.«

Es lag bei alledem so viel Herzlichkeit in dem Tone, daß Siegwart wenigstens seine feindliche Haltung aufgab, aber seine Stimme klang noch immer herb genug, als er sagte: »Kannst du diesen Besuch vertreten bei deinem Vater? Er weiß natürlich nichts davon.«

»Nein, ich weiß es ja auch erst seit gestern, daß du hier bist. Papa ist in Karlsbad, er ist leidend und soll sich sehr schonen. Da werde ich mich hüten, die alte Geschichte mit ihrem grenzenlosen Ärger wieder aufzurühren. Ich wußte überhaupt gar nicht, wo du geblieben warst. Gestern nannte der Förster in Uhlenhorst zufällig deinen Namen und heut bin ich schleunigst gekommen. Der Unsinn muß endlich aus der Welt geschafft werden! Er hat uns lange genug entzweit.«

Um Hermanns Lippen zuckte wieder der alte, bittere Ausdruck.

»Der Unsinn! Du nimmst alles auf die leichte Achsel, wie gewöhnlich. Was weißt du überhaupt vom Ernst des Lebens. Du willst ja auch gar nichts davon wissen. Es ist schade um dich, Adalbert! Aus dir hätte etwas werden können – ich fürchte, das ist vorbei.«

»Gott sei Dank! Jetzt fangen die Moralpredigten wieder an!« lachte der junge Offizier. »Merkwürdig, sie haben mir geradezu gefehlt in den letzten Jahren. Es tut mir ordentlich wohl, daß mir wieder einmal der Text gelesen und die Rute gezeigt wird.«

»Dir hat die Rute gefehlt in der Jugend, das war dein Unglück. Ich wollte, dich packte einmal irgend ein schweres Schicksal und rüttelte und schüttelte dich, daß dir Hören und Sehen verginge. Vielleicht lerntest du dann noch Ernst und Vernunft.«

»Ein recht liebevoller Wunsch, aber bei mir nützt das Rütteln nichts. Ich habe nun einmal kein Talent zu diesen hochachtbaren, langweiligen Dingen.«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch. Diesmal war es die alte Magd der Frau Gerold, die eine Karte überbrachte. Das geschah mit jener feierlichen Wichtigkeit, mit der man ein ganz ungewöhnliches Ereignis behandelt. Hier in Ebershofen, wo jeder den anderen kannte »bis in die Kochtöpfe hinein«, war diese Art der Anmeldung nicht üblich. Auch Siegwart schien überrascht, er warf einen Blick auf die Karte und zuckte leicht zusammen. Adalbert, der neben ihm stand, las gleichfalls den Namen.

»William Morland? Und der kommt zu dir? Das ist ja eine ganz ungeheure Herablassung dieses Nabobs, der sonst den Unnahbaren spielt! Was hast du denn mit diesem amerikanischen Goldonkel zu tun?«

»Du kennst ihn?« fragte Hermann.

»Den Vater der jungen Gräfin natürlich. Wir waren erst vorgestern in Ravensberg. Ein steifer, hochmütiger Yankee, für den unsereins Luft ist. Da werde ich mich wohl zurückziehen müssen, du darfst Seine Millionärschaft nicht warten lassen.«

»Geh durch mein Schlafzimmer,« sagte der Baumeister rasch, »es hat gleichfalls den Ausgang nach der Treppe. Man braucht in Grafenau nicht zu wissen, daß du bei mir gewesen bist.«

Adalbert lachte. »Ich frage den Kuckuck nach der ganzen Gesellschaft, wenn ich dich wieder habe! Aber meinetwegen – auf Wiedersehen!«

Er trat in das Schlafzimmer, während Hermann hinunterging, um den Besuch zu empfangen. Den Herrn Leutnant plagte die Neugierde, zu erfahren, was diesen amerikanischen Goldonkel denn eigentlich zu seinem Jugendfreunde führte. Aber horchen – pfui! – das gab es nicht. Als er nebenan die Stimmen der Eintretenden hörte, machte er kehrt und stieg die Treppe hinunter.

Der Überfall war wenigstens zur Hälfte geglückt, das Du und die Moralpredigten waren zurückerobert. Hermann tat zwar noch immer grimmig genug, aber das half ihm nichts, es wurde so lange Sturm gelaufen, bis die Festung sich ergab. In bester Laune schritt der junge Offizier durch den Garten und stieg wieder in seinen Wagen. Man durfte nur nichts schwer nehmen im Leben, wie es diese reizbaren, eigensinnigen Künstlernaturen mit Vorliebe taten. Den Dingen lachend in das Gesicht schauen, dann wurde man am schnellsten mit ihnen fertig.

Siegwart empfing inzwischen unten an der Treppe den Amerikaner, der seinen Gruß so gelassen erwiderte, als seien sie im besten Einvernehmen geschieden.

»Sie sehen, ich halte Wort,« sagte er. »Ich zog es aber diesmal vor, meine Karte hinaufzusenden, damit nicht wieder ein – Mißverständnis entsteht.«

Der Baumeister war in peinlicher Verlegenheit. Er sagte sich denn doch, daß ein Mann von der Stellung William Morlands andere Rücksichten beanspruchen konnte als der »erste beste«, wie er ihn damals so freundlich genannt hatte. Er faßte sich, so gut es eben ging.

»Ich bin bereits über meinen damaligen Irrtum aufgeklärt worden,« versetzte er. »Sie führten sich nur als Mr. William ein und verlangten als ein völlig Fremder Einblick in meine Studien – das durfte mich wohl befremden.«

Die Mundwinkel des Amerikaners zuckten ironisch.

»Sie waren mehr als befremdet, aber Sie waren im Recht. Ich hätte mich Ihnen als Mann vom Fach vorstellen müssen, denn ich habe meine Laufbahn auch als einfacher Baumeister begonnen wie Sie. Habe allerdings später eine Baugesellschaft gegründet und leite meine Unternehmungen jetzt meist nur finanziell.«

Hermann sah sehr betroffen aus bei dieser Eröffnung, die ihm völlig neu war.

»Dann bitte ich allerdings um Entschuldigung, das konnte ich nicht voraussetzen,« sagte er in der Erwartung, daß nun auch der eigentliche Streitpunkt von damals zur Sprache kommen werde. Das geschah jedoch nicht. Morland erwähnte ihn mit keiner Silbe, sondern folgte ruhig der Einladung, in das Arbeitszimmer zu treten, und ließ sich dort nieder.

»Ich war nach meiner Ankunft in Europa einige Wochen in Berlin,« hob er wieder an, »und habe die Villa meines Schwagers Berndt zum erstenmal vollendet gesehen. Sie hat eine Art von Berühmtheit erlangt und wird viel bewundert. Ein Werk des Baurats Guntram – wie es heißt.«

Er sprach die letzten Worte langsam, mit Betonung. Siegwart war aufgefahren, aber er begegnete fest und sicher dem scharfen, forschenden Blick, der bis in sein Inneres zu dringen schien.

»So heißt es, ja, aber das ist gelogen! Der Plan ist mein Werk! Sie wissen von jenem Streit, Mr. Morland?«

Dieser nickte. »Durch meinen Schwager, der natürlich ganz auf Seite Guntrams steht.«

»Und – Ihr Urteil?« Die Frage klang gepreßt, atemlos.

»Das will ich mir hier holen. Wollen Sie mir jetzt Ihre Arbeiten zeigen?«

Hermann sprang auf und eilte an den Schrank, wo seine Mappen lagen. Seine Hände bebten, als er sie herausnahm und auf den Zeichentisch legte. Der Amerikaner erhob sich und nahm Platz davor, während er bemerkte: »Sie scheinen sehr fleißig gewesen zu sein.«

»Ja, ich habe viel gearbeitet in den letzten Jahren.«

Die beiden Mappen enthielten allerdings eine reiche Menge von architektonischen Plänen und Entwürfen. Einige waren nur flüchtig skizziert, das meiste aber ausgeführt. Es lag eine Arbeit von Jahren darin, ein rastloses Streben und Schaffen, aber es war ein totes Kapital geblieben für den Schöpfer.

Es wurde wenig gesprochen während der Besichtigung. Morland prüfte eingehend jedes einzelne Blatt, ohne ein Wort des Lobes oder des Tadels. Nur hie und da tat er eine kurze Frage. Siegwart gab ebenso kurz die nötigen Erläuterungen, aber in seinem ganzen Wesen lag eine fieberhafte Spannung. Er versuchte vergebens zu lesen in den Zügen des Amerikaners, die ihre gewohnte Undurchdringlichkeit bewahrten; endlich legte dieser das letzte Blatt aus der Hand.

Hermann sprach kein Wort, doch in seinen Augen stand die Frage – eine Frage an die Zukunft, denn er fühlte, daß diese Stunde darüber entschied. Morland stand auf und wandte sich zu ihm.

»Sie sind im Recht!« sagte er kurz, aber mit voller Bestimmtheit.

Ein tiefer, befreiender Atemzug rang sich aus der Brust des Baumeisters hervor, dann brach er leidenschaftlich aus: »Ich danke Ihnen – Sie ahnen nicht, was Sie mir geben mit diesem Wort! Endlich ein Mensch, der an mich glaubt, der mich freispricht von dem schändlichen Verdacht. Das hat wie ein Fluch auf mir gelastet, das hat mich am Boden festgehalten, wie mit Ketten gehalten. Ich habe oft genug bis aufs Blut gekämpft, um mir wenigstens den Mut und die Kraft für die Zukunft zu retten. Ich war am Erliegen!«

Der stürmische Ausbruch verriet, was der Mann gelitten hatte in den letzten Jahren. Der Amerikaner sah ihn unverwandt an und schüttelte den Kopf. Er kannte die Welt und die Menschen wie wenige, hier aber fühlte er doch, daß er einer Ausnahmenatur gegenüberstand.

»Das ist meine Ansicht,« sagte er ernst. »Sie haben keine Beweise?«

»Keinen einzigen! Ich hatte, als ich nach Italien ging, meine sämtlichen Studien und Pläne bei meinem Lehrer zurückgelassen. Nach meiner Rückkehr sah ich draußen im Westen die Villa des Kommerzienrats Berndt, schon halb vollendet, mein Entwurf in jedem Zuge, in jeder Linie und hörte, daß Guntram sie baute als sein Werk.«

Morland schwieg, er nickte nur, als werde ihm etwas bestätigt, das er längst wußte, während Siegwart fortfuhr: »Die betreffenden Blätter fehlten in meiner Mappe, wie ich jetzt erst entdeckte. Ich eilte zu Guntram, der natürlich darauf vorbereitet war. Er spielte anfangs den Erstaunten und schien mich gar nicht zu verstehen, dann den Entrüsteten. Da brach ich los. Ich schleuderte ihm den Betrug ins Gesicht und wollte ihn zum Geständnis zwingen, aber er läutete Sturm mit der Klingel, schrie um Hilfe und machte seine herbeieilende Dienerschaft zu Zeugen der erbaulichen Szene.«

»Das war das Schlimmste, was Sie tun konnten,« warf der Amerikaner ein. »Damit gaben Sie ihm eine Waffe in die Hand.«

»Die er gebraucht hat – ich mußte es erfahren. Ich wollte nicht einsehen, daß das Spiel von vornherein für mich verloren war, und kämpfte wie ein Verzweifelter um mein Recht. Aber dem anerkannten Meister glaubte man natürlich, mir nicht. Der Kommerzienrat ließ mich überhaupt gar nicht vor, als ich ihn zu sprechen versuchte, jede Türe verschloß sich mir. Schließlich mußte ich weichen und ging hierher – nach Ebershofen!«

Morland zuckte die Achseln. »Sie haben das falsch angefangen. Sie allein waren machtlos gegen einen Mann in seiner Stellung, aber in solchem Falle trägt man den Streit hinaus in die Öffentlichkeit, macht Lärm in der Presse. Sie haben gradaus gewollt, Mr. Siegwart, Sie wollten mit dem Kopf durch die Wand, aber die Wände bleiben gewöhnlich stehen und man stößt sich blutig daran. Ich fürchte, die Sache ist verloren für Sie. Das, was da in Ihren Mappen liegt, den Beweis Ihres Talentes, können Sie der Welt nur zeigen, wenn es ins Leben tritt. – Kommen Sie zu mir, ich gebe Ihnen diese Möglichkeit.«

Siegwart fuhr in höchster Überraschung auf.

»Zu Ihnen? Nach Amerika?«

»Ja, da ist Raum für Leute Ihres Schlages. Wir – die Gesellschaft, an deren Spitze ich stehe – gründen gegenwärtig eine Stadt an der neuen westlichen Bahnlinie, und unser Hilltown hat eine große Zukunft. Straßen, Hotels, Schulhäuser sind zum Teil schon vorhanden. Jetzt sollen Kirchen gebaut werden, ein Stadthaus, ein Theater, und das bringt mehr ein als hier in Deutschland.«

Siegwart hörte zu wie ein Träumender. Er hatte in der letzten Zeit öfters daran gedacht, alles hinter sich zu werfen und dort drüben das Leben von neuem anzufangen, aber ihm hatten die Mittel gefehlt. Jetzt öffnete sich ihm diese neue Welt mit einer geradezu glänzenden Verheißung, und er stand stumm da und sah zu Boden.

»Nun?« fragte Morland befremdet. Der Baumeister raffte sich zusammen.

»Verzeihung, es ist nur die Überraschung. Ihr Anerbieten kommt so unerwartet –«

»Und ist nicht willkommen, wie ich sehe!«

»Nein, nein, mißverstehen Sie mich nicht. Ich habe es Ihnen ja schon bei unserer ersten Begegnung verraten, daß ich fast ersticke in der Enge der hiesigen Verhältnisse. Sie bieten mir eine Zukunft, ein großes, freies Schaffen, freilich – auf fremdem Boden.«

Der Amerikaner machte eine ärgerliche Bewegung.

»Das also ist's! Das geliebte Deutschland steckt wieder dahinter! Ja, das müssen Sie freilich aufgeben. Haben Sie noch nicht genug davon? Ich dächte, man hätte Ihnen hier so mitgespielt, daß Sie ihm mit Vergnügen den Rücken kehrten.«

Hermann schien mit sich zu kämpfen, endlich sagte er halblaut: »Darf ich eine Bitte aussprechen? Ich erkenne es ganz und voll, was Sie mir geben mit diesem Anerbieten, aber – lassen Sie mir die Entscheidung frei bis zu Ihrer Abreise.«

Morland sah ihn scharf an.

»Sie haben etwas vor hier in Deutschland?«

»Ja, Mr. Morland.«

»Etwas, das Sie mir nicht mitteilen wollen?«

»Ich kann nicht. Es ist ja nur eine Möglichkeit, vielleicht nur ein Phantom, aber ich kann mich augenblicklich noch nicht binden.«

Der Amerikaner trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

»Sie haben noch viel zu lernen im Leben, Mr. Siegwart,« sagte er ernst. »Sehr viel! Mit bloßen Möglichkeiten und Phantomen baut man sich keine Zukunft. Kommen Sie zu uns, das ist die rechte Schule für Sie. In ein paar Jahren haben Sie den Hemmschuh abgestreift, den Sie wahrscheinlich für Idealismus halten. Es ist nichts damit. Ich schaffe Ihnen einen festen Boden für Ihre Zukunft, und wenn Ihr Talent dann hält, was es jetzt verspricht, sind Sie in zehn Jahren ein reicher Mann!«

»Das ist viel, wenn Sie es verheißen! Nun, hungern tut bei uns jetzt wohl keiner mehr, der zur Anerkennung gelangt. Lachen Sie mich aus, Mr. Morland – aber wenn mir die Möglichkeit gegeben würde, hier in meiner Heimat etwas zu schaffen, etwas Großes, Mächtiges, das vielleicht Jahrhunderte überdauert und meinen Namen trägt – dann werfe ich all die Reichtümer hin, die Sie mir zeigen, und bleibe im Vaterlande!«

Es war ein leidenschaftlich stürmisches Aufflammen. Der Amerikaner sah ihn an und schüttelte wieder den Kopf. Ein unbegreiflicher Mensch, und er war im stande zu tun, was er da sagte!

»Warten wir es ab,« bemerkte er lakonisch.

»Und meine Bitte? Sagen Sie mir nein?«

Morland lächelte, es war nicht das gewohnte ironische Zucken seiner Lippen, diesmal lächelte er wirklich.

»Sei es, mein Wort bleibt bestehen, das Ihrige werde ich mir holen bei der Abreise. Ich kehre im Oktober zurück, dann kommen Sie mit mir. Sie werden kommen, Mr. Siegwart!«

Es lag eine unerschütterliche Zuversicht in den Worten. Dann bot er dem Baumeister die Hand zum Abschied und wandte sich zum Gehen.


In dem Arbeitszimmer des Grafen Ravensberg schien eine erregte Szene stattgefunden zu haben. Der alte Graf war von seinem Sitz aufgesprungen und schritt heftig aus und nieder, während sein Sohn ganz bestürzt und ratlos dasaß.

»Aber Papa, wie kannst du dich nur so aufregen!« versuchte er zu beschwichtigen. »Hätte ich das geahnt, so hätte ich geschwiegen. Ich habe immer noch gezögert, es dir mitzuteilen, aber schließlich mußt du doch die Wahrheit erfahren.«

»Die Wahrheit?« fuhr Ravensberg aus. »Eine Lüge ist's, eine elende Verleumdung! Wie hast du auch nur einen Augenblick daran glauben können?«

»Aber Berndt selbst hat es uns mitgeteilt. Es handelt sich um seine eigene Villa, und Baurat Guntram ist es, von dem die Nachricht stammt.«

»So ist Guntram getäuscht worden! Hermann Siegwart, dieser Starrkopf, der, kaum daß er mit dem Studium fertig war, jede weitere Unterstützung ablehnte, der in diesem Punkte einen geradezu unsinnigen Stolz hat – der soll versucht haben, Geld zu erpressen von seinem ehemaligen Lehrer? Die Behauptung ist einfach lächerlich, oder vielmehr sie ist infam, und das werde ich dem Herrn von Berndt ganz offen heraussagen.«

»Du bist ja ganz außer dir, Papa,« sagte Bertold, befremdet von dieser leidenschaftlichen Parteinahme. »So sieh dir die Sache doch ruhiger an. Es ist doch möglich, daß du dich in deinem Schützling getäuscht hast, daß er trotz alledem –«

»Schweig!« Der Vater blitzte ihn zornig an mit seinen großen blauen Augen. »Das ist nicht möglich, sage ich dir. Ich kenne Hermann besser als ihr alle. Er hat sich mit Guntram überworfen, diese alten Künstler sind ja immer eifersüchtig, wenn eine junge, frische Kraft neben ihnen emporwächst, das kennt man. Ich werde ihn rufen lassen und ihn selbst fragen, wie die Sache zusammenhängt, und jetzt kein Wort mehr davon, das bitte ich mir aus.«

Bertold schwieg. Er kannte ja längst die Vorliebe seines Vaters für den ehemaligen Schützling, aber daß diese Vorliebe so weit ging, alles abzuweisen, was gegen ihn sprach, und so gewichtige Zeugnisse einfach zu verwerfen, das hatte er doch nicht geglaubt. Der Graf schien jene Beschuldigung ja fast als eine persönliche Beleidigung aufzufassen. Er ging noch einige Male auf und nieder, als wolle er sich zur Ruhe zwingen, und sagte dann abbrechend: »Noch eins, was war denn das für eine Äußerung, die Morland gestern abend tat? Ich hörte nur halb daraus, weil wir Gäste hatten. Es war von einer direkten Verbindung mit Ebershofen die Rede – was meint er eigentlich damit?«

Die Frage schien den jungen Grafen in Verlegenheit zu setzen. Er sah einen zweiten Sturm heranziehen, nachdem der erste kaum vorüber war, aber er entgegnete möglichst unbefangen: »Eine praktische Idee meines Schwiegervaters, auf die wir unserseits noch gar nicht gekommen sind. Du weißt ja, er sendet und empfängt täglich Depeschen und verkehrt meist telegraphisch mit seinem Hauptagenten in Berlin, der ihn in steter Verbindung mit Neuyork erhält. Der Bote braucht aber mehr als eine Stunde von Ebershofen. Mein Schwiegervater meint, eine telephonische Verbindung könne in kürzester Zeit gelegt sein, und dann würden ihm die Telegramme direkt übermittelt.«

»Sehr praktisch und sehr überflüssig!« sagte Ravensberg kalt. »Für die paar Sommermonate, wo wir hier sind, hat der jetzige Verkehr stets genügt. Wenn ich mit all meinen politischen und sonstigen Verbindungen eine Stunde warten kann auf die Depeschen, so werden die geschäftlichen Interessen deines Herrn Schwiegervaters das wohl auch erlauben.«

»Aber er wünscht es dringend und für uns wäre es doch auch –«

»Hier sind meine Wünsche maßgebend, nicht die William Morlands,« schnitt der Graf seinem Sohn das Wort ab. »Ich will Ruhe haben in meinem Schlosse und nicht durch allerlei überflüssige Meldungen gestört werden. Ich habe es ja vorhergesagt, als der Sekretär mit den Schreibern anrückte – da wird eine förmliche Geschäftsfiliale etabliert, und das ist auch buchstäblich eingetroffen. Die Briefe, Berichte und Depeschen jagen sich ja förmlich, und Mr. Morland benimmt sich so souverän, als wäre er hier nicht unser Gast, sondern die Hauptperson. Und dabei findet er noch Zeit zu allen möglichen Dingen. Bald ist er in den Forsten, bald drüben auf dem Gutshofe, und ich fange nachgerade an, das für mehr als bloße Spaziergänge zu halten. Überall sind diese kalten, spähenden Augen, denen nichts entgeht. Man ist unter diesem Blick immer wie unter einem Seziermesser.«

All die Gereiztheit, die das vorhergehende Gespräch in dem Grafen zurückgelassen hatte, machte sich Luft in diesen Worten. Bertold erfuhr freilich nichts Neues damit, er hatte nicht umsonst dies monatelange Zusammensein gefürchtet.

»Du tust ihm unrecht,« sagte er beschwichtigend. »Dies scharfe Beobachten liegt nun einmal in seiner Natur. Aber du und Morland, ihr seid zu verschieden geartet, um euch nicht gegenseitig abzustoßen. Alice fühlt das so gut wie ich.«

Ravensberg lachte bitter auf.

»Jawohl, sie fühlt es und stellt sich stets rückhaltlos und rücksichtslos auf die Seite ihres Vaters. Du ziehst es vor, zwischen den Parteien zu stehen. Aber in meinem Schlosse wenigstens will ich Herr sein und bleiben. Die telephonische Leitung wird nicht gelegt, die Sache bleibt, wie sie ist – sage das deinem Schwiegervater!«

Bertold erhob sich, er wußte, in solcher Stimmung ließ sich nicht rechten mit dem Vater.

»Ich werde mit Alice sprechen,« sagte er gedrückt und verließ das Zimmer.

Der Graf blickte ihm mit unverschleierter Verachtung nach. Und das wollte Blut von seinem Blut sein! Da ging er hin, um die Vermittlung seiner Frau anzurufen – der Schwächling! Ravensberg vergaß es völlig, daß er selbst seinen Sohn in diese Stellung gedrängt hatte, daß er es gewesen war, der den Plan Berndts angenommen und den Entschluß gefaßt hatte. Bertold mußte das Opfer bringen, das nun einmal notwendig war, und hatte es gebracht. Ein Opfer? Pah, er war ja verliebt gewesen in seine schöne Braut und war es noch jetzt in seine Frau, er fügte sich nur zu gern. Von dem Stolz des Vaters hatte er nichts und auch nichts von dessen leidenschaftlich stürmischem Temperament. Seine ganze Bedeutung bestand nur darin, der Stammhalter des Hauses zu sein. Und dabei schien seine Ehe kinderlos zu bleiben, zwei Jahre waren er und Alice vermählt und noch immer keine Hoffnung auf einen Erben!

Der Frühstückstisch war diesmal auf der Terrasse gedeckt, wo ein rot- und weißgestreiftes Sonnendach ihn vor der Sonne schützte. Alice war bereits dort, sie lehnte an der Brüstung und spielte mit einem Rosenzweig, den sie aus der Blumenoase gezogen hatte, die den Tisch schmückte. Sie schien aber mit ihren Gedanken ganz wo anders zu sein und sah wie erwachend aus, als Bertold zu ihr trat.

»Dein Vater scheint sich zu verspäten,« sagte er. »Wir werden warten müssen mit dem Frühstück.«

Die junge Frau blickte auf ihre Uhr.

»Das wird nicht nötig sein. Wir haben noch eine Viertelstunde bis ein Uhr, und Papa ist pünktlich auf die Minute!«

»Weißt du, wohin er gefahren ist?«

»Nein, aber er hat den Wagen schon um zehn Uhr beordert. Vielleicht ein Besuch in Grafenau.«

Sie begann in gedankenlosem Spiel eine der Rosen zu zerpflücken. Der Gatte streifte sie mit einem besorgten Blick. Sie war gestern so eigentümlich verstimmt von ihrem einsamen Waldspaziergange heimgekehrt und sah heute blaß und müde aus, wie nach einer schlaflosen Nacht. Alice, die mit ihrer blühenden Gesundheit dergleichen gar nicht kannte! Um die fest zusammengepreßten Lippen lag ein herber, höhnischer Ausdruck, der die schöne Frau fast entstellte. Bertold wußte sich das nicht zu erklären, es war ja doch nicht das geringste vorgefallen.

»Ich habe eben eine förmliche Szene mit dem Papa gehabt,« hob er wieder an. »Er mußte endlich einmal erfahren, was dein Onkel uns über Siegwart mitgeteilt hat. Du erinnerst dich wohl noch der Sache? Papa muß ihn daraufhin doch notgedrungen fallen lassen, aber er geriet fast außer sich darüber und will um keinen Preis an die Schuld seines Schützlings glauben.«

Die junge Frau lachte und warf die zerpflückte Rose über die Brüstung.

»Papa und du, ihr scheint das förmlich tragisch zu nehmen! Ihr seid eben getäuscht worden von dem Manne, das kommt ja oft genug vor im Leben. Man glaubt einen Charakter, einen wirklichen Menschen gefunden zu haben, und dieser Mensch entpuppt sich dann als die verkörperte Niedrigkeit und Gemeinheit. Das ist eine ganz alltägliche Geschichte – es lohnt gar nicht, so viel Aushebens davon zu machen.«

Das klang nicht verächtlich, sondern in einer so unbeschreiblichen Bitterkeit, daß der junge Graf seine Frau ganz verwundert anblickte. Sie opferte jetzt auch die zweite Rose, die erbarmungslos vernichtet wurde. Die Blätter flatterten, dem Winde preisgegeben, nach allen Richtungen hin.

»Es war aber eine bittere Enttäuschung,« sagte er ernst, »für Papa und auch für mich. Ich hätte auch geschworen auf diesen Hermann. Wir sind ja Spielkameraden gewesen, wenn er auf das Schloß kam und ich nach dem Forsthause. Wie oft habe ich ihn beneidet um seine trotzige Kraft, mit der er alles zwang, um dies Temperament, das Leben sprühte in jedem Atemzuge! Und so soll er geworden sein! Ich kann das noch immer nicht fassen.«

»Ich dächte, wir hätten nun genug geredet davon,« unterbrach ihn Alice mit offenbarer Gereiztheit. »Verschone mich doch endlich damit! Was geht mich die Sache an – ich finde es sehr überflüssig, auch nur ein Wort noch daran zu verschwenden.«

Sie zerknickte den Rosenzweig in der Hand und warf ihn zu Boden. Die Dornen waren in die Haut eingedrungen und zwei Blutstropfen zeigten sich in der inneren Handfläche, aber die junge Frau achtete nicht darauf, sondern wandte sich rasch der Türe des Gartensalons zu, wo eben ihr Vater heraustrat. Er war in der Tat pünktlich auf die Minute, fast gleichzeitig erschien auch Ravensberg, und man ging zu Tische.

»Wo bist du gewesen, Papa?« fragte die Gräfin, als man beim Frühstück saß. »Eine Spazierfahrt?«

»Nein, ich war in Ebershofen – bei dem Baumeister Siegwart.«

Alice sah ihren Vater in sprachlosem Erstaunen an, der Graf fuhr mit derselben Überraschung aus, und Bertolt legte die Gabel nieder.

»Bei Siegwart?« wiederholte er. »Nach dem, was der Kommerzienrat uns mitgeteilt hat?«

»Vom Standpunkte seines Freundes Guntram aus – ich denke anders darüber.«

»Soll das heißen, daß Siegwart im Recht ist?« fragte Ravensberg in vollster Spannung.

»Ja!« war die kurze, bestimmte Antwort.

»Aber das wäre ja die schwerste Anklage gegen den Baurat selbst,« fiel Bertold ein. »Ein Mann in seiner Lebensstellung!«

»Aus diese Stellung hin hat er es eben gewagt. Sie schützte ihn vor jedem Verdacht, und den jungen Baumeister kannte niemand. Ich aber kenne jetzt seine Pläne und Studien, sie haben sämtlich den großen, genialen Zug der Berndtschen Villa, und das ist entscheidend für mich.«

Die beiden Zuhörer waren so interessiert bei der Sache, daß sie gar nicht auf Alice achteten, die allein kein Wort sprach. Aber sie hatte sich aufgerichtet, der herbe Zug verschwand aus ihrem Gesicht, wo langsam eine tiefe Röte aufzusteigen begann, während sie in atemlosem Lauschen die Worte förmlich ablas von den Lippen ihres Vaters.

»Sagte ich es nicht!« wandte sich der Graf triumphierend an seinen Sohn. »Ein Lug- und Truggewebe, von dem ich auch nicht ein Wort geglaubt habe. Ich kenne ja doch Hermann! Bitte, Mr. Morland, teilen Sie uns näheres mit. Sie wissen es ja wohl, ich bin jahrelang der Vormund Siegwarts gewesen, habe ihn erziehen und studieren lassen und interessiere mich lebhaft für ihn und seine Zukunft.«

Der Amerikaner nickte. »Ich weiß, Sie brauchen sich Ihres Schützlings nicht zu schämen – er hat eine Zukunft. Als ich die Villa meines Schwagers sah, war ich zunächst überrascht, denn ich kannte ja doch einigermaßen die Leistungen Guntrams. Er hat alles mögliche gebaut in und um Berlin, er war nun einmal der Modearchitekt damals, Originelles und Bedeutendes hat er nie geschaffen. Jetzt, im Alter, tritt er auf einmal mit einem Werke hervor, das ganz aus seiner Art fällt, das all seine übrigen schlägt und eine Kraft verrät, die er nie besessen hat. Merkwürdig, daß das keinem anderen aufgefallen ist! Mir war und blieb es ein Rätsel. Da sprach Berndt zufällig von jenem Vorfall, da kam ich auf die Lösung und beschloß Klarheit in die Sache zu bringen.«

»Aber was hätte denn Guntram zu einem so wahnsinnigen Schritt treiben können?« rief Bertold. »Er ist ein anerkannter Meister und lebt in glänzenden Verhältnissen.«

»Äußerlich! Ich war in der Lage, anderes darüber zu erfahren. Doch das kommt hier nicht in Betracht. Guntram mit seiner ausgesprochenen Mittelmäßigkeit konnte einfach ein solches Werk nicht schaffen. Sein Stern war längst im Untergehen, seine Zeit war vorüber, die Aufträge blieben aus. Es war für ihn Lebens- und Existenzfrage, sich auf irgend eine Weise wieder in den Vordergrund zu stellen – da vergriff er sich an der Mappe seines genialen Schülers, die ihm dieser unvorsichtig preisgegeben hatte.«

»Und da hat er diesen Schüler selbst belastet mit dem Makel des Betruges und ihn aus Berlin fortgetrieben, bis nach Ebershofen?«

Alice sprach jetzt zum erstenmal, aber in einem seltsam erregten Tone.

»Ja – zu seinem Glücke!« sagte Morland. »Sonst wäre er nicht loszureißen von der heimischen Scholle, und seine Zukunft liegt anderswo, die liegt bei uns. Ich habe ihm eine Stellung als Architekt bei unserer Gesellschaft angeboten.«

»In Amerika?« fuhr Ravensberg aus.

»In Hilltown, unserer neuen Gründung. Wir haben Architekten ersten Ranges, die Bedeutendes leisten, das haben wir nicht! Es ist ein Element darin, das nun einmal nicht wächst auf unserem Boden, aber es wird sich verpflanzen lassen.«

Alice äußerte nichts mehr, sie wußte, über welche Namen und Kräfte das Unternehmen verfügte und daß sie alle es als eine Auszeichnung betrachteten, wenn ihr Vater persönlich die Wahl traf. Hier traf diese Wahl einen Fremden, einen jungen, noch ganz unbekannten Baukünstler, der sich vielleicht gar nicht um die Stellung beworben hatte – das sagte ihr genug.

Sie erhob sich, das Frühstück war ohnehin zu Ende, und sie wollte allein sein mit diesen seltsamen widerstreitenden Gefühlen, ein Gemisch von Scham und heißer, glühender Genugtuung. Also log doch nicht alles im Leben! Einen gab es, der hielt Wort mit dem Eindruck seiner Persönlichkeit.

Die beiden älteren Herren waren bei Tische sitzen geblieben und setzten das Gespräch fort. Sie waren zum erstenmal in dem Falle, rückhaltlos übereinzustimmen und einen Gegenstand zu erörtern, in dem kein Zündstoff lag.

»Aber was nun?« fragte Ravensberg. »Die Sache muß doch aufgeklärt werden, Siegwart muß doch zu seinem Rechte kommen!«

»Das wird kaum möglich sein,« versetzte der Amerikaner mit seiner gewohnten Ruhe. »Er ist so unvorsichtig gewesen, sich auch nicht den geringsten Beweis zu sichern, und Guntram wird nie zugestehen, was ihn und seine ganze Existenz vernichtet. Ich werde zunächst versuchen, meinen Schwager zu überzeugen, zweifle aber an dem Erfolg, denn da steht eine langjährige Freundschaft entgegen. Übrigens fällt das ja alles mit der Übersiedlung des Baumeisters. In ein paar Jahren kann er es beweisen, daß man ihm unrecht getan hat – wenn ihm dann überhaupt noch daran liegt. Dergleichen vergißt sich schnell in einem neuen Leben.«

»Da kennen Sie Siegwart nicht,« widersprach der Graf. »Er ist sehr empfindlich im Punkte der Ehre. Sie denken also ernstlich daran, ihn für Amerika zu gewinnen?«

»Ich will mir diese Kraft sichern,« erklärte Morland mit einer Bestimmtheit, die verriet, daß er jene Bedingungen Siegwarts überhaupt nicht ernst nahm. Er hielt es gar nicht der Mühe wert, sie zu erwähnen. »Ein Talent wie das seine würde sich ja schließlich auch hier Bahn brechen, aber das kann lange dauern, und man würde ihm den Weg schwer genug machen. Bei uns geht das schnell, wenn eine Protektion hinter ihm steht.«

Der Graf schien mit diesem Zukunftsplan nicht einverstanden zu sein, seine Stirne zog sich wie unwillig zusammen, dann aber sagte er mit vollster Lebhaftigkeit: »Nun darüber hat Hermann selbst zu entscheiden. Der Starrkopf! Nicht ein Wort hat er mir gesagt von der ganzen Sache, und er wußte doch, daß ich rückhaltlos für ihn eintreten würde. Jedenfalls ist er Ihnen den vollsten Dank schuldig. Wenn eine Autorität wie Sie sich auf seine Seite stellt, das gilt mehr als Beweise. Aber auch ich möchte Ihnen danken dafür – nehmen Sie meinen herzlichsten Dank, Mr. Morland!«

Er streckte ihm, wie fortgerissen von seiner Empfindung, die Hand hin, die der Amerikaner allerdings nahm, aber mit sichtbarem Befremden. Bei der Art, wie sie beide zueinander standen, war ihm diese plötzliche Aufwallung unerklärlich.

