Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

Von der sonnigen Höhe kamen zwei Bergwanderer, den Rucksack über der Schulter, den Bergstock in der Hand, und die Ausrüstung des Führers, der mit Seil und Pickel folgte, zeigte, daß sie von einer Hochtour kamen. Jetzt schritten sie über eine grüne Alpenwiese, wo der Weg sich bequem abwärts senkte, und machten halt.

»Dort geht es nach der Grasecker Alm hinunter,« sagte der Ältere. »Du willst ja doch nicht mit zum Wildsee.«

»Ein Umweg von mehr als zwei Stunden – nein, ich danke,« versetzte der andere. »Ich habe heut genug geleistet. Seit vier Uhr morgens da oben in den Gletschern und Eisklüften! Ich kann doch sonst etwas aushalten, und im Dienst werden wir auch nicht geschont, aber mit deiner Riesennatur halte ich nicht Schritt, Hermann, die ist unverwüstlich.«

»Ich bin nur ausdauernder als du,« entgegnete Hermann. »Also du nimmst den direkten Weg über die Grasecker Alm? Ich steige durch das Enstal ab. Es soll sehr schön sein.«

»Aber erst ruhen wir einmal aus!« Der junge Mann warf sich der Länge nach ins Gras. »Wir kommen noch immer früh genug hinunter in unser ›Palasthotel‹. Das war wieder ein Einfall von dir, sich in dem abgelegenen Dorfe festzusetzen! Herr Baumeister Siegwart ist so sehr für die Wildnis, sagte mir gestern abend der kleine Tourist, der anfangs mit uns hinaus wollte und dann absagte, weil er Angst bekam vor der Partie. Der Mann hat ganz recht. Wir sind da unten kaum eine Stunde von Interlaken entfernt und da ist die Saison schon im vollen Gange.«

Siegwart zuckte die Achseln und lagerte sich neben seinen Gefährten, während der Führer sich gleichfalls niederließ.

»Jawohl Interlaken, die große Frühjahrs- und Sommer-Promenade der Gesellschaft! Die vermissest du wohl schmerzlich? Meinetwegen geh doch hinüber, Adalbert, und flirte mit den Engländerinnen und Amerikanerinnen. Ich bleibe hier. Ich bin der Berge wegen da und die will ich genießen.«

»Und ich bin überhaupt nur deinetwegen hergekommen!« rief Adalbert ärgerlich. »Ein volles Jahr lang haben wir uns nicht gesehen, während du überall in Italien herumstudiertest, und gerade jetzt, wo du zurückkommst, werde ich nach Metz versetzt. Hätte ich nicht den gescheiten Einfall gehabt, noch vierzehn Tage Urlaub zu nehmen und dich hier in der Schweiz zu erwischen, wir hätten uns überhaupt nicht gesehen. Zum Dank dafür schleppst du mich auf allen möglichen Gipfeln und Gletschern herum und mutest mir ein Quartier und eine Verpflegung zu, die einfach schändlich sind. Ich finde, daß ich hier schlecht behandelt werde.«

»Und das ist Leutnant Guntram allerdings nicht gewohnt,« spottete der Baumeister. »Du wirst ja von aller Welt verzogen und verwöhnt. Ich war der einzige, der sich herausnehmen durfte, dir bisweilen den Text zu lesen.«

»Das hast du auch redlich getan und merkwürdig – von dir habe ich es mir immer gefallen lassen. Ich fürchte, deine Moralpredigten werden mir fehlen und ich stehe nicht für allerhand Dummheiten, wenn ich meinen gestrengen Mentor nicht mehr zur Seite habe.«

Adalbert Guntram, der bequem ausgestreckt im Grase lag, mochte ungefähr vierundzwanzig Jahre alt sein. Es war ein hübscher schlanker Junge, mit dunklen Haaren und Augen und einem Gesicht, aus dem der ganze sorglose Übermut der Jugend strahlte. Sein Touristenanzug, obgleich etwas mitgenommen von den Hochtouren, verleugnete doch nicht die Herkunft aus einem ersten Modegeschäft und trotz des Zivils und der zwanglosen Haltung verriet sich in seinem Äußeren der Offizier.

Sein Gefährte dagegen sah nichts weniger als elegant aus. Sein Reiseanzug hatte ersichtlich schon oft Wind und Wetter ausgehalten. Aus der ganzen Erscheinung sprach überhaupt eine volle Gleichgültigkeit gegen Äußerlichkeiten und doch war sie keine von den gewöhnlichen.