Sein Auge heftete sich forschend auf den Grafen, der ihm gegenübersaß, auf das energische Profil, die hohe Stirne unter dem schon ergrauten, aber noch vollen und dichten Haar und die blauen Augen. Er entdeckte zum erstenmal etwas in diesem Gesicht, was ihm bisher noch nicht aufgefallen war, aber fragte im gleichgültigen Geschäftstone: »Siegwart ist der Sohn Ihres früheren Oberförsters?«

»Jawohl, aber er verlor früh den Vater, er war kaum vierzehn Jahre alt, und da trat ich als Vormund und Beschützer ein.«

»So?« Der Blick Morlands lag noch immer auf jenen Zügen. »Sind Sie mit dem Nachfolger – ich meine Ihrem jetzigen Oberförster – zufrieden?«

»Gewiß, er ist schon seit Jahren in meinen Diensten. Ein tüchtiger Mann!«

»Und der Bruder Ihres Administrators, den er in diese Stellung gebracht hat. – Es ist nicht gut, wenn die beiden ersten Beamten eines Unternehmens so nahe verwandt sind. Ich vermeide das stets.«

»Meine Herrschaft ist kein ›Unternehmen‹, Mr. Morland,« sagte Ravensberg, den dieser Ausdruck ärgerte. »Das ist etwas ganz anderes als Ihre Tätigkeit, und im deutschen Großgrundbesitz dürften Sie wohl keine Erfahrung haben.«

»Haben Sie diese Erfahrungen?« fragte Morland, ohne den sehr deutlichen Wink zu beachten. »Sie leben ja nie auf Ihren Gütern und kommen nur im Sommer auf kurze Zeit her, da haben Ihre Beamten freie Hand und werden es benutzen.«

»Das läßt sich nicht ändern in unserem Stande,« erklärte der Graf hochmütig. »Wer nicht selbst den Landwirt spielt und jahraus, jahrein auf seiner Scholle sitzt, muß sich auf seine Beamten verlassen. Ein Besitz wie Ravensberg schließt überhaupt kleinliche Gesichtspunkte und Verhältnisse aus.«

Die schmalen Lippen des Amerikaners verzogen sich mit jener Bewegung, die bei ihm ein Lächeln bedeutete.

»Kleinliche Verhältnisse? Ich rechne mit Summen, gegen die Ravensberg überhaupt nicht in Betracht kommt, und habe vielleicht die zwanzigfache Zahl Ihrer Beamten, die natürlich alle ihren Vorteil suchen und finden. Das läßt sich allerdings nicht vermeiden und ist bis zu einem gewissen Grade ja auch berechtigt. Aber die Kontrolle darüber führe ich, und wo die Schädigung meiner Interessen anfängt, da greife ich ein. Sie haben diese Kontrolle nicht, und doch wäre sie gerade bei Ihnen am nötigsten.«

»Woher wissen Sie das?« fuhr Ravensberg aus.

»Ich habe meine Quellen.«

»Über meine Güter! Was sind das für Quellen?« Die Frage klang sehr gereizt, um so gelassener war die Antwort.

»Es ist nicht notwendig, sie zu nennen, genug daß sie zuverlässig sind. – Sie werden unerhört betrogen und bestohlen. Der Oberförster und der Administrator arbeiten Hand in Hand. Man hat Ihnen ganze Forstbestände niedergeschlagen und den Erlös dafür in die Tasche gesteckt. Man hat in der Gutswirtschaft Dinge berechnet, die nie geschehen und geleistet worden sind. Es ist die höchste Zeit, da ein Ende zu machen – und Sie wissen nichts davon!«

In dem Inneren des Grafen kochte es. Er vertrug es nicht, in solcher Art zur Rede gestellt zu werden, und vertrug den ironischen, zurechtweisenden Ton noch weniger. Er wußte, daß er von seinen Beamten bestohlen wurde, freilich ohne den vollen Umfang der Sache zu kennen, aber das war unter seinem Vater und Großvater auch nicht anders gewesen. Was zum Hause Ravensberg gehörte, das mästete sich auch von dem Reichtum dieses Hauses, das ließ sich nicht ändern. Man konnte den Leuten doch nicht auf Schritt und Tritt nachspüren, das war nicht vornehm. Der Standpunkt der Ravensberger war, leben und leben lassen! Wie es großen Herren geziemt.

»Es ist möglich, daß Unterschleife vorgekommen sind,« sagte er, sich mühsam bezwingend. »Das geschieht überall – ich werde die Sache untersuchen.«

»Das ist selbstverständlich, aber es muß sofort und mit der nötigen Energie geschehen. Jetzt, wo ich Ihnen die Augen geöffnet habe, wird es nicht schwer halten, die Beweise zu schaffen und das edle Brüderpaar fortzujagen, das die Sache ebenso unvorsichtig wie unverschämt betrieben hat. Es müssen dann ohne Verzug zuverlässige Persönlichkeiten –«

»Das ist meine Sache!« unterbrach ihn Ravensberg heftig. »Die Maßnahmen auf meinen Gütern treffe ich und muß bitten, mir das allein zu überlassen. Fremden Ratschlägen bin ich darin nicht zugänglich.«

»Fremden? Ich spreche im Namen meiner Tochter!«

»Alice ist die Frau meines Sohnes,« rief der Graf, dessen Gereiztheit jetzt ihren Höhepunkt erreichte. »Sie trägt unseren Namen und gehört zu unserer Familie. Ihr natürlicher Vertreter ist der Gatte, da hat der Vater mit seinen Ansprüchen zurückzutreten.«

»Ich mache keine Ansprüche,« die Stimme des Amerikaners klang jetzt in schneidender Schärfe. »Die haben Sie gemacht, Graf Ravensberg, und ich habe sie erfüllt. Die Rechte meiner Tochter aber werde ich vertreten und schützen, und Sie wissen es ja, wie weit diese Rechte gehen. Sie scheinen hier nicht eingreifen zu wollen, geht das aber so weiter, auch in anderen Dingen, so steht Ravensberg in absehbarer Zeit wieder da, wo es vor zwei Jahren stand, und das kann, und werde ich nicht zulassen. Ich bitte, Notiz davon zu nehmen.«

Er erhob sich und ging. Ravensberg blickte ihm stumm mit zusammengebissenen Zähnen nach. Da klirrten wieder die Fesseln, die man ihm angelegt hatte! Es lag eine unzweideutige Drohung in den letzten Worten, freilich man konnte ja drohen, konnte ihn und seinen Sohn zwingen mit diesem Ehevertrage, der sie förmlich knebelte mit seinen Bestimmungen. Aber er wenigstens ließ sich nicht knebeln. Wenn es zum Äußersten kam, mußte Alice ja doch auf die Seite ihres Gatten treten, sie mußte! Die Stellung einer Gräfin Ravensberg war denn doch zu glänzend, um es auf einen völligen Bruch ankommen zu lassen. Der Graf kannte den Ehrgeiz seiner Schwiegertochter, sie würde die Rolle, die sie in diesem Winter in Berlin gespielt hatte, behaupten wollen um jeden Preis.


Mitten in den Forsten, am Rande einer großen Lichtung, stand das Jagdhaus, ein stattlicher Holzbau, mit gegiebeltem Dach und Hirschgeweihen über dem Eingange. Es diente als Stelldichein bei den gräflichen Jagden und bot Raum genug für eine größere Jagdgesellschaft, um dort zu tafeln, wenn das Wetter ungünstig war.

Einige hundert Schritte hinter dem Hause lag eine Anhöhe, die einen der wenigen freien Ausblicke in der Waldumgebung bot.

Man übersah von hier auf das ganze Ravensberger Gebiet und sah noch weiter hinaus, bis zu dem Flusse hinüber. Der Tag war heiß gewesen, wie die meisten in diesem Sommer, und die Sonne stand bereits tief am Horizont, als Gräfin Alice zu der Höhe emporstieg. Sie war im schwarzen Reitkleide, ein dunkles Hütchen auf dem blonden Haar. Der Reitknecht wartete unten am Jagdhaus mit den Pferden, wo sie aus dem Sattel gestiegen war.

Die junge Frau hatte auf ihren täglichen Spazierritten den Platz entdeckt und besuchte ihn seitdem öfter. Die Schleppe ihres Reitkleides über den Arm geschlagen schritt sie langsam vorwärts und erreichte nach zehn Minuten die Höhe, wo eine große Linde eine alte, halb verwitterte Steinbank beschattete. Der Ort hatte wohl stets als Aussichtspunkt gegolten und beim Erscheinen der Dame sprang jemand auf, der dort gesessen hatte – Baumeister Siegwart.

Einen Moment stand er regungslos da, dann verneigte er sich mit kalter Gemessenheit und wollte mit diesem stummen Gruß vorüberschreiten, aber er wurde zurückgehalten.

»Herr Siegwart!«

Er blieb stehen. »Sie befehlen, Frau Gräfin?«

Alice stand vor ihm mit gesenkten Augen. Es schien, als wollten die Worte nicht über ihre Lippen. Endlich sagte sie leise: »Ich habe Ihnen unrecht getan bei unserer letzten Begegnung, schweres Unrecht. Ich weiß es jetzt!« Sie hob plötzlich den Blick zu ihm empor und dann kam es klar und fest von ihren Lippen: »Ich bitte um Verzeihung!«

Über die Stirn des Baumeisters schoß eine glühende Röte bei dieser offenen, freimütigen Abbitte.

»Sie wissen – Mr. Morland hat Sie aufgeklärt?«

»Ja, er überzeugte mich, daß Sie selbst das Opfer eines Betruges geworden sind. Aber warum sprachen Sie nicht damals? Sie waren beleidigt und wandten sich mit stolzem Trotze von mir, ohne ein Wort der Erklärung. Weshalb verteidigten Sie sich nicht?«

Siegwart sah sie mit einem langen, ernsten Blick an.

»Und wenn ich es nun getan hätte – würden Sie mir geglaubt haben?«

»Ihnen – ja!« Die Antwort klang in vollster Entschiedenheit.

Er atmete tief auf. »Ich danke Ihnen, Gräfin!«

Sie ließ sich auf die Bank nieder, und er nahm diesmal ohne Aufforderung an ihrer Seite Platz. Über ihnen breitete die Linde ihre dichtbelaubten Kronen aus, es war ein uralter und mächtiger Stamm, der einsam dastand unter all den dunklen Tannen und Fichten, die lange nach ihm aufgewachsen waren. Er allein hatte Jahrhunderte überdauert und hatte noch die alten Zeiten gesehen, wo die Ravensberger hier unumschränkt herrschten, ein machtvolles, vielgefürchtetes Geschlecht, dem alles ringsum Untertan oder zinspflichtig war. Er allein stand noch in ungebrochener Kraft, in voller Blütenpracht inmitten einer neuen Zeit, wo alles Alte sank und zerfiel.

»Sie haben den Vorschlag meines Vaters angenommen,« hob Alice wieder an. »Sie werden ihn begleiten bei seiner Rückkehr?«

»Wahrscheinlich – das heißt, ich habe mir Bedenkzeit erbeten bis zu seiner Abreise.«

»Bedenkzeit? Genügte Ihnen das Anerbieten nicht?«

»Im Gegenteil, es übertrifft alle meine Hoffnungen. Aber es stellt mir unerbittlich die Wahl zwischen meiner Zukunft und meinem Vaterlande – und das ist eine harte Wahl!«

»O, sie wird Ihnen leicht werden, wenn Sie unser Land erst kennen lernen,« fiel die junge Frau lebhaft ein. »Bei uns braust das Leben viel mächtiger, trägt viel schneller empor. Da vollzieht sich alles in großen, freien Zügen, da werden Sie bald genug die alte Heimat vergessen.«

»Nie!« brach Siegwart leidenschaftlich aus. »Wenn ich mich wirklich losreiße, losreißen muß, dann bleibt das Beste von mir hier zurück – ich weiß es! Es handelt sich ja nicht bloß um Jahre. Wo meine Arbeit wurzelt, da wurzelt auch mein Leben, und dann bin ich ein Fremder auf dem Boden, dem meine ganze Kraft, mein höchstes Schaffen gehören sollte. Darin liegt für mich etwas wie Hochverrat, wie –« er brach plötzlich ab.

»Verzeihung, Frau Gräfin, das begreifen Sie nicht, können es ja auch gar nicht begreifen. Das ist etwas, was uns im Blute, in der Seele liegt. Sie haben ja auch gewählt, als Sie der Heimat entsagten, aber bei Ihnen – war das etwas anderes.«

Alice schwieg betroffen. Sie besaß den ganzen Stolz der Amerikanerin, die ihre Nation für die erste hält, einen Stolz, der sich oft genug bis zum Hochmut steigerte, und doch hatte sie sich nicht eine Minute bedacht, als ihr eine deutsche Grafenkrone winkte. In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, als müsse sie sich dessen schämen.

»Mein Vater legt großen Wert darauf, eine Kraft wie die Ihrige zu gewinnen,« sagte sie, ohne den Punkt weiter zu berühren. »Er rechnet bestimmt auf Ihre Zusage, und wenn er Sie bei uns einführt, ist Ihnen der Erfolg gesichert. Hier müssen Sie vielleicht noch jahrelang harren und kämpfen um eine Anerkennung, die Ihnen dort entgegenkommt.«

»Das schreckt keinen, der es ernst meint mit sich und seiner Arbeit!« rief Hermann aufflammend. »Die echte, große Arbeit ist ja immer ein Kampf, die gewinnt man nicht mit ruhigem, stillem Schaffen. Da gibt es Stunden der Entmutigung, des Zweifels, Stunden, in denen man nicht mehr glaubt an sich und sein Können, wo man alles von sich werfen möchte. Und dann bäumt sich wieder die alte, trotzige Kraft auf: du kannst! – du willst! – hinaus! Und man ringt auf Tod und Leben mit seinem Werke, wie der alte Erzvater mit dem Engel rang, bis die Morgenröte anbrach, und wie er ihn zwang mit dem Rufe: Ich lasse dich nicht – du segnest mich denn!«

Er sprach wieder mit vollster Selbstvergessenheit, aber wie der Mann so dastand, da sah und fühlte man es, er hatte erlebt, was so stürmisch und halb unbewußt aus seinem Innern hervorbrach. Er sprach von seinem eigenen Kämpfen und Ringen.

Alice hörte zu, als rede jemand zu ihr in einer fremdartigen Sprache, die doch ein Echo in ihrer Seele fand. Ihrem Vater war die Arbeit nur ein Mittel zum Zweck, ein Weg zum Reichtum gewesen. Mit kühler Berechnung, mit zähem, ruhigem Vorwärtsschreiten hatte er sein Ziel erreicht. Die Begeisterung der Arbeit – die kannte er nicht, aber seine Tochter fühlte jetzt doch, daß es noch andere Ziele gebe, als hohe Lebensstellung und Reichtum, etwas Besseres, Höheres, etwas, das sie nie gekannt.

»Und Sie haben ein solches Werk geschaffen?« fragte sie.

Die Frage brachte es Siegwart erst zum Bewußtsein, wie weit er sich wieder hatte fortreißen lassen. Er wollte abbrechen, ausweichen, aber die dunklen Augen, die wie in atemloser Spannung auf seinem Gesicht hafteten, erzwangen halb wider seinen Willen die Antwort: »Ich habe es wenigstens schaffen wollen

»Weiß mein Vater davon?«

»Nein, er weiß nur, daß ich hier noch irgendeine Entscheidung abwarte, und er hat mir die erbetene Frist bewilligt. Die Entscheidung muß ja bald fallen. Fällt sie gegen mich, dann werfe ich entschlossen alles hinter mich und beginne drüben ein neues Leben, und dann wird Mr. Morland sehen, daß er keinen Undankbaren verpflichtet hat. Man darf das Glück nicht erst zur Rede stellen, wenn es anders kommt, als man es erhofft und erträumt hat, sonst flattert das zarte, lustige Ding davon auf Nimmerwiedersehen!«

Er blickte hinaus in die Kronen der alten Linde, als suche er dort das »zarte, lustige Ding«. Die Strahlen der Abendsonne lagen noch goldig auf dem dichten grünen Laube. Ein summender Bienenschwarm hing an den Blüten, schwebte auf und nieder, und dies Summen und das leise Wehen der Zweige waren der einzige Laut ringsum. Es klang wie eine ferne Melodie, wie ein Lied, dessen Worte man nicht versteht, das nur dunkel und traumhaft in der Erinnerung liegt, als habe man es schon einmal gehört vor langer, langer Zeit.

Die beiden, die hier nebeneinander saßen, vernahmen es freilich zum erstenmal. Der Mann stand mitten in der herben Wirklichkeit des Lebens, und dies Leben hatte ihn rauh genug angefaßt, und die Frau, die das Glück überschüttete mit all seinen Gaben, der es keinen Wunsch versagte, wußte nichts von dem Sehnen und Träumen der Jugend, das ja nur an dem Unerfüllten haftet. Und doch lauschten sie beide diesem einförmigen Summen und Singen, das so geheimnisvoll klang, als liege irgend eine Verheißung darin.

»Das Glück!« wiederholte Alice langsam. »Man hört so oft davon und findet es nie. Glauben Sie denn noch daran?«

Es war eine seltsame Frage in dem Munde der jungen Frau, der das Leben alles gegeben hatte. Siegwart lächelte.

»Doch ich glaube daran, und wenn es auch nur aufflammt und vergeht wie ein Blitz. Es zeigt ja jedem ein anderes Gesicht, aber ich habe ihm doch schon hie und da ins Antlitz schauen dürfen. Jenen Tag, an dem wir uns zuerst begegneten – erinnern Sie sich, Gräfin? – Als ich Ihnen von unserer Morgenwanderung in der Gletscherwelt sprach, von der Märchenstunde, die ich da oben durchlebte – das war Glück!«

»Vielleicht!« sagte Alice, während sich ein träumerischer Ausdruck auf ihre Züge legte. Jene Stunde am Wildsee, wo hoch oben die Lawinen donnerten, wo das ganze Frühlingsleben der Berge sie umwebte und vor ihr der See, der in seiner Tiefe irgend ein leuchtendes Wunder zu bergen schien – war das Glück gewesen? Nur zwei Jahre lagen dazwischen, und es schien doch in so weiter Ferne zu liegen. Jenes geheimnisvolle Wunder war nicht heraufgestiegen an das Tageslicht, aber neben ihr klang dieselbe Stimme wie damals mit ihrem tiefen, warmen Klang.

»Und selbst hier ist es mir genaht in den langen, einsamen Winternächten. Ich war verbannt, war wie lebendig begraben in dieser Öde. Aber ich arbeitete – arbeitete mit einer großen, leuchtenden Hoffnung im Herzen, mit all den Verheißungen eines Werkes, in das ich meine ganze Seele legte. Und Glück ist auch diese Stunde, wo ich frei und rein vor Ihnen dastehe. Ich habe so oft, wenn man mich den schändlichen Verdacht wieder einmal fühlen ließ, die Zähne zusammengebissen, und alles in mir gärte auf in wildem Groll und Haß gegen die, die mich richteten, ohne mich auch nur anzuhören. Aber als Sie sich damals von mir wandten – Sie, Gräfin – mit diesem Blick der Verachtung – das hat mir wehe getan!«

Alice hob langsam die Augen zu ihm empor, dann sagte sie leise: »Mir auch!«

Sie bot ihm die Hand. Hermann erwiderte keine Silbe, er schloß nur mit heißem, festem Druck ihre Hand in die seinige, und dann schwiegen sie beide minutenlang.

Die Sonne war im Untergehen, sie stand nur noch wie eine große, rotflammende Kugel dort am Rande des Waldes. Jetzt versank sie langsam, aber am lichten Himmel dämmerte es auf, erst rosig, dann in dunkler Glut. Es lag wie ein Purpurschein auf den Tannenforsten, auf der ganzen Landschaft. Der scheidende Tag grüßte die Erde noch einmal mit seinem Licht. – – –

Das Summen und Singen da oben war leiser und leiser geworden, als die Sonnenstrahlen erloschen, jetzt verstummte es ganz. Aber stärker quoll der Blütenduft auf, dieser berauschende Lindenduft, herb und süß zugleich! Wie ein Traum umfing er die beiden, und sie träumten ja auch – den alten Sonnentraum der Menschheit, von einem großen, nie endenden Glück, das einmal kommen muß, und das noch keiner erschaut hat. Und doch war es bei ihnen in dieser Stunde, unsichtbar, gestaltlos, aber sie fühlten seinen Hauch und seine Nähe, wenn es den Schleier hob, durften sie ihm in das Antlitz schauen.

Aber der Schleier zerriß – mit einem jähen Erwachen! Siegwart ließ plötzlich die Hand fallen, die er noch immer in der seinigen hielt und richtete sich empor. Seine Stimme klang gepreßt, beklommen, als raube ihm irgend etwas den Atem.

»Verzeihung, Gräfin – ich vergesse ganz, daß ich daheim erwartet werde. Es ist schon spät – ich muß fort.«

Auch Alice erwachte jetzt, sie erhob sich langsam.

»Ich muß gleichfalls aufbrechen. Der Diener erwartet mich unten. Leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl!« Er ging, ohne ihr seine Begleitung anzutragen. Der jähe Ausbruch glich fast einer Flucht. Alice blieb zurück und blickte mit großen, starren Augen in die Landschaft hinaus. Der verklärende Schimmer erlosch, drüben in den sumpfigen Niederungen des Flusses begann ein leichtes Nebelweben und die ersten Schatten der Dämmerung legten sich um die einsame Waldhöhe.

Das Glück! Alice Ravensberg hatte es nie gekannt, auch nie vermißt, bis zu dieser Stunde. Jetzt war ihr, als sei es dicht an ihr vorübergeschwebt und habe sie gestreift mit seinem Flügel, um dann wieder zu fliehen – auf Nimmerwiederkehr!


Der Verkehr zwischen Ravensberg und Grafenau war ein äußerst lebhafter, seit William Morland sich dort befand. Er kam sehr oft mit seiner Tochter herüber und ebenso häufig waren Berndts bei ihm und der jungen Gräfin. Ob diese Intimität dem alten Grafen gerade willkommen war, blieb dahingestellt, aber er ließ es an Artigkeit und Höflichkeit nicht fehlen den nahen Verwandten seiner Schwiegertochter gegenüber, denen er ja überhaupt das Zustandekommen dieser Verbindung verdankte.

Übrigens standen er und der Kommerzienrat recht gut miteinander. Der letztere hatte erst seit der Verschwägerung mit den Ravensbergern eine feste Stellung unter dem alten, erbeingesessenen Adel der Umgegend gewonnen, der sich früher sehr zurückhaltend zeigte, und Herr von Berndt wußte das zu schätzen. Er schwieg stets rücksichtsvoll, wenn im Gespräch eine schärfere Meinungsverschiedenheit hervortrat, während sein Schwager da überhaupt keine Rücksicht nahm.

Auch heute waren Morland und Alice nach Grafenau gekommen. Die junge Frau befand sich bei ihrer Tante und die Herren sprachen im Arbeitszimmer des Kommerzienrats von geschäftlichen Dingen, wie gewöhnlich, wenn sie allein waren.

»Das ist wieder einmal eure deutsche Ängstlichkeit und Bedenklichkeit!« sagte der Amerikaner in einem halb verächtlichen Tone. »Nur keine Wagnisse! Sich nur immer den Rücken decken und Garantien sichern nach allen Seiten. Damit kommt man bei uns nicht durch. Du bist – nach hiesigen Begriffen – ein reicher Mann und vermehrst dein Vermögen von Jahr zu Jahr mit deiner soliden Geschäftspraxis. Das ist sehr bequem, aber Großes erreicht man damit nicht!«

»Ich bin nicht gegen Wagnisse,« widersprach Berndt. »Sie sind mehr oder weniger notwendig bei jeder Spekulation, du aber willst jetzt alles auf eine einzige Karte setzen. Von deinen anderweitigen Unternehmungen bist du bereits zurückgetreten. Jetzt gibst du auch die Leitung deiner Gesellschaft in Neuyork auf, ziehst überall deine Kapitalien heraus, machst alle Deine Reserven flüssig, um sie nach Hilltown zu werfen – das ist ein gefährliches Spiel.«

»Nein, nur ein großes Spiel,« versetzte Morland mit ruhiger Sicherheit. »Hilltown fordert mein ganzes Eintreten, den vollen Einsatz meiner Kräfte. Wenn unsere Gründung in Deutschland stände – du wärest der erste, der sich beteiligte.«

»Gewiß, denn ich bleibe nicht zurück in solchen Dingen und scheue auch vor Opfern nicht zurück. Aber es ist etwas anderes, Opfer bringen für eine Sache, an deren Zukunft man glaubt, oder alles daran wagen. Verluste kann man ertragen, alles verlieren kann man nicht. Da können ganz ungeahnte Möglichkeiten eintreten.«

Der Amerikaner lächelte mit überlegenen Mienen.

»Nein! Verluste sind hier überhaupt ausgeschlossen, denn Hilltowns Zukunft ist bereits gesichert. Es wird so schnell wachsen wie Chikago, vielleicht noch schneller. Für uns war ja damals nur die Lage maßgebend, nachdem die Bahn gesichert war; aber in den paar Jahren hat es eine Entwicklung genommen, die all meine Erwartungen übertrifft. Der Boden, das Klima, die Umgebungen, alles steht uns zur Seite. Die Ansiedler strömen herbei von allen Seiten, wir kommen nicht nach mit unserer Arbeit, so riesig wächst das empor. Der Weg ist gebahnt, ist klar vorgezeichnet, die Stadt muß ihn gehen, und ich ziehe es vor, mein Kapital da arbeiten zu lassen, wo es sich nicht verzehnfacht, sondern verhundertfacht.«

»Das heißt, du bist nicht mehr zufrieden, nur als Millionär zu gelten und willst es euren Milliardenfürsten gleichtun, den Goulds und Vanderbilts.«

»Warum nicht?« fragte Morland mit seiner gewohnten Gelassenheit. »Der große Weg hat sich mir ja allerdings erst spät geöffnet, aber ich fühle noch die ungebrochene Kraft in mir, also werde ich ihn gehen. Du bist kinderlos, ich habe eine Tochter, hoffentlich auch einmal Enkel – ich arbeite für mein Geschlecht!«

Der Kommerzienrat schwieg. Das war ein wunder Punkt in seinem Leben und seiner sonst so glücklichen Ehe. Er hatte keine Kinder. Sein und seiner Frau Vermögen fiel dereinst an Verwandte zweiten und dritten Grades. Vielleicht stammte daher seine Abneigung, sich in gewagte Spekulationen einzulassen, die ihm den ruhigen Besitz gefährden konnten. Sein Schwager kannte diesen Punkt und beeilte sich, abzubrechen.

»Wir begegneten vorhin dem jungen Guntram,« sagte er. »Er schien auf die Jagd zu wollen.«

»Ja, er ist ein eifriger Jäger,« bestätigte Berndt, »und ist auch oft drüben in Uhlenhorst. Er scheint sich sehr angefreundet zu haben mit Baron Helfenstein. Es wird eine Zerstreuung für den alten Herrn sein, solch junges, frisches Element in seiner Einsamkeit, er lebt ja ganz abgeschlossen. Übrigens kommt auch der Baurat, er hat sich schon für morgen angemeldet.«

Morland stutzte bei der letzten Äußerung. »Guntram? Du hast ja nie von diesem Besuch gesprochen.«

In dem Gesicht des Kommerzienrats zeigte sich eine gewisse Verlegenheit, als er antwortete: »Es kommt mir auch überraschend. Wir haben ja allerdings schon öfters über den Umbau von Grafenau gesprochen, aber es eilt nicht damit. Wir wollten erst im nächsten Jahre die Sache ernstlich erörtern. Jetzt schreibt mir Guntram aus Karlsbad, seine Kur sei zu Ende, er werde seine noch übrige Zeit benutzen, um sich das Schloß noch einmal eingehend anzusehen und die Pläne zu entwerfen, Übrigens geht es ihm schlecht, die Kur hat diesmal gar keinen Erfolg gehabt. Ich fürchte, die Tage des armen Mannes sind gezählt.«

»Ist sein Zustand so ernst?«

»Leider! Er sah im Frühjahr schon so verfallen aus, daß ich meinen Hausarzt, der auch der seinige ist, einmal aufs Gewissen fragte, und da erfuhr ich dann die Wahrheit. Das Leiden, das schon jahrelang währt, ist unheilbar und scheint jetzt die schlimmste Wendung zu nehmen.«

»Und da amüsiert sich der Sohn hier in seinem Urlaub und weiß sich vor Übermut nicht zu lassen!«

»Er kennt den Ernst der Sache nicht und setzt sich mit seiner gewohnten Sorglosigkeit darüber weg. Ich habe mir aber vorgenommen, ihm vor der Abreise die Augen zu öffnen. Ich fürchte, die Zukunft bringt manches Schwere für Adalbert, wenn er den Vater verliert.«

»Das wäre vielleicht eine heilsame Lehre für den leichtsinnigen Patron. Du weißt es natürlich auch, daß Guntram nicht der reiche Mann ist, für den er sich ausgibt?«

»Nun ja, er hat wohl über seine Verhältnisse gelebt,« gab der Kommerzienrat zu. »Die Frau, die erst vor zwei Jahren starb, war sehr verschwenderisch angelegt. Adalbert ist ein junger, leichtsinniger Offizier und hat oft genug Anforderungen an den Vater gestellt, die dieser bei aller Nachgiebigkeit nicht erfüllen konnte.«

»Und da hat er Schulden gemacht? In dem Falle ist es ein Glück, reiche Freunde zu haben. Diese Freundschaft kommt dir aber wohl teuer zu stehen?«

Berndts Stirne faltete sich, und seine Stimme hatte eine herbe Schärfe, als er erwiderte: »Ich habe allerdings sehr oft aushelfen müssen, aber alles hat seine Grenze. Die Bitte, die er wieder von Karlsbad aus an mich richtete, habe ich verweigert, denn die Summe war wirklich zu hoch. Ich habe Opfer genug gebracht und muß wissen, wie weit ich gehen kann. Aber ich fürchte, er kommt nur, um das mündlich durchzusetzen, und sehe da eine peinliche Szene voraus.«

Es mußten ziemlich große Opfer gewesen sein, die der Kommerzienrat gebracht hatte, sonst hätte er sich schwerlich mit dieser gereizten Offenheit ausgesprochen, gerade seinem Schwager gegenüber, der statt aller Antwort fragte: »Weiß der Baurat, daß Siegwart hier ist?«

»Schwerlich. Ich glaube kaum, daß Adalbert es ihm geschrieben hat. Wozu denn auch? Die alte, ärgerliche Geschichte ist ja längst abgetan.«

»Für dich allerdings. Ich bin überzeugt, wenn Guntram wüßte, daß sein ehemaliger Schüler in Ebershofen ist, er würde nicht kommen.«

Berndt machte eine ungeduldige Bewegung.

»William, ich dächte, wir wären übereingekommen, den Punkt zu vermeiden. Wir entzweien uns sonst noch ernstlich darüber. Guntrams persönliche Verhältnisse mögen ja zum Teil selbstverschuldet sein, mit jenem Vorfall haben sie doch aber nichts zu tun. Ich sagte es dir schon damals, als du ihn zur Sprache brachtest, ich stehe hier auf dem Standpunkt einer zwanzigjährigen Freundschaft, und den halte ich fest, bis mir ein Beweis geliefert wird, dem ich mich beugen muß. Und nun laß uns zu den Damen gehen. Sie werden uns schon erwarten.« –

Leutnant Guntram pflegte jeden Morgen auf die Jagd zu gehen, das heißt, er verließ das Schloß mit der Büchse über der Schulter und der Jagdtasche an der Seite, aber er ging regelmäßig nach Uhlenhorst. Baron Helfenstein, dessen Schwäche täglich zunahm, konnte zwar keine längeren Besuche mehr ertragen, aber ein halbes Stündchen verplauderte er gern mit dem jungen, lustigen Offizier, der ihm alles mögliche erzählte, und den er stets »mein junger Kamerad« nannte. Wenn diese Etikettenpflicht erledigt war, dann allerdings entschädigte sich der junge Kamerad und amüsierte sich mit Baroneß Traudl. Die beiden hatten in voller Unbefangenheit den Verkehr von damals wieder aufgenommen, und schienen es gar nicht zu merken, daß Klein-Rottraud inzwischen siebzehn Jahre alt geworden war. Sie lachten und tollten, zankten und versöhnten sich genau wie vor drei Jahren und wurden immer vertrauter dabei.

Damals hatte der alte Herr noch vor dem Schlößchen unter den Buchen gesessen und mit einem halb freundlichen, halb schmerzlichen Lächeln dem Übermut der Jugend zugesehen. Jetzt wurde sein Lehnstuhl nur noch hie und da auf den Altan hinausgeschoben, Luft und Sonne machten ihn müde. Da fühlte sich denn Hofstetter verpflichtet, den Ehrenwächter zu spielen. Er wußte es schon so einzurichten, daß er in den betreffenden Stunden stets zu Hause war, und konnte sehr grimmig werden, wenn das junge Paar ihm einmal entwischte. Heute stand er allein vor dem Schlößchen, als Leutnant Guntram erschien und ihn in seiner gewohnten jovialen Art begrüßte.

»Guten Morgen, Herr Oberforstmeister! Wie steht's? Kann ich den Herrn Baron sprechen?«

»Jetzt nicht,« versetzte der Förster wichtig. »Er hat die Nacht schlecht geschlafen und holt das jetzt nach. Da darf er nicht gestört werden.«

»Natürlich nicht. Und wo ist Baroneß Traudl?«

»Im Garten.« Der Förster vertrat dem jungen Offizier, der schleunigst dahin abschwenken wollte, plötzlich den Weg. »Aber erst hören Sie mich einmal an, Herr Leutnant. Erst habe ich mit Ihnen zu reden.«

»Gott bewahre! Sie machen ja ein so feierliches Gesicht, als ob Leben und Tod davon abhinge. Na, dann schießen Sie los!«

Hofstetter hatte allerdings sein Gesicht in feierliche Falten gelegt und leitete damit die Unterredung ein.

»Ich habe Sie schon längst fragen wollen – was soll denn nun eigentlich aus der Geschichte werden?«

»Aus welcher Geschichte?«

»Stellen Sie sich doch nicht so an! Als ob ich es nicht längst gemerkt hätte, daß Sie mein Baroneßchen gernhaben. Das Kind denkt sich gar nichts weiter dabei, wenn Sie ihm schöntun, aber ich denke mir desto mehr und kurz und gut – ich will jetzt wissen, wie Sie es meinen.«

»Herr Oberforstmeister, Sie werden beängstigend,« sagte Adalbert, den dies Examen höchlichst amüsierte, »müssen Sie das durchaus wissen?«

»Ja, ich muß!« war die diktatorische Antwort. »Denn ich bin immer dabei gewesen und ich habe die Verantwortung.«

»Stimmt! Sie waren immer und ewig dabei – ich habe Sie oft genug zum Kuckuck gewünscht. Da Sie aber doch die Verantwortung haben, so werde ich Ihnen hochachtungsvollst mitteilen, was eigentlich aus der Geschichte werden soll.« Er neigte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Eine Hochzeit!«

Der Förster nickte hochbefriedigt.

»Das habe ich mir gedacht! Sie sind ja soweit ein anständiger Mensch, Herr Leutnant, und ein reicher Junge sind Sie auch – alle Welt sagt es.«

Der Leutnant lachte laut auf.

»Sie scheinen sich bereits eingehend erkundigt zu haben nach meinen Verhältnissen. Nun ja, ich werde zur Not wohl eine Frau ernähren können. Allerdings nicht von meiner Leutnantsgage, sonst würde es etwas knapp zugehen in unserem Haushalte. Da muß eben mein Papa aus helfen – selbstverständlich!«

Die Worte klangen im sorglosen Übermut. Adalbert zweifelte nicht einen Augenblick an der Zustimmung seines Vaters, denn er kannte dessen Schwäche – für aristokratische Namen und Verbindungen. Eine Baroneß Helfenstein war ihm unter allen Umständen willkommen als Schwiegertochter. Hofstetter fand es auch ganz selbstverständlich, daß der Herr Papa eintrat, der hatte ja Geld genug.

»Dann bringen Sie die Sache aber bald in Richtigkeit,« sagte er ernst. »Unser alter Herr macht es nicht mehr lange, der geht aus wie ein Licht. Baroneß Traudl weiß das natürlich nicht, sie glaubt, der Großvater sei nur schwach und würde sich wieder erholen. Wir anderen aber wissen Bescheid – ein paar Wochen höchstens noch!«

»Ist die Katastrophe so nahe?« fragte der junge Mann betroffen. Der Förster nickte und fuhr sich mit der Hand über die Augen, die ihm feucht geworden waren.

»Es kann auch noch viel früher kommen, meint der Doktor. Der Herr Baron sagt ja, denn dem ist es bitter, wenn das einzige, was er noch hat auf der Welt, künftig von der Gnade der Ravensberger leben soll. Und der hat auch nichts dagegen, wenn sein Klein-Rottraud einen frischen, lustigen Soldaten bekommt – wenn sie ihn nämlich will. Na, das müssen Sie ja wissen, Herr Leutnant.«

»Weiß ich auch!« Adalbert schlug ihm lachend auf die Schulter. »Ich hole mir keinen Korb, verlassen Sie sich darauf!«

Hofstetter sah den hübschen, stattlichen Offizier mit vergnügtem Schmunzeln an.

»Scheint mir auch so. Also nicht lange gefackelt – ich sage auch ja und Amen dazu.«

Der Leutnant legte militärisch die Hand an seinen Jägerhut.

»Freut mich! Ihre allerhöchste Sanktion ist natürlich die Hauptsache. Es trifft sich gut, daß mein Papa schon morgen nach Grafenau kommt, den nehme ich sofort unter das Feuer und dann rücken wir beide an bei dem Herrn Baron. Und jetzt, Herr Oberaufseher, verschwinden Sie gefälligst. Ganzes Bataillon kehrt! Vorwärts! Marsch!«

»Aber Herr Leutnant,« wollte Hofstetter einwerfen, doch Adalbert schnitt ihm das Wort ab.