Siegwarts hohe, kraftvolle Gestalt, die selbst jetzt, in der halbliegenden Stellung zur Geltung kam, hatte ein echt germanisches Gepräge. Das von Sonne und Lust gebräunte Gesicht, mit den dichten blonden Haaren und den blauen Augen zeigte feste energische Linien. Es lag ein Zug trotziger, selbstbewußter Kraft darin, aber er ließ den Siebenundzwanzigjährigen älter erscheinen als er in der Tat war.

»Ja, Dummheiten wirst du genug machen, wenn ich nicht mehr als getreuer Eckart neben dir stehe,« sagte er trocken. »Was übrigens meine spartanischen Neigungen betrifft, so weißt du ja, daß sie für mich eine Notwendigkeit sind. Mein Studienpreis war nur für das Jahr in Italien berechnet. Ich habe es aber fertig gebracht, aus der Rücktour noch ein paar Wochen für die Schweiz zu erübrigen. Dabei kann man freilich nicht in einem Luxushotel in Interlaken wohnen. Du kannst dir das leisten.«

»Und nötigenfalls für uns beide,« fiel Adalbert ein. »Herrgott, da steigt schon wieder eine Donnerwolke auf deiner Stirn auf! Als wäre es eine Beleidigung, wenn ich dir zumute, auch einmal mein Gast zu sein. Ich bin doch oft genug der deinige gewesen in Berlin. Salons waren es gerade nicht, wo du haustest, die richtige Künstlerbude, aber wie lustig sind wir da gewesen! Doch sobald ich mich einmal revanchieren wollte, wurdest du grob. Das ist überhaupt deine stärkste Seite und dabei laufe ich dir noch treulich nach wie ein gehorsamer Pudel. Du machst dir freilich nicht viel daraus.«

»Doch Adalbert!« Es lag ein warmer Klang in der Stimme. »Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist. Das war ein schöner Abschluß dieser sonnigen, glücklichen Reise. Jetzt geht es wieder hinein in die Arbeit!«

»Und nun wirst du dich Hals über Kopf hineinstürzen. Ich glaube, du freust dich gar darauf. Du bist gerade ein solcher Arbeitsfanatiker wie mein Papa. Der ist auch immer nur mit Not und Mühe fortzubringen von seinem Arbeitstisch.«

»Mit dem Unterschied, daß ich es nötig habe und er nicht.«

»Dahin wirst du auch einmal kommen. Bist ja sein bester Schüler. Die erste Kraft in seinem Baubureau.«

»Wenn er mir nur mehr Selbständigkeit ließe! Es wird schließlich Zeit, daß ich mich auf eigene Füße stelle, und davon will der Baurat nie etwas hören.«

»Das nimmst du ihm doch nicht etwa übel?« rief lachend der junge Guntram. »Er kann dich eben nicht entbehren und möchte dich festhalten um jeden Preis.«

»Ich halte es aber nicht länger aus, nur Handlanger zu sein für fremde Arbeit,« brach Siegwart aus. »Ich muß endlich einmal die eigenen Flügel regen, endlich selbst etwas schaffen. Da in meinen Mappen ist ein Entwurf – ich habe ihn erst kurz vor der Abreise vollendet –, der ist etwas wert, der würde mir vielleicht die Bahn öffnen, wenn er ins Leben tritt, aber da liegt's eben! Ein Maler schickt sein Bild auf die Ausstellung und läßt es zu der Welt sprechen: Das bin ich, das kann ich! Gebt mir Raum zum Schaffen! Ein Architekt braucht Aufträge, und wer vertraut einem jungen, unbekannten Menschen einen kostspieligen Bau an? Da fordert man Namen und Ruf oder wenigstens gewichtige Empfehlungen. Dein Vater könnte sie mir geben – wenn er wollte.«

»Nun dann wird er es tun, verlaß dich darauf. Übrigens steckt er jetzt auch tief in der Arbeit. Er baut die neue Villa im Tiergarten für den Kommerzienrat von Berndt und leitet den Bau persönlich. Sie sind ja alte Freunde.«

»Ich weiß, es war längst die Rede davon, aber den Plan selbst kenne ich noch nicht. Du schriebst mir, daß Berndt sich angekauft hat in meiner Heimat, ganz nahe bei Ravensberg? Wie kommt er denn darauf? Das ist doch sehr fern von Berlin.«

Adalbert zuckte die Achseln.