»Order parieren! Heute sind Sie überflüssig, denn ich gedenke die Festung mit Sturm zu nehmen. Das ist so Soldatenart – hurra!«

Der Förster lachte mit dem ganzen braunen Gesicht, als er dem Kommando folgte und gehorsam abmarschierte. Heute war er überflüssig, das sah er selbst ein, und Leutnant Guntram war ein Mann nach seinem Herzen. Immer schneidig! Alles mit einem stürmenden Hurra nehmen! Dem gönnte er sein Baroneßchen und der paßte auch zu ihr.

In seiner Wohnung setzte er sich nieder, faltete die Hände und dankte seinem Herrgott, der alles so glücklich gefügt hatte. Nun konnte sein alter, guter Herr im Frieden sterben, wenn er seinen Liebling versorgt wußte, an der Seite eines Mannes, den er selbst liebgewonnen hatte. Nun blieb Klein-Rottraud nicht sitzen als ein armes Edelfräulein das »nix, aber rein gar nix« hatte, sondern wurde eine reiche, glückliche Frau und wurde vielleicht noch einmal Frau Generalin und Exzellenz. Das war der Leutnant ihr eigentlich schuldig, wenn er eine Baroneß Helfenstein zur Frau bekam. Nun gab es eine Hochzeit! So lange wollte Hofstetter noch warten, er mußte sein Baroneßchen als Braut im Myrtenkranz sehen. Dann aber nahm er unweigerlich seinen Abschied und ging nach Amerika – zu den Wilden. Das stand fest.

Adalbert Guntram begab sich inzwischen schleunigst nach dem sogenannten Garten, einem kleinen Fleck hinter dem Hause, wo einige Obstbäume standen und ein paar Gemüsebeete angelegt waren, gerade ausreichend für die bescheidenen Bedürfnisse der Bewohner von Uhlenhorst.

Es hätte der energischen Mahnung des Försters gar nicht bedurft. Der junge Offizier war längst im klaren darüber, daß er bis über die Ohren in Klein-Rottraud verliebt war. Das Waldprinzeßchen hatte es ihm nun einmal angetan, und Schwierigkeiten gab es seiner Meinung nach gar nicht. Der Vater würde die Wahl seines Sohnes sehr passend und wünschenswert finden und dem alten Baron machte man noch eine letzte Freude damit. Etwas kindlich war die künftige Frau Leutnant Guntram ja noch und gar nicht geschult für die Gesellschaft, aber bei einer jungen reizenden Frau wird das leicht verziehen, und die geborene Baroneß Helfenstein fiel auch sehr ins Gewicht bei dem Oberst und den Kameraden des vornehmen Regimentes. Das wußte Adalbert, und es war ihm keineswegs gleichgültig. Also los mit der Erklärung!

Die junge Dame, der die Werbung galt, befand sich freilich für den Augenblick bei einer Beschäftigung, die mit ihrer baldigen Vermählung nicht recht in Einklang zu bringen war. Sie saß nämlich hoch oben auf einem großen Kirschbaum und tat sich gütlich an den schönen schwarzen Herzkirschen. Eigentlich hatte sie nur einige davon pflücken wollen für den Großvater – der arme Großpapa, der so wenig Appetit hatte und kaum mehr etwas aß. Sie holte sich deshalb sehr verständig eine kleine Leiter herbei und ein Körbchen für die Früchte. Aber als sie nun auf der obersten Sprosse stand und bemerkte, daß die schönsten Früchte viel höher in der Krone hingen, da siegte die alte Kletterlust. Ein Schwung und – wupp – war sie droben in den Ästen, hing das noch leere Körbchen an einen Zweig und begann vorläufig selbst zu naschen nach Herzenslust.

Adalbert entdeckte sie natürlich sofort und rief neckend hinauf: »Guten Morgen, Baroneß Traudl! Wie schmecken die Herzkirschen?« Traudl erschrak ein wenig. Sie erinnerte sich plötzlich, daß sie ja schon im vorigen Jahre konfirmiert war, und Sonntags beim Gange zur Kirche schon lange Kleider trug. Sie machte schleunigst Anstalt herabzusteigen und kam auch bis zu den untersten Zweigen, aber da stieß der Leutnant, der dienstbereit die Leiter hielt, aus Unachtsamkeit oder vielleicht auch aus Bosheit diese um, und nun war der Zugang zur Erde abgeschnitten.

»Wie ungeschickt!« rief das kleine Fräulein. »Heben Sie schnell die Leiter auf, damit ich hinunter kann.«

»Ist gar nicht nötig,« versetzte er lachend. »Springen Sie nur, ich fange Sie auf! Ich habe das ja vor drei Jahren immer getan, wenn Sie auf dem alten Kastanienbaum saßen und mich bombardierten mit den stachligen Dingern.«

»Nein, das schickt sich jetzt nicht mehr,« erklärte Traudl würdevoll. »Geschwind, heben Sie die Leiter auf!«

Er machte gar keine Anstalt dazu, sondern breitete hilfsbereit beide Arme aus und wiederholte: »Springen Sie! Ich lasse Sie nicht fallen – hopp!«

Aber da wurde Traudl böse. Sie warf mit sehr energischer Bewegung das Körbchen zur Erde, umfaßte mit beiden Händen den Stamm des Baumes und ließ sich sehr geschickt daran hinabgleiten. Das helle Leinwandkleidchen bekam einen klaffenden Riß dabei, aber sie stand auf dem Boden.

»Bravo!« rief Adalbert. »Das war eine Turnerleistung. Bravo, Klein-Rottraud!«

»Ich bin nicht mehr klein!« sagte das junge Mädchen entrüstet und hob sich auf die Zehenspitzen. »Ich reiche Ihnen schon bis zur Schulter und bin überhaupt jetzt erwachsen. Merken Sie sich das, Leutnant Adalbert!«

»Ich lege der erwachsenen jungen Dame meinen allertiefsten Respekt zu Füßen,« spottete er. »Bitte, die Füßchen auf den Boden! Zehenspitzen gelten nicht! Darf ich mich allergehorsamst nach dero Befinden erkundigen? Es scheint befriedigend zu sein, nach dem Kirschenmäulchen da zu schließen.«

Traudl erschrak, sie zog eiligst ihr Taschentuch hervor. O weh, da blieb eine dunkelrote Spur zurück und gab unwiderleglich Zeugnis von der Schwelgerei!

»Nun, es ist ja nicht das erstemal,« tröstete der junge Offizier. »Sie hatten stets einen gesegneten Appetit. Damals, als der Herr Baron noch gesund war, wurde ich bisweilen zum Souper eingeladen. Sie waren immer zuerst fertig mit Ihrer Portion und aßen dann noch ungezählte Butterbrote. Wissen Sie das noch, Klein-Rottraud?«

Klein-Rottraud ließ sich von dem Großvater, dem Onkel Ravensberg und auch von Bertold sehr gern so nennen, aber dem Leutnant Guntram gegenüber wollte sie nun einmal durchaus »erwachsen« sein. Sie richtete sich in voller Entrüstung auf.

»Sie sollen mich nicht immer so nennen. Ich leide es nicht mehr. Und überdies ist es falsch, ganz falsch – das weiß ich jetzt.«

»Oho! Woher kommt Ihnen denn auf einmal diese Weisheit?«

»Bertold hat es mir gesagt. Er hat mir neulich, als ich drüben in Ravensberg war, das ganze Gedicht vorgelesen. Schön-Rottraud heißt es! Kennen Sie es nicht?«

»Keine Ahnung!« log Adalbert.

Traudl zuckte geringschätzig die Achseln und beschloß, seiner bedauernswerten Unkenntnis zu Hilfe zu kommen. Sie begann die ersten Strophen des Gedichtes herzusagen, wobei der jedesmalige Refrain: »Schön-Rottraud« gebührend hervorgehoben wurde.

»Nun und der Schluß?« fragte der junge Mann, als sie auf einmal abbrach.

»Den – den habe ich vergessen.«

»Schade! Die letzte Strophe pflegt immer die hübscheste zu sein bei den alten Volksliedern. Vielleicht besinnen Sie sich noch daraus, Klein-Rottraud!«

Das machte das Maß der Empörung voll bei der jungen Dame. Sie warf ihm einen Verachtungsblick zu und wandte sich, ohne ihn weiter eines Wortes zu würdigen, nach dem Schlosse. Aber in der nächsten Minute holte Adalbert sie ein, umfaßte sie, und dann klang es leise, ganz leise an ihr Ohr: »Schön-Rottraud!«

Das junge Mädchen wurde glühend rot. Das war nicht der neckisch übermütige Ton, in dem er sonst mit ihr verkehrte. Das klang so weich, so schmeichelnd süß und jetzt noch einmal: »Schön-Rottraud! Ist's so recht?«

»Adalbert! Lassen Sie mich los!« Sie versuchte verwirrt und ängstlich sich loszumachen, aber da fühlte sie auf einmal seine Lippen auf den ihrigen, und heiß und innig flüsterte er: »Traudl – ich hab' dich lieb!«

Klein-Rottrauds Gesicht war wie in Glut getaucht. Es flutete etwas über sie hin, das ihr den Atem raubte und sie doch zugleich hoch, hoch emportrug, wie mit Flügeln. Sie antwortete nicht, regte sich nicht, als könne jeder Laut, jede Bewegung den Zauber zerstören, der sie umgab. Sie blickte nur mit selig leuchtenden Augen empor zu ihm und lauschte dem, was er ihr ins Ohr flüsterte. Daß er sie schon liebgehabt habe, als sie noch ein Kind war, daß er beim ersten Wiedersehen vor vier Wochen schon sich zugeschworen habe, sie müsse einmal seine kleine Frau werden – sie und keine andere! Dabei küßte er immer wieder und wieder das rosige Gesicht seiner jungen Braut, und erst ganz zuletzt fiel ihm die Frage ein, mit der er eigentlich hätte anfangen müssen.

»Willst du mich denn auch, Traudl?«

»Ja, Adalbert, ja!« jauchzte sie, während sie die Arme um seinen Hals schlang und ihr Köpfchen an seiner Brust barg. »Ich habe es ja gar nicht gewußt, wie lieb ich dich habe!«

Er beugte sich zu ihr nieder und sah ihr ins Auge.

»Und der Schluß des alten Liedes? Hast du ihn wirklich vergessen, Traudl? Nun, so weiß ich ihn!«

Und sie hoch emporhebend jubelte er:

»Ihr Blumen, ihr Bäume all es wißt,
Ich hab' Schön-Rottrauds Mund geküßt!
Rottraud – mein Rottraud!«


Baurat Guntram war zur bestimmten Zeit in Grafenau eingetroffen, und sein Sohn hatte ihn vormittags von der Bahnstation abgeholt. Er beabsichtigte anfangs, schon während der Fahrt herauszurücken mit dem Geständnis, daß er sich gestern verlobt habe, aber der Papa war so sehr angegriffen von der Reise, sah so elend aus und nahm die ersten leisen Andeutungen mit so völliger Teilnahmlosigkeit hin, daß Adalbert einsah, er müsse ihm vorläufig Ruhe gönnen.

Er glaubte ja willkommen zu sein mit seiner Neuigkeit, aber freilich bei der Gründung eines eigenen Haushaltes mußte er den Vater sehr bedeutend in Anspruch nehmen, und dieser hatte ihn erst wieder losgemacht von den Schulden, die der Herr Leutnant in Metz gerade so unbekümmert machte wie früher in Berlin. Natürlich hatte es wie gewöhnlich einen heftigen Sturm gegeben – glücklicherweise brieflich – und dann war die Summe gezahlt worden, auch wie gewöhnlich. Man mußte eben rechnen mit den Grillen eines alten Herrn, der ja reich genug war, aber sich nun einmal durchaus nicht trennen wollte von seinem Gelde.

Es war gegen vier Uhr nachmittags, aber die Schwüle des heißen Sommertages lagerte noch draußen im Park. Die Herren hatten sich deshalb in einen kleinen Pavillon zurückgezogen, der unweit des Schlosses lag. Hier war es kühl und behaglich, und man plauderte bei einer Zigarre. Guntram schien sich, nachdem er einige Stunden geruht, von der langen Fahrt erholt zu haben. Seine anfängliche Erschöpfung war gewichen, aber die Lebhaftigkeit, mit der er jetzt den geplanten Umbau des Schlosses für das nächste Jahr erörterte, hatte etwas Krankhaftes. Der Blick des Kommerzienrates ruhte bisweilen mit einem mitleidigen Ausdruck auf seinem Gesichte. Im nächsten Jahre! Ob der Mann dann überhaupt noch lebte? Es war hohe Zeit, daß man dem Sohn die Augen öffnete, der gar nicht zu merken schien, wie verfallen und elend sein Vater aussah.

Man war noch mitten in den Bauplänen, als die Tür sich öffnete und William Morland erschien. Er grüßte in seiner gemessenen Art, blieb aber auf der Schwelle stehen und sagte, zu seinem Schwager gewandt: »Ich komme heute ganz unerwartet und bringe noch einen Gast mit. Du erlaubst wohl, daß ich ihn bei dir einführe.«

»Bitte, ein Gast, den du einführst, ist stets willkommen,« versetzte Berndt, verstummte aber plötzlich, als sein Schwager vollends eintrat und der Herr, der hinter ihm stand, sichtbar wurde.

Auf die beiden anderen aber wirkte dessen Anblick in ganz eigentümlicher Weise. Adalbert fuhr in die Höhe und sein Vater saß wie erstarrt da.

»Baumeister Hermann Siegwart, gegenwärtig in Ebershofen,« sagte Morland. »Dem Herrn Baurat brauche ich seinen ehemaligen Schüler wohl nicht erst vorzustellen.«

Guntram war völlig fassungslos, die Überraschung kam zu jäh und unerwartet.

»Allerdings, ich erinnere mich – aber ich ahnte nicht – wie geht es Ihnen, Siegwart?«

Dieser antwortete nicht, sondern verneigte sich tief und förmlich vor dem Hausherrn.

»Ich bitte um Verzeihung, Herr Kommerzienrat, daß ich Ihr Haus betrete. Sie haben mich damals, vor zwei Jahren, nicht empfangen wollen. Heute hat mich Mr. Morland dazu veranlaßt, und da es sich um einen Ehrenpunkt handelt, so bin ich gekommen.«

Guntram hatte sich erhoben und strebte sichtlich, sich zu fassen. Er wandte sich gleichfalls an den Kommerzienrat.

»Das scheint ja ein förmlicher Überfall zu sein! Berndt, ich bin in Ihrem Hause. Sie werden Ihren Gast hoffentlich zu schützen wissen vor solchen Eindringlingen.«

Herr von Berndt richtete einen vorwurfsvollen Blick auf seinen Schwager, dessen Plan er erriet.

»Das hättest du uns ersparen sollen, William,« sagte er leise und unwillig. »Das war wohl anders zu lösen.«

»Nein!« versetzte Morland kalt.

Adalbert war gleichfalls aufgesprungen und blickte befremdet und erschreckt auf seinen Vater, dessen Verwirrung ihm nicht entging.

»Papa, fasse dich!« mahnte er halblaut. »Die Sache muß doch einmal zum Austrag kommen.«

Die Mahnung war notwendig, denn der Baurat wich unwillkürlich zurück, als Siegwart sich ihm näherte. Man hörte es an der Stimme, wie erregt Hermann war, aber er beherrschte sich völlig, als er jetzt begann: »Herr Baurat Guntram, wir haben einen alten Streit auszufechten. Ich ließ mich damals vor zwei Jahren leider zur vollsten Heftigkeit fortreißen und das gab Ihnen den Vorwand, Ihre Dienerschaft herbeizurufen. Hier sind Sie sicher in Gegenwart der anderen Herren. Aber ich fordere jetzt die Antwort, die Sie mir damals verweigerten!«

Guntram raffte sich zusammen und es gelang ihm auch wirklich, einige Haltung zu gewinnen, als er erwiderte: »Welche Antwort? Was meinen Sie? Auf Beleidigungen antworte ich überhaupt nicht. Wenn Sie etwa die damalige Szene wiederholen wollen, so ziehe ich es vor, zu gehen. Ich halte es unter meiner Würde, darauf einzugehen.«

Er wandte sich wirklich nach der Türe, aber da stand Morland, der so etwas geahnt haben mochte, und vertrat ihm den Weg. Und jetzt trat auch Siegwart mit einer raschen Bewegung dicht vor seinen einstigen Lehrer hin. »Sie bleiben!« herrschte er ihm zu. »Wir verhandeln jetzt die Sache Auge in Auge und vor diesen Zeugen. Da hat keiner zu weichen, bis wir zu Ende sind!«

»Unerhört!« brach der Baurat aus. »Ich komme harmlos hierher, um mich im Hause eines Freundes zu erholen und werde in solcher Weise – Berndt, dulden Sie das?« Dem Kommerzienrat war die Szene offenbar sehr peinlich. Er hätte ihr gerne ein Ende gemacht, sah aber ein, daß dies jetzt nicht mehr möglich war. So sagte er denn nur: »Ich glaube, Guntram, Sie tun besser, zu bleiben.«

»Ja, das muß endlich geklärt werden!« tönte auf einmal Adalberts Stimme mit einer Entschlossenheit, die ihm sonst ganz fremd war. »Es handelt sich selbstverständlich nur um ein Mißverständnis. Geh nicht zu weit, Hermann – ich dulde keine Beleidigung meines Vaters, du weißt es!«

Er stellte sich entschlossen an die Seite des Vaters. Siegwart streifte den Jugendfreund mit einem langen, ernsten Blick.

»Es tut mir leid, Adalbert, aber ich kann dir nicht ersparen, was du doch einmal hören mußt. Du hältst immer noch an dem Wahn fest, daß es sich hier um einen Künstlerstreit handelt, um ähnliche oder gleichartige Motive. Davon ist zwischen mir und deinem Vater nicht die Rede, sondern von einem Betrug. Einer von uns ist der Betrüger – er oder ich! Hältst du mich dafür?«

»Soll ich vielleicht meinen Vater dafür halten?« brauste der junge Offizier auf. »Besinne dich, was du redest!«

Er war trotzdem bleich geworden. Die ganze schwere Tragweite der Sache, die er bisher in sorglosem Leichtsinn beiseite geschoben hatte, schien ihm jetzt erst klar zu werden. Es klang etwas wie Angst in seiner Stimme, als er mit der gleichen Heftigkeit fortfuhr: »Papa, sprich – aber so sprich doch! Es handelt sich hier um deine und meine Ehre. Begreifst du denn das nicht?«

Guntram versuchte allerdings zu sprechen, aber es klang heiser und abgebrochen.

»Der Baumeister ist im Irrtum – in einem schweren Irrtum. Berndt, ich werde Ihnen alles erklären – aber nicht hier, nicht im Angesicht solcher Beschuldigungen. Lassen Sie uns gehen – ich bitte Sie!«

Der Kommerzienrat schien wirklich darauf eingehen zu wollen, aber Siegwart ließ es nicht zu. Er wußte, was hier für ihn auf dem Spiele stand, und war entschlossen, die Sache diesmal durchzuführen um jeden Preis.

Er richtete sich hoch auf und seine Stimme klang in schneidender Schärfe: »Die Erklärung habe ich Ihnen zu geben, Herr Kommerzienrat, und Sie werden sie von mir hören. Ich behaupte, daß der Plan zu Ihrer Villa mein ausschließliches Eigentum ist, daß dieser Plan fertig und vollendet bis in die Details in meiner Mappe gelegen hat, die ich in der Obhut meines früheren Lehrers zurückließ, als ich nach Italien ging. Nach meiner Rückkehr waren die Blätter verschwunden, entwendet – und drüben im Tiergarten sah ich mein Werk entstehen, das Baurat Guntram baute als seine Schöpfung. – Das weitere wissen Sie ja. Er blieb Sieger in dem Kampfe, den ich um mein Recht führte, und denunzierte mich als Betrüger. Er erntete Ruhm und Geld mit einer Arbeit, die er mir gestohlen –«

Ein Aufschrei unterbrach ihn. Adalbert machte eine Bewegung, als wolle er sich auf ihn stürzen, aber in demselben Augenblick trat Morland zwischen beide.

»Leutnant Guntram, sehen Sie Ihren Vater an!« sagte er eisig. »Wenn Sie noch zweifeln, wir tun es nicht mehr!«

Guntram bot in der Tat einen jammervollen Anblick. Vor zwei Jahren hatte er noch die Kraft gehabt, sich in der Rolle zu behaupten, die er durchführen mußte, wollte er sich nicht selbst vernichten. Der kranke, gebrochene Mann vermochte das nicht mehr. Er konnte nicht der Anklage standhalten, bei der jedes einzelne Wort scharf und eisern wie ein Hammerschlag auf ihn niederfiel, und nicht den Blick seines Sohnes aushalten, dem der Atem zu versagen schien, als er jetzt hervorstieß: »Du hast es gehört! – Antworte!«

Guntram machte noch einen letzten verzweifelten Versuch. Er stammelte etwas von Irrtum und Verleumdung, dann auf einmal schrie er auf wie im Wahnsinn: »Adalbert, du bringst mich um! – Du und Siegwart! – Mein Gott, mein Gott, wie kann man einen alten kranken Mann so bedrängen!«

Er fiel halb bewußtlos in den Stuhl zurück und brach in ein krampfhaftes, hilfloses Weinen aus.

Die anderen schwiegen, auch Adalbert sprach kein Wort, er trat nur langsam zurück von der Seite seines Vaters. Berndt machte endlich der langen qualvollen Pause ein Ende. Er sagte halblaut: »Adalbert, beruhigen Sie Ihren Vater. Wir tun wohl besser, Sie mit ihm allein zu lassen.«

Der junge Mann schien die Worte kaum zu verstehen. Er war totenbleich und wiederholte nur mit völlig erloschener Stimme: »Ja, bitte – lassen Sie uns allein!«

Die drei Herren verließen den Pavillon und wandten sich nach dem Schlosse. Erst nach einigen Minuten blieb der Kommerzienrat stehen und reichte dem Baumeister die Hand.

»Ich leiste Ihnen Abbitte, wir haben Ihnen schweres Unrecht getan, das sehe ich ein nach dieser Szene. Aber wie die Verhältnisse damals lagen – Sie waren mir fremd und den Mann, der Sie anklagte, hatte ich jahrelang Freund genannt.«

»Ich begreife das vollkommen,« versetzte Hermann mit ruhigem Ernst. »Sie konnten nicht anders urteilen. Und nun möchte ich Sie um Verzeihung bitten wegen des peinlichen Auftrittes, dem ich Sie aussetzen mußte. Mr. Morland hat die Verantwortung übernommen und wir konnten Ihre Zeugenschaft dabei nicht entbehren.«

Berndt war offenbar sehr angenehm berührt von diesen Worten. Er sah zu seinem Schwager hinüber, dem es nicht einfiel, sich zu entschuldigen.

»Es war der einzige Weg, der zum Ziele führte,« sagte er, »also mußte man ihn gehen. Und was haben Sie nun beschlossen, Mr. Siegwart?«

»Eine gerichtliche Auseinandersetzung würde zu gar nichts führen,« fiel der Kommerzienrat rasch ein. »Dazu gehören klare Beweise oder ein rückhaltloses Geständnis, das wohl nie zu erlangen wäre!«

»Das weiß ich,« erklärte Siegwart. »Vorläufig genügt mir Ihre Anerkennung, Herr Kommerzienrat, durch Sie ist mein Werk ja in das Leben getreten. Meine volle Rechtfertigung muß ich einstweilen noch aufschieben. Denn jeder öffentliche Schritt meinerseits vernichtet Adalberts ganze Zukunft, und er ist ja doch mein Jugendfreund.«

»Gewesen, dächte ich!« warf Morland mit scharfer Betonung ein.

»Nein, Mr. Morland. Die Szene von vorhin wird uns ja trennen, muß es tun, aber was er mir gewesen ist, das bleibt bestehen. Wenn ich ihm das Schlimmste ersparen kann, so geschieht es.«

»Das ist edel gedacht,« sagte Berndt, dem bei dieser Erklärung ein Stein vom Herzen fiel. Er reichte Siegwart nochmals, diesmal mit wirklicher Herzlichkeit die Hand und ging nach dem Schlosse, während die beiden anderen sich nach dem Ausgang des Parkes wandten.

»Nun?« fragte der Amerikaner, als sie allein waren. »Ich denke, wir haben gesiegt!«

»Und das danke ich Ihnen!« brach Hermann aus. »Der Plan stammte ja doch von Ihnen!«

»Und ist gelungen! Vorläufig ist die Sache damit zu Ende. Ihre sentimentalen Bedenken lasse ich natürlich nicht gelten, aber mein Schwager hat recht, gerichtlich ist da nichts zu machen. Wir haben den moralischen Beweis geführt, den juristischen können wir nicht führen. Sie müssen sich einstweilen mit dem begnügen, daß ich für Sie eintrete. Das wird auch seine Wirkung tun.«

»Daran zweifle ich nicht, aber Adalbert –?«

»Der bekommt eine ernste Lehre, und die kann dem Herrn Leutnant nicht schaden.«

»Es gibt auch grausame Lehren, die vernichten. Adalbert sah ganz danach aus – und ich habe ihn sehr lieb gehabt!«

»Das sieht man, und was Ihnen einmal im Herzen steckt, das scheint wie festgenietet zu sein. Diesmal werden Sie es aber doch herausreißen müssen. Genug davon! Ich werde zunächst in Ravensberg berichten, was hier geschehen ist, und in Berlin muß die Sache noch irgendwie zur Sprache kommen! Sie ist damals nicht über die Fachkreise hinausgekommen, es genügt also, wenn sie dort richtiggestellt wird. Sie wollen doch einen reinen Namen hier hinterlassen, wenn Sie mit mir gehen.«

» Wenn ich gehe!« warf Hermann ein, aber der Amerikaner nahm gar keine Notiz von diesem Wenn. Er fuhr ruhig fort. »Und dann nehme ich Sie in die Schule, denn das tut not. Sie sind so eine Art ungefügiger Felsblock, Mr. Siegwart, der noch überall mit Zacken und Spitzen starrt und dabei noch ganz überwuchert ist von der deutschen Sentimentalität. Das muß zuerst herunter! Das sieht sehr romantisch aus, taugt aber nicht für uns da drüben. Sie müssen erst ordentlich behauen und abgeglättet werden, dann läßt sich etwas gründen darauf!«

Es sprach eine Zuversicht aus diesen Worten, die gar nicht die Möglichkeit gelten ließ, daß irgend etwas seine Pläne kreuzen könne. Siegwart widersprach nicht, er sagte nur: »Und wenn ich nun das geworden bin, was Sie durchaus aus mir machen wollen – würden Sie dann noch ein anderes als höchstens ein geschäftliches Interesse für mich haben?«

»Nein!« war die kühle Antwort. »Aber dann brauchten Sie überhaupt nicht mehr danach zu fragen.«

»Dann will ich doch lieber Ihre jetzige Teilnahme und meine Ungefügigkeit behalten. Lassen Sie den eigensinnigen Block wie er ist. Die Zacken und Ecken stehen ihm besser zu Gesicht und mit dem wuchernden Moos wächst vielleicht auch einmal eine Tanne daraus – ein echter, rechter Baum, der tief im Felsboden wurzelt. Der gedeiht nicht auf Ihrem abgeschliffenen, blankpolierten Stein – und es wäre doch schade um die Tanne!«

Der Amerikaner sah ihn an und schüttelte den Kopf, wie immer, wenn »dieser Mensch« ihm unbegreiflich war. Dann aber sagte er ernsthaft: »Ja, es wäre schade! Und nun machen Sie, daß Sie nach Ebershofen kommen!«


Die nächsten Tage brachten manches Unerwartete in Grafenau. Baurat Guntram war mit seinem Sohne plötzlich abgereist, ohne den Kommerzienrat noch einmal gesprochen zu haben. Er mochte wohl selbst fühlen, daß nach seinem hilflosen Zusammenbruch bei jener Anklage jeder nachträgliche Versuch zur Rechtfertigung nutzlos war. Eine dringende Depesche, die ihn und Adalbert nach Berlin rief, mußte der Dienerschaft gegenüber den Vorwand zur Abreise geben und es wurde im Schlosse darüber so wenig wie möglich gesprochen.

Zwei Tage später hatten sich auch in Uhlenhorst die müden Augen des alten Baron Helfenstein für immer geschlossen, früher als man erwartete. Graf Ravensberg war auf die Nachricht hin sofort mit seinem Sohne herübergekommen, um die Bestattung anzuordnen und die nun ganz verwaiste Traudl mit sich zu nehmen. Der letzte Helfenstein, mit dem das alte Geschlecht zu Ende ging, fand seine Ruhestätte in der Gruft seiner Väter in Grafenau, wie er es gewünscht hatte. –

Baumeister Siegwart stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah in den Garten hinaus, während Frau Gerold mit einem großen Staubwedel bewaffnet seinem Schreibtisch zu Leibe ging. Sie fand, daß ihre alte Magd nicht mehr ganz zuverlässig war, und übernahm es bisweilen selbst, Ordnung zu schaffen in der Wohnung ihres Mieters.

»Bitte, nehmen Sie nur das Bild in acht, Frau Gerold!« sagte Siegwart, sich plötzlich umwendend. »Sie wissen ja, wie lieb es mir ist!«

Die alte Dame nickte und mäßigte ihre sonst raschen Bewegungen, als sie behutsam eine große Photographie abstäubte, die den Hauptplatz aus dem Schreibtisch einnahm.

»Das Bild Ihrer Mutter – ja, ich weiß, wie Ihnen das ans Herz gewachsen ist. Und Sie müssen doch noch ein Kind gewesen sein, als sie starb.«

»Ich war erst zehn Jahre alt, aber sie steht so deutlich in meiner Erinnerung, als lebte sie noch.«

»Wir haben sie nicht gekannt in Eberhofen, der Oberförster war ja schon Witwer, als er mit Ihnen herkam. Es muß auch nicht leicht gewesen sein für die junge Frau – zehn Jahre lang da hinten in den polnischen Wäldern mit Mann und Kind. Es war ja wohl die Heimat der Gräfin-Mutter von Ravensberg?«

»Jawohl und die Güter lagen dicht an der russischen Grenze. Die Herrschaft freilich lebte nur im Sommer dort. Ein halbes Jahr nach dem Tode der Mutter bekam mein Vater die Oberförsterei in Ravensberg. Wäre es früher geschehen – vielleicht hätte sie länger gelebt!«

Es lag ein halb unterdrückter Seufzer in den letzten Worten. Siegwart trat gleichfalls an den Schreibtisch, wo Frau Gerold das Bild eben wieder an seinen Platz stellte. Die junge Frau mußte sehr schön gewesen sein, das sah man, aber es stand ein ausgeprägter Leidenszug in ihrem Antlitz und die großen, dunklen Augen blickten mit dem Ausdruck tiefster Schwermut den Beschauer an.

»Ein liebes Gesicht!« sagte die alte Dame. »Aber so traurig und viel zu zart für solch ein Leben! Eigentlich möchte ich wissen, wie die Frau zu dem Manne gekommen ist. Er war ja ein kreuzbraver Mann, der Oberförster, aber auch ziemlich derb und liebte einen guten Trunk und ein Spielchen. Sie gleichen Ihrer Mutter gar nicht, Herr Baumeister, so wenig wie dem Vater, und von Sentimentalität ist bei Ihnen überhaupt nie die Rede gewesen. Aber mit dem Bilde da treiben Sie einen förmlichen Kultus.«

Siegwart lächelte, aber seine Stimme klang ziemlich herb, als er entgegnete: »Nun, etwas muß der Mensch doch haben, woran sein Herz hängt, und ich stehe ja sonst ganz allein in der Welt. Wenn man sieht, wie es im Leben drunter und drüber geht, wie so viele Ideale in den Staub getreten, so mancher Glaube vernichtet wird – da braucht man irgend etwas, das wie ein unberührtes Heiligtum im Inneren steht, wie eine Religion, an die sich keine schändende Hand wagt – ich wenigstens brauche es! Und das ist mir das Andenken meiner Mutter! Alles was in meiner Kindheit rein und schön gewesen ist, das knüpft sich an sie. Und dies Andenken kann mir keiner nehmen oder beflecken – sie ist ja tot!«

Frau Gerold nickte zustimmend. Sie freilich gab sich nicht ab mit solchen hochgespannten Gefühlen, aber sie fand diese kindliche Pietät brav und lobenswert. Das war einmal ein Sohn, der wußte seine Mutter zu schätzen noch über das Grab hinaus.

»Recht so!« sagte sie. »Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohl ergehe! so heißt es in der Schrift. – Nun habe ich wieder einmal Ordnung gemacht bei Ihnen. Ich werde der Stine künftig mehr auf die Finger sehen – guten Morgen!«

Der Baumeister erwiderte nur flüchtig den Gruß. Er stand noch vor dem Bilde und sah, wie in Gedanken verloren, darauf nieder. Die Frage, die seine Hausfrau vorhin ausgesprochen hatte, lag wie ein dunkles Rätsel auch in seinem Inneren. Wie kam diese Frau zu diesem Manne? Dies zarte, holde Geschöpf zu dem derben Jäger, der nicht viel mehr gelernt hatte als Lesen, Schreiben und Rechnen und nichts kannte als seine Wälder und was zur Jagd gehörte?

So jung Hermann auch noch war, als die Mutter starb, das wußte er doch, daß sie an Bildung himmelhoch über dem Vater gestanden hatte. Sie hatte ihren Knaben ganz allein unterrichtet, um sich nicht von ihm trennen zu müssen, denn die Försterei lag ganz einsam, selbst das nächste polnische Dorf war über eine Stunde entfernt. Ihr dankte er die frühe Kenntnis des Französischen und Englischen, die sie ihm wie spielend beigebracht und dann fleißig mit ihm geübt hatte. Die späteren Schulkameraden in Ebershofen sperrten Mund und Nase auf, als sie dahinter kamen, daß der zehnjährige Junge drei Sprachen beherrschte und ihnen überhaupt in allen Stücken voraus war.

Vielleicht hatte es sich um eine Versorgung gehandelt bei dieser ungleichen Ehe. Die Mutter war eine Waise gewesen, die ganz allein dastand. Vielleicht hatte sie ein eigenes Heim, hatte Mann und Kind haben wollen, und der Mann war ja auch gut zu ihr gewesen – in seiner Art. Aber sie schien doch aus einer ganz anderen Welt zu stammen und war jung und schön, da greift man doch nicht nach einem solchen Schicksal, nur um versorgt zu sein. Sie war auch daran gestorben – der Sohn wußte es jetzt. Wie oft hatte er nachgegrübelt über dies Warum, ohne je eine Antwort darauf zu finden.

Ein lautes Klopfen an der Türe schreckte ihn auf aus diesen Grübeleien. Es war der Förster von Grafenau, der eintrat mit einem Trauerflor um den Arm. Er war mit dem verstorbenen Siegwart befreundet gewesen, hatte oft im Ravensberger Forsthause verkehrt und den Jungen, den Hermann, aufwachsen sehen. Er besuchte ihn noch regelmäßig, wenn er nach der Stadt kam, und auch Hermann kam öfter nach Uhlenhorst. Er kannte natürlich Baron Helfenstein und seine Enkelin und sagte jetzt einige teilnehmende Worte über den Trauerfall. Hofstetter nickte wehmütig.

»Ja, nun ist's doch gekommen und viel schneller, als wir dachten! Ganz still ist er eingeschlafen, mein alter, guter Herr, und ein Begräbnis hat er gehabt wie ein Prinz. Die ganze Umgegend ist dabei gewesen, und der Herr und die Frau Kommerzienrat haben die Honneurs gemacht in Grafenau. Der letzte Helfenstein gehörte ja dahin, in die Ahnengruft. Graf Ravensberg versteht es, so etwas anzuordnen. Großartig ist's gewesen, und er ging auch dicht hinter dem Sarge mit Baroneß Traudl am Arm, die war ganz wie zerbrochen.«

»Nun, mit siebzehn Jahren überwindet man so etwas,« meinte Siegwart. »Sie hat sehr an dem Großvater gehangen, aber sie mußte doch auf seinen baldigen Tod gefaßt sein. Und jetzt ist sie im Hause und im Schutze des Grafen Ravensberg.«

»Sie wollte aber einen ganz anderen Schutz haben,« brummte der Förster. »Deshalb komme ich eigentlich zu Ihnen, Hermann. Ich weiß mir sonst keinen Rat, und Sie sind ja doch der Freund des Leutnant Guntram. Er hat oft genug von Ihnen gesprochen.«

Hermann wandte sich ab und machte sich an seinem Schreibtisch zu schaffen.