»Es war in erster Linie wohl Geschäftssache. Grafenau verkrachte und er wollte sich seine Hypotheken darauf sichern. Er hat das Gut spottbillig bekommen im Zwangsverkauf, und will es auch nur als Sommersitz für einige Monate benützen. Als Chef des großen Bankhauses muß er ja den größten Teil des Jahres in Berlin sein.«

»Ich kenne Grafenau, es ist das Nachbargut,« sagte Hermann. »Du warst ja wohl im vorigen Jahre dort?«

»Ja, Berndt hatte uns eingeladen. Mein Vater sollte sich das Schloß einmal ansehen für einen späteren Umbau. Es ist ein langweiliger alter Kasten, aber Papa meint, es ließe sich etwas daraus machen. Vorläufig ist noch keine Rede davon, denn die neue Villa kostet ein Heidengeld – sie wird aber auch danach! Ich habe ein paar prächtige Wochen in Grafenau verlebt. Ausgezeichnete Jagd und dabei entdeckte ich noch ein verwunschenes Schloß mit einer Märchenprinzessin.«

Siegwart verzog spöttisch die Lippen.

»Natürlich! Ein Liebesabenteuer muß dabei sein, sonst macht dir die Sache keinen Spaß.«

»Nun, diesmal war das Abenteuer harmlos genug, denn die betreffende Dame zählte gerade vierzehn Jahre. Baron Helfenstein ist nämlich gründlich verkracht mit seinem Grafenau. Nichts hat er übrig behalten. Hätte er nicht die Hauptmannspension von seiner Dienstzeit her, er müßte hungern mit dem Kinde – seiner kleinen Enkelin. Das reicht freilich gerade nur zum Sattessen und dabei wohnt er in Uhlenhorst.«

»In dem alten Jagdschlößchen? Das muß aber jetzt doch ganz verfallen sein.«

»Es ist wenigstens ein Dach über dem Kopfe und der Kommerzienrat hat es zugestanden. Ihm tat der alte Mann leid, der nun von Haus und Hof fort mußte und nur noch ein Fleckchen Erde braucht, wo er ruhig sterben kann. Er hat ihm Uhlenhorst auf Lebenszeit zugesichert. Ich wollte es mir einmal von außen ansehen und da lernte ich durch Zufall den alten Baron kennen und Klein-Rottraud.«

»Klein-Rottraud? Wer ist das?«

»Die besagte Prinzessin. Der Großvater nennt sie so. Ich habe auch niemals ein so leuchtendes, rotgoldenes Haar gesehen wie bei seiner Traudl. Ein frisches, reizendes Ding, dem ich ein höchst willkommener Spielkamerad war. Ich war fast täglich drüben und dann jagten wir uns herum, zankten uns und versöhnten uns wieder, wie die Kinder. Du siehst, Gefahr hatte die Sache durchaus nicht.«

»Ich bin lange nicht in meiner Heimat gewesen,« sagte Hermann, indem er sich erhob. »Aber jetzt muß ich aufbrechen. Du nimmst den Führer mit hinunter, ich gehe lieber allein und der Weg ist hinreichend markiert. Aus Wiedersehen!«

Er wandte sich seitwärts, wo an einem vereinzelten Felsblock die rote Markierung sichtbar war und hatte die Zurückbleibenden bald aus den Augen verloren. Der Wegführte vorläufig auf der Höhe hin. Von droben grüßten die Schneegipfel, die sie heute morgen erstiegen hatten, tiefer unten die felsigen Abstürze, Gestein und Geröll, nur hier und da von schmalen Grasbändern durchzogen. Auf einem derselben regte sich etwas, Siegwart blieb stehen und blickte hinüber. Sein scharfes Auge erkannte ein paar Gemsen, die aus ihrer sicheren Höhe furchtlos auf den einsamen Wanderer niederäugten, dessen Brust ein leiser Seufzer hob. Die Jagdlust regte sich in dem Förstersohne, der ja im grünen Walde aufgewachsen war.

Wer hier jagen könnte! Die Büchse im Arm und dann über Fels und Kluft dem flüchtigen Wilde nach – das müßte eine Wonne sein!

Er mußte sich förmlich losreißen von dem Anblick und schritt rasch weiter. Der Weg war in der Tat genügend markiert und nicht zu verfehlen. Jetzt endete er am Rande eines Felsenkessels, aus dessen Tiefe ein kleiner Alpensee, wie ein leuchtendes Juwel heraufschimmerte. Hier führte nur ein schmaler Jägersteig am Absturze der Wand steil hinunter. Es gehörte ein fester Tritt und ein schwindelfreies Auge dazu, um hier abzusteigen, aber Hermann besaß beides. Den Bergstock einsetzend, schritt er langsam, aber mit voller Sicherheit über Geröll und Spalten und stand endlich unten auf einer kleinen Matte, die den See begrenzte.