»Ja – wir waren befreundet. Er kam öfters nach Uhlenhorst, ich weiß es.«

»Öfter? Alle Tage ist er gekommen. Verliebt hat er sich in mein Baroneßchen und regelrecht verlobt hat er sich mit ihr. Er wollte nur erst mit seinem Vater sprechen und dann zu dem alten Herrn kommen, wie es sich gehört. Das war zwei Tage vor dem Tode des Herrn Barons. Am nächsten Tag finde ich das Kind ganz außer sich, in einem Weinkrampf. Sie wollte mir natürlich den Brief nicht geben, der von Grafenau gekommen war, ich habe ihn mir aber einfach genommen. Da stand es, schwarz auf weiß – die Absage des Herrn Leutnants. Er müsse schleunigst mit seinem Vater abreisen. Es wäre etwas Schweres, Furchtbares in sein Leben getreten, das all seine Hoffnungen, seine ganze Zukunft vernichtete. Er könne nicht mehr an Heirat denken, gäbe ihr ihr Wort zurück. Sie solle ihn vergessen – Abschied auf ewig – und was der verrückten Dinge mehr waren. Was soll man nun daraus machen?«

Siegwart schwieg, er hatte nichts geahnt von einer tieferen Neigung Adalberts und die kleine Traudl überhaupt noch nicht ernst genommen. Also auch das noch hatte der Jugendfreund zu tragen!

»Gott sei Dank, daß mein alter Herr nichts mehr erfahren hat von der Geschichte!« fuhr Hofstetter fort. »Er dämmerte ja nur noch so hin und am nächsten Tage schlief er ein. Dann ging es bei uns drunter und drüber. Der Graf kam mit seinem Sohne, und dann kam das Leichenbegängnis, und Baroneß Traudl wurde nach Ravensburg geholt. Man kommt erst jetzt wieder zu Atem. Da habe ich mich aufgemacht und will Sie nun einmal aufs Gewissen fragen. Sie kennen ja doch den Leutnant so lange schon – ist er ein Schurke oder ist er es nicht?«

»Nein, Herr Förster, das ist Adalbert nicht!« sagte Hermann ernst. »Er hat die Wahrheit geschrieben. Es ist wirklich etwas Ernstes, Schweres in sein Leben getreten, ich weiß es, aber er ist schuldlos daran.«

Der Förster atmete erleichtert auf. »Ich hab' es mir auch nicht denken können, daß er uns nur eine Komödie vorgespielt hat. Also, was ist da eigentlich passiert – heraus mit der Sprache!«

»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen, wenn Adalbert es verschweigt. Was daraus wird, das weiß er wohl selbst noch nicht. Wir müssen es abwarten. Für den Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als zurückzutreten – ich hätte es auch getan.«

»Da schlage doch aber der Donner drein!« rief Hofstetter wütend. »Nicht einmal wissen sollen wir, was eigentlich los ist? Der Herr Leutnant macht einfach kehrt und marschiert ab, und mein Baroneßchen weint sich die Augen aus und spricht vom Sterben. Das geht nicht – das leide ich nicht – Sie müssen beichten!«

Er rückte dem Baumeister drohend auf den Leib. Da öffnete sich die Türe und es trat jemand ein, dessen Klopfen man bei dem erregten Gespräch wohl überhört hatte. Der Förster fuhr plötzlich herum und nahm seine strammste militärische Haltung an, denn er hatte einen ungemessenen Respekt vor dem »Ravensberger«. Auch Hermann fuhr in vollster Überraschung auf. Der Graf hatte ihn oft genug zu sich rufen lassen, aber es war das erste Mal, daß er seinen Schützling persönlich aufsuchte.

»Sieh da, Hofstetter!« sagte er freundlich, denn der alte treue Diener der Helfenstein stand auch bei ihm in großer Gunst. »Sie haben dem Baumeister wohl Ihr Herz ausgeschüttet? Der Tod Ihres alten Herrn ist Ihnen nahe gegangen, ich weiß es, aber wir müssen uns ja alle fügen in das Unabänderliche.«

Der Förster fuhr mit der Hand über die Augen, ohne seine stramme Haltung aufzugeben. Gelegen kam ihm ja der Ravensberger Herr nicht, denn nun war es nichts mit der verlangten Erklärung. Er durfte hier nicht stören, sondern mußte sich gehorsamst empfehlen, und das tat er auch.

»Ich wollte schon längst einmal zu dir kommen und sehen, wie du hier eigentlich wohnst und lebst,« begann Ravensberg. »Einfach genug! Freilich, wenn man mit einer solchen Stellung ›durchaus zufrieden‹ ist, wie du mir erklärtest – Hermann, warum hast du dich damals nicht gewehrt gegen meine Vorwürfe, gegen die ungerechten Vorwürfe? Warum mußte ich erst durch Fremde erfahren, was dich nach Ebershofen getrieben hat? Sie ist ja unglaublich, diese Geschichte mit Guntram!«

»Jawohl, und deshalb versuchte ich auch nicht erst, Glauben bei Ihnen zu finden,« sagte der Baumeister ernst. »Mr. Morland hat versprochen, mich auch in Ravensberg zu rechtfertigen.«

»Das hat er getan, im vollsten Maße. Bei mir wäre das aber nicht nötig gewesen. Ich fand die Beschuldigung einfach lächerlich. Warum hast du dich damals nicht an mich gewandt? Ich wäre schnell genug mit diesem ehrenwerten Herrn fertig geworden und hätte dir dein Recht geschafft. Aber da schlägst du dich monatelang mit ihm herum, läßt dich sogar aus Berlin vertreiben, und ich erfahre nichts, kein Wort. Wenn das verletzter Künstlerstolz war, so war es zugleich die größte Torheit, die du überhaupt begehen konntest.«

Siegwart verteidigte sich nicht, denn es lag nur allzuviel Wahrheit in diesen Vorwürfen. Hätte er damals den Schutz seines hohen Gönners angerufen und dieser öffentlich seine Partei genommen, die Sache wäre ganz anders verlaufen. Er hatte es nicht gewollt oder nicht gekonnt, aus jenem dunklen Gefühl heraus, das es ihm nun einmal unmöglich machte, an dieser Stelle zu bitten.

»Nun, die Sache ist ja jetzt zu Ende,« fuhr der Graf fort. »Nach jener Szene in Grafenau, die uns Mr. Morland schilderte, darf Guntram es gar nicht mehr wagen, den Betrug aufrecht zu halten, und damit fällt hoffentlich auch dein unsinniger Plan, nach Amerika zu gehen. Daraus wird nichts! Ich begreife es, daß man sich eine Kraft wie die deinige sichern will, aber solche Kräfte können wir besser in Deutschland brauchen – du bleibst hier!«

Das klang herrisch und gereizt zugleich. Ravensberg war offenbar beleidigt, daß sein Schützling sich einem Fremden anvertraut und mit diesem Zukunftspläne gemacht hatte, aber das schroffe Verbot rief den Trotz des Baumeisters wach.

»Ich habe mich noch nicht fest gebunden,« erklärte er. »Aber wenn es sich um meine ganze Zukunft handelt, werde ich wohl – verzeihen Sie, Herr Graf – selbst entscheiden müssen. Das Anerbieten Mr. Morlands ist für mich ebenso ehrenvoll als glänzend.«

»Er hat dir wohl goldene Berge versprochen,« spottete der Graf. »Mag sein, daß er recht hat, ich sage dir aber, du taugst nicht für ein Leben, wo alles andere untergeht in der ewigen Hetzjagd nach dem Gelde, und wirst nie dafür taugen. Bleib hier, Hermann! Du bist jetzt nicht mehr der junge, unbekannte Architekt. Ganz Berlin kennt die Berndtsche Villa, und wenn man erst erfährt, in welch schändlicher Weise man dir dein Werk streitig gemacht hat, interessiert sich alle Welt für dich. Du kannst auch hier frei und groß schaffen, nun die Bahn einmal geöffnet ist. Ich werde dir ein Kapital zur Verfügung stellen, damit du unabhängig bist, aber – bleib bei uns!«

Das klang nicht mehr herrisch und befehlend wie vorhin, die letzten Worte hatten fast den Ton der Bitte. Hermann hörte schweigend zu, aber seine Antwort war nur ehrerbietig, es lag keine Spur von Wärme darin: »Sie überschütten mich mit Güte, Herr Graf. Ich weiß wirklich nicht, womit ich das verdient habe, aber ich kann unmöglich –«

»Nur keine Ablehnung wieder!« unterbrach ihn Ravensberg. »Diesmal würdest du mich ernstlich erzürnen damit. Du hast mit jenem Bauplan eine glänzende Probe deines Talentes abgelegt, das genügt. Und du scheinst ja auch hier fleißig gewesen zu sein –«

Er erhob sich und trat an den Schreibtisch, wo einzelne Blätter aus der Studienmappe lagen, eben im Begriff, sie zu betrachten, bemerkte er auf einmal das Bild.

»Ah – deine Mutter!«

Siegwart sah ihn überrascht an. Woher wußte der Graf das? Freilich, das Bild hatte jahrelang im Forsthause gehangen, er mochte den Oberförster danach gefragt haben.

»Du warst noch sehr jung bei ihrem Tode,« fuhr er fort, »und sie ist ja auch jung gestorben. Da wirst du kaum noch eine Erinnerung an sie haben. Sie war viel, viel schöner als das Bild da!«

Jetzt fuhr Hermann auf.

»Sie kannten meine Mutter?«

»Ja!«

»Aber – aber wir sind doch erst nach ihrem Tode nach Ravensberg gekommen!«

»Ich kannte sie in ihrer Mädchenzeit. Sie lebte damals in unserem Hause, und warum sollst du es nicht endlich erfahren – ich habe sie einst sehr liebgehabt!«

Siegwart stand in sprachloser Überraschung da. Er hatte keine Ahnung gehabt von solchen Beziehungen. Ravensburg nahm das Bild in die Hand, während er wie in Erinnerung verloren weitersprach: »Wir hofften damals beide auf eine Verbindung trotz des Standesunterschiedes, aber die Möglichkeit dazu wurde uns genommen. Unsere Hausgesetze – ich war der einzige Sohn und hatte Namen und Besitz zu wahren, die eine ebenbürtige Gemahlin forderten. Meine Familie trat dazwischen, und der Jugendtraum endete wie die meisten enden, mit Trennung und Entsagung – vergessen habe ich ihn nie!«

Er stellte das Bild wieder an seinen Platz und wandte sich zu Hermann.

»Begreifst du es nun, daß du mir lieb bist? Du bist ihr Sohn und sie ist mir die Erinnerung an eine Zeit, wo ich noch an Glück und Liebe glaubte und die Tyrannei der Standespflichten nicht anerkennen wollte. Ich habe mich ihnen schließlich doch gebeugt, beugen müssen, aber jetzt stehe ich vor dem Alter. Wenn es sich auch noch nicht äußerlich anmeldet, ich fühle doch bisweilen sein Nahen. Da möchte ich nicht einsam sein, möchte Jugend und Leben an meiner Seite haben – ich lasse dich nicht fort, Hermann!«

Er war zu dem Baumeister getreten und hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt, aber er begegnete nur einem erstaunt forschenden Blick.

»Mich? Sie haben ja doch Ihren Sohn!«

»Bertold?« Ravensberg zuckte kaum merklich die Achseln. »Der ist verheiratet. Der hat seine Frau, sein Leben für sich, da bleibt nicht viel übrig für den Vater. Bleib hier, Hermann! Wenn du erst einmal drüben bist, gehst du mir ganz verloren. Du bist mir immer so fern und fremd geblieben – sieh doch endlich den väterlichen Freund in mir! Deshalb allein habe ich dir von der Vergangenheit gesprochen, du wirst jetzt manches verstehen.«

Das klang nicht bloß herzlich, es lag eine seltsame Weichheit, beinahe Zärtlichkeit in dem Ton, aber das fand keinen Widerhall bei Siegwart. Er sagte nur mit verhaltener Bitterkeit: »Jawohl, ich verstehe vieles, was mir bisher ein Rätsel gewesen ist.«

Der Graf sah ihn befremdet an.

»Was meinst du?«

»Die ungleiche Ehe meiner Eltern – jetzt begreife ich sie. Ein Mädchen, dem Glück und Liebe genommen wird, weil es nicht ›ebenbürtig‹ ist, das sucht irgendwo eine Zuflucht mit seinem wunden, wehen Herzen, und so greift es selbst nach einem solchen Schicksal!«

»Was heißt das?« fuhr Ravensberg aus mit sprühenden Augen. »Ein solches Schicksal! Ist Siegwart etwa nicht rücksichtsvoll mit ihr gewesen? Er hatte es doch heilig versprochen. Es war ihm doch streng anbefohlen!«

Hermann zuckte zusammen, als habe er einen Schlag erhalten.

»Anbefohlen – von wem?«

Der Graf biß sich auf die Lippen, aber das unvorsichtige Wort war heraus, er konnte es nicht wieder zurücknehmen.

»Von wem anbefohlen – wer hatte ein Recht dazu? Wen ging das überhaupt etwas an?«

Es schien, als ob dem Fragenden irgend etwas den Atem raube. Er erhielt keine Antwort. Ravensberg sah ihn nur an, mit einem langen, düsteren Blick. Dann sagte er leise: »Hermann – komm zu mir!«

Aber Hermann wich mit einer zuckenden Bewegung zurück. Er war bleich geworden, und sein Auge wandte sich langsam nach dem Bilde auf dem Schreibtisch mit einem unendlich herben Ausdruck – er wußte jetzt alles!

»Komm zu mir!« wiederholte Ravensberg. »Wenn du die Wahrheit errätst – mein Gott, so starre doch nicht so auf das Bild! Du bist doch kein Knabe mehr, ein Mann wie du, der mitten im Leben gestanden hat und noch steht, versteht doch solche Dinge.«

»Ja,« sagte Siegwart dumpf. »Aber es war meine Mutter – meine Mutter – und sie ist mir wie ein Heiligenbild gewesen!«

Der Graf wandte sich ab, nach einem minutenlangen Schweigen begann er wieder: »Es kommt dir zu jäh und unerwartet. Ich sehe, daß ich dir Zeit lassen muß, dich erst damit vertraut zu machen. Ich erwarte dich in den nächsten Tagen, da werden wir ruhiger davon reden.«

Keine Antwort.

»In den nächsten Tagen, hörst du, Hermann? Ich erwarte dich. Für heute – lebe wohl!«

Er streckte die Hand aus, aber Hermann regte sich nicht, erwiderte keine Silbe. Er stand da wie aus Stein gehauen.

»Lebe wohl!« wiederholte Ravensberg gereizt und wandte sich nach der Tür. An der Schwelle zögerte er noch einen Augenblick, als erwarte er einen Ruf oder ein Nacheilen, aber nichts davon geschah, und die Tür fiel hinter ihm zu.

Hermann war allein. Er stand wieder vor dem Bilde – seinem Heiligenbilde, das niemand ihm nehmen oder beflecken konnte, seine Religion, an die sich keine schändende Hand wagen durfte – und jetzt? Vernichtet! In den Staub getreten, was ihm das Höchste, Reinste gewesen war! Es gärte auf in dem Mann wie Verzweiflung, wie Wahnsinn, er ballte die Faust und wollte sie zerschmetternd niederfallen lassen auf das einstige Heiligtum. Da sahen ihn die großen, dunklen Augen an, so leidvoll, so todestraurig, das ganze Weh eines verratenen, zerstörten Lebens lag darin, und die geballte Hand sank langsam nieder. Der Sohn lag auf den Knien, den Kopf auf die Arme geworfen und schluchzte auf: »Mutter – Mutter – warum hast du mir das getan!«


In Ravensberg hatte sich das Familienleben in der letzten Zeit immer peinlicher gestaltet, denn das Verhältnis zwischen dem Grafen und Morland war derartig gespannt, daß es unhaltbar zu werden drohte.

Jene Einmischung des Amerikaners bei den Betrügereien der Oberbeamten hatte den ersten Anlaß zu einem offenen Zerwürfnis gegeben. Ravensberg tat nichts in der Angelegenheit, wollte nichts tun, damit es nicht aussehe, als weiche er einem Druck. Morland mahnte noch einmal scharf zum Einschreiten; als er aber auch diesmal nur hochmütige Abweisung fand, griff er zu einem Gewaltmittel. Während der Graf einen mehrtägigen Jagdbesuch in der Umgegend machte, versicherte er sich seines Schwiegersohnes und ließ in dessen Gegenwart den Administrator und den Oberförster rufen.

Er sagte ihnen die Sache auf den Kopf zu, drohte mit Untersuchung und Beweisen und forderte andernfalls ihr sofortiges Entlassungsgesuch. Die Schuldigen, die dem Grafen gegenüber ihr Spiel wohl nicht so schnell verloren gegeben hätten, hielten der kalten, rücksichtslosen Energie des Amerikaners nicht stand. Sie begriffen, daß von ihm keine Schonung zu erwarten war, und fügten sich.

Bertold hatte in der ganzen Angelegenheit nur eine passive Rolle gespielt. Er mußte als Sohn des Hauses nur die Autorität seines Vaters herleihen, in dessen Namen Morland sprach. Als Ravensberg zurückkam, fand er auf seinem Schreibtische die Abschiedsgesuche der beiden Beamten und erfuhr von seinem Sohne den Zusammenhang.

Er war außer sich über diesen allerdings sehr rücksichtslosen Eingriff und sein ganzer Zorn ergoß sich über Bertold, der sich dazu hatte mißbrauchen lassen. Aber er stand nun einmal vor einer vollendeten Tatsache und konnte die so gut wie überwiesenen Betrüger doch nicht wieder zu Gnaden annehmen. Hätte Bertold nicht alles aufgeboten, um eine sofortige Szene zu verhindern, dann wäre schon damals der Bruch erfolgt.

Seitdem war der Krieg erklärt zwischen ihm und Morland. Sie sahen sich nur noch bei Tische und verkehrten dann noch in den Formen, die zwischen Hausherr und Gast geboten waren, aber die mühsam beschworene Katastrophe hing drohend in der Luft, ihr Ausbrechen war unvermeidlich, ob es nun früher oder später geschah.

Die junge, nun ganz verwaiste Baroneß Helfenstein war, wie längst beschlossen, nach Ravensberg übergesiedelt, aber weder ihr Vormund noch Bertold konnten es begreifen, daß der lustige Wildfang so ganz verändert war, immer mit verweinten Augen umherging und sich nicht trösten lassen wollte. Traudl hatte sehr an dem Großvater gehangen, gewiß, aber er hatte doch die Grenze des Lebens erreicht und längst keine Freude mehr an diesem Leben – und die Jugend pflegt sonst leicht und schnell zu vergessen.

Alice hatte sich im Anfang auch täuschen lassen, dann aber fühlte sie, mit dem Instinkt der Frau, daß hier etwas anderes zugrunde lag. So weint man nicht um einen alten, kranken Großvater, sie begann nachzuforschen. Anfangs schwieg Traudl hartnäckig und wollte ihr Geheimnis nicht preisgeben, aber schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie mußte sich einmal aussprechen, mußte diesen ersten bitteren Schmerz ihres jungen Lebens irgend jemand klagen und da beichtete sie.

Die junge Frau hörte verwundert zu. In ihren Augen war Traudl überhaupt noch ein Kind, das niemand ernst nahm, und nun hatte das schon seine Herzensgeschichte! Die Sache selbst erschien ihr freilich sehr natürlich. Ein siebzehnjähriges Mädchen und ein junger Leutnant, die sich täglich sahen in völliger Zwanglosigkeit – das war selbstverständlich. Sie wunderte sich nur über die Leidenschaftlichkeit, mit der das junge Mädchen das Geständnis hervorschluchzte und endlich verzweiflungsvoll schloß: »Und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört, kein Brief, keine Nachricht! Ich weiß nicht einmal, ob er in seiner Garnison oder bei seinem Vater ist, ahne gar nicht, was ihm zugestoßen sein kann.«

Alice wußte das nun allerdings von ihrem Vater und kannte auch die voraussichtlichen Folgen. Wenn Siegwart die Sache jetzt wieder aufnahm und Männer wie Morland und Berndt auf seine Seite traten, dann war Guntrams Name, seine ganze Existenz vernichtet, dann mußte sein Sohn die Armee verlassen und durfte es nicht mehr wagen, einer Baroneß Helfenstein seinen entehrten Namen anzutragen. Aber besser, sie erfuhr nichts davon, dann weinte sie sich aus und vergaß um so schneller, was sie doch vergessen mußte.

»So beruhige dich doch, Traudl,« sie gebrauchten längst schon die vertrauliche Anrede, die bei der Stellung des jungen Mädchens zu dem Ravensbergschen Hause eigentlich selbstverständlich war. »Wenn ihr euch nun einmal trennen müßt, dann ist dieser jähe Abschied vielleicht das beste für euch beide. Es gibt harte Möglichkeiten, vielleicht muß dir Guntram die Wahrheit verschweigen.«

»Warum muß er?« rief Traudl mit vollster Heftigkeit. »Warum sagt er mir nicht, was geschehen ist? Es ist ein Unglück, ich weiß es, aber ich will es kennen. Ich will ihn trösten, ihm helfen, aber er hält mich für ein Kind, das noch gar nichts Schweres ertragen kann, und das tut mir so weh – so wehe!«

Sie begann von neuem zu weinen und barg ihr Köpfchen in dem Schoß der jungen Frau, vor der sie kniete. Alice strich leise über das leuchtende Haar, es lag doch etwas Rührendes in dieser kindlichen Zuversicht, trösten und helfen zu können.

»Nimm die Sache doch nicht so schwer,« sagte sie. »Ihr habt beide einen kurzen, glücklichen Sommertraum durchlebt – jetzt ist er zu Ende. Es wird euch ja niemand einen Vorwurf machen aus diesem unschuldigen Flirt. Ihr dürft ihn nur nicht ernsthaft nehmen.«

Traudl sprang plötzlich auf mit sprühenden Augen.

»Flirt nennst du das, wenn zwei Menschen sich liebhaben von ganzer Seele? Flirt! O, ich kenne das Wort auch. Das habt ihr da drüben erfunden, weil ihr gar keine Liebe kennt. Ihr heiratet ja nur aus Berechnung, aus Spekulation, ihr wißt gar nicht, was das heißt, ein Herz haben.«

Die junge Gräfin runzelte unwillig die Stirn.

»Traudl, du wirst unartig! Was weißt du davon?«

»Hast du denn etwa deinen Mann aus Liebe genommen?« fuhr das junge Mädchen unbarmherzig fort. »Ihr kanntet euch ja noch gar nicht, als er nach Interlaken reiste, um sich mit dir zu verloben. Und du wolltest nur Gräfin Ravensberg werden. Wenn Großpapa mir befohlen hätte, eine reiche Heirat zu machen – ich hätte nein gesagt und wieder nein und immer nein! Warum hat Bertold das nicht auch getan?«

Sie stampfte nachdrücklich mit ihrem Füßchen auf den Boden. Alice lächelte.

»Sieh, wie energisch das Kind sein kann!«

»Ich bin kein Kind mehr!« rief das junge Mädchen zornig. »Ich bin Adalberts Braut, und wenn man einen Mann nur liebhat, dann kann man auch alles mit ihm tragen – alles – und doch glücklich dabei sein!«

»So? Kann man das?« fragte Alice leise.

»O ja! Ich habe es ja früher auch nicht gewußt, aber lieben und geliebt sein, das ist etwas so Schönes, so Süßes, das muß man erleben – denken kann man es sich nicht!«

Sie beugte sich nieder zu der jungen Frau und mit einem halb scheuen Flüstern kam es heraus, das Geständnis jener seligen Stunde, wo Adalbert seine »süße, kleine Braut« in den Armen gehalten und dann hoch emporgehoben hatte, als wollte er aller Welt sein Glück zeigen. Es klang wie heller Jubel und doch standen dem armen Kinde die bitteren Tränen in den Augen, als es von seinem kurzen Glück erzählte, das schon der nächste Tag zerbrochen und vernichtet hatte.

Alice hörte schweigend zu, ohne sich zu regen, das klang wie ein Märchen und das war es auch im Grunde, aber es wehte daraus hervor wie der sonnige Hauch der Jugend und des Glückes, und den hatte die schöne, stolze Frau nie gekannt.

Da kam sie wieder leise herangeschlichen, die Erinnerung, die so oft ungeduldig abgewehrt wurde und doch nicht weichen wollte. Jene Stunde, als die Sonne glutrot niedertauchte am Horizont – das Summen der Bienen im Wipfel der alten Linde, das wie eine ferne, traumhafte Melodie klang, wie ein unverstandenes Lied – der Blütenduft, der über die beiden hinströmte, die da oben standen. Sie hatten sich nicht wiedergesehen seitdem, der Traum war versunken. Ob auch vergessen?

In der jungen Frau wallte es heiß und beinahe feindselig aus. Daß sie das nicht los werden konnte! Der Mann paßte nicht für eine Waldidylle, für einen kurzen Sommertraum, wie ihn die kleine Traudl durchlebt hatte, der nahm alles viel zu schwer und ernst. Sie sah noch seine drohenden, flammenden Augen damals, als sie versuchte, den vermeinten Betrüger ihre Verachtung fühlen zu lassen. Nein, dieser Hermann Siegwart war nicht angelegt für den Flirt mit einer vornehmen Dame und ernst konnte Gräfin Ravensberg die Sache doch nicht nehmen.

»Und nicht wahr, du sagst es niemand, auch Bertold nicht?« schloß Traudl jetzt bittend. »Einmal mußte ich mein Herz ausschütten, aber andere sollen nichts wissen davon.«

Alice zog sie an sich und es lag eine ganz ungewohnte Wärme in ihrem Tone, als sie antwortete: »Niemand soll es erfahren, ich verspreche es dir. Aber was ist denn aus unserer kleinen, lustigen Rottraud geworden, die nur immer so in den Tag hinein lachte und jubelte. Armes Kind! Dir hat die Liebe kein Glück gebracht.«

»O doch!« In dem Gesicht des jungen Mädchens leuchtete es plötzlich auf wie Sonnenschein. »Das kennst du nicht, Alice, mit all deinem Reichtum. Glück – das ist etwas anderes, das kann man nicht kaufen, das kommt wie vom Himmel gefallen. Und wenn auch Herzeleid dabei ist und wenn ich mich auch manchmal halb tot weinen möchte – ich gäbe es doch nicht hin, um keinen Preis!«

Es war ein leidenschaftlicher und zugleich triumphierender Ausbruch. Alice schwieg, sie hatte immer so herabgesehen auf das »Kind«, das noch so gar nichts wußte vom Leben, und nun hatte dies Kind schon etwas erlebt, was ihr fremd geblieben war in ihrem reichen, glänzenden Dasein. Dies junge Glück und Leid mit seinem Jauchzen und Weinen – es regte sich etwas wie Neid in ihr. Es war ja doch schon ein Glück, wenn man überhaupt so empfinden konnte.

Da wurde die Tür geöffnet und Morland trat ein. Traudl trocknete ihre Augen, sie konnte jetzt nicht fremden Blicken standhalten und ergriff rasch einen Vorwand, um zu gehen. Der Amerikaner sah ihr nach.

»Ist die Kleine noch immer so untröstlich?« fragte er. »Sie hat wieder verweinte Augen. Und um einen alten, kranken Mann, für den der Tod eine Erlösung gewesen ist. Echt deutsch. Sentimentalität!«

»Ich glaube, man tut ihr unrecht, wenn man sie noch so ganz als Kind behandelt,« sagte die junge Frau ausweichend. »Sie fängt an, sich zu entwickeln. – Du bist heute so plötzlich vom Frühstück aufgebrochen, Papa. Mein Schwiegervater hatte allerdings eine sehr gereizte Erwiderung auf eine Bemerkung deinerseits, die ich nicht verstand. Ist etwas vorgefallen zwischen euch?«

»Noch nicht. Ich wollte dich und Bertold nicht zu Zeugen einer Auseinandersetzung machen, die allerdings unvermeidlich sein wird. Vielleicht kommt es zum Bruch darüber und da ist es wohl besser, daß ich dich vorher aufkläre.«

Alice blieb ganz ruhig bei dieser Andeutung, so bedenklich sie auch klang. Sie war längst vorbereitet auf eine Katastrophe und versetzte nur einsilbig: »Ich höre, Papa.«

Morland hatte neben ihr Platz genommen, er verleugnete auch jetzt nicht seine kühle, geschäftsmäßige Ruhe.

»Du weißt, Ravensberg lebt und webt in seiner politischen Tätigkeit, er geht ganz auf darin. Jetzt soll ein neues, großes Blatt gegründet werden, Parteiblatt natürlich. Ausschließliche Vertretung der konservativen Interessen, Kampf gegen den Liberalismus und so weiter. Die Sache wird vorläufig noch geheimgehalten, aber ich erfuhr sie durch Berndt. Er hält das Unternehmen geschäftlich für aussichtslos, das die Herren Politiker allein in die Hand nehmen wollen. Es wird ihnen schwere Opfer kosten, aber dann ist es natürlich Partei- und Ehrensache, das Blatt zu halten um jeden Preis. Man hat sich wegen der Finanzierung in erster Linie an den Grafen gewandt und er hat vorläufig zugesagt.«

Die junge Frau hatte zu oft von solchen Dingen gehört, um sich nicht schnell darin zurechtzufinden. Sie warf sachverständig ein: »Aber dazu gehören große Kapitalien und darüber verfügt mein Schwiegervater doch nicht.«

»Nein, nur über das Einkommen von Ravensberg, das wir unvorsichtigerweise zu seiner Verfügung ließen. Aber trotzdem wird man ihm den Kredit nicht verweigern. Bertold ist mein Schwiegersohn und man weiß, daß es dich nur einen Federzug kostet, die Hypotheken der Güter auf ihn zu übertragen.«

»Du weißt aber, Papa, daß ich diesen Federzug nicht tun werde.« Die Stimme der Gräfin klang in voller Entschiedenheit.

»Freiwillig nicht, aber man wird dich in eine Zwangslage bringen, sobald ich den Rücken gewandt habe. Wenn Ravensberg sich bindend verpflichtet, so muß er sein Wort einlösen. Du trügst seinen Namen und darfst deinen Schwiegervater nicht fallen lassen – solange du eben noch die Frau seines Sohnes bist.«

Er sprach die letzten Worte langsam, mit Betonung. Alice verstand offenbar die Andeutung, aber sie schwieg.

»Das Vermögen, das ich dir zur Mitgift bestimmte, ist dein unbeschränktes Eigentum,« fuhr Morland fort. »Gegen das Eingreifen anderer habe ich es gesichert; wenn du freiwillig Opfer bringen willst, so ist das deine Sache, ich gebe dir aber zu bedenken, daß solche Opfer unberechenbar sind. Man kann eine Million in ein derartiges Unternehmen werfen und sie verlieren. Doch ich beeinflusse dich darin nicht – entscheide selbst.«

Alice stützte den Kopf in die Hand. Sie war es allerdings gewohnt, allein zu entscheiden, der Vater hatte ihr nie einen Zwang auferlegt und sich gerade damit den unbeschränkten Einfluß auf sie gesichert. Sie verkehrten miteinander wie zwei Freunde, mit unbedingtem Vertrauen. Auch jetzt dachte sie nicht daran, die Sache mit ihrem Manne zu besprechen, sie fragte den Vater: »Was rätst du mir, Papa?«

»Zunächst – deinen Entschluß sofort zu fassen und für alle Fälle, denn ich glaube nicht, daß ich und Ravensberg friedlich auseinandergehen werden. Wenn du dann entschieden auf meine Seite trittst –«

»Ja!« Die Antwort klang hart und fest.

»Gut, dann stellst du Bertold die Wahl zwischen dir und seinem Vater. Er hat ihm zu erklären, daß er zu solchen Plänen die Hand nicht bietet und seinerseits die Teilnahme verweigert. Außerdem hat er die Abtretung von Ravensberg zu fordern – gesetzlich, in aller Form – wie es schon damals hätte geschehen müssen. Ich werde dafür sorgen, daß man beides in der Finanzwelt erfährt. Dann ist dem Grafen jeder größere Kredit abgeschnitten.«

»Und wenn Bertold sich weigert?«

»Dann hat er eben gewählt und muß die Folgen tragen. Du bist und bleibst Gräfin Ravensberg – auch bei einer Trennung.«

Trennung! Das Wort wurde zum erstenmal ausgesprochen zwischen ihnen. Gedacht wurde es wohl nicht zum erstenmal, denn Alice widersprach mit keiner Silbe, sie sagte nur halblaut: »Bertold hat mir nie Anlaß zu einer Klage gegeben in unserer Ehe.«

»Ich mache ihm auch keinen Vorwurf. Wir haben damals nur mit seiner Persönlichkeit gerechnet, und mit ihm allein wäre es auch nie zu einem Konflikt gekommen. Den Vater lernten wir erst später kennen, und da nahm er selbstverständlich die höchsten Rücksichten, denn es galt seine Rettung. Jetzt fühlt er sich wieder als Herr und Gebieter und zeigt uns das ganz offen.«

»Er ist es zwanzig Jahre lang gewesen,« warf die junge Frau ein. »Das vergißt sich schwer.«

»Eben deshalb muß man ihm und seinem Herrentum Schranken ziehen. Er wäre imstande, Hunderttausende von deinem Vermögen seinen Interessen, den Interessen des preußischen Junkertums, zu opfern. Da muß ein Riegel vorgeschoben werden. Ravensberg wird auf Bertold übertragen, und dem Vater bewilligt man eine Rente, von der er leben kann.«

Er sprach mit der ganzen herrischen Überlegenheit eines Mannes, der da weiß, daß er das Schicksal anderer in seiner Hand hält. Auf der Stirn seiner Tochter erschien eine leichte Falte.

»Und du glaubst, daß mein Schwiegervater sich diesen Bedingungen fügen wird? Das tut er nie!«

»Er muß!« sagte Morland hart. »Wenn wir ihn fallen lassen, steht er da, wo er vor drei Jahren stand. Oder willst du ihn vielleicht halten? Du bist Bertolds Frau – was geht dich sein Vater an!«

»Ich wollte, Bertold gliche dem Vater,« brach Alice heftig aus. »Ja, Papa, sieh mich nicht so erstaunt an. Er und ich sind immer geheime Gegner gewesen, aber herabsehen kann man nicht auf ihn. All seine Fehler haben einen Zug von Größe, es liegt Kraft und Energie darin. Bertold« – ihre Lippen kräuselten sich verächtlich – »der hat nichts von seinem Blute.«

»Nein, das hat Ravensberg auf einen anderen vererbt,« sagte Morland kalt.

Die junge Frau sah ihn betroffen an. »Aus wen vererbt? Was meinst du?«

»Nichts, was dich interessieren kann, eine bloße Vermutung. Wir haben Wichtigeres zu erledigen.«

Sie wurden jedoch unterbrochen. Der Diener erschien mit einer Karte. Baumeister Siegwart lasse anfragen, ob Mr. Morland für ihn zu sprechen sei.

»Jawohl – eintreten!« sagte dieser rasch. »Du entschuldigst, Alice, wenn ich ihn hier bei dir empfange. Es wird heute kaum von geschäftlichen Dingen die Rede sein.«

Alice stimmte sofort zu und der Baumeister trat ein. Er schien überrascht von der Anwesenheit der Gräfin und verneigte sich nur vor ihr, um sich dann sofort an ihren Vater zu wenden.

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Morland, wenn ich Ihre Zeit in Anspruch nehme; es hat sich etwas ereignet –«

»Ich errate, was Sie herführt,« unterbrach ihn der Amerikaner. »Die sämtlichen Zeitungen brachten ja Notizen über den Tod Guntrams.«

»Ja, das kam unerwartet,« sagte Hermann langsam. »Auch mir und meinem Schwager, obgleich wir wußten, daß er ernstlich leidend war, aber wer dachte an ein so nahes Ende! Und jetzt tut man, als habe die Kunst wirklich einen Verlust erlitten mit diesem Manne, ›dem heimgegangenen Meister, der mit seinem reifsten, edelsten Werk, der Berndtschen Villa, so glänzend Abschied von uns genommen hat‹. – Das steht wörtlich in der ›Post‹.«

Die Lippen Hermanns zuckten in tiefer Bitterkeit.

»Ich weiß, ich habe den Artikel gelesen.«

»Es rächt sich immer, wenn man etwas aufschiebt,« fuhr Morland fort. »In diesem Falle freilich mußten wir es, von hier aus ließ sich nichts tun. Das konnte nur in Berlin geschehen. Der Tod Guntrams ist ein Schlag für Sie, Mr. Siegwart. Gegen den Lebenden konnten Sie den Kampf wieder aufnehmen, bei diesem Ausgang –« er zuckte die Achseln.