Er bemerkte erst jetzt, daß er nicht allein war. Kaum zwanzig Schritte entfernt, unter einer hohen, vom Winde zerzausten Wettertanne saß eine Dame, das Skizzenbuch auf den Knieen und zeichnete. Sie mußte den Niedersteigenden gesehen haben, nahm aber keine Notiz von seiner Ankunft. Er zog flüchtig den Hut, sie streifte ihn mit einem ebenso flüchtigen Blick und fragte dann in deutscher Sprache, aber mit unverkennbar englischer Betonung: »Kennen Sie den Weg in das Enstal? Ist er beschwerlich?« Um Siegwarts Lippen zuckte ein spöttischer Ausdruck. Er wurde offenbar für einen Führer oder dergleichen gehalten, das verriet ihm der Ton der Frage. Der Irrtum belustigte ihn, aber er befleißigte sich nun auch keiner besonderen Höflichkeit bei der Antwort: »Der Weg ist steil und beschwerlich. Jedenfalls nicht allein zu machen, Sie werden einen Führer –«

»Später!« unterbrach sie ihn mit einer vornehm abweisenden Handbewegung, als sei ihr eine weitere Auseinandersetzung lästig und wandte sich wieder ihren Skizzen zu.

Das ging dem Baumeister denn doch zu weit. Sie war augenscheinlich der Meinung, er habe sich als Führer anbieten wollen und ließ ihn nun stehen und warten, wie einen Lakaien, bis seine Dienste befohlen wurden. Er beschloß, dieser hochmütigen Engländerin eine Lehre zu geben. Sie hatte sich ja nicht einmal die Mühe genommen, seinen Gruß zu erwidern. Er trat dicht hinter sie, sah ihr über die Schulter und sagte dann in englischer Sprache: »Der Standpunkt ist schlecht gewählt, die Tannenzweige verdecken Ihnen ja die ganze Höhe.«

Das hatte Erfolg. Die Fremde wandte sich überrascht um. »Sie sprechen Englisch?«

»Einigermaßen.« Er sprach es ebenso geläufig wie sie das Deutsche. »Sie wollen die Felswände skizzieren, die den See so malerisch abschließen, ich sehe es, aber das wird nichts. Dort drüben, wo ich herunterkam, da ist der rechte Platz. Da haben Sie den ganzen Hintergrund frei.«

Die Dame schien jetzt ihren Irrtum über den vermeintlichen Führer einzusehen, aber sie hielt es offenbar für eine Anmaßung, daß ein Fremder sich unterstand, ihr Ratschläge zu geben. Ihre Lippen kräuselten sich hochmütig, während sie mit unverhehltem Spott sagte: »Wollen Sie das nicht besser selbst versuchen?«

»Wenn Sie es wünschen – darf ich um das Skizzenbuch bitten?« Er nahm ihr ruhig Buch und Stift aus der Hand, schritt nach dem vorhin bezeichneten Platze, schlug das Blatt um und begann auf dem nächsten eine neue Skizze.

Die Fremde sah etwas betroffen aus, als sie so augenblicklich beim Wort genommen wurde, erhob aber keine Einwendung. Sie wußte offenbar nicht, was sie aus diesem Manne machen sollte. Er sprach Englisch, gehörte also zu den Gebildeten, das verriet auch seine ganze Ausdrucksweise, aber sein Anzug ließ eher das Gegenteil vermuten. Die derben Bergschuhe, die abgetragene Joppe, der zerdrückte Filzhut, das alles war »shocking« in den Augen einer vornehmen Engländerin. Aber sie sah auch das energische Profil, die hohe Stirn und die Augen, deren Blick etwas Adlerartiges hatte, als sie sich so fest auf die Felsen dort hefteten. Hermann Siegwart war nicht schön, wenigstens nicht nach landläufigen Begriffen, aber seine Erscheinung war mehr als das – charaktervoll.

Er merkte sehr gut die Beobachtung, deren Gegenstand er war, kümmerte sich aber nicht darum, sondern warf mit raschen, festen Strichen die Zeichnung hin. So vergingen etwa zehn Minuten im völligen Schweigen, dann kam er zurück und übergab das Buch seiner Eigentümerin.

Es war nur eine flüchtige Skizze, aber der See, die Felsen, die ihn einschlossen, die Tannen, die seitwärts an den Wänden emporstrebten, waren so künstlerisch aufgefaßt, daß sie eine geübte Hand verrieten. Die Fremde sah das auf den ersten Blick.

»Sie sind Maler?« fragte sie rasch.