»Ist die Sache zu Ende!« ergänzte Hermann. »Sie jetzt wieder aufwecken, am offenen Grabe eines Mannes, der aller Welt für einen Ehrenmann galt, das wäre in den Augen dieser Welt nur die schmähliche Beleidigung eines Toten, der sich nicht mehr verteidigen kann. Ich kann ja nichts beweisen – ich bin mir vollkommen klar darüber.«

Der Amerikaner widersprach nicht, denn er war derselben Meinung, er sagte nur: »Sie nehmen die Sache ruhiger, als ich glaubte.«

»Weil ich muß. Mir bleibt jetzt nur ein Weg, mit meiner Arbeit zu beweisen, daß ich das bestrittene Werk schaffen konnte und geschaffen habe – und das denke ich zu tun.«

Es lag etwas in den letzten Worten, was Gräfin Alice aufmerksam machte. Sie hatte bisher zugehört, ohne sich an dem Gespräch zu beteiligen. Auch jetzt streifte sie nur mit einem langen, fragenden Blick den Baumeister, während ihr Vater beistimmend nickte.

»Ganz recht, und dazu sollen Sie bei uns Gelegenheit finden. Jedenfalls macht dieser Vorfall Ihrem Zögern ein Ende. Ich erwarte das, wir werden also –«

»Sie sind im Irrtum, Mr. Morland,« unterbrach ihn Siegwart, in dessen Gesicht jetzt eine helle Röte aufstieg. »Es war nicht der Tod Guntrams, der mich zu Ihnen führte, ich wollte Ihnen eine andere Mitteilung machen – ich habe mich entschlossen, hier zu bleiben.«

Morland sah ihn an, als glaube er nicht recht gehört zu haben.

»Wozu entschlossen?«

»Hier in meiner Heimat den Beweis zu liefern, den ich bisher schuldig bleiben mußte. Ich erbat mir Bedenkzeit, um noch eine Entscheidung abzuwarten, die über meine Zukunft bestimmen sollte. Sie ist jetzt gefallen.«

»Über jenes Werk, von dem Sie mir damals sprachen?« fiel Alice plötzlich ein. Hermann wandte sich zu ihr und jetzt schien sein ganzes Wesen aufzuflammen in einem stolzen, triumphierenden Glück.

»Ja, Gräfin – ich habe gesiegt damit!«

»Das wußte ich!« brach sie aus. »Ich wußte es schon damals, als Sie mir von Ihrem Kämpfen und Ringen sprachen. Ich habe nie daran gezweifelt!«

Sie streckte ihm die Hand hin, die er stürmisch an seine Lippen zog. Es war ein Moment völligen Selbstvergessens, der nur zu viel verriet. Sie hatten es in der Tat beide vergessen, daß sie nicht allein waren. Morland sah stumm von einem zum anderen.

»Werde ich nicht endlich auch erfahren, wovon eigentlich die Rede ist?« fragte er jetzt mit vollster Schärfe.

Siegwart schien plötzlich zu erwachen, mit einer raschen, beinahe schroffen Bewegung wandte er sich von der Gräfin zu ihrem Vater.

»Verzeihung, deshalb bin ich ja gekommen. Vielleicht haben auch Sie von der Preisbewerbung gehört, die für das neue Nationalmuseum in Berlin ausgeschrieben wurde.«

Der Amerikaner trat einen Schritt zurück und sah ihn von oben bis unten an.

»Allerdings – nun?«

»Es soll ein großes, monumentales Werk werden, für das die reichsten Mittel zu Gebote stehen. Man rechnete wohl auf die Beteiligung der ersten Kräfte, aber gerufen waren alle. Auch der jüngste, letzte durfte mit in die Schranken treten. Nun, ich habe mich auch auf den Kampfplatz gewagt!«

Er zog ein großes amtliches Schreiben hervor und übergab es Morland. Alice war an dessen Seite getreten und las über seine Schulter mit. Herrn Baumeister Hermann Siegwart, zurzeit in Ebershofen, wurde darin mitgeteilt, daß nach dem Urteil der Jury die von ihm eingesandte Arbeit mit dem ersten Preise gekrönt und ihm damit die Ausführung des Werkes übertragen sei. Als Träger des zweiten und dritten Preises waren außerdem noch zwei der ersten Architekten Deutschlands genannt.

Alice sprach kein Wort, nur ihre Augen leuchteten auf und begegneten mit einem heißen, vollen Blick denen des Siegers. Morland schwieg gleichfalls, langsam faltete er das Schreiben zusammen und gab es dem Baumeister zurück. Dieser stand betroffen da, er hatte doch wohl eine andere Aufnahme seiner Nachricht erwartet.

»Schelten Sie mich nicht undankbar, wenn ich jetzt Ihr Anerbieten ablehne,« hob er wieder an. »Sie sehen, es ist nichts Kleines, Unbedeutendes, dem ich es opfere.«

»Nein,« sagte der Amerikaner frostig. »Es ist ein großer, ein vielleicht einzig dastehender Erfolg – meinen Glückwunsch, Mr. Siegwart.«

»Sie zürnen mir?« fragte Hermann ernst. »O, stören Sie mir nicht die große, die erste Freude an meinem Erfolg mit diesem Tone. Sie wollten so viel für mich tun, haben schon so viel für mich getan. Ich werde das nie vergessen, auch wenn ich jetzt einen anderen Weg gehe.«

Die warme Bitte fand keinen Widerhall. Ein Mann von dem Schlage Morlands vergab es nicht, daß man ihm seine Pläne kreuzte, daß etwas, das er schon als sein Eigentum betrachtete, sich ihm entzog. Der eisige Ausdruck blieb in seinen Zügen, und ebenso eisig klang seine Stimme bei der Antwort: »Ich mache Ihnen durchaus keinen Vorwurf, Sie sind vollkommen in Ihrem Rechte. Mein Anerbieten war das Vorteilhaftere, bei uns hätten Sie errungen und erworben, was Ihnen die deutschen Verhältnisse nie geben können, doch ich weiß, daß das für Sie nicht in Betracht kommt. Noch einmal – ich wünsche Ihnen Glück, auch meine Tochter tut es. Unsere Wege trennen sich eben.«

Die Entlassung war unzweideutig und dabei legte sich seine Hand verbietend auf den Arm der jungen Frau, als wolle er sie hindern, irgendwie einzugreifen. In dem Gesichte Hermanns malte sich eine bittere Enttäuschung, aber jetzt erwachte auch sein Selbstgefühl.

»Sie sind ungerecht gegen mich,« sagte er fest und ruhig. »Ich muß es tragen. Meine Dankbarkeit bleibt unvermindert, aber meinen Entschluß kann und werde ich nicht ändern. Leben Sie wohl, Mr. Morland!«

Er verneigte sich vor ihm und der Gräfin und verließ das Zimmer.

»Papa, das war mehr als ungerecht!« rief Alice heftig. »Den jungen, unbekannten Künstler hast du ausgesucht und in jeder Weise ausgezeichnet, und nun er mit diesem Erfolge vor dich hintritt, behandelst du ihn fast wie einen Verbrecher. So durftest du ihn nicht entlassen!«

Morland sah dem Baumeister nach, jetzt wandte er sich langsam zu seiner Tochter.

»Ich durfte nicht'? Du scheinst ja sehr viel von ihm zu halten, und ich dachte, ihr kanntet euch kaum.«

»Ich habe ihn vielleicht drei- oder viermal gesprochen, ich erzählte es dir ja.«

»Und dabei vertraute er dir seine geheimsten Pläne und Hoffnungen an? Du wußtest, was ihn hier festhielt, mir verschwieg er es.«

»Er fühlte es wohl, daß ich ihn verstand in seinem Ringen und Streben.«

»So!« Der Blick Morlands hatte wieder jene durchdringende Schärfe, die im Innersten der Menschen zu lesen schien. »Sonst hattest du nicht viel Interesse für Menschen in seiner Lebensstellung. Nun, für uns ist der Herr Baumeister jetzt abgetan. Er kann sein Ringen und Streben hinfort seinem Vaterlande widmen und sich mit voller Begeisterung in die Arbeit stürzen. Das war ja von jeher sein Ideal! Dafür gibt er die Aussicht auf Reichtümer hin – der deutsche Michel, wie er leibt und lebt! Aus Wiedersehen, Alice!«

Er erhob sich und ging, aber Alice kannte ihren Vater zu genau, um nicht zu wissen, daß er trotz seiner scheinbaren Ruhe jetzt tief gereizt war. Es war nicht bloß der Ärger darüber, daß er, William Morland, einmal falsch gerechnet hatte, der »ungefüge Felsblock« mit seinem trotzigen Widerstreben hatte es ihm angetan. Als er draußen war, preßte er die Lippen zusammen und murmelte mit einem beinahe ingrimmigen Ausdruck: »Diese verwünschte Preisbewerbung!« –

Die angekündigte Aussprache, die schon am nächsten Tage stattfand, endete, wie es bei dem Zusammenstoß dieser beiden Naturen vorherzusehen war, mit einem völligen Bruch. Bertold, den der Vater hatte rufen lassen, hörte mit Schrecken, was geschehen war, denn er übersah sofort die möglichen Folgen, an die der Graf in seiner Aufregung vorläufig noch gar nicht dachte.

»Aber Papa, um Gottes willen!« rief er. »Wenn ihr euch in solcher Weise gegenübergestanden habt, dann kann mein Schwiegervater unmöglich mehr hier bleiben.«

»Natürlich nicht,« sagte Ravensberg kurz. »Er hat mir auch bereits seine Abreise angekündigt. Um so besser! Dann ist Alice seinem Einfluß entzogen, und hoffentlich kehrt er sofort nach Neuyork zurück. Ich habe es satt, hier auf meinen Gütern, in meinem Hause eine förmliche Nebenregierung zu dulden, die alles kontrolliert, sich in alles mischt und sich die unerhörtesten Eingriffe erlaubt! Es war hohe Zeit, daß ein Ende damit gemacht wurde!«

Bertold wagte keine Erwiderung, er wußte, daß jedes Wort seinerseits das Feuer nur schüren würde bei dem Vater, der mit neu aufloderndem Zorn fortfuhr: »Sich in meine politischen Angelegenheiten zu mischen! Mir vorzuschreiben, was ich tun und lassen soll! Freilich, diese Emporkömmlinge erlauben sich ja alles, wenn sie Geld in der Tasche haben!«

»Er hat dich vielleicht nur warnen, nur vor Verlusten bewahren wollen,« warf der junge Graf ein, der die Pläne des Vaters natürlich kannte. »Und in finanziellen Dingen ist er doch eine Autorität.«

Ravensberg warf mit seinem ganzen Hochmut den Kopf zurück.

»Von Mr. Morland nehme ich keine Belehrungen an. Eine Autorität? Wenn es sich um das Geldverdienen handelt, ist er das allerdings. Er fing ja auch damit an, mir klarzumachen, daß bei dem Unternehmen kein ›Prosit‹ herauskäme. Profit!« Er lachte bitter auf. »Das ist das einzig Maßgebende für ihn, andere Gesichtspunkte kennt er gar nicht. Das ist und bleibt Krämervolk, und wenn es jetzt auch mit Millionen wirtschaftet! Ich habe ihm das ziemlich offen herausgesagt, und dabei sind dann freilich Worte gefallen, die weder vergessen noch zurückgenommen werden können. Wir sind ein für allemal fertig miteinander.«

Bertold erbleichte, das war noch schlimmer, als er fürchtete.

»Und was nun?« fragte er leise.

»Nun hast du einzutreten und deine Frau zur Vernunft zu bringen, sobald ihr Vater fort ist. Ohne Kampf wird das nicht abgehen, aber gleichviel, sie muß sich jetzt darauf besinnen, daß sie Gräfin Ravensberg heißt und zu uns gehört. Du bist der Gatte, du hast allein das Recht, zu fordern und nötigenfalls zu erzwingen, was jetzt nicht länger verschoben werden kann. Du weißt, daß und wozu ich größere Kapitalien zur Verfügung haben muß. Die Mitgift deiner Frau bleibt unangetastet, aber Ravensberg muß uns wieder voll und ganz gehören. Es ist hoch belastet, über seinen Wert hinaus. Das ist jetzt eine bloße Form, da Alice die sämtlichen Hypotheken besitzt, und es bedarf auch nur einer Form – einer einfachen Zession – um sie auf dich zu übertragen.«

»Aber Alice wird nie einen solchen Schritt tun ohne den Rat und die Zustimmung ihres Vaters.«

»So zwinge sie!« sagte der Graf herrisch. »Haben wir darum dies fremde Blut in unseren Stammbaum aufgenommen, daß ich nur dem Namen nach Herr sein soll in Ravensberg und du nur der Mann deiner Frau? Genug der unwürdigen Abhängigkeit! Zeige ihr endlich einmal den Herrn, dann wird sie sich beugen wie jedes Weib.«

Er ließ seinen Sohn stehen und ging in die anstoßende Bibliothek, deren Tür er hinter sich zuwarf. Er sprach wieder einmal als Herr und Gebieter, der unbedingten Gehorsam erwartet, und den hatte er ja auch bei dem Sohne stets gefunden. Der Graf tat sich etwas zugute auf seine Energie, mit der er überall durchgriff und sich keinem Schicksal beugte. So war es damals gewesen, als nur eines ihn vor dem Ruin retten konnte, und er diese Heirat befahl, so auch jetzt, wo er eine Vormundschaft, die man ihm aufzwingen wollte, einfach abschüttelte. Für ihn gab es keinen Zweifel, daß nach dem völligen Bruch mit »diesem Amerikaner«, wie er ihn verächtlich nannte, die Sache abgetan war.

Graf Ravensberg wußte nicht, daß es noch eine andere, zähe, kalte Energie gibt, die rücksichtslos über das Wohl und Wehe anderer hinwegschreitet, die sich nicht einen Augenblick bedenkt, selbstgeknüpfte Bande einfach zu zerreißen, wenn sie lästig werden. William Morland besaß diese Energie, und Alice war darin ganz die Tochter ihres Vaters.


Das Bankhaus des Kommerzienrats Berndt befand sich in einer der verkehrsreichsten Straßen Berlins. Er selbst war freilich nur in den Geschäftsstunden dort, da seine Villa draußen im Tiergarten lag. Er war erst kürzlich von Grafenau zurückgekehrt und empfing jetzt in seinem Privatkontor den Besuch des Baumeisters Siegwart.

Der Kommerzienrat hatte aufgeatmet bei der Nachricht von dem Tode Guntrams. Das befreite ihn von der peinvollen Notwendigkeit, den einstigen Freund nicht allein preiszugeben, sondern vielleicht sogar gegen ihn zu zeugen. Das war jetzt ausgeschlossen, aber Berndt war gerecht genug, das Unrecht, das er dem jungen Baumeister damals getan hatte, als eine Art Schuld zu empfinden und nach Kräften wieder gut zu machen. Da kam der große Erfolg Siegwarts bei der Preisbewerbung, der ihn mit einem Schlage emporhob. Er brauchte jetzt keine Gönnerschaft mehr, sondern war im Gegenteil eine aufsteigende Berühmtheit, und Herr und Frau von Berndt liebten es sehr, in ihren Salons Staat zu machen mit solchen Persönlichkeiten. Sie hatten den Baumeister dringend eingeladen, sie in Berlin aufzusuchen.

»Also erst gestern sind Sie gekommen?« fragte der Kommerzienrat. »Schon zu dauerndem Aufenthalt?«

»Nein, vorläufig nur auf vierzehn Tage,« war die Antwort. »Ich muß mich doch vorstellen bei den Herren von der Jury und den sonstigen maßgebenden Persönlichkeiten. Dann kehre ich noch auf kurze Zeit nach Ebershofen zurück, bis mein Nachfolger bei dem Rathausbau eingetroffen ist.«

Der Bankier lachte. »Ja, die brave Stadt wird Sie jetzt mit großem Bedauern ziehen lassen und hat Ihnen das Leben doch nach Kräften schwer gemacht! Das Wochenblättchen feierte Sie ja als ›unseren berühmten Sohn‹ in allen Tonarten, und wie ich höre, sind Sie gar nicht einmal in Ebershofen geboren. Wollen Sie nicht heute unser Tischgast sein? Ich fahre jetzt hinaus nach meiner Villa.«

»Ich danke!« lehnte Siegwart ab. »Ich habe eine notwendige Besprechung heute abend und will später noch Adalbert aufsuchen.«

»Adalbert Guntram? Er ist wohl zur Bestattung seines Vaters hier gewesen – natürlich. Aber er wird längst wieder in seiner Garnison sein.«

»Nein, er ist noch in Berlin, wie ich erfuhr. Ich habe ihn nicht wiedergesehen seit jener unglücklichen Stunde in Grafenau, und da halte ich es für nötig, daß wir uns noch einmal offen aussprechen.«

»Sie lassen also die Anklage fallen?« Man hörte es an dem Tone Berndts, wie sehr ihn das erleichterte. »Es ist unter diesen Umständen allerdings das richtige. Guntram ist immerhin Ihr Lehrer gewesen – er ist tot und Sie können seine Schuld nicht beweisen. Aber glauben Sie denn, daß die Sache sich totschweigen läßt? Sie sind damals mit voller Energie für Ihr Recht eingetreten und das wird noch nicht vergessen sein bei Ihren Berufsgenossen?«

»Nein, aber ich glaube da einen Ausweg gefunden zu haben und will mich mit Adalbert darüber verständigen. Er soll es wenigstens wissen, daß ich nichts unternehmen werde, was seine Zukunft in Frage stellt.«

»Ich fürchte, die ist überhaupt gefährdet – auch von anderer Seite,« sagte der Kommerzienrat ernst. »Er ist mir seitdem auch gänzlich fern geblieben. Bitte, sagen Sie ihm, daß ich zwischen Vater und Sohn zu unterscheiden weiß und ihm keinen Vorwurf mache.«

Er reichte dem Baumeister, der sich bereits erhoben hatte, die Hand zum Abschied.

»Noch eins – Sie werden doch meinen Schwager aufsuchen? Er ist gegenwärtig in Berlin mit seiner Tochter.«

»Ich weiß, aber ich werde schwerlich willkommen sein. Bei Mr. Morland stehe ich in vollster Ungnade wegen meines Entschlusses.«

»Ja, er verliert Sie sehr ungern, aber das muß Ihnen doch im Grunde schmeichelhaft sein. Übrigens reist er erst Anfang des nächsten Monats ab und Alice wollte natürlich so lange bei ihm sein. Der Graf und Bertold sind in Ravensberg geblieben, die sind ja nie loszureißen von ihrem Jagdvergnügen!«

Siegwart stimmte höflich zu und verabschiedete sich, aber er wußte bereits, daß die Sache anders zusammenhing. In Ravensberg und Ebershofen sprach man von schweren Zerwürfnissen in der gräflichen Familie, die Dienerschaft hatte manches erlauscht und beobachtet. Es hieß, die Gräfin habe sich dabei rücksichtslos auf die Seite ihres Vaters gestellt, jedenfalls war sie ihm schon wenige Tage nach seiner plötzlichen Abreise nach Berlin gefolgt. Bertolt, war bei dem Vater zurückgeblieben, es schien da ein geheimer, aber erbitterter Kampf ausgefochten zu werden. Soviel stand fest, viel Segen hatte diese amerikanische Heirat dem Hause Ravensburg nicht gebracht.

Als der Baumeister ins Freie trat, fing es schon an zu dämmern, obwohl es kaum fünf Uhr war, aber der düstere, nebelschwere Herbsttag brachte einen frühen Abend. In den Straßen Berlins wogte und hastete das gewohnte Treiben der Großstadt, aber es war heute nicht anziehend für den Fremden. Der graue, dichtumwölkte Himmel, die feuchte, nebelerfüllte Luft schienen förmlich zu lasten. Hie und da flammte in den Läden bereits das elektrische Licht auf und das lärmende Getriebe nahm nur zu mit dem hereinbrechenden Abend. Auf dem nassen Trottoir drängten sich die Fußgänger unter triefenden Schirmen und auf den Dämmen kreuzten sich die Fuhrwerke. Das alles sah so trübselig und verregnet aus und der Nebel wurde immer dichter.

Siegwart kam auf seinem Wege an einer der Kirchen vorüber, die heute, trotz des Wochentages, besucht zu sein schien, denn von innen schimmerte Licht durch die Fenster. Ein Plakat an der Kirchtüre besagte, daß hier ein Orgelkonzert stattfand, von irgend einem wohltätigen Verein veranstaltet. Die Zuhörer schienen vorwiegend den vornehmen Kreisen anzugehören, denn außer den Herren und Damen, die dort eintraten, fuhr eine ganze Reihe von Equipagen vor. Eine derselben kreuzte den Weg des Baumeisters und er erkannte das Wappen und die Livreen von Ravensberg.

Er wollte vorübergehen, aber sein Fuß schien am Boden zu wurzeln und ein heißer, verlangender Blick folgte dem Wagen, der jetzt vor der Kirche hielt. Der Diener sprang vom Bock und öffnete den Schlag, aber die Dame, die ausstieg, war eine kleine, zarte Gestalt in Trauerkleidung – Baroneß Helfenstein – und sie schritt allein die Stufen hinauf.

Hermann atmete auf, als sei eine Gefahr an ihm vorübergegangen, aber die wilde, stürmische Freude, die in ihm aufflammte, schon bei der bloßen Möglichkeit eines Wiedersehens, hatte ihm gezeigt, was er nicht wissen wollte und doch längst schon wußte – daß er im Banne einer Macht war, gegen die kein Wehren und Sträuben half. Jene kurzen, flüchtigen Begegnungen, die höchstens eine Stunde dauerten, sie hatten über sein Leben entschieden.

Unsinn! Was war ihm diese Alice Ravensberg, was konnte er ihr sein? Vielleicht ein Zeitvertreib, wenn sie es zur Abwechslung einmal mit dem Künstlertum versuchen wollte! Ein Günstling, den man heute zu sich emporhob und morgen wieder fallen ließ. Sie hatte ja kein Herz, nur Stolz und Eigenwillen, das erkannte er klar genug und war doch angekettet an diese Leidenschaft, die Wille und Kraft in Fesseln schlug. Aber Hermann Siegwart war nicht gemacht, Fesseln zu tragen; was da in ihm wühlte und kämpfte, das war mehr dem Hasse als der Liebe verwandt. Nein, er liebte diese Frau nicht, wollte sie nicht lieben. Der Rausch sollte und mußte vorübergehen, dann kam man schließlich doch wieder zur Vernunft.

Inzwischen saß die junge Baroneß Helfenstein in der Kirche, wo sie nur als Vertreterin der Gräfin erschien. Diese gehörte zu den hohen Protektorinnen des Vereins, hatte aber keine Lust, selbst zu dem Konzert zu fahren, und sandte deshalb das junge Mädchen, das nun verschüchtert zwischen den vornehmen Damen des Vorstandes saß, für die man besondere Plätze bereit hielt. Sie war nicht nach ihren Wünschen gefragt worden, als man sie mit nach Berlin nahm. Der Vormund hatte das bestimmt und da gab es keinen Widerspruch.

»Du brauchst Zerstreuung, mein Kind!« hatte der Graf erklärt. »Du gibst dich ohnehin zu viel deiner Trauer hin und wirst hier in Ravensberg ganz vereinsamt sein, wenn Alice fort ist. Es ist besser, du begleitest sie!« Damit war die Abreise beschlossen worden.

Traudl fühlte sich nicht weniger vereinsamt in Berlin, in dem großen Ravensbergschen Palais, wo ihr alles fremd war. Man hatte sie nicht in die Vorgänge innerhalb der gräflichen Familie eingeweiht und Alice hatte ihre bangen Fragen so kalt und abweisend beantwortet, daß sie sich gekränkt zurückzog. Aber daß irgend etwas vorging, irgend etwas Schweres, Unheilvolles, sah sie nur zu gut. Die plötzliche Abreise Morlands und der ebenso plötzliche Entschluß seiner Tochter waren sicher nicht zufällig. Der Graf hatte sich nicht einmal verabschiedet von seiner Schwiegertochter, sondern war schon früh morgens zur Jagd gefahren. Bertold, der die beiden Damen zur Bahnstation geleitete, zeigte ein so verstörtes, gedrücktes Wesen, daß man deutlich sah, er blieb nur halb gezwungen zurück. Der Vater ließ ihn eben nicht von seiner Seite.

Das alles ging der jungen Baroneß durch den Kopf, während die Orgeltöne sie umbrausten. Sie hatte eine so namenlose Sehnsucht nach dem sonnigen, kleinen Waldschlößchen, nach ihrem alten Freunde, dem Förster, nach dem ganzen, frohen Kinderglück jener Tage, das einen so jähen, bitteren Abschluß gefunden hatte. Adalbert hatte auch später nichts mehr von sich hören lassen, es war kein Brief, keine Nachricht gekommen. Er schien seine kleine Rottraud ganz vergessen zu haben.

Das Konzert schloß mit einem prächtig ausgeführten Choral, Traudl hatte kaum etwas davon gehört und schreckte wie erwachend auf, als die Orgel jetzt verstummte. Die Zuhörer erhoben sich und strebten den Ausgängen zu, draußen hatte der Regen aufgehört und auf dem großen Platz vor der Kirche wuchs der Verkehr ins riesenhafte. Die Straßenbahnen klingelten und sausten vorüber, die Wagen folgten sich in schier endlosen Reihen. Betäubt von dem ungewohnten Straßenlärm stand das junge Mädchen und spähte nach dem Wagen, der noch nicht da war. Da kam von drüben her ein Herr, der im hastigen Vorübereilen unsanft ihre Schulter streifte. Mit einem flüchtigen Entschuldigungswort wandte er sich um und wollte weiter, blieb aber plötzlich stehen.

»Traudl!«

»Adalbert!« rief sie ebenso erschrocken, aber es war ein freudiger Schreck.

»Sie in Berlin? Wie kommen Sie hierher?«

»Mit Gräfin Alice. Wir sind schon zwei Wochen hier.«

Mehr als die paar Worte konnten sie nicht wechseln, denn die vor der Kirche an- und abfahrenden Wagen machten ein längeres Verweilen unmöglich. Adalbert schien zu zögern, dann faßte er rasch ihre Hand.

»Traudl, wir können doch nicht so aneinander vorübergehen! Nur ein paar Minuten!«

Er zog sie seitwärts, wo eine kleine Anlage an der Kirchenmauer, ein schmaler Rasenfleck mit einigen Bäumen, wenigstens Schutz vor dem Straßenverkehr gewährte. Alles drängte dem Platze zu, die halbdunkle Ecke war ganz einsam und niemand achtete auf das junge Paar, das dorthin flüchtete.

Es war ein greller Gegensatz zu ihrem letzten Zusammensein, wo Klein-Rottraud, neckisch und lustig wie eine Elfe, über den Rasen flog und Adalbert ihr das Liebesgeständnis in das Ohr flüsterte. Alles Licht und Sonnenschein ringsum! Damals war es ihnen genaht, das trügerische Märchenglück, von dem sie meinten, daß es nie enden werde – und schon der nächste Tag hatte es zerbrochen und vernichtet.

Heute standen sie in dem schweren, feuchten Dunst des Herbstabends und um sie her brauste der Lärm der Großstadt. Menschen und Wagen hasteten aneinander vorüber, aber das alles sah so schemenhaft aus in dem dichten Nebel. Es war wie ein schwerer Traum, aus dem man sich müht zu erwachen, und der doch nicht weichen will. Die beiden standen sich wortlos gegenüber, zu sprechen wagten sie nicht und sie hatten sich doch in den Armen gehalten und geküßt in jener seligen Stunde.

Endlich hob Traudl die Augen empor. Das elektrische Licht von drüben schimmerte nur gedämpft durch den Nebeldunst und doch erschrak sie bis ins innerste Herz hinein.

War denn das noch Adalbert Guntram, der übermütige, lebensprühende Offizier, der da vor ihr stand in dem dunklen, nassen Überrock der Zivilkleidung? Bleich und düster, um Jahre gealtert, die Züge hohl und eingefallen wie bei einem Schwerkranken. Was war denn vorgegangen mit ihm? Aber auch er sah, daß es nicht mehr das rosige, lachende Kindergesicht war, das zu ihm aufblickte, und da beugte er sich nieder.

»Bist du mir böse, Traudl, daß ich dir nur die Abschiedsworte sandte? Ich konnte, durfte dich ja nicht wiedersehen. Es mußte zu Ende sein zwischen uns.«

»Adalbert, was ist geschehen?« Sie klammerte sich angstvoll an seinen Arm. »Warum hast du es mir nicht gesagt? Warum hast du mich allein gelassen mit dieser namenlosen Angst im Herzen?«

»Armes Kind!« sagte er leise. »Es hat dir wehe getan, ich wußte es, aber die ganze Last wollte ich nicht auf dich legen und da ging ich ohne Lebewohl. Und nun sehe ich dich doch noch einmal – am letzten Tage!«

»Am letzten Tage?« In dem jungen Mädchen begann sich eine dunkle Furcht zu regen. »Was meinst du damit?«

»Nun, natürlich meine Abreise,« versetzte er gelassen. »Morgen bin ich nicht mehr hier.«

»Du gehst in deine Garnison zurück?«

»Jawohl. Ich habe um Verlängerung meines Urlaubs nachsuchen müssen, es war noch so vieles zu ordnen nach dem Trauerfall.«

»Du hast den Vater verloren – wir hörten es.«

»Ja!« Das Wort klang dumpf und schwer und er fügte nicht eine einzige Silbe hinzu, aber seine seltsame Gelassenheit beängstigte Traudl mehr, als ein leidenschaftlicher Ausbruch es getan hätte.

»Sag mir endlich die Wahrheit,« bat sie von neuem. »Ich kann alles hören, alles ertragen, nur nicht diese fürchterliche Ungewißheit. Was ist geschehen? Ich will und muß es wissen – hörst du, Adalbert?«

Er sah sie an, betroffen über den energischen Ton, den er zum erstenmal hörte, dann flog ein bitteres Lächeln um seine Lippen.

»Du sollst es erfahren. Ich wollte dir ohnehin schreiben, heute abend noch. Morgen erhältst du den Brief.«

»Schreiben? Nur schreiben – warum sagst du es mir nicht auf der Stelle?«

»Hier? Mitten in dem Straßenlärm?«

»So komm mit mir!« rief das junge Mädchen mit ungewohnter Entschlossenheit. »Der Wagen wartet drüben, du kennst ja die Gräfin und darfst uns schon einen Besuch machen. Sie wollte heute abend nach dem Theater fahren mit Mr. Morland, da sind wir allein, da kannst du mir alles sagen.«

»Nein, ich kann nicht,« beharrte er. »Ich muß fort, noch in dieser Nacht, mein Urlaub ist zu Ende und ich habe noch Dringendes zu erledigen. Laß uns Abschied nehmen, Traudl, mache mir die Trennung doch nicht so schwer. Morgen sollst du alles erfahren – mein Wort darauf – jetzt laß mich fort.«

Traudl antwortete nicht, aber sie klammerte sich nur fester an ihn. Sie verstand ihn ja nicht, begriff nichts, als daß er fort wollte, auch diesmal fort, ohne ein Wort der Erklärung, aber sie fühlte, daß wenn er jetzt von ihr ging, er ihr verloren war. Nur ihre Augen baten, mit so angstvoller verzweifelter Bitte, daß die starre, tote Ruhe in seinen Zügen nicht mehr standhielt. Es flammte plötzlich auf darin im wilden, leidenschaftlichen Schmerz.

»Lebewohl Traudl! Wir haben beide nach dem Glück gegriffen wie ein paar törichte Kinder und gemeint, es ließe sich so ohne weiteres greifen. Das Schicksal hat ihn schwer genug gestraft, den Kinderglauben. Aber ich habe dich lieb gehabt, grenzenlos lieb, das vergiß nicht. Lebe wohl meine süße, kleine Rottraud – und denke bisweilen an mich!«

Er zog sie an sich und seine Lippen preßten sich heiß und zuckend auf die ihrigen, dann aber, noch ehe sie wieder zur Besinnung kam, riß er sich los und eilte fort.

Das junge Mädchen stand wie betäubt da und sah ihm nach. Das war ja doch nicht ein Abschied fürs Leben, das war – Allmächtiger Gott! Die geheime, unerklärliche Angst, die sie schon während des ganzen Gespräches empfunden hatte, gewann auf einmal Form und Gestalt, sie wurde zur Ahnung, nein, zur Gewißheit. Es zuckte wie ein Blitz auf und zeigte Traudl die Wahrheit – sie wußte jetzt, was mit dem »Fortgehen« gemeint war.

Im tödlichen Erschrecken wollte sie nacheilen, da sausten die Wagen der Straßenbahn mit Lärm und Geklingel vorüber und verlegten ihr den Weg, und als er wieder frei war, sah sie Adalbert nicht mehr. Drüben mündeten zwei der belebtesten Straßen, er war verschwunden, untergetaucht in dem Gewühl der Fußgänger und Fuhrwerke, das dort wogte, und sie wußte nicht einmal die Richtung, die er genommen hatte.

Es war eine Unmöglichkeit ihm zu folgen, ihn wiederzufinden, das sah Traudl ein, aber diese Gewißheit, anstatt sie niederzuwerfen, rief einen verzweifelten Entschluß in ihr wach. Sie wandte sich wieder nach der Kirche, wo ihr Wagen längst schon wartete, stieg ein und befahl, so schnell als möglich nach Hause zu fahren. –

In den vornehmen Straßen des Westens, wo die Wohnung des verstorbenen Baurat Guntram lag, war es gegen neun Uhr schon still und einsam, während in den großen Verkehrsadern noch der Straßenlärm brauste. Nach der Trauerversammlung, bei der halb Berlin erschien, und dem prunkvollen Begräbnis waren die Räume verödet, obgleich der Sohn noch hier weilte, um den Nachlaß zu ordnen. Aber er lebte ganz zurückgezogen, hatte keinen seiner ehemaligen Freunde aufgesucht und keinen der Trauerbesuche erwidert. Das Dienstpersonal war bereits entlassen, da der junge Herr auswärts speiste, nur ein altes Faktotum des Hauses war noch zur persönlichen Bedienung da.

Die Wohnung lag still und dunkel da, nur in den Zimmern, die Adalbert bewohnte, wenn er in Berlin war, und die nach dem Garten hinaus lagen, schimmerte noch Licht hinter den herabgelassenen Vorhängen. Am Schreibtisch brannte die Lampe und im Kaminofen loderte ein Feuer, man sah es noch, daß allerlei Papiere verbrannt worden waren.

Adalbert saß und schrieb. Es war eine furchtbare Zeit gewesen diese letzten Wochen, wo ihm nach und nach klar wurde, was er noch nicht ahnte, als er an das Sterbebett des Vaters gerufen wurde – wie es eigentlich stand mit dessen Verhältnissen. Guntram hatte auch im Angesicht des Todes nicht den Mut gefunden, seinem Sohne die Wahrheit einzugestehen. Er hatte nur von Verlusten, von augenblicklichen Verlegenheiten gesprochen, und Adalbert drang nicht auf eine nähere Erörterung. Für ihn stand etwas anderes im Vordergrunde, die drohende Schmach bei jener Enthüllung, die wie ein Damoklesschwert über ihnen beiden schwebte. Jetzt war Guntram tot, aber das änderte schwerlich etwas daran, Siegwart mußte ja doch um seines eigenen Namens willen darauf bestehen, daß die Wahrheit an den Tag kam.

Mit solchen Empfindungen war der junge Offizier daran gegangen, die Hinterlassenschaft seines Vaters zu ordnen, und da entdeckte er das zweite, das ebenso furchtbar war – den völligen Ruin. Adalbert hatte seinen Vater stets für reich gehalten, hatte jetzt noch geglaubt, daß ihm ein großes Vermögen zufallen werde, jetzt sah er, daß sein Vater sich in all den letzten Jahren nur noch mit Hilfe Berndts und anderweitigen Anleihen über Wasser gehalten hatte, daß nichts, aber auch nichts vorhanden war, als eine Schuldenlast, die zu tilgen es gar keine Möglichkeit gab.

Es war eine schwere Erkenntnis, ein qualvolles Ringen mit dem Unabwendbaren, dem er schließlich doch erliegen mußte – der Bankrott in seiner schlimmsten, schmachvollsten Gestalt. Da gab es nur einen Ausweg – den Tod!

Es war nicht leicht zu sterben für den kaum siebenundzwanzigjährigen Mann, dem das Leben bisher so sonnig gelächelt hatte, aber es mußte sein. Der Brief an Traudl war bereits fertig, jetzt setzte er seinen Namen unter den zweiten, der die Adresse Hermann Siegwarts trug, und dann richteten sich seine Augen auf einen kleinen, blinkenden Gegenstand, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag – der Revolver sollte seinem Herrn heute den letzten Dienst erweisen.

Da tönte draußen die Klingel, leise, wie von zaghafter Hand berührt. Adalbert sah unwillig aus. Er hatte dem Diener zwar eingeschärft, daß er heute für niemand mehr zu sprechen sei, aber es war doch besser, sich vor irgend einer zufälligen Störung zu sichern. Er erhob sich, um die Türe abzuschließen, und trat dann noch einen Augenblick an das Fenster, die Straße lag still und verödet, es war ja neun Uhr vorüber. Nun kam die Nacht, und mit ihr seine letzte Stunde!

Da hörte er ein leises Pochen an der Türe, eine Hand versuchte von draußen sie zu öffnen, und dann klang eine Stimme im atemlosen Flüstern: »Adalbert, mach auf – ich bin's!«

Er zuckte zusammen. Das war ja unmöglich, aber er erkannte die Stimme, und jetzt flehte sie wieder und lauter wie in Todesangst: »Mach auf, um Gotteswillen! Ich bin's ja – die Traudl!«

Der junge Offizier begriff noch immer nicht den Zusammenhang. Traudl? Sie konnte doch nichts wissen, nicht ahnen, was er vorhatte, er hatte sich ja mit keinem Worte verraten. Aber er öffnete, und in der nächsten Minute lag sie an seiner Brust, bebend an allen Gliedern, und rief zwischen Lachen und Weinen: »Du lebst! Gott sei Dank – du lebst noch!«

»Traudl, wo kommst du her? Zu dieser Stunde – was ist geschehen?«

Er zog sie vollends in das Zimmer und schloß die Türe. Er sah es erst jetzt, daß sie ganz durchnäßt war und nach Atem rang.

»Ich wußte ja nicht, wo die Wohnung deines Vaters lag,« stieß sie abgebrochen hervor. »Es dauerte so lange, bis ich es erfuhr – endlich telephonierten wir an Berndt, und da kam die Antwort. Ich wagte nicht, den Wagen zu bestellen, da bin ich zu Fuß gekommen – habe mich verirrt – ich bin ja ganz fremd in Berlin. Dein Diener wollte mich nicht einlassen, aber ich sagte, du erwartetest mich. Ich mußte zu dir!«

Adalbert suchte sich zu fassen. Jetzt hieß es standhalten, auch nicht dies Letzte blieb ihm erspart. Aber mitten in der Bitterkeit dieses Gedankens flammte es doch auf in seinem Innern, wie ein heißer Strahl von Glück und Liebe, als er dies junge, bebende Leben in seinen Armen hielt.

»Zu mir?« wiederholte er mit anscheinender Überraschung. »Wir haben uns ja gesprochen und du hättest mich bald nicht mehr gefunden. Meine Abreise –«

»Ja, so sagtest du,« unterbrach sie ihn, »aber das ist nicht wahr. Sterben willst du, ich weiß es. Erst als du fort warst, ist mir klar geworden, wohin du gehen willst – in den Tod!«

Adalbert versuchte ein Lächeln, das ihm freilich nicht gelang.

»Kind, du siehst Gespenster! Was habe ich dir denn gesagt? Daß ich fort muß, noch in dieser Nacht – natürlich muß ich das, da mein Urlaub zu Ende ist. Morgen abend muß ich wieder in Metz sein, der Dienst ist streng.«

Das junge Mädchen hörte kaum darauf und sah ihn nur immer an, mit den angstvoll flehenden Augen.

»Warum hast du dich eingeschlossen? Lüge nicht, Adalbert – o, nicht lügen in dieser schrecklichen Stunde –, da liegt ja der Brief, von dem du sprachest, der Abschiedsbrief, und da,« sie schauerte zusammen, »da liegt auch dein Revolver!«

Adalbert schwieg, er gab das Leugnen auf, denn er sah es ja, daß sie sich nicht täuschen ließ; und als sie nun wieder bat und flehte, doch endlich zu sprechen, da brach sein Widerstand und er sagte ihr alles.

Er beichtete die Schuld seines Vaters, die offenbar werden mußte, sobald Hermann Siegwart sein Recht geltend machte, den Ruin seines Hauses, die Unmöglichkeit, irgendwo Hilfe zu finden. Aus jedem Wort sprach die Verzweiflung des Mannes, der sich verloren wußte. Er hatte es nicht gewagt, sich irgend jemand anzuvertrauen, er war wochenlang allein gewesen, Auge in Auge mit diesem Furchtbaren, Unabwendbaren, das immer näher rückte und an dessen Ende der Tod stand. Einmal mußte er sich die Last von der Seele wälzen, einmal noch ausatmen in dem Bewußtsein, daß es wenigstens noch ein Wesen gab, das um ihn weinte. Das Bekenntnis war trotz alledem eine Art Erlösung für ihn.

»Jetzt weißt du alles!« schloß er endlich. »Mein Name ist entehrt, meine Laufbahn, meine ganze Zukunft vernichtet. Ich könnte nur aus der Armee gehen mit Schimpf und Schande – da gehe ich lieber in den Tod!«

Traudl saß still und blaß da, mit gefalteten Händen; das nahm auch ihr jede Hoffnung. Sie war ja doch in den Anschauungen und Ehrbegriffen ihres Standes erzogen und kannte keine anderen. Ein Offizier, dessen Vater ein Betrüger, dessen Name beschimpft war, der nicht einmal die Schulden dieses Vaters zahlen konnte, sondern seinen Bankrott erklären mußte, dem blieb freilich nur die Kugel – da gab es keinen anderen Ausweg.

»Und es gibt keine Hilfe, keine Rettung?« fragte sie leise, aber mit einem todesbangen Ausdruck.

»Nein, Traudl! Ich wollte es dir und mir ja ersparen, dies Geständnis, du solltest es wenigstens erst nach meinem Tode erfahren. Nun hast du es doch von mir erzwungen und siehst es, daß ich sterben muß. Du darfst mich nicht halten.«

Sie sah zu ihm auf, ein paar große Tränen rollten langsam aus ihren Augen, aber ihre Stimme bebte nicht, als sie erwiderte: »Nein – aber ich will mit dir gehen!«

»Um Gotteswillen, welch ein Gedanke!« fuhr er entsetzt auf. »Kind, du weißt ja noch gar nicht, was sterben heißt!«

Ein unendlich wehes Lächeln zuckte um die Lippen des jungen Mädchens.

»Bin ich dir auch noch ein Kind wie all den anderen? Ich bin ja aufgewacht, schon längst, schon damals, als ich deinen Brief in Uhlenhorst erhielt. Ich fürchte mich nicht, wenn wir zusammen gehen – gewiß nicht – nimm mich mit!«

»Nun und nimmermehr!« rief Adalbert mit vollster Heftigkeit. »Ein junges Wesen wie du, das noch so viel Anrecht an Glück und Leben hat –«

»Glück, wenn du sterben willst!« brach sie aus. »Was habe ich denn zu verlieren? Ich bin ja doch nur ein armes Waisenkind, das im fremden Hause, von fremder Gnade lebt, und ich fühle mich so einsam und unglücklich da. Laß mich nicht allein in dem harten, kalten Leben, Adalbert – nimm mich mit!«

Ihre Stimme klang in rührender, leidenschaftlicher Bitte, aber so viel Besinnung besaß der junge Offizier denn doch noch, um sich dagegen zu wehren. Da auf einmal schreckte er empor und horchte nach dem Nebenzimmer, wo es geklopft hatte, aber in eigentümlicher Art. Drei laute, kurze Schläge, in bestimmten Zwischenräumen. Das klang so unheimlich, so geisterhaft; auch Traudl hatte es gehört und wie von einem abergläubischen Grausen erfaßt, schmiegte sie sich an ihn an.

»Was war das – ein Zeichen?«

Adalbert sprang auf. »Ja, ein Zeichen! Aber das kennt nur einer – es ist doch unmöglich, daß Hermann – laß mich, Traudl, ich muß nachsehen!«

Aus dem Schlafzimmer führte eine kleine Seitentreppe hinunter nach dem Garten. Siegwart hatte in früheren Jahren den Weg stets benutzt, wenn er zu seinem Freunde wollte, ohne erst die ganze Guntramsche Wohnung zu passieren. Es war damals das verabredete Zeichen zwischen ihnen gewesen. Das Zimmer war dunkel, aber der Lampenschein von nebenan fiel hinein, und als Adalbert öffnete, erkannte er sofort die hohe Gestalt des Jugendfreundes, der draußen stand.

»Erschrick nicht, ich bin's,« sagte Hermann, indem er eintrat und die Tür hinter sich schloß. »Ich kam von der Gartenseite und sah Licht in deinem Zimmer, da habe ich noch einmal den alten Weg und unser altes Freimaurerzeichen benutzt.«

»Hermann, du?« Leutnant Guntram war noch fassungslos. »Du kommst zu mir? Und in dieser Stunde?«

»Ja, es ist spät geworden, aber ich kam nicht eher los heut abend, und du willst in den nächsten Tagen abreisen, wie ich erfuhr; da hielt ich es doch für besser, dich heut noch aufzusuchen.«

Damit schritt Siegwart ruhig nach dem Wohnzimmer. Adalbert war noch so bestürzt, so völlig kopflos, daß er gar nicht daran dachte, ihn zu hindern, erst ein halblauter Ausruf Hermanns, sein jähes Zurückweichen auf der Schwelle zeigte ihm, wie grenzenlos unvorsichtig er gewesen war.

Traudl stand mitten im Zimmer, im angstvollen Lauschen. Sie kannte ja den Baumeister, der oft bei dem Förster in Uhlenhorst gewesen war, aber sie begriff nicht, weshalb er wie erstarrt dastand und sie mit einem förmlichen Entsetzen anblickte. Dabei hatte er denselben merkwürdigen Ausdruck im Gesicht, wie vorhin der alte Diener, als sie erklärte, sie müsse den Leutnant Guntram sprechen und werde erwartet.

Das Unglück war nun einmal geschehen, Adalbert raffte sich zusammen.

»Du kommst so unerwartet,« sagte er, nach Atem ringend. »Ich bin nicht allein –«

»Das sehe ich und bedaure, gestört zu haben.« Die Stimme Siegwarts, die eben noch so warm und herzlich klang, war auf einmal eiskalt. »Ich wollte etwas mit dir besprechen, aber das ist eine ernste Sache und verlangt eine ernste Stunde. Jetzt hast du wohl weder Zeit noch Stimmung dazu – leb wohl!«

»Hermann, nicht diesen Ton!« fuhr der Leutnant gereizt aus. »Wenn du es wagst, die junge Dame mit einem Wort, einem Blick zu beleidigen, dann –«

»Willst du mich vielleicht fordern?« unterbrach ihn der Baumeister. »Das ist nicht nötig. Du hast zu vertreten, was du tust.«

Er verneigte sich sehr gemessen vor dem jungen Mädchen.

»Verzeihung wegen meines ungeschickten Eindringens. Ich glaubte wirklich, den Leutnant Guntram allein zu finden, und gehe sofort wieder.«

Er drehte sich kurz um und wollte das Zimmer verlassen, aber da richtete sich Traudl plötzlich auf. Sie verstand jetzt auch diesen Blick und Ton.

»Herr Baumeister!«

Er blieb stehen. »Sie befehlen, Baroneß?«

Sie trat vor ihn hin, das eben noch so blasse Gesicht war von einer glühenden Röte überflutet und die zarte Gestalt schien zu wachsen, aber ihre Stimme klang wie in verhaltenen Tränen.

»Sie meinen, es schickt sich nicht, daß ich hier bin, so spät und so ganz allein?«

Siegwart sah nieder auf das noch halb kindliche Wesen, und sein Ton milderte sich unwillkürlich, als er erwiderte: »Sie sind noch sehr jung, Baroneß Helfenstein, und kennen wohl kaum die Tragweite des Schrittes, zu dem man Sie verleitet hat. Aber Adalbert kennt sie und trägt die Verantwortung dafür.«

»Er hat mich nicht verleitet, er wußte es ja gar nicht, daß ich kam!« brach Traudl aus. »Aber ich wußte es, daß er sterben wollte, und da bin ich gekommen. Und wenn die ganze Welt es gesehen und die ganze Welt mich verdammt hätte – ich hätte es doch getan!«

Hermann zuckte zusammen. »Adalbert!« rief er im vollen Entsetzen.

Dieser sah finster zu Boden und sein Schweigen bestätigte die Wahrheit. Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Siegwart in einem ganz veränderten Tone: »Verzeihung, Baroneß! Man steckt noch so tief in unseren Formen und Anschauungen, daß, wenn sie einmal gebrochen werden, man gar nicht an einen freien, mutigen Entschluß denkt. Ich habe Sie beleidigt, ja – aber ich kann doch nicht mehr wie abbitten. Sie wollten Adalbert retten?«

Traudl schüttelte leise das Köpfchen. »Er sagt ja, daß es keine Rettung mehr gibt für ihn, daß er sterben muß – und da wollte ich mit ihm gehen.« Das klang so einfach, in so schlichter, hingebender Innigkeit, daß man wohl sah, es war ihr ernst gewesen mit dem Entschluß. Hermann antwortete nicht, er sah sie nur an, dann aber fragte er beinahe drohend: »Adalbert – hättest du das zugelassen?«

»Nein – niemals!« Die Antwort klang dumpf, aber fest.

»Es wäre auch ein Verbrechen gewesen! Aber weshalb denn in des Himmels Namen dieser verzweifelte Entschluß? Doch nicht etwa wegen der unseligen Geschichte zwischen mir und deinem Vater? Ich kam ja eigens, um das zu ordnen zwischen uns.«

»Es ist nicht das allein. Ich bin – nein, zum zweitenmal kann ich das nicht beichten! Lies den Brief da, dann weißt du alles.«

Der junge Offizier warf sich, wie überwältigt von der Scham, in einen Sessel und legte die Hand über die Augen. Siegwart trat zum Schreibtisch, der Revolver und die beiden Abschiedsbriefe zeigten ihm den ganzen, furchtbaren Ernst der Sache. Er öffnete das Schreiben, das seine Adresse trug, und überflog die ersten Seiten.

»Du armer Junge!« sagte er erschüttert.

Traudl war zu Adalbert getreten, aber ihre Augen hingen wie in neu erwachender Hoffnung an dem Baumeister, der den Brief jetzt langsam wieder zusammenfaltete.

»Das ist allerdings schwer zu tragen, furchtbar schwer. Aber es hilft nichts, du mußt standhalten.«

»Der Schande? Das kann ich nicht. Ihr habt mich heute gehindert, aber ihr könnt mich nicht dauernd hindern, wenn ich sterben will.«

»Nein, aber du sollst eben nicht wollen. Kopf in die Höhe, Adalbert! Da steht deine Braut, deine junge, tapfere Braut, die dich nicht verlassen wollte in der Todesstunde. Nicht den Tod – das Leben bist du ihr schuldig und darfst dich nicht feig aus der Welt schleichen.«

»So quäle mich doch nicht so furchtbar!« brach Adalbert aus. »Reiße mich doch nicht gewaltsam zurück in das Leben – es ist ja doch verloren für mich!«

»Bitten Sie ihn,« wandte sich Siegwart an das junge Mädchen. »Er muß versprechen, den unseligen Entschluß aufzugeben, dann wollen wir versuchen, Hilfe zu schaffen.«

»Adalbert, hörst du es, dein Freund will uns helfen!« rief Traudl mit gläubig aufflammendem Vertrauen, und leise, fast zaghaft fügte sie hinzu: »Wir sind doch beide noch so jung und möchten so gern noch leben!«

Ein schwerer, qualvoller Atemzug rang sich aus der Brust des jungen Mannes. Er glaubte ja an keine Hilfe, keine Rettung mehr, aber diese Stimmen des Lebens, die so laut fordernd, so heiß bittend zu ihm drangen, fanden doch den Weg zu ihm.

»Ich will es versuchen!« sagte er matt.

Auch Hermann atmete aus. Er hatte keineswegs die feste Zuversicht, die er zur Schau trug, aber hier kam es nur daraus an, sie den beiden anderen zu geben. Er übernahm sofort die Führung.

»Und nun vor allen Dingen eins – Sie dürfen nicht länger hier bleiben, Baroneß, Sie müssen heimkehren. Es ist bald zehn Uhr, wenn Sie hier gesehen würden, könnte das eine zweite schlimme Mißdeutung geben. Fürchten Sie nichts, ich lasse Adalbert heut nicht mehr allein, ich gehe ihm nicht von der Seite, mein Wort darauf. Haben Sie einen Wagen unten?«

»Nein, ich bin zu Fuß gekommen.«

»Dann bringst du Baroneß Helfenstein bis zur nächsten Straßenecke – dort halten Droschken – und läßt sie nach Haus fahren. Du kommst zurück, und dann wollen wir das Weitere besprechen.«

Weder Adalbert noch Traudl erhoben eine Einwendung, sie empfanden es beide als eine Wohltat, daß ein fremder, fester Wille für sie dachte und handelte. Das junge Mädchen trat noch einmal zu dem Baumeister und streckte ihm wortlos, aber wie mit heißem Dank, beide Hände hin. Er beugte sich nieder und küßte mit einer Art Ehrfurcht diese Hände, während er leise sagte: »Mut! Wir retten ihn!«

Als Siegwart allein war, nahm er den Brief wieder auf und las ihn langsam noch einmal durch. Das war allerdings schlimm, viel schlimmer, als es ihm vorhin beim raschen Durchfliegen erschienen war. Berndt, an dessen Hilfe er zuerst gedacht hatte, der Hauptgläubiger, und mit einer geradezu erschreckenden Summe. Der einstige Freund hatte seine Gutmütigkeit in schmählichster Weise mißbraucht. Da konnte von einer Bitte nicht die Rede sein. Und Morland grollte seinem unbotmäßigen Günstlinge. Da blieb nur ein Weg – Alice Ravensberg!

Die Stirn des Baumeisters zog sich finster zusammen. Nein, den Weg wollte er nicht gehen. Die Gräfin konnte ja helfen, was waren ihr die Summen, um die es sich hier handelte, die gab sie für eine Laune aus, für irgend ein Gemälde, das ihr gefiel. Und Hermann Siegwart tat sicher keine Fehlbitte bei ihr, das wußte er! Aber dann war er wieder in dem Bannkreise, dessen Gefahren er nur zu gut kannte. Nein, den Weg nicht, es mußte sich ein anderer finden!

Jetzt kam Adalbert zurück und warf Mantel und Mütze, die er im Vorzimmer an sich genommen hatte, auf einen Stuhl.

»Traudl fährt nach Hause, das Ravensberger Palais ist ja nicht weit,« sagte er. »Ich danke dir, daß du wenigstens sie beruhigt hast. Wir beide sehen wohl klarer in der Sache.«

Das war wieder der alte Ton düsterer Hoffnungslosigkeit. Siegwart sah es erst jetzt, was die letzten Wochen aus seinem Jugendfreunde gemacht hatten. Die Spuren all der seelischen Qualen, die Adalbert durchgekostet, waren tief genug eingegraben in dessen Zügen. Er hatte es ihm ja gewünscht, das Schicksal möge ihn einmal »rütteln und schütteln, daß ihm Hören und Sehen vergehe«. Aber das Rütteln war doch wohl zu stark gewesen, das junge, vom Glück verwöhnte Leben zerbrach darunter.

»Wir müssen uns allerdings zunächst Klarheit schaffen,« versetzte er ruhig. »Vor allem eine Frage – du hast deinem Vater das Geständnis abgezwungen?«

»Ja, ich wußte nicht, daß er schon damals so schwer krank war, und da bin ich wohl erbarmungslos gewesen. Auf der Rückreise trennten wir uns, ich mußte ja ins Manöver, und als es vorüber war, wurde ich an sein Sterbebett gerufen. Er hat schwer gelitten in den letzten Tagen, da konnte von Erörterungen keine Rede sein, und das Schlimmste – wie es eigentlich mit uns stand – entdeckte ich erst nach seinem Tode.«

»Und er ging aus der Welt als ›ehrenwerter Mann‹ und ließ dir die ganze Last der Schande und Verzweiflung!« Die Stimme Siegwarts klang in herber Bitterkeit. »Was dein Vater mir getan hat, das sollst du nicht büßen, Adalbert, das wird nie zur Sprache kommen. Ich lasse da jede Anklage fallen, die ich ohnehin nicht beweisen kann. Und nun wollen wir diese Zeugen einer schlimmen Stunde aus der Welt schaffen!«

Er nahm den Revolver, dessen Hahn bereits gespannt war, sicherte die Waffe und steckte sie in seine eigene Brusttasche, dann griff er nach den Briefen.

»Der da an Baroneß Helfenstein ist erledigt, ihr habt euch ja ausgesprochen, den meinigen habe ich gelesen – also fort damit!«

Er trat an den Kamin, auf dessen glimmenden Kohlen noch blaue Flämmchen zuckten, und warf die Papiere hinein; sie loderten auf und sanken schon in der nächsten Minute in Asche zusammen.

»Was tust du?« rief Adalbert mit einer Bewegung, als wolle er ihn hindern.

»Ich rette deinen Namen! Die Briefe enthalten ja doch ein Geständnis.«

»Das wird dir und mir nicht erspart bleiben. Man wird dich zur Rede stellen, grade jetzt nach deinem großen Erfolge.«

Siegwart lächelte. »Nun, dann ist's eben das gewesen, wofür du es so lange gehalten hast – ein Künstlerstreit. Dein Vater hat meiner Mappe eigenmächtig ein Motiv entnommen, das er dann selbst benutzte und ausgestaltete. Darüber haben wir uns entzweit und sind schließlich in volle Feindschaft geraten. Jetzt darf ich es wagen, das zu behaupten, denn jetzt glaubt mir alles, ich habe gezeigt, daß ich etwas kann! Ich werde aber erklären, daß ich am Grabe des Mannes, der doch einst mein Lehrer gewesen ist, jene Eigenmächtigkeit verziehen habe und nicht mehr daran erinnert sein will. Das muß und wird genügen.«

Das Ausatmen Adalberts verriet, wie sehr ihn das erleichterte, trotz allem, was noch drohte. Jetzt trat Hermann zu ihm und legte den Arm um seine Schulter.

»Der erste Ausweg ist gefunden und den zweiten wollen wir morgen gemeinsam suchen. Vor allen Dingen sollst du erst einmal wieder schlafen. Armer Junge! Man sieht es dir an, daß du das nicht gekonnt hast in den letzten Nächten. Du kommst jetzt mit in mein Hotel. Du weißt ja, ›den Einsamen umschleichen die Gespenster!‹ Morgen, am hellen Tage, hat die ganze Sache ein anderes Gesicht, und dann gehen wir ihr ernstlich zu Leibe. – Komm, Adalbert!«


In der Villa Berndt fand bei dem Kommerzienrat eine längere Konferenz statt. Er hatte dem Baumeister Siegwart, der ihn schriftlich darum ersuchte, die Morgenstunden bestimmt, da er gegen elf Uhr nach der Stadt zu fahren pflegte. Die beiden Herren hatten übrigens einen Zuhörer, William Morland, der zufällig gekommen war. Er nahm zwar kaum Notiz von Siegwart, dessen Gruß er nur mit einem kalten, steifen Kopfnicken erwiderte, aber er nahm sich ohne weiteres das Recht, der Unterredung beizuwohnen, und saß auf einem kleinen Ecksofa, anscheinend ganz in eine Zeitung vertieft.

Hermann hatte in möglichster Kürze die Verhältnisse Guntrams und Adalberts Lage geschildert, und der Kommerzienrat hörte schweigend, aber ohne jede Überraschung zu.

»Sie sagen mir da nichts Neues,« äußerte er. »Guntrams forwährendes Drängen um Geld ließ mich längst eine derartige Katastrophe fürchten, obgleich er sich alle Mühe gab, die Wahrheit auch vor mir zu verschleiern und immer nur von augenblicklichen Verlegenheiten sprach. Ich glaubte aber nicht, daß er sich so tief verstrickt und noch anderweitig Hilfe gesucht hatte.«

»Leider hat er das getan. Sie sind freilich der Hauptgläubiger, Herr von Berndt, und Sie wissen es ja selbst, wie bedeutend die Summe ist, die der Sohn unmöglich –«

»Davon ist keine Rede!« unterbrach ihn der Bankier abwehrend. »Das sind Opfer, die ich einer einstigen Freundschaft gebracht und längst verloren gegeben habe. Sagen Sie Adalbert, daß ich keine Ansprüche erhebe. Ich werde die Schuldscheine vernichten.«

»Das haben wir kaum zu hoffen gewagt,« sagte Siegwart mit sichtlicher Erleichterung. »Das nimmt uns die schwerste Sorge. Es sind allerdings noch etwa zwanzigtausend Mark zu schaffen, aber die größere Hälfte davon ist bereits gedeckt.«

»Durch wen gedeckt?« fragte plötzlich der Amerikaner über seine Zeitung weg. Er hatte offenbar kein Wort von dem Gespräch verloren.

»Das kann Sie ja nicht interessieren, Mr. Morland, genug, daß die Deckung vorhanden ist. Den Rest bringt hoffentlich die Auflösung des Guntramschen Haushaltes. Es ist manches künstlerisch Wertvolle darunter, wir dürfen immerhin damit rechnen.«

»Sie scheinen hier als Mandatar des Leutnant Guntram aufzutreten,« warf Morland sarkastisch ein. »Darf man fragen, was die ganze Sache Sie eigentlich angeht?«

»Was sie mich angeht? Adalbert ist mein Jugendfreund, und er braucht in seiner augenblicklichen Lage jemand, der für ihn spricht und handelt. Da trete ich eben ein.«

»Vermutlich, weil sein Vater Sie betrogen hat? Und nun schlagen Sie sich ritterlich für den Sohn herum! Sehr edel, aber es hat etwas von der Art des edlen Ritters von La Mancha.«

Die Worte klangen in beißendem Spott, aber dem Baumeister stieg der Ärger jetzt auch zu Kopfe, er wurde gleichfalls rücksichtslos.

»Wenn ich Ihnen dabei als Don Quichotte erscheine, so bedaure ich Sie, Mr. Morland, wegen dieser Auffassung. Wir denken anders darüber und nennen das einfach Freundespflicht!«

»Oho!« rief der Amerikaner gereizt. »Der Herr Künstler fühlt sich jetzt und läßt sich nichts mehr gefallen.«

»Habe ich denn das je getan? Nicht einmal bei unserer ersten Begegnung, Mr. Morland.«

Dieser sah ihn feindselig an.

»Nein, da sind Sie grob gewesen, unsagbar grob!«

»Adalbert wird natürlich die Armee verlassen,« wandte sich Siegwart wieder an den Kommerzienrat. »Er will überhaupt fort aus Europa, und darin gebe ich ihm recht. Er hat hier so lange den reichen, glänzenden Offizier gespielt, das erschwert ihm jede anderweitige Stellung, setzt ihn überall Demütigungen aus. Er muß möglichst weit fort, wo keine Vergangenheit ihn hindert; es handelt sich nur darum, daß er mit Ehren geht. Ihr großmütiger Verzicht, Herr von Berndt, hat uns die Möglichkeit dazu geschaffen, mit dem übrigen werden wir fertig werden.«

Morland legte das Zeitungsblatt nieder, er ließ seinem Schwager keine Zeit zu antworten, sondern fragte mit voller Schärfe und der Miene eines Inquisitors: »Wer deckt dieses ›übrige‹?«

Der Baumeister versuchte auszuweichen.

»Ich sagte Ihnen ja bereits, daß die Sicherheit vorhanden ist.«

»Wer stellt sie? Ich und mein Schwager wünschen das zu wissen.«

Das klang so diktatorisch, daß Siegwart sich notgedrungen zu einer Antwort bequemte.

»Muß ich denn durchaus Rede stehen? Nun denn, ich stelle sie! Der Preis, den ich gewonnen habe, beträgt ja doch fünfzehntausend Mark.«

»Dachte ich es doch!« brach der Amerikaner mit einem förmlichen Ingrimm aus. »Unter Kuratel sollte man Sie stellen!«

Aber auch der Kommerzienrat schüttelte unwillig den Kopf. »Das heißt denn doch zu weit gehen,« sagte er tadelnd. »Adalbert ist teilweise mitschuldig an diesem Ausgange. Der Vater hat mich oft genug in Anspruch genommen für seine Schulden – er ist grenzenlos leichtsinnig gewesen.«

»Wie hätte er denn anders werden sollen bei dieser Erziehung?« verteidigte Hermann. »Eine eitle, verschwenderische Mutter, ein Vater, der in seiner Charakterlosigkeit immer wieder nachgab und nie den Mut hatte, ihm die Wahrheit einzugestehen! Adalbert hat sich eben als Sohn eines reichen Mannes gefühlt, der sich keinen Zügel aufzuerlegen brauchte, und er büßt das jetzt schwer genug. Wissen Sie, wie ich den armen Jungen gefunden habe – vor der Pistole, im Begriff, die Schuld des Vaters mit einer Kugel zu bezahlen!«

»So weit war er?« rief Berndt betroffen.

»Jawohl! Ich habe ihn fast gewaltsam zurückgeführt in das Leben und muß nun auch dafür sorgen, daß er dies Leben ertragen kann, übrigens brauche ich das Kapital gar nicht. Mir ist ja die Ausführung meines Werkes übertragen und damit auf Jahre hinaus ein Gehalt zugesichert, das geradezu fürstlich ist gegen mein bisheriges Einkommen in Ebershofen. – Mr. Morland, ich weiß es ganz genau, was Sie jetzt denken: Gott sei Dank, daß ich diesen Menschen los geworden bin! Der hätte mich ja in ganz Amerika kompromittiert mit seinen Schwabenstreichen!«

»Was ich denke, ist meine Sache!« erklärte der Amerikaner kurz und abweisend. Er schien heute in einer eigentümlichen Stimmung zu sein, einer Gereiztheit, die im vollsten Gegensatz zu seiner sonstigen gleichgültigen Ruhe stand. Seine Haltung war beinahe feindselig seinem früheren Günstlinge gegenüber, aber diesen schreckte das durchaus nicht, er erhob sich und trat zu ihm.

»Sie haben mich in Acht und Bann getan seit jener Absage und zeigen mir das deutlich genug. Trotzdem hätte ich noch heute versucht, mir Gehör bei Ihnen zu verschaffen, denn ich habe noch eine Bitte an Sie – eine große Bitte.«

Morland lachte kurz und spöttisch auf.

»Für den Busenfreund natürlich! Für sich würden Sie nie etwas erbitten, nicht in der ärgsten Not!«

»Vielleicht, aber für andere kann ich es schon, und jetzt wage ich es auf Ihre volle Ungnade hin. Der Herr Kommerzienrat hat schon Opfer genug gebracht, und er könnte auch hier kaum helfen. Geld braucht Adalbert nicht, wenn die Schulden erst getilgt sind – Arbeit braucht er, ernste, stetige Arbeit, um sich eine Zukunft zu schaffen. Er will nach Amerika, aber mittellos, unbekannt mit dem fremden Lande und seinen Forderungen, würde er vielleicht zugrunde gehen da drüben, wie so viele andere. Mr. Morland – Sie stehen an der Spitze so großer Unternehmungen, Sie machen sich Tausende von Kräften dienstbar, haben Hunderte von Beamten – findet sich da kein Platz für einen, der sich sein Leben neu aufbauen möchte? Sie haben mir ja doch empor helfen wollen, tun Sie das jetzt für einen anderen, für einen, der mir lieb ist!«

Siegwarts Stimme hatte wieder jenen tiefen, warmen Klang, der sich so unwiderstehlich den Weg zum Herzen suchte. Berndt blickte, trotz des ernsten Gespräches sichtlich amüsiert, auf seinen Schwager, der sich offenbar nicht ergeben wollte. Er wehrte sich förmlich gegen den Klang dieser Stimme, gegen diese Augen, die die seinigen festzuhalten schienen, und nahm jetzt seine Zuflucht zur äußersten Schroffheit.

»Kommen Sie mir nicht wieder mit Ihrer deutschen Sentimentalität! Sie wissen doch, daß ich dafür nicht zugänglich bin, aber eine gute Lehre möchte ich Ihnen doch noch geben, Mr. Siegwart. Ich habe mir mein Leben selbst aufgebaut, und Sie sind eben dabei, es zu tun. Da muß man rücksichtslos sein, muß unbeirrt vorwärts gehen und sich nicht um das Gejammer und Gezeter anderer kümmern, sonst erreicht man nichts, gar nichts. Bei Ihnen wird die Lehre freilich nicht viel helfen.«

»Nein, und Ihnen hilft es auch nichts, daß Sie sich so ingrimmig stellen, ich kenne Sie besser. Meine Bitte ist ja bereits gewährt.«

»Nein!« knurrte der Amerikaner wütend.

»Das heißt – ja! Ich habe das längst schon in Ihren Augen gelesen. Darf ich Ihnen danken?«

Morland antwortete nicht, er sah ihn nur unverwandt an, endlich fragte er mit einem seltsamen Schwanken in der Stimme: »Warum haben Sie mich im Stich gelassen?«

»Weil mein Vaterland mich rief zu meinem Werke, da durfte ich nicht versagen. Also –?«

»Kommen Sie am Nachmittag zu mir – um vier Uhr – da wollen wir weiter reden.«

Das klang noch ungnädig genug, aber Siegwart atmete tief und freudig aus. Er war seines Sieges sicher und wandte sich nun an den Kommerzienrat.

»Darf ich mich jetzt verabschieden? Es wartet jemand zwischen Angst und Hoffnung auf meine Rückkehr, und da dehnen sich die Minuten zu Stunden.«

»Gehen Sie zu Adalbert,« sagte der Bankier ernst. »Er hat einen guten Anwalt an Ihnen gehabt.«

Siegwart trat noch einmal zu dem Amerikaner und bot ihm mit wortlosem Danke die Hand, und diesmal wurde sie angenommen.

Die beiden Herren schwiegen einige Minuten lang, endlich fragte Morland halblaut: »Was sagst du eigentlich zu diesem Menschen?«

Der Kommerzienrat lachte.

»Ich sage, daß ›dieser Mensch‹ dich vollständig erobert hat, und du bist nicht leicht zu erobern, William. Gestehe es nur, du hast es noch immer nicht verwunden, daß du ihn aufgeben mußt.«

»Wer sagt dir denn, daß ich das tue?« war die lakonische Antwort. »Es wäre das erste Mal in meinem Leben, daß ich etwas aufgebe, das ich festhalten will

»Nun, dann wird es eben das erste Mal sein! Er sträubte sich ja schon damals, als er verkannt und fast verfemt in Ebershofen saß, auf die bloße Möglichkeit eines Erfolges hin. Jetzt, wo er diesen Erfolg wirklich errungen hat, jetzt versuche es einmal, ihn loszureißen von seinem Werke. Du könntest ihm ein Vermögen bieten, er bleibt hier.«

Um die Lippen Morlands spielte wieder das alte ironische Lächeln.

»Ja, mit Geld war er nicht zu fassen, nicht einmal mit dem Ehrgeiz, den hat er höchstens für sein Schaffen in dem geliebten Deutschland. Ein Eisenkopf, wie es vielleicht keinen zweiten gibt! Aber eins kenne ich, das ist stärker als sein Starrkopf, da ergibt er sich aus Gnade und Ungnade! Es ist möglich, daß ich ihn nächstens einmal vor die Probe stelle. Das verstehst du nicht? Es ist auch noch nicht reif für die Besprechung – und jetzt will ich noch aus ein paar Minuten zu Ellen hinübergehen. Du willst doch nach der Stadt fahren.«

Es war in den Nachmittagsstunden desselben Tages. Morland befand sich bei seiner Tochter, der er die Vorgänge in der Villa Berndt bereits mitgeteilt hatte. Überrascht wurde die Gräfin nicht dadurch, denn sie war schon durch Traudl unterrichtet. Diese hatte, trotz ihres Vertrauens in das Versprechen Siegwarts, sich doch zu eigenem Handeln aufgerafft. Wo es die Rettung Adalberts galt, da kannte sie keine Scheu und Furcht vor der stolzen, kalten Alice. Sie hatte ihr alles gebeichtet und sie um Hilfe angefleht. Morland erfuhr erst aus dem Munde seiner Tochter den näheren Zusammenhang.

»Sieh da, diese kleine Baroneß, von der man glaubte, daß sie noch mit der Puppe spielt!« bemerkte er spöttisch. »Und nun läuft das bei Nacht und Nebel zu dem Leutnant Guntram und führt eine hochromantische Szene mit ihm auf. Du hast doch hoffentlich nicht im Ernst an den Revolver und an diesen tragischen Ausgang geglaubt?«

»Doch, ich glaube daran!« sagte Alice kurz und bestimmt.