»Nein, aber ich habe wenigstens Zeichnen gelernt.«

Die Dame biß sich auf die Lippen. Sie fühlte den versteckten Spott über ihre eigene, sehr dilettantenhafte Zeichnung, äußerte aber keine Silbe darüber, sondern schloß das Buch und sagte im kühlen Gesprächston: »Ich habe mein Pferd mit dem Führer auf der Grasecker Alm zurückgelassen. Die Gegenwart solcher Leute ist unglaublich störend für mich.«

Siegwart lächelte etwas boshaft, sie hatte ihn ja auch anfangs zu »solchen Leuten« gerechnet.

»Ja, es ist immer störend, wenn man allein zu sein wünscht und dann Gesellschaft findet,« entgegnete er. »Aber man hat doch nicht das Alleinrecht auf solche Punkte und muß sich damit abfinden.«

Er sah sich jetzt zum erstenmal die Fremde genauer an, mit der der Zufall ihn hier zusammengeführt hatte. Es war ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, eine schlanke, vornehme Erscheinung, mit einem regelmäßigen, etwas bleichen Gesicht, dessen dunkle Augen in einem eigentümlichen Gegensatz standen zu dem aschblonden Haar. Sie wären schön gewesen, wenn sie nur etwas mehr Wärme und Leben gehabt hätten, aber das kalte überlegene Selbstbewußtsein, das sich in der ganzen Haltung aussprach, lag auch in dem Blick. Die junge Dame war es offenbar gewohnt, die Welt nur von oben herab anzusehen.

Sie trug einen grauen Reiseanzug und einen Filzhut mit blauem Schleier, aber das Jäckchen, das sie ausgezogen und neben sich gelegt hatte, zeigte ein Futter von schwerem, weißen Atlas, die Handschuhe daneben waren vom feinsten schwedischen Leder und an der Rechten blitzte ein kostbarer Brillantring.

Siegwart sah das alles, ohne daß es besonderen Eindruck auf ihn machte, er war in dieser Hinsicht wenig empfänglich. Er legte Rucksack und Bergstock ab und ließ sich auf eins der bemoosten Felsstücke nieder, ohne den halbentrüsteten Blick zu bemerken, der ihn dabei traf. Der jungen Dame mochte es neu sein, daß sich jemand mit ihrer Gesellschaft »abfand«. Der Mann dachte gar nicht daran, das Gespräch fortzusetzen, sondern hatte nur Augen für die Berglandschaft und schwieg sich völlig aus.

Der Wildsee lag ziemlich hoch, aber noch nicht in der eigentlichen Gletscherregion. Man konnte über die Grasecker Alm bequem heraufreiten. Übrigens lag er abseits von den gewöhnlichen Touristenwegen und war in den Reisebüchern nur als Nebenpartie genannt. Deshalb wurde er nicht oft besucht, zumal jetzt, wo die eigentliche Reisezeit noch nicht begonnen hatte.

Es war im Anfange des Juni, für das Hochgebirge noch Frühling. Aber hier kam er nicht mit tausendfachem Blühen und Duften, mit dem jubelnden Lied all der erwachenden Vogelstimmen. Hier oben wirkte schon die Nähe der eisigen Hochgipfel. Ernst und schroff standen die Felshäupter, die den See wie eine Mauer umschlossen, dunkel und düster die Tannen. Kein Vogel flatterte in den Zweigen, kein Fisch regte sich in der Flut. Das Rauschen eines Gletscherbaches, der sich funkelnd und schäumend von den Zacken dort herabstürzte und in den Klüften verschwand, war der einzige Laut in dieser mächtigen, schweigenden Einsamkeit.

Und doch wehte auch hier der Atem des Lenzes. Hoch oben am Himmel schifften weiße Frühlingswolken, die Tannen trugen zarte, grüne Spitzen und aus der kleinen Matte schimmerte überall das tiefe Blau der Genzianen. Der See lag da, tiefgrün an den Ufern, aber in der Mitte, wo die Sonnenstrahlen ihn trafen, wurde er zum leuchtenden Smaragd. Da glänzte er geheimnisvoll, als berge sich in seiner Tiefe irgend ein leuchtendes Wunder, das heraussteigen möchte ans Tageslicht – das Auferstehungswunder, das der Frühling in jedem Menschenherzen vollbringt, mit seinen Verheißungen, seinem Sehnen und Hoffen: Nun muß sich alles, alles wenden!

Ein fernes, dumpfes Donnern schreckte die beiden am Wildsee aus aus ihrem Schweigen. Die junge Dame blickte befremdet zu der Höhe empor, aus der es kam, und Siegwart sagte halblaut: »Da geht eine Lawine nieder! Hier unten sieht man nichts davon, aber oben bei den Gletschern, da habe ich es heute morgen gesehen, wie der Schnee sich löste, wie er sich zusammenballte und dann stäubend