»Unsinn! Ihm mag es ernst gewesen sein, er sah eben keinen anderen Ausweg mehr, aber das Kind mit seinen siebzehn Jahren – da hat man etwas anderes im Kopfe als Sterbensgedanken.«

»Sie ist kein Kind mehr, das hat sie jetzt gezeigt. In dieser kleinen Traudl steckt mehr, als man geahnt hat. Ich bin überzeugt, sie wäre in den Tod gegangen mit dem Manne, den sie liebt, und sie wird mit ihm in das Leben hinausgehen, wie es auch fällt. Ich habe ihr die Hilfe bereits zugesagt in deinem Namen, Papa – und wenn du nicht helfen willst, so tue ich es. Sie sollen glücklich werden!«

Es lag ein leidenschaftlicher Klang in den letzten Worten. Das Auge Morlands richtete sich wieder scharf und forschend auf seine Tochter, aber er sagte mit seinem gewohnten Sarkasmus: »Willst du den Schutzengel spielen bei dem Liebespaar? Die Rolle hat schon der Herr Baumeister übernommen. Ein unglaublicher Mensch! Hat zum erstenmal in seinem Leben ein kleines Kapital in Händen – ich hatte nicht mehr, als ich meine Baubank gründete – und wirft es fort für den Sohn des Mannes, der ihn betrogen und beschimpft hat!«

»Was du doch nicht zugeben wirst?« fiel Alice ein. »Da wirst du eintreten, Papa.«

»Nein, und ich rate es dir auch nicht, das zu tun. Was dieser Siegwart sich einmal in seinen Eisenschädel gesetzt hat, das setzt er auch durch. Er würde dir kurz und bündig erklären, daß dich die Sache gar nichts angeht, daß er seinen Freund retten will. Übrigens hat er recht, wenn er nicht Geld, sondern Arbeit für ihn fordert, das ist's, was dieser Herr Leutnant braucht. Er muß einsehen lernen, daß bei uns drüben nicht lustig gelebt, sondern gearbeitet wird, da wird es sich ja zeigen, was an ihm ist. – Doch nun genug davon! Hast du Nachricht aus Ravensberg?«

»Bertold hat mir vorgestern wieder geschrieben und es noch einmal versucht, mich umzustimmen.«

»Höchst überflüssigerweise! Er weiß es doch, daß wir nicht abgehen von unseren Bedingungen. Mit dem heutigen Tage läuft die Frist ab, die wir ihm gestellt haben. Er ist nicht gekommen – die Sache ist also entschieden.«

Alice hob mit einer raschen, unwilligen Bewegung das Haupt.

»Er kann nicht kommen, kann deine Bedingungen nicht annehmen! Die Abtretung von Ravensberg erzwingen, sich förmlich lossagen von dem Vater, ihm ein Jahresgehalt aussetzen – so schmählich darf er ihn nicht im Stiche lassen.«

»Du hast doch zugestimmt,« warf Morland ein. »Ich handelte nur in deiner Vollmacht. Allerdings bin ich der Meinung, daß man etwas, das nun einmal unhaltbar geworden ist, schnell und ganz lösen soll.«

»Aber es hätte sich wohl auf eine Weise lösen lassen, die weniger verletzend war. Ich kenne meinen Schwiegervater, er nimmt das als eine tödliche Beleidigung, und das ist es auch im Grunde. Das hättest du ihm nicht antun sollen.«

»Weißt du, was er mir angetan hat? Was er mir anzuhören gab in jener letzten Unterredung? Temperament hat er, der Herr Graf, das muß man ihm lassen! Er wußte es doch, was für ihn auf dem Spiele stand, und wagte es, mir das zu bieten! In seinen Augen sind wir nur Krämervolk, grade gut genug, die wurmstichige gräfliche Herrlichkeit mit unserem Gelde wieder aufzufrischen, und müssen uns noch eine große Ehre machen aus dieser Verschwägerung mit den Ravensbergern. Als wir auf den Punkt gekommen waren, habe ich ihm allerdings den Rücken gedreht – er wird es bereuen.«

Ein Mann von dem Schlage des Amerikaners begriff es freilich nicht, daß eine stolze, furchtlose Natur sich in der Leidenschaft so weit fortreißen ließ, den zu beleidigen, der ihr Wohl und Wehe in Händen hielt. Er hätte berechnet selbst in solchen Augenblicken, aber er vergab und vergaß nie eine Beleidigung. Es lag eine kalte Grausamkeit in seinen Worten, das Schicksal Ravensbergs war besiegelt damit.

Alice widersprach nicht, ihr Selbstgefühl war jetzt auch gereizt und aufgestachelt. Nach einem kurzen Schweigen hob ihr Vater wieder an: »Hier kommt es übrigens nur auf eins an – du bist entschlossen zur Trennung?«

»Ja!« kam es kalt und hart von den Lippen der jungen Frau.

»Gut, dann bleibt es bei unseren Plänen. Wir beschleunigen die Abreise, und du begleitest mich nach Neuyork. Von dort weigerst du dich, zu deinem Gatten zurückzukehren, damit ist die Scheidung eingeleitet. Hinsichtlich des Vermögens ist nichts zu ordnen, der Ehevertrag schützt alle deine Rechte. Die Hypotheken von Ravensberg werden wir in andere Hände geben, sobald die Trennung erst ausgesprochen ist. Wir könnten doch zu peinlichen Schritten gezwungen werden. Was Fremde tun, dafür sind wir nicht verantwortlich – sie mögen ihre Rechte wahren.«

»Und Bertold? Ich will nicht, daß er einer schweren Zukunft entgegengeht.«

»Bertold wird eine Abstandssumme erhalten unter der Bedingung, daß er uns keine Schwierigkeiten macht bei der Scheidung, sondern uns darin möglichst entgegenkommt. Dann kann die Sache in einem halben Jahre erledigt sein.«

Sie erörterten beide die Trennung ebenso kühl und sachgemäß wie vor drei Jahren die Verbindung. Die Verhältnisse hatten sich geändert, was damals wünschenswert erschien, war es jetzt nicht mehr, also wurde diese Verbindung gelöst. Daß dabei eine Familie vernichtet wurde, deren Namen die Gräfin jetzt noch trug, daraus machten sich weder Vater noch Tochter ein Gewissen. Sie gebrauchten eben die Macht der Stärkeren, die für sie ein Recht war.

»Wir sind also einig!« schloß Morland, indem er sich erhob. »In jedem Falle bleibt dir der Name und Rang der Ravensberg, wenn du dich nicht zu einer neuen Ehe entschließest.«

Die Gräfin antwortete nicht, sie war gleichfalls aufgestanden und trat jetzt wie zufällig an das Fenster, während ihr Vater fortfuhr: »Unwahrscheinlich wäre das nicht, du bist erst zweiundzwanzig Jahre – doch das bleibt der Zukunft vorbehalten. Ich muß dich jetzt verlassen, es ist gleich vier Uhr und ich habe Siegwart diese Stunde bestimmt.«

Die junge Frau schwieg noch immer und blickte abgewandt hinaus, doch jetzt trat der Vater an ihre Seite.

»Alice, seit wann hast du Geheimnisse vor mir? Sonst herrschte volles Vertrauen zwischen uns.«

Sie wandte sich langsam um. »Ein Geheimnis? Ich fürchte, daß es dir keins mehr ist.«

»Nein! Ihr verrietet euch beide in der Stunde, wo er uns die Nachricht seines Sieges brachte. Seitdem wußte ich, weshalb du so schnell und rückhaltlos der Trennung zustimmtest. Hast du dir klar gemacht, was du dabei opferst, einem Manne opferst, den vor vier Wochen noch niemand kannte?«

»Den aber einmal alle Welt kennen wird!« rief Alice aufflammend. »Wenn ich noch daran zweifelte, so zeigst du es mir in dieser Stunde, Papa. Du hast keinen Vorwurf, keinen Widerspruch für etwas, das dir früher unmöglich erschienen wäre!«

»Wäre es dir möglich erschienen vor drei Jahren? Damals nahmen deine Wünsche eine andere Richtung. Ich bin von unten aufgestiegen, wie Siegwart jetzt aufsteigt, aber er versteht es nicht, mit seinem Talent zu wuchern. Man wird es ihn lehren müssen, dann läßt sich auch Gold daraus münzen. Jedenfalls gehört ihm die Zukunft und das ist entscheidend für mich.«

»Auch für mich! Und für die Gegenwart – da wird ihm ja wohl die Tochter William Morlands genügen.«

Sie lächelte, aber es lag in den Worten das ganze Selbstbewußtsein einer Frau, die mit ihrer Hand eine Million verschenkt. Auch um die Lippen Morlands zuckte ein Lächeln, als er halblaut fragte: »Du bist seiner Liebe sicher?«

»Ja!« Das klang in stolzer, triumphierender Zuversicht.

»So wird man ihm einen Wink geben müssen. Er sieht bis jetzt in dir nur die Gräfin Ravensberg und ahnt nicht, daß du auf dem Punkte stehst, dich frei zu machen. Aber noch eins, Alice – ein fügsamer, ein bequemer Gatte wird er nicht. Ravensberger Blut! Und das ist nicht leicht zu zwingen.«

Die junge Frau sah ihn betroffen an.

»Was soll das heißen, Papa? Du tatest schon einmal eine solche, mir unverständliche Äußerung. Wir sprechen doch jetzt nicht von Bertold.«

»Nein, von dem Sohne des Oberförsters Siegwart, der längst tot ist. Dem braven Förster gleicht er schwerlich, aber ist dir nie eine andere Ähnlichkeit aufgefallen? Sieh dir dies energische Profil, diese Stirn und Augen – sie sind einem anderen wie aus dem Gesicht gestohlen.«

»Bertolds Vater!« fuhr Alice aus. »Ihn, meinst du? Du weißt –«

»Ich weiß nichts,« unterbrach sie Morland. »Ich vermute nur und bin einer Spur nachgegangen, die wohl die richtige ist.«

»Weiß er es?« fragte die junge Frau leise.

»Möglich, sein Wesen verrät allerdings nichts davon. Für die Welt ist und bleibt er jedenfalls Hermann Siegwart und der ist zu seinem Glück in einfachen Verhältnissen geboren und erwachsen. Der an Bertolds Stelle wäre genau so geworden wie der Alte, hätte auch gemeint, daß sich alles vor ihm beugen muß. Jetzt hat er arbeiten gelernt, jetzt hat das Leben ihn in die Schule genommen und mit dem Zügel ist er tauglich geworden für das Leben. Aber Temperament und Charakter hat er unverfälscht geerbt. Schadet ihm das in deinen Augen?«

»Nein!« sagte Alice mit einem tiefen Atemzuge.

In diesem Augenblick wurde Baumeister Siegwart gemeldet.

»In mein Arbeitszimmer!« sagte Morland kurz und wandte sich dann wieder zu seiner Tochter.

»Darf er sich von dir – verabschieden? Noch hast du die Wahl. Du opferst eine Grafenkrone, einen alten, deutschen Adelsnamen – wirst du es nicht bereuen?«

»Nie!« brach sie leidenschaftlich aus. »Für mich gibt es keine Wahl mehr – ich will endlich einmal glücklich sein!«

»So werde ich ihn dir schicken!«

Damit verließ Morland das Zimmer und ging zu dem Manne, über dessen Zukunft er und seine Tochter soeben beschlossen hatten – freilich, ohne ihn zu fragen.

Siegwart war pünktlich auf die Minute. Er wartete bereits im Arbeitszimmer des Amerikaners, als dieser eintrat und gleich nach der ersten Begrüßung zur Hauptsache überging.

»Ihr Freund hat mehr Glück als Verstand,« begann er. »Jetzt tritt auch meine Tochter für ihn ein. Baroneß Helfenstein hat sie eingeweiht. Sie kennen doch die Rolle, die das Fräulein dabei gespielt hat?«

»Ja!« sagte der Baumeister warm. »Sie hat sich mutig über Formen und Regeln fortgesetzt und damit Adalbert das Leben gerettet. Ich wäre wahrscheinlich zu spät gekommen.«

Das Achselzucken Morlands verriet, daß er noch immer nicht an den vollen Ernst der Sache glaubte, aber er äußerte nur: »Jedenfalls steht Alice auf ihrer Seite. Sie findet die Sache hochromantisch und verlangt jetzt auch meine Hilfe. Nun gut, man wird diesem Leutnant Guntram Gelegenheit geben, zu zeigen, ob er noch etwas anderes kann als Dummheiten machen. Ich hatte anfangs die Absicht, ihm eine Stellung in einem meiner Bureaus in Neuyork oder Hilltown zu geben, aber ein Offizier mit seiner Vergangenheit wird nie ein guter Kaufmann. Ich werde ihn in den Urwald schicken.«

Siegwart sah den Redenden erstaunt an.

»Das würde ihm freilich wohl mehr zusagen, als die dumpfe Luft der Kontorstuben; aber ich wußte wirklich nicht, Mr. Morland, daß Ihre Beziehungen sich bis in die Urwälder erstrecken.«

»Meine Beziehungen reichen überall hin. Die Wasserkräfte in der Umgebung von Hilltown reichen kaum für den jetzigen Bedarf aus und werden bei dem schnellen Wachstum der Stadt sich alsbald als ganz ungenügend erweisen. Wir legen deshalb ein großes Elektrizitätswerk an, am Redriver. Die Kraft muß freilich weit übertragen werden, aber wir müssen den Fluß in seinem Quellengebiet aufsuchen, wenn er uns die nötige Energie liefern soll. Später wird natürlich eine Bahnlinie dahin gelegt, vorläufig aber muß sich der Chefingenieur mit seinem Stabe noch in der Wildnis einrichten.«

»Aber Adalbert hat keine Fachkenntnisse,« warf Hermann ein, der mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte.

»Die sind hier nicht nötig. Die Kolonie, die dort entsteht, wird unter einen Stationsleiter gestellt und ich habe bereits einen tüchtigen Mann dafür in Aussicht genommen. Allein aber wird er seinen vielfachen Pflichten nicht genügen können und da denke ich ihm Guntram als eine Art Adjutanten beizugeben. In der Stellung braucht er keine Fachkenntnisse, nur Tatkraft und persönlichen Mut. Das Arbeitervolk, das da zusammenläuft, ist nicht von der besten Art und muß im Zügel gehalten werden. Man hat auch noch gelegentlich mit den Gefahren der Wildnis zu rechnen. Wir wollen sehen, ob Ihr Freund sich da bewährt.«

»Das wird er!« fiel Siegwart mit freudiger Zustimmung ein. »Da wird er mehr leisten als bei dem Soldatenleben hier in Friedenszeiten. Ich weiß es, er begrüßt die Nachricht mit Freuden! Darf er sich Ihnen vorstellen und Ihnen danken?«

Der Amerikaner machte eine abwehrende Bewegung.

»Nicht nötig, ich kenne ihn ja von Grafenau her. Er soll sich an meinen hiesigen Agenten wenden, der das Nähere kontraktlich mit ihm festsetzen wird. Ich habe wenig Zeit, da ich abreise.«

»So bald schon? Der Herr Kommerzienrat sprach doch erst vom nächsten Monat.«

»Das hat sich geändert. Wir gehen schon in der nächsten Woche nach Neuyork – meine Tochter hat sich entschlossen, mich zu begleiten.«

Der Baumeister stutzte, die Nachricht war ebenso auffallend als der Ton, in dem sie ihm mitgeteilt wurde.

»Vermutlich nur ein kurzer Besuch?« fragte er langsam.

»Nein! Alice kehrt dauernd in mein Haus zurück.«

Hermann zuckte zusammen, er war bleich geworden. »Trennung! Die Gräfin wurde frei! Warum? – Für wen?« Aus den Fragen, die auf ihn einstürmten, brach etwas hervor wie ein blendender Schimmer der Hoffnung und des Glückes.

Morland beobachtete ihn scharf und unausgesetzt. »Jawohl! Sie konnten Ihrer Sache sicher sein.« Das rief ja einen förmlichen Sturm in dem Manne wach, den er sich vergebens mühte, zu verbergen. Er verriet sich ebenso, wie er sich damals verraten hatte bei der Begegnung in Ravensberg und wußte es gar nicht, wie fassungslos er in diesem Augenblick war. Trotzdem behielt Morland den ruhigen Gesprächston bei, als er fortfuhr: »Meine Tochter hat in der Ehe mit dem Grafen Bertold nicht das Glück gefunden, das sie davon erwartete, und zwischen mir und dem alten Grafen sind Konflikte entstanden, die zu einem völligen Bruche geführt haben. Wir beabsichtigen deshalb, diese Verbindung zu lösen. Ihnen, Mr. Siegwart, gebe ich schon jetzt Kenntnis davon, Sie sind ja kein Fremder für uns.«

Kein Fremder! Das sagte genug, wenn es in diesem Tone gesagt wurde und Siegwart schien es auch zu verstehen, aber er erwiderte kein Wort.

»Also vorläufig noch im Vertrauen,« schloß der Amerikaner. »Wenn Sie sich übrigens von meiner Tochter verabschieden wollen vor ihrer Abreise – sie ist zu Hause.«

Jetzt raffte sich Hermann zusammen.

»Ich würde allerdings die Gräfin gern noch einmal sprechen – wenn sie mich empfangen will.«

Statt aller Antwort drückte Morland auf die Klingel.

»Melden Sie den Herrn Baumeister bei der Gräfin,« befahl er dem eintretenden Diener. »Wir sprechen uns jedenfalls noch, Mr. Siegwart, also auf Wiedersehen!«

Es war ein Gefühl der Genugtuung, mit dem der Amerikaner sich in seinen Sessel zurücklehnte, als er allein war. William Morland gab bekanntlich nie etwas auf, das er festhalten wollte und den wollte er nun einmal haben und setzte das mit echt amerikanischer Zähigkeit durch. Der Starrkopf hatte es ihm nicht leicht gemacht, aber freilich, wenn man ihm einen solchen Preis zeigte, dann ergab er sich auf Gnade und Ungnade. Er hatte es mit all seinem Selbstgefühl doch wohl nicht geglaubt, daß das für ihn erreichbar sei.

Drei oder vier Jahre in Deutschland mußte man ihm allerdings wohl noch zugestehen. Er ließ sich schwerlich die persönliche Leitung seines ersten großen Werkes nehmen und das war auch nicht nötig. Als Gräfin Ravensberg wäre Alice ja doch in Berlin geblieben und bei den jetzigen Verbindungen spielte die Entfernung keine Rolle mehr. Vielleicht war es auch besser, erst den Erbauer des Nationalmuseums in die Kreise von Neuyork einzuführen, wo man die Heirat mit einem Grafen Ravensberg sehr passend gefunden hatte, und wo es jetzt Erstaunen und Kopfschütteln geben würde. Aber in Amerika galt der Erfolg, gleichviel auf welchem Felde, weil er sich früher oder später immer in Dollars umprägen ließ, und daß dies geschah, dafür würde William Morland sorgen.

Siegwart folgte dem Diener, der ihn nach den Zimmern der Gräfin führte, und die wenigen Minuten genügten, ihm seine Fassung wiederzugeben. Er war noch etwas bleich, als er dort eintrat, aber wieder vollkommen Herr seiner selbst.

Die junge Frau kam ihm entgegen in einem Teekleid von mattblauer Seide mit weißen Spitzen, vielleicht eigens ausgewählt für diese Unterredung, denn es stand ihr vorzüglich. Es war eine Erscheinung voll Schönheit, Glanz und Schimmer, die da vor dem Baumeister stand und ihm die weiße, mit kostbaren Ringen bedeckte Hand reichte. Er hatte den vollen Eindruck davon, denn er sah sie unverwandt an. Aber nur einen Augenblick lang hielt er ihre Hand in der seinigen und ließ sie dann langsam wieder fallen.

»Wir sind in eigentümlicher Weise Mitverschworene geworden,« hob Alice an, als sie Platz genommen hatten. »Sie haben die Hilfe meines Vaters für Leutnant Guntram in Anspruch genommen, und seine junge Braut hat sie von mir erbeten. Da werden wir wohl gemeinsam eintreten müssen.«

»Die Hilfe ist bereits gewährt,« entgegnete Siegwart. »Ich habe die Zusicherung Mr. Morlands, der mit seinem gewohnten Scharfblick grade das richtige herausgefunden hat. Adalbert hätte ja selbstverständlich jede Stellung genommen, die ihm geboten wurde, aber ein Bureauleben wäre nur ein schweres, dauerndes Opfer für ihn gewesen. Da drüben in den Wäldern, auf einem verantwortungsreichen Posten wird er hoffentlich zum Manne reifen. Ich glaube, er hat das Zeug dazu.«

Die junge Frau lächelte.

»Die Stellung wird in dieser Form wohl nur einige Jahre dauern, bei uns wachsen solche Kolonien schnell empor. Dann kann er sich seine Traudl herüberholen, da sie doch nun einmal nicht von ihm lassen will. Die romantische Idee freilich, die sie sich in den Kopf gesetzt hat, sich ihrem Adalbert jetzt schon antrauen zu lassen und ihn zu begleiten – daran ist nicht zu denken!«

»Weshalb nicht, wenn sie den Mut dazu hat?«

»Sie kennen nicht das Leben in den amerikanischen Urwäldern. Mein Vater, der all die Anlagen persönlich besichtigt, hat es mir geschildert. Da hausen der Stationsleiter und die Ingenieure noch mitten in der Wildnis, in rohgezimmerten Blockhäusern, fern von aller Kultur und müssen allen Strapazen, allen Gefahren der Wälder standhalten. Das mag für Männer taugen, aber ein junges Mädchen kann doch solch ein Los nicht auf sich nehmen.«

»Das tut die Frau eines jeden Ansiedlers, wenn sie mit ihrem Manne nach dem Westen zieht. Baroneß Helfenstein sieht allerdings noch zart und kindlich aus, aber sie ist gesund an Leib und Seele und nicht im geringsten verwöhnt. Sie war noch ein Kind, als Grafenau ihrer Familie verloren ging, und ist in dem kleinen, verfallenen Uhlenhorst aufgewachsen, ganz allein mit dem alten Großvater, der kaum das Notwendige hatte. Da hat der Förster, der Hofstetter, sie in die Schule genommen. Sie war fünfzehn Jahre alt, als er ihr die Büchse in die Hand gab und sie schießen und treffen lehrte. Vielleicht paßt sie besser für das Waldleben da drüben, als für die Berliner Salons.«

»Und Sie trauen Guntram den Egoismus zu, ein solches Opfer anzunehmen?« rief die Gräfin unwillig.

»Das ist kein Egoismus und kein Opfer. Wo zwei sich lieben von ganzem Herzen, da teilt eines gern und freudig das Schicksal des anderen. Ich würde das fordern von meiner Frau oder – verzichten.«

Die Worte klangen in herber Bestimmtheit. Alice streifte ihn mit einem langen Blick.

»Man fordert sehr viel von den deutschen Frauen, wie es scheint,« bemerkte sie kalt.

»Man gibt ihnen aber auch viel dafür. Ich glaube, Gräfin, in dem Punkte gehen unsere Anschauungen auseinander.«

Die junge Frau wurde ungeduldig. Was sollte das alles heißen! Dies Gespräch über Traudl und ihre Herzensgeschichte sollte ja doch nur die Einleitung sein zu etwas ganz anderem, das sie in dieser Stunde hören wollte. Hatte ihr Vater ihm bereits einen Wink gegeben oder nicht? Sie beschloß ins klare darüber zu kommen.

»Wenn Traudl wirklich mit ihm gehen will, so wird sie niemand hindern,« sagte sie abbrechend. »Auch ich beabsichtige meinen Vater nach Neuyork zu begleiten.«

»Ich weiß es – Mr. Morland hat es mir gesagt.«

Es trat eine Pause ein, es schien, als scheue sich jeder das nächste Wort auszusprechen, endlich tat Siegwart es doch: »Sie stehen vor einer folgenschweren Entscheidung, wie ich höre – Sie beabsichtigen, sich zu trennen von Ihrem Gemahl?«

Alice neigte nur bejahend das Haupt.

»Mich wundert, daß Graf Bertold Ihnen Anlaß dazu gab. Ich habe ihn für eine weiche, fügsame Natur gehalten.«

»Das ist er auch, aber sein Vater ist das Gegenteil davon und das Verhältnis zwischen ihm und dem meinigen ist leider so unhaltbar geworden, daß wir uns entschlossen haben, die verwandtschaftlichen Beziehungen überhaupt zu lösen.«

»Ich fürchte, eine solche Lösung würde schwer treffen – aus der anderen Seite,« sagte Hermann langsam.

»Vielleicht, aber man wird sich auseinandersetzen.«

Der Blick Hermanns Hing noch immer an ihren Zügen, aber er sprach nicht. Wieder dies schwüle, minutenlange Schweigen. Endlich erhob er sich und trat einen Schritt näher: »Alice!«

Es war das erste Mal, daß er ihren Namen aussprach. Ein Lächeln zuckte um die Lippen der jungen Frau. Endlich! Dies rätselhafte Verstummen hatte etwas Beängstigendes für sie gehabt.

»Alice! Wir wollen es aufgeben, Komödie zu spielen. Wir wissen es ja doch beide, was in uns aufgewacht ist, damals auf der einsamen Waldhöhe, unter der alten Linde, mit ihrem Blühen und Duften. Oder habe ich das allein empfunden?«

»Nein,« sagte Alice leise.

»Damals waren Sie für mich nur die Gemahlin des Grafen Ravensberg, durften nichts anderes sein. Jetzt wollen Sie sich freimachen von jenen Banden – für wen?«

Sie schwieg und hob nur die Augen zu ihm empor, aber darin stand die Antwort, die Verheißung seines Glückes. Doch es war nicht Glück, was in dem Manne aufleuchtete, als er sich plötzlich aufrichtete, wie mit einem gewaltsamen Entschluß.

»Ich kann nicht Prinz-Gemahl sein!« sagte er kurz und schroff.

Die junge Frau zuckte zusammen, sie hatte alles andere eher erwartet, als dies herbe Wort in diesem Augenblick, aber er fuhr unbeirrt fort. »Graf Bertold ist es gewesen. Ich tauge nicht für eine solche Rolle, beuge mich nicht dem Reichtum meiner Frau. Ich habe mich selbst und meine ganze Zukunft einzusetzen, das muß ihr genug sein. Wenn sie es mich einmal, nur einmal fühlen ließe, daß es eine unverdiente Gunst, eine Gnade ist, die sie mir mit ihrer Hand geschenkt hat, dann wäre es aus zwischen uns. Und das würde kommen – unfehlbar! Ich fürchte, wir würden ein kurzes Glück allzuschwer büßen müssen.«

»Hermann!« Das klang bestürzt und unwillig zugleich, weil sie die Wahrheit seiner Worte fühlte. Sie wollte glücklich und geliebt sein – gewiß, aber es war doch immerhin eine beispiellose Gunst, die sie damit diesem Manne schenkte, der so gut wie nichts dagegen in die Wagschale zu legen hatte. Sie war ihm weit genug entgegengekommen, sehr weit für eine Frau von ihrem Stolz und Selbstbewußtsein. Er hatte dankbar dafür zu sein, und anstatt nun aufzuflammen und stürmisch zu werben um den Preis, den man ihm zeigte, stand er da in dieser starren Haltung und tat eine Frage, die mehr als seltsam war in dieser Stunde.

»Noch sind Sie Gräfin Ravensberg – wissen Sie denn, ob man sie freigibt von jener Seite?«

»Das werde ich und mein Vater zu erzwingen wissen.«

»Mit einer Abfindung selbstverständlich! Vielleicht ist der junge Graf dafür zu haben – sein Vater nie!«

»So tut er es auf seine Gefahr. Die Entscheidung liegt bei uns, nicht bei ihm.«

Die junge Frau hatte wohl selbst keine Ahnung, wie hochmütig und grausam ihre Worte klangen. Sie war gereizt, tief verletzt durch sein Benehmen. Was fiel ihm denn ein, sich förmlich zum Anwalt der Ravensberger zu machen! Was gingen die ihn an? Für Alice Morland und ihren Vater waren sie abgetan. Siegwart trat langsam zurück von ihrer Seite. Man sah es, wie jeder Nerv in ihm sich straffte zum Widerstande, als er mit tiefer Bitterkeit wiederholte: »Gewiß, die Entscheidung liegt bei Ihnen, denn bei Ihnen liegt das Gold und seine Macht. Sie und Ihr Vater wußten es ja, wie die Ravensberger standen, als diese Verbindung geschlossen wurde. Graf Ravensberg ist vernichtet, wenn er sich jetzt nicht beugt und annimmt, was man ihm gewährt. Und trotzdem sage ich Ihnen, er nimmt es nicht – eher geht er zugrunde!«

Alice war bleich geworden, sie stand ganz fassungslos vor dieser Wendung, aber sie sah jetzt auch, was ihr Vater längst gesehen hatte – wem diese Stirn und diese Augen angehörten. Das Ravensberger Blut, das sich so wild emporbäumte, wenn es gereizt wurde und nicht danach fragte, ob es sich selbst Unheil schaffte damit, es verriet sich in dieser Minute mit einer fast erschreckenden Ähnlichkeit, verriet sich selbst in der Stimme. Wenn die Gräfin es bei ihrem Gatten vermißt hatte, hier war es, unverfälscht und nahm instinktmäßig die Partei dessen, dem es angehörte.

»Das klingt ja wie eine Anklage gegen mich und meinen Vater,« sagte die junge Frau mit hervorbrechender Gereiztheit. »Sie gehen sehr weit, Mr. Siegwart, und ich scheine in einem Irrtum gewesen zu sein, den Sie freilich selbst verschuldet haben, als Sie mich an Ihre Liebe glauben ließen.«

»Ob ich Sie liebe?« Sein Auge hing heiß und verzehrend an ihrem Gesicht. »Ja, ich habe dich geliebt, Alice! Ich habe mondelang gerungen mit dieser Leidenschaft, und vorhin, als mir dein Vater sagte, was im Werke war, als er mir zeigte, was ich zu gewinnen hatte, da hat es in mir aufgeschrieen: Reiße es an dich, dein Glück! Und wenn es nicht dauert, und wenn es in Weh endigt, du bist doch glücklich gewesen! Aber du selbst hast mir gezeigt, was ich dann zu erwarten habe – das Schicksal, das du jetzt deinem Gatten bereitest. Er hat sich jedem deiner Wünsche, jeder Laune gebeugt und wird doch preisgegeben. Du bist seiner müde, die Grafenkrone reizt dich nicht mehr – zu etwas Neuem! Ich ließe mich freilich nicht so fortwerfen, wenn die Laune meiner Königin wechselt, sie müßte es mit mir büßen, aber – ich will die Probe nicht machen!«

Es war ein maßloser Ausbruch, trotzdem beleidigte er Alice nicht, er verriet es ihr ja doch, wie sie geliebt wurde. Da war es endlich, dies stürmische Aufflammen, dies rückhaltlose Bekenntnis seiner Liebe, das sie erzwingen wollte, widerwillig genug, aber es wurde doch erzwungen. Und sie sah auch, daß es nur ein bis zur Raserei gesteigerter Schmerz war, der ihm die schonungslosen Worte auf die Lippen legte, hörte den qualvoll gepreßten Ton seiner Stimme. Und was sie an Herz besaß, das flog dem trotzigen Manne zu, der sich selbst in dieser Stunde nicht beugen wollte. Jetzt nur ein warmes Herzenswort, eine Bitte und sein Trotz und seine Feindseligkeit wären machtlos zusammengesunken, aber das gewann die Frau nicht über sich, die selbst in der Liebe Herrin bleiben wollte, ihre Antwort war kalt und stolz: »Wenn Sie nicht an mich glauben können, Hermann, dann freilich ist es besser, wir machen die Probe nicht.«

»Nein, ich glaube nicht an dich, Alice!« sagte er herb. »Ihr Kinder des Reichtums könnt ja überhaupt nicht lieben, euch wird es schon in der Wiege gestohlen, das warme, fühlende Menschenherz. Euch lehrt man schon in frühester Jugend, daß alles käuflich ist, Glück und Liebe, Ehre und Selbstachtung. Das mag ja in eurer Welt so sein, aber ich hole mir mein Weib aus einer anderen. Das muß den Mut der Liebe haben, wie diese kleine Traudl, die, halb ein Kind noch, tapfer und entschlossen dem Manne ihrer Wahl folgen will in die weite Ferne, in Gefahren und Entbehrungen. Solch ein Weib kann man lieben, anbeten, dafür setzt man freudig sein ganzes Leben ein. Du forderst einen Prinz-Gemahl – das will und werde ich nicht sein – lebe wohl!«

Er wandte sich zum Gehen. Wohl zuckte es auf in der jungen Frau, ihn zurückzuhalten, seinen Namen zu rufen, an der einen Minute, dem einen Worte hing das Schicksal zweier Menschen, aber das Wort wurde nicht gesprochen, die Tür schloß sich – Alice war allein. –

Bald darauf trat Morland ein, sie saß noch unbeweglich an demselben Platze und schien das Kommen ihres Vaters kaum zu bemerken.

»Nun?« fragte er, während sein Blick befremdet durch das Zimmer glitt. »Du bist allein – wo ist Siegwart?«

»Fort!« sagte sie kurz und kalt, ohne aufzublicken.

»Fort? Er hat also nicht gesprochen?«

»Doch! Mit aller nur wünschenswerten Offenheit – er will nicht Prinz-Gemahl sein!«

Der Amerikaner sah aus, als habe man ihm unversehens einen Schlag versetzt. Er blickte seine Tochter an, als verstehe er ihre Worte nicht.

»Im Ernst, Papa – er will nicht! Ich glaube, wir sind da vor einer Torheit bewahrt worden, die wir beide begehen wollten. Ich wäre nicht fertig geworden mit diesem Manne und du auch nicht. Es ist schließlich besser so. Nichts mehr davon – die Sache ist abgetan!«

Sie sprach vollkommen ruhig, aber es lag eine eigentümliche Starrheit in ihrem Gesicht und etwas Erloschenes in ihrer Stimme. Es gab kaum jemand, der sich rühmen konnte, William Morland einmal fassungslos gesehen zu haben. In diesem Augenblick war er es. Für ihn war die Sache nicht abgetan und seine Entrüstung machte sich in einer Weise Luft, die zu seiner sonstigen gelassenen Ruhe im vollsten Gegensatz stand. Er war völlig außer sich.

Alice hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, ohne eine Silbe zu erwidern, sie wurde erst aufmerksam, als er plötzlich ein Blatt hervorzog.

»Das ändert freilich alles! Ich habe soeben eine Depesche erhalten, die uns sonst wohl in Verlegenheit gesetzt hätte. Bertold hat sich in letzter Stunde noch besonnen – da lies!«

Er reichte ihr ein Telegramm, das bereits auf der Bahnstation ausgegeben war, die Ravensberg am nächsten lag. Es enthielt nur wenige Worte: »Reise soeben ab – bin morgen früh in Berlin – mit allem einverstanden. Bertold.«

Ein grelles, höhnisches Auflachen! Die junge Frau ballte die Depesche zusammen und schleuderte sie auf den Teppich.

»Er ergibt sich aus Gnade und Ungnade – läßt den Vater schmählich im Stich, und der andere –«

Sie verstummte bei der Erinnerung, wie dieser andere vor ihr gestanden hatte und für die Ehre und Existenz der Ravensberger eingetreten war, die ihn doch vor der Welt nichts angingen.

Morland gewann jetzt allmählich seine Fassung wieder, aber man sah es, daß er sich noch zwang zur Ruhe, als er fragte: »Und was denkst du nun zu tun? Wir haben Bertold die Bedingungen gestellt, er nimmt sie an, wir werden wohl bei unserem Worte bleiben müssen.«

»Selbstverständlich, Papa. Du reisest allein nach Neuyork, ich bleibe hier – bei meinem Herrn Gemahl.«

»Alice –?« Er sah sie forschend an. Es lag etwas Unheimliches in ihrem Wesen, er hatte sie nie so gesehen.

»Ich bitte dich, laß mich allein!« unterbrach sie ihn. »Mein Entschluß ist gefaßt, ich bleibe Gräfin Ravensberg, aber – laß mich allein, Papa!«

Morland fügte sich. Er war es gewohnt, alles mit sich allein auszufechten, er gestand auch seiner Tochter dies Recht zu, aber es war ein besorgter Blick, den er zurücksandte.

Sobald sie allein war, eilte Alice zur Tür und schob den Riegel vor, und jetzt, wo niemand sie sah, löste sich die unheimliche Starrheit, sie brach in ein wildes, krampfhaftes Weinen aus. Der Mann, den sie trotz alledem liebte, war ihr verloren nach dieser Stunde, das wußte sie und hatte ihn doch nicht zurückgerufen. Aber jetzt, wo er gegangen war, jetzt erwachte das Herz des Weibes, das nach Glück und Liebe rief – zu spät!


In Ravensberg herrschte seit der Abreise Bertolds eine schwüle, unheimliche Stimmung. Es war ja kein Geheimnis gewesen, daß er nur halb gezwungen zurückgeblieben war, daß er am liebsten seiner Frau gefolgt wäre, und nur der Vater mit seiner ganzen Autorität ihn zurückhielt. Ein Konflikt auch zwischen Vater und Sohn schien unvermeidlich, aber der letztere hatte es vorgezogen, ihm aus dem Wege zu gehen. Als der Graf eines Tages von der Jagd heimkehrte, wurde ihm gemeldet, daß der junge Graf infolge unerwarteter Nachrichten aus Berlin plötzlich abgereist sei. Er sei bereits mittags nach der Bahnstation gefahren und habe einen Brief mit den nötigen Aufklärungen zurückgelassen.

Ravensberg sprach kein Wort, fuhr nicht auf mit seiner gewohnten, in der letzten Zeit furchtbar gesteigerten Gereiztheit. Er schwieg und schloß sich in seinen Zimmern ein. Vierundzwanzig Stunden lang bekam ihn niemand zu Gesicht, dann aber wurde ein Befehl gegeben, der unter diesen Umständen doch überraschte. Für den dritten Tag wurde eine große Jagd angesetzt und die Einladungen dazu überall versandt. Das Forstpersonal wie die Dienerschaft erhielten die Weisung, alles vorzubereiten, und das geschah auch, in dem großen Stil, der in Ravensberg bei solchen Gelegenheiten üblich war.

Es war am Tage vorher, aber die Gäste wollten schon im Laufe des Nachmittags eintreffen und über Nacht bleiben, da der Ausbruch sehr früh erfolgen sollte. Der Graf befand sich allein in seinem Arbeitszimmer und ging langsam dort auf und nieder. Dabei wandte sich sein Blick immer wieder auf ein Bild, das an der Hauptwand hing. Es war ein Porträt, sehr alt, aber noch gut erhalten und stellte einen seiner Ahnherrn dar. Ein hartes, stolzes Gesicht, eisern in jedem Zuge, wie der Panzer, der die Brust umschloß.

Die alten Chroniken wußten noch zu berichten von dem wilden Kunz von Ravensberg, der weit und breit gefürchtet war im Land. Die Städter, mit ihrer wachsenden Macht, hatten es mehr als einmal versucht, sich gegen ihn zu erheben, aber er verlachte sie und ihre Reden von Gesetz und Recht. Für ihn gab es nur ein Gesetz – seinen Willen – und dem mußte sich das Krämervolk beugen.

Aber endlich hatten sie sich mit den Bauern zusammengetan gegen ihn, mit zehnfacher Übermacht zogen sie ihm vor die Feste. Jetzt wurde es ernst, das wußte der Bedrohte. Er hatte Weib und Kinder in Sicherheit gebracht bei seiner Sippe, er selbst blieb, entschlossen, sich zu wehren bis auf den letzten Mann.

Das Schloß wurde erstürmt, die Besatzung niedergemacht, nur der Schloßherr entkam mit den letzten seiner Getreuen. Auf seinem Roß jagte er durch die Wälder, die Verfolger hinter ihm her. Die anderen ließen sie entfliehen, ihn wollten sie haben, ihren grimmigen, bezwungenen Feind, den sie immer noch fürchteten. Aber wenn er den Fluß erreichte und sich auf die Eisdecke wagte – da folgte ihm keiner – und einmal drüben, war er gerettet. Er gewann das Ufer, doch die Decke war bereits gesprengt, der Strom ging in vollem Eisstoß. Da setzte der Ravensberger mitten hinein in die treibenden, bäumenden Schollen und versank darin.

Ein freies, stürmisches Leben und ein freier, stolzer Tod! So hatte es der Ahnherr gehalten. Die Zeiten waren zahmer geworden und die Menschen auch. Jetzt schlug man sich nicht mehr auf Leben und Tod, jetzt handelte man miteinander. Die Ravensberger hatten es auch getan, und das war ihr Verderben geworden. Wenn er sich jetzt beugte, sich jenen Geldmenschen unterwarf, wie Bertold, dann gab man ihm vielleicht eine Abfindung oder irgendeinen Gnadensitz, wie dem Baron Helfenstein, auf dem er seine Tage in Ruhe beschließen konnte. In Ruhe! Die harten, finsteren Augen da oben schienen sich drohend und fragend auf ihn zu richten.

»Nein!«

Das klang unbeugsam, wie eine Antwort auf jene stumme Frage, wie ein Schwur. Der Ahnherr war den Todesweg gegangen, ehe er sich seinen Feinden ergab, der Urenkel kannte auch seinen Weg. Zur Stunde war er noch Herr in Ravensberg und er wollte als Herr gehen.

Es klopfte, der Diener kam, um zu melden, daß Baumeister Siegwart den Grafen zu sprechen wünsche und ließ auf dessen stumm bejahenden Wink den Genannten eintreten. Sie hatten sich nicht wiedergesehen seit jener inhaltschweren Unterredung in Ebershofen. Siegwart war nicht gekommen, und der Graf hatte vergebens gewartet, tagelang. Er hatte das nicht verziehen, das sah man an der eisigen Haltung, mit der er seinen einstigen Günstling empfing.

»Du bist noch hier? Ich glaubte, du wärst längst schon in Berlin.«

»Ich bin erst gestern von dort zurückgekommen, nur auf kurze Zeit, um noch einiges zu ordnen. Da wollte ich mich doch bei Ihnen melden, Herr Graf.«

Dieser zuckte die Achseln.

»Nicht nötig, ich hätte dir die Förmlichkeit erlassen. Du bist ja allerdings einmal in Ravensberg gewesen, als du dem Amerikaner die Nachricht deines Sieges in der Preisbewerbung brachtest – ich erfuhr sie durch die Zeitungen.«

Der Vorwurf traf und Siegwart verteidigte sich nicht dagegen. Er sah nur den Grafen an, der in gewohnter stolzer Haltung vor ihm stand, äußerlich ganz unverändert, aber Hermann sah doch die Spuren der durchwachten Nächte, der furchtbaren inneren Kämpfe. Er senkte die Augen und versetzte leise: »Ich bitte um Verzeihung. Jetzt bin ich da – befehlen Sie über mich!«

»Was soll das heißen?« fragte Ravensberg befremdet, »Weshalb kommst du überhaupt, nachdem du so lange fern geblieben bist?«

»Ich habe erst gestern in Ebershofen die Abreise des Grafen Bertold erfahren.«

»Jawohl, er ist in Berlin. Er langweilte sich hier bei mir, und zog es vor, zu seiner Frau zu gehen. Das ist im Grunde natürlich.«

»Schmachvoll ist es! Erbärmlich!« brauste Hermann, sich völlig vergessend, aus. Der Graf trat in jäher Überraschung einen Schritt zurück.

»Du weißt –?«

»Ich weiß alles?«

»Von wem? Ja so, du hast in Berlin mit Morland verkehrt. Bist ja stets sein Günstling gewesen, aber ich glaubte nicht, daß du ihm so nahe stündest, um in solche Dinge eingeweiht zu werden.«

»Ich stehe den Morlands nicht nahe – will – ihnen nicht nahe stehen!« sagte Siegwart herb. »Aber eingeweiht bin ich allerdings. Ich weiß, was die Abreise des Grafen in diesem Augenblick bedeutet.«

»Eine Unterwerfung auf Gnade und Ungnade,« ergänzte Ravensberg mit zuckenden Lippen. »Er ist gut gezogen, mein Herr Sohn und gehorcht jedem Wink, nötigenfalls auch der Peitsche. Und er hatte nicht einmal den Mut, mir das einzugestehen. Heimlich ist er gegangen und hat mir einen Brief zurückgelassen. Er könne nicht lassen von seiner Alice – sie sei doch seine Gattin – heilige Pflichten!« Er lachte plötzlich auf, mit furchtbarer Bitterkeit. »Bei dieser Ehe! Genug, er ist zu Kreuz gekrochen und bequemt sich zu einem Leben von Morlands Gnaden. Gut, daß er mir nicht mehr erreichbar war, als ich den Wisch erhielt, sonst –« Er brach plötzlich ab und trat mit einer stürmischen Bewegung an das Fenster.

Hermann stand wortlos da, er wagte nicht zu sprechen, das ging noch tiefer als er gefürchtet hatte. Erst nach einer langen Pause wandte sich Ravensberg wieder um und streckte ihm die Hand hin.

»Also deshalb bist du gekommen,« sagte er mit verschleierter Stimme. »Ich danke dir!«

Siegwart antwortete nicht, aber er umschloß mit beiden Händen die dargebotene Rechte. Er war zu dem Grafen getreten und sie blickten beide hinaus in den Park, der sonst etwas Düsteres hatte in seinem dunklen, einförmigen Grün. Jetzt prangte er im bunten Herbstgewande. Es schimmerte überall an den Bäumen und Gesträuchen, in allen Schattierungen, vom tiefsten Braun bis zum leuchtenden Goldgelb, und dazwischen flammte feuriges Rot. Es war wie ein freudiger Farbenrausch, der noch einmal aufglühte in letzter Pracht – sterbendes Laub, das der Wind vielleicht schon morgen verwehte und vernichtete.

Hermann brach endlich das lange, lastende Schweigen, mit der halblaut ausgesprochenen Frage: »Werden Sie in Ravensberg bleiben?«

Der Graf sah aus, wie einer, der aus tiefen Gedanken auffährt, dann erwiderte er vollkommen gelassen: »Das werde ich mir noch überlegen, aber heute und morgen habe ich keine Zeit dazu. Für morgen ist eine große Jagd angesetzt und die Gäste kommen schon heute. Willst du nicht hier bleiben und daran teilnehmen? Es würde mich freuen.«

»Ich?« fragte Hermann betroffen. »Ich habe ja nie in Ihren Kreisen verkehrt und bin den Herren völlig fremd.«

Ravensberg lächelte.

»Fühlst du dich noch immer nicht als künftige Berühmtheit? Fremd? Nun ja, früher warst du nur ein junger Architekt, den niemand kannte, jetzt haben alle Zeitungen berichtet von deinem Erfolge und du bist, zumal für die Nachbarschaft, eine höchst interessante Persönlichkeit. Die Herren werden mir dankbar sein, wenn ich dich ihnen vorstelle. Bleib hier – ich bitte dich!«

Der Baumeister hätte unter anderen Umständen die Einladung abgelehnt. Dieser als sehr exklusiv bekannte Kreis, der ausschließlich aus dem Adel der Umgegend bestand, war ihm ebenso gleichgültig wie unsympathisch, aber eine dunkle Stimme in seinem Inneren warnte ihn, den Grafen jetzt nicht allein zu lassen. Er gab nach.

»Wenn Sie es wünschen!«

Da trat der Diener wieder ein und meldete, Freiherr von Langenow sei soeben vorgefahren.

»Ach, der erste Gast!« sagte Ravensberg fast heiter. »Florian, der Herr Baumeister bleibt auch hier zur Jagd. Sorgen Sie dafür, daß noch ein Gastzimmer bereitgestellt wird – also auf Wiedersehen, Hermann!«

Er nickte ihm freundlich zu und ging, um den Freiherrn, einen seiner Gutsnachbarn, zu empfangen. Hermann blieb allein, aber er konnte der geheimen Angst nicht Herr werden. Wozu diese große festliche Veranstaltung, wo der Schloßherr sicher nicht in der Stimmung war, Feste zu feiern? Da wurde irgend etwas Unheilvolles geplant – er beschloß, morgen im Walde dem Grafen nicht von der Seite zu gehen.

Im Laufe des Nachmittags trafen die anderen Gäste ein. Es waren kaum zwei oder drei Absagen gekommen, und der Abend sah eine zahlreiche Gesellschaft in dem großen Speisesaal versammelt, selbstverständlich nur Herren, da keine Dame im Schlosse anwesend war. Man war allseitig in bester Stimmung, denn der schöne und klare Herbsttag von heute verhieß gutes Jagdwetter auch für morgen, und bei dem prächtigen Wildstande der Ravensberger Forsten konnte man auf eine vorzügliche Jagd rechnen. Es ging sehr fröhlich zu bei der Tafel, und besonders der Schloßherr war heute in sprudelnder Laune. Er erzählte Jagdgeschichten, Anekdoten, Reiseerinnerungen und entfesselte mehr als einmal die laute Heiterkeit seiner Umgebung.

Seine Voraussetzung in Bezug auf Siegwart traf übrigens zu, der junge Baumeister, der die Erwartungen seines hohen Gönners so glänzend erfüllt hatte, erfreute sich der Aufmerksamkeit des ganzen vornehmen Kreises. Man war neugierig, ihn kennen zu lernen, und beglückwünschte ihn zu seinem Erfolge, er war wirklich eine interessante Persönlichkeit für die Nachbarschaft geworden. Und er mußte darauf eingehen, mit voller Artigkeit erwidern und dabei die überschäumende Laune des Grafen mit ansehen. Es lastete schwer genug auf ihm.

Endlich wurde die Tafel aufgehoben, und die Gesellschaft zerstreute sich in den Nebenräumen. Ein Teil der Gäste ließ sich im Spielzimmer nieder, wo die Kartentische harrten, die anderen saßen und standen noch in plaudernden Gruppen umher. Siegwart war in ein kleines Nebengemach getreten, das eine Art Durchgang bildete. Er stand im Erker, gedeckt von den Falten des Vorhanges, und preßte die heiße Stirn gegen die Scheiben. Draußen lag der Park dunkel und still, eine schwarze, formlose Masse, und droben am Himmel glitzerten die Sterne in voller Klarheit. Es wurde in der Tat ein schöner Jagdtag.

Da traten drei Herren ein, die auch nach dem Spielzimmer wollten, aber im Gespräch noch einige Minuten stehen blieben.

»Ravensberg ist heute prächtig aufgelegt,« sagte der eine, ein alter, weißbärtiger Herr, dessen straffe Haltung den früheren Oberst verriet. »Wenn der will, schlägt er uns noch alle aus dem Felde, und er ist doch auch keiner von den Jüngsten mehr.«

»Wenn die Laune nur echt ist,« meinte der zweite, der Landrat des Kreises. »Man weiß es ja doch, daß nicht alles stimmt in der Familie.«

Der dritte, Freiherr von Langenow, ein derber Landjunker, lachte.

»Ja, es scheint irgend einen Krach gegeben zu haben mit dem Amerikaner. Der ist über Hals und Kopf fort nach Berlin, die Gräfin ging in ein paar Tagen nach, und jetzt ist Bertold hinübergeschickt worden, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Der war ja immer der Prügeljunge.«

»Nicht so laut, wir sind im Hause des Grafen,« mahnte der Landrat mit einem Blick in das anstoßende Spielzimmer, aber Langenow, dessen gerötetes Gesicht zeigte, daß er dem Weine sehr reichlich zugesprochen hatte, beachtete die Warnung nicht, sondern fuhr laut und ungeniert fort. »Er wurde ja auch nur kommandiert zu der Millionenheirat. Und er ist immer nur der Prinzgemahl gewesen, der sich zu ducken hatte, wenn Ihre Majestät die Königin befahlen. Eigentlich ein jämmerliches Los!«

Hermann trat plötzlich hervor aus seinem unfreiwilligen Versteck, denn er sah, was den anderen Herren entging, die der Saaltüre den Rücken wandten. Dort stand Ravensberg, der eben hatte eintreten wollen und nur die letzten Worte hörte. In der nächsten Minute stand er vor dem Freiherrn.

»Wollen Sie mir das wiederholen, Herr von Langenow – das, was Sie eben sagten!«

Die beiden anderen Herren erschraken, und Langenow wurde auf einmal nüchtern.

»Na, es war nicht so schlimm gemeint!« brummte er mit einem Versuch, einzulenken, aber der Graf ließ es nicht dazu kommen, er rief drohend und herausfordernd: »Ich will wissen, ob man sich unterstanden hat, in meinem Hause mich und meinen Sohn zu beschimpfen – Sie werden mir antworten!«

Er erhob die Stimme, fast, als wünsche er Zeugen des peinlichen Vorfalles, und im Spielzimmer wurde man denn auch aufmerksam. Ein Teil der Gäste sprang auf und kam herein. Aber auch Langenow, der seine Unvorsichtigkeit schon bereute und sie gern ungeschehen gemacht hätte, wurde jetzt gereizt.

»Oho, geht es aus der Tonart?« rief er. »Da antworte ich nicht.«

»So werden Sie mir Genugtuung geben!« brauste Ravensberg auf. Jetzt aber traten die anwesenden Herren dazwischen und versuchten zu beschwichtigen. Es waren ja nur ein paar übereilte, in der Weinlaune gesprochene Worte, die konnten doch zurückgenommen werden. Nur Siegwart sah es, daß der Graf trotz seiner anscheinenden Heftigkeit durchaus ruhig war. Im Zorn flammten seine Augen ganz anders, und mit dieser kalten Ruhe stand er da und reizte seinen Gegner mit voller Absicht bis aufs äußerste.

»Ich verlange Zurücknahme und Abbitte!« herrschte er ihn an. »Abbitte vor all diesen Zeugen. Ich erkläre Ihre Worte für infam!«

»Jetzt werden Sie beleidigend!« schrie Langenow, der nun auch die Fassung verlor. »Was ich gesagt habe, ist doch nur die Wahrheit, die reine, bare Wahrheit. Wenn Sie die für infam erklären, so fällt das Wort aus Sie zurück –«

Weiter kam er nicht, denn die Hand Ravensbergs hob sich zum Schlage. Wohl warfen sich die anderen dazwischen und trennten die beiden, aber der Schlag war gefallen, und das konnte in diesen Kreisen nur auf eine Art gesühnt werden. –

Das laute, fröhliche Beisammensein hatte ein jähes Ende gefunden. Es war schon gegen Mitternacht, als Siegwart sich in die Zimmer des Grafen begab, der ihn hatte rufen lassen. Ravensberg stand wieder vor dem Bilde seines Ahnherrn, mit gekreuzten Armen, und blickte empor zu dem Manne, der damals einen freien Tod der Gefangenschaft und dem Elend vorgezogen hatte. Jetzt wandte er sich langsam um.

»Ah, du bist es! Ich mußte dich vorhin abweisen lassen, als du kamst. Ich hatte noch allerlei zu besprechen mit meinem Sekundanten. Da ich auf dem sofortigen Austrag der Sache bestand, mußten die Bedingungen noch heute abend festgestellt werden. Jetzt ist alles geordnet, jetzt habe ich Zeit für dich.«

Hermann trat zu ihm, und ihre Augen begegneten sich. Sie verstanden sich ohne Worte. Der Baumeister fragte nur leise: »Mußte das sein?«

»Ja!« war die ruhige Antwort.

»Auch die tätliche Beleidigung?«

»Auch die. Jetzt wird Langenow nicht mehr schonen, seine Ehre fordert es. – Nicht diesen vorwurfsvollen Blick, Hermann! Oder möchtest du mir das Schicksal Helfensteins wünschen? Er hat es oft genug ausgesprochen. Wir sind alle unter dem Rade dieser neuen, eisernen Zeit, sie geht hinweg über alles Vergangene und über uns! Er ließ sich widerstandslos zermalmen – ich gehe seitwärts meinen eigenen Weg, und der ist der bessere.«

Er sprach mit düsterer Ruhe. In dieser Stunde fielen alle Fehler und Irrtümer ab von dem Manne, der doch schließlich nur das geworden war, was Geburt und Erziehung aus ihm gemacht hatten. Er hatte nicht den geringsten Zweifel über den Ausgang des Duells und wußte, daß sein Schicksal sich morgen erfüllen würde.

»Herr Graf –« hob Siegwart wieder an, aber Ravensberg unterbrach ihn: »Laß das doch endlich! Seit jener Stunde in Ebershofen weißt du es ja auch, wie wir miteinander stehen. Du hast es nicht verwinden können, das zeigte mir dein Fernbleiben. Jetzt, wo alles über mich zusammenbricht, kommst du endlich – nun, so komm auch ganz!« Er breitete die Arme aus, und Hermann warf sich an seine Brust. Es war eine lange, heiße Umarmung, dann richtete der Graf sich empor.

»Mein lieber, lieber Junge!« sagte er weich. »Endlich darf ich dich so halten! Grollst du mir nicht mehr deiner Mutter wegen? Du kennst nicht die Macht dieser jahrhundertealten Traditionen, dieser Familiengesetze und was wir sonst an Ballast der Vergangenheit mit uns schleppen. Man bäumt sich auf dagegen und beugt sich schließlich doch. Ich habe es auch getan, aber der kurze Jugendtraum war doch das Beste in meinem Leben. Ich habe ihn geopfert, dich geopfert und hatte nun dafür den – anderen an meiner Seite als Sohn und Erben, der meinen Namen trägt und keinen Tropfen von meinem Blut in sich hat, der mich jetzt feig im Stiche läßt und zu denen läuft, die ihm und mir den Fuß auf den Nacken setzen – es gibt eine Nemesis!«

»Darf ich bei dir bleiben?« fragte Hermann gepreßt. »Oder hast du vielleicht noch einiges –«

»Zu ordnen – nein! Zur Stunde bin ich noch Herr in Ravensberg, heiße wenigstens so. Morgen werden die darüber bestimmen, denen es gehört, wie überhaupt alles – ich habe über nichts mehr zu verfügen.«

»Und du willst keine Zeile an Bertold zurücklassen?«

In dem Gesicht Ravensbergs zuckte es wie tödliche Verachtung.

»Mit dem habe ich nichts mehr zu schaffen. Er mag sich füttern lassen von den Morlands bis an sein Lebensende. Sie werden es ihn büßen lassen. Du hättest dich nie so schmachvoll unterworfen.«

»Nein – nie!« Das klang in starrer Unbeugsamkeit, es war der Ton des Vaters, und dieser wußte noch nicht einmal, was sein Sohn zurückgewiesen hatte in jener Entscheidungsstunde, aber in seinen Augen leuchtete eine tiefe Genugtuung, als er sagte: »Ich weiß es! Bist ja nach mir geraten; du freilich brauchst sie nicht zu scheuen, diese neue Zeit, die uns vernichtet. Du hast dir mit eigener starker Hand deine Zukunft geöffnet, jetzt schwingst du dich hinaus auf ihren Wagen und gehst mit ihm – Segen über dich und dein Geschick!«

Die volle, heiße Liebe des Vaters strömte hervor aus diesen Worten, dann aber raffte er sich zusammen, als fürchte er, wieder der Weichheit zu erliegen.

»Und nun noch eins – sei morgen um acht Uhr im Jagdhause. Unser Stelldichein ist ganz in der Nähe, und es ist möglich, daß man mich dorthin bringt. Vielleicht sehe ich dich dann noch einmal.«

»Ich – werde dort sein!« Die Stimme Hermanns brach in einem wilden Aufschluchzen. Der Graf lächelte. »Was – Tränen? Sei ein Mann! Wir müssen dem Unvermeidlichen ins Auge sehen, oder glaubst du, daß ich den Tod fürchte? Und nun komm! Die Lust ist so schwer und dumpf in den Zimmern, ich will noch einmal im Freien aufatmen. In den paar Stunden wollen wir uns noch angehören. Wir haben es lange genug versäumt.«

Den Arm um die Schulter seines Sohnes legend, zog er ihn mit sich fort. Aus dem Nebenzimmer führte eine Türe auf die Terrasse, und sie traten hinaus.

Die Herbstnacht war kalt, aber still und schön. Kein Blatt regte sich an den Bäumen, kein Laut ringsum. Aber über der dunklen, schlummernden Erde lag eine klare Sternennacht. Ravensberg atmete in vollen Zügen die herbe, reine Luft, dann schritten sie hinunter in den Park. Um sie her Nacht und Dunkel und über ihnen in endloser Ferne die Sterne, diese leuchtenden, ewigen Rätsel des Weltalls!

– – – – – – – – – – – –

Der Ausbruch zur Jagd, der ganz früh hätte erfolgen sollen, war verschoben worden auf den Vormittag. Man brauchte doch einen Vorwand für die Dienerschaft und das Forstpersonal. Nur die beiden Gegner mit ihren Sekundanten waren schon in den Morgenstunden nach dem Walde gefahren. Die Gäste blieben fast sämtlich in dem Schlosse, sie wußten, daß die Jagd überhaupt nicht stattfinden werde, denn bei der Schwere der Beleidigung war ein bloßer Kugelwechsel oder eine leichte Verwundung ausgeschlossen.

Nach zwei Stunden kamen denn auch die Sekundanten zurück mit der unruhig erwarteten Nachricht. Freiherr von Langenow war unverletzt geblieben und sofort nach seinem Gute abgefahren. Den Grafen hatte man in das nahe Jagdhaus gebracht, denn der Arzt erklärte den Schuß in die Brust für unbedingt tödlich. Eine halbe Stunde hatte es noch gedauert, nur der Arzt und Baumeister Siegwart waren bei dem Sterbenden gewesen, auf dessen ausdrücklichen Wunsch. Jetzt war alles vorüber, Ravensberg weilte nicht mehr unter den Lebenden.

Im Laufe des Tages sollte die Leiche in das Schloß gebracht werden. Man mußte die Dienerschaft unterrichten und nach Berlin an den Grafen Bertold und dessen Gemahlin telegraphieren. Das geschah denn auch unverzüglich, und dann zerstreuten sich die Gäste nach allen Richtungen hin, um nach einigen Tagen wiederzukehren zu der Trauerfeier.

Diese fand denn auch mit all dem düsteren Pomp statt, der dem Namen und Rang des Verstorbenen gebührte. Die ganze Nachbarschaft, die sämtlichen höheren Beamten des Kreises und was überhaupt nur zu Ravensberg Beziehungen hatte, geleiteten den Grafen zu Grabe. Das Duell mit seinem tragischen Ausgange steigerte noch die allgemeine Teilnahme, die sich nicht bloß in der äußeren Form kundgab. Der junge Graf und seine Gemahlin waren schon am nächsten Tage eingetroffen, aber William Morland kam nicht. Er hatte seine längst beschlossene Abreise nach Neuyork nicht verschieben können, wie es hieß. Amerikanische Rücksichtslosigkeit, die nicht nach Gefühlen fragte, wenn das Geschäft in Frage kam. Man vermißte ihn nicht im Trauergefolge.

Die Feier war vorüber, die Gäste abgefahren, und das gräfliche Ehepaar hatte sich in seine Zimmer zurückgezogen. Baumeister Siegwart war selbstverständlich von Ebershofen herübergekommen, schon sein äußerliches Verhältnis zu dem Grafen verlangte seine Teilnahme an der Bestattung. Jetzt stand er vor Bertold, der ihn zu sich hatte bitten lassen.

Der junge Graf sah sehr angegriffen aus, er schien nur mit Mühe seine heutigen Pflichten als nunmehriger Schloßherr erfüllt zu haben. Blaß und in halb gebrochener Haltung saß er im Lehnstuhl. Auch die Gräfin war anwesend, vielleicht war es die Trauerkleidung und der schwarze Kreppschleier, der auch sie ungewöhnlich bleich erscheinen ließ, aber sie behauptete vollkommen ihre Fassung.

»Ich wollte dich um eine Auskunft bitten, Hermann,« hob der Graf an. »Du warst ja bei meinem Vater in der Todesstunde. War er noch bei Besinnung?«

»Vollkommen – bis zur letzten Minute.«

»Und hat er keinen Auftrag, keinen – Gruß an mich hinterlassen?«

»Nein!«

Das klang in starrer Härte, und Bertold zuckte zusammen dabei.

»Die furchtbare Nachricht traf uns so unerwartet,« begann er wieder. »Wir wissen auch jetzt noch nichts Näheres über dies unselige Duell. Du warst ja wohl zugegen bei dem vorangegangenen Streit?«

»Ja, aber ich bitte, die anderen Herren danach zu fragen, Herr Graf. Es waren Zeugen genug anwesend.«

»Herr Graf? Was soll denn das, Hermann? Wir haben uns ja stets beim Vornamen genannt seit unserer Knabenzeit. Mein Vater wünschte es ausdrücklich.«

»Das war früher, jetzt sind Sie Herr zu Ravensberg, ich gebe Ihnen den Titel, der Ihnen zukommt.«

Bertold mochte die schroffe Ablehnung fühlen, die in den Worten lag, er fuhr mit sichtbarer Anstrengung fort. »Von den anderen Herren erfahren wir nichts. Sie haben sich untereinander das Wort gegeben, darüber zu schweigen, und betrachten das als Ehrensache. Dich bindet wohl kaum ein solches Versprechen, und du darfst reden. Was war der Anlaß zu dem Streit?«

»Eine Familienangelegenheit,« erklärte Hermann kalt. »Das weitere bitte ich mir zu erlassen. Auch ohne ein gegebenes Wort betrachte ich mich zum Schweigen verpflichtet.«

»Wir wünschen nur eines zu wissen,« sagte die Gräfin, die jetzt zum erstenmal sprach. »Uns ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, das hier umgehen soll. Der Streit sei an sich geringfügig gewesen, aber der Graf habe das Duell förmlich provoziert.«

»Ja – das hat er getan!«

»Warum?«

Siegwart sah sie nur an, es war ein Blick der schwersten Anklage; dann sagte er eisig und unerbittlich: »Weil Graf Ravensberg sterben wollte! Man hatte ihm nur die Wahl gelassen zwischen der Erniedrigung und dem Tode, und da ist er den Todesweg gegangen!«

Eine schwere, sekundenlange Pause, dann verbeugte sich der Baumeister.

»Ich darf mich wohl jetzt verabschieden. Leben Sie wohl, Frau Gräfin!«

Er ging, kein Blick fiel mehr auf den armen Schwächling, der mit einem krampfhaften Aufschluchzen die Hände vor das Gesicht schlug. Alice stand unbeweglich da, aber man sah es doch, daß sie furchtbar erschüttert war. Nun hatte sie die Bestätigung dessen, was sie im ersten Augenblick geahnt, als die Todesnachricht eintraf – der Vater ihres Gatten war freiwillig in den Tod gegangen. Wer trug die Schuld daran?


Drei Monate später fand in Ravensberg eine kleine, stille Feier statt, die Vermählung der jungen Baroneß Helfenstein mit Adalbert Guntram. Er war damals nur in seine Garnison zurückgekehrt, um seinen Abschied einzureichen und, dank dem tatkräftigen Eingreifen seines Freundes, konnte er in Ehren gehen, ohne irgend eine Verpflichtung zu hinterlassen. Die Auslösung des Guntramschen Haushaltes in Berlin hatte ein über Erwarten günstiges Resultat gehabt. Es meldete sich ein Agent, der »im Auftrage« die ganze Einrichtung kaufte und fast das Doppelte des erhofften Preises dafür zahlte. Siegwart, der die Sachen übernommen hatte, ahnte wohl, daß Kommerzienrat Berndt die Hand dabei im Spiele hatte, aber er zog es vor zu schweigen und seinem Freunde nur das erfreuliche Ergebnis zu melden. Auf diese Weise konnte Guntram noch ein kleines Kapital mit sich nehmen, und drüben fand er ja eine gesicherte Stellung, vielleicht schwer und arbeitsvoll, aber reichlich dotiert. Morland, der nichts halb zu tun pflegte, hatte gesorgt dafür.

Hofstetter ging natürlich mit. Er hatte ja längst hinübergewollt »zu den Wilden«, und nun traf es sich so glücklich, daß er mit den beiden Menschen gehen konnte, die dem vereinsamten Junggesellen an das Herz gewachsen waren. Da drüben in der neu entstehenden Kolonie würde sich wohl auch irgend etwas für ihn finden. Er kam ja nicht mit leeren Händen, sondern hatte sein kleines Vermögen flüssig gemacht, und ein Paar kräftige Arme, eine noch volle rüstige Kraft brachte er auch mit.

Baumeister Siegwart hatte es abgelehnt, zur Hochzeit seines Freundes zu kommen, trotz dessen dringender Bitte. Er hatte zu viel zu tun mit den Vorarbeiten für sein großes Werk, das schon im Frühjahr beginnen sollte. Aber er wollte das junge Paar in Berlin empfangen, wo es einige Tage blieb, und es dann nach Hamburg zum Schiffe geleiten. Graf und Gräfin Ravensberg waren auf ihren Gütern geblieben, die Familientrauer legte ihnen ja überhaupt die vollste Zurückgezogenheit auf. Sie wollten nur die Vermählung Traudls abwarten und sich dann nach Italien begeben.

Die Trauung fand in der Schloßkapelle von Ravensberg im allerengsten Kreise statt. Außer dem gräflichen Paar war nur Hofstetter zugegen, den sich die Braut eigens als Trauzeugen erbeten hatte. Graf Bertold schien jene schicksalsvollen Herbsttage noch immer nicht verwunden zu haben, er sah so blaß und elend aus, daß der dringende Rat der Ärzte, nach dem Süden zu gehen, durchaus gerechtfertigt erschien. Die Gräfin war schön und stolz wie immer. Sie trug heute nur Halbtrauer, kostbare, schwarze Spitzen über weißem Atlas und einen funkelnden Diamantreif in dem blonden Haar. Ihre Augen hasteten unverwandt aus der weiß umschleierten Gestalt der jungen Braut, die dort am Altar kniete und so glücklich aussah; aber es lag etwas wie verzehrender Neid in dem Blick.

Hinter dem gräflichen Paar stand Hofstetter und sah zu, wie sein Baroneßchen sich in eine Frau Guntram verwandelte. Andächtig, mit gefalteten Händen stand er da, und die Träne, die er im Auge zerdrückte, galt dem Andenken seines alten Herrn. Der konnte jetzt ruhig schlafen. Das »Kind« ging freilich hinaus in die Fremde mit einem Manne, der sich erst bewähren sollte, aber er, Hofstetter, ging mit und legte sich ein Gelübde ab, ein väterliches Auge auf die beiden zu haben.

Der Segen war gesprochen, das Brautpaar erhob sich von den Knieen, und Adalbert schloß mit einer langen, innigen Umarmung sein junges Weib an die Brust. Es stand eine feste, männliche Entschlossenheit in seinen Zügen. Er wollte seiner Traudl das Opfer vergelten, das sie ihm brachte. Nach einem kurzen Frühstück rüsteten sich die Neuvermählten zur Abreise, und die junge Frau trat, schon völlig reisefertig, in das Zimmer der Gräfin.

»Und nun laß dir endlich einmal danken, Alice!« sagte sie, beide Arme um ihren Hals schlingend. »Du hast es nie hören wollen, aber dir und deinem Vater danke ich es doch allein, daß ich mit meinem Adalbert hinausgehen darf. Und du bist in den letzten Monaten wie eine Schwester für mich gewesen. An alles hast du gedacht, für alles gesorgt, was wir da drüben brauchen. Tausend – tausend Dank!«

Alice sah in das liebliche, noch so kindliche Gesicht, das wie verklärt war von Glück, dann beugte sie sich nieder und küßte es, fast leidenschaftlich.

»Lebe wohl, Traudl! Vielleicht sehe ich dich schon im nächsten Jahre wieder. Da wollen wir meinen Vater besuchen in Neuyork und Hilltown, und dann mache ich auch die Reise zu euch und sehe mir euer ›Wildnisleben‹ an. Hast du denn gar keine Furcht davor?«

Traudl lachte fröhlich auf.

»Nicht die geringste! Etwas wilder und rauher wird es ja dort zugehen als in unserem stillen Uhlenhorst, aber ich bin ja immer so eine Art ›Waldmädel‹ gewesen, wie Hofstetter sagt, da werde ich mich wohl auch in euren Wäldern zurechtfinden. Und Adalbert geht ja mit mir! Du weißt es nicht, Alice, wie das ist, wenn zwei sich so lieb haben von ganzer Seele. Da wollen sie nur beieinander sein und alles miteinander tragen – das ist schon Glück genug!«

Das klang wie heller Jubel. Die Gräfin schwieg, sie wußte das freilich nicht, aber es waren fast dieselben Worte, die ein anderer ausgesprochen hatte. Konnte man denn wirklich glücklich sein ohne Glanz und Reichtum, ohne die Welt mit all ihren schimmernden Gaben? Die selig leuchtenden Augen der jungen Frau gaben die Antwort auf die unausgesprochene Frage.

Jetzt trat Bertold ein mit dem jungen Ehemann, der sich gleichfalls verabschieden wollte. Auch er dankte mit voller Wärme denen, die seiner verwaisten Traudl eine Heimat geboten hatten, bis er kam, um sie zu holen. Dann geleitete der Graf das Paar hinunter, und die Gräfin trat an das Fenster, um noch einen Abschiedsgruß zu winken. Es war ein kalter, trockener Wintertag, aber ohne Sonnenschein. Im einförmigen Grau lag der Himmel über der schneebedeckten Erde, und dichter, grauer Nebel verschleierte die Ferne. Adalbert hob seine Frau in den offenen Schlitten, der vor dem Schlosse harrte, noch ein Winken und Grüßen hinaus und hinunter, dann gab der Kutscher den Pferden die Zügel, und sie griffen kräftig aus.

Alice stand noch immer regungslos am Fenster und blickte dem Schlitten nach, dessen helles Geläute fern und ferner klang, und bald verschwand er in dem brauenden Nebel. Da fuhren sie hin in eine unbekannte, verschleierte Zukunft, aber mit ihnen fuhr das Glück!

Das Glück! Der schönen, stolzen Frau da oben war es auch einmal genaht. Da schwebte es hervor aus dem Wipfel einer uralten Linde, aus dem ein geheimnisvolles Summen und Singen klang, es webte in dem schwülen, süßen Duft, den Tausende von Blüten ausströmten. Damals war es bei ihr gewesen, unsichtbar, gestaltlos, aber sie fühlte seinen Hauch und seine Nähe. Es hatte sie gestreift mit seinem Flügel – ganz nahe – und war dann wieder davongeflattert auf Nimmerwiederkehr!



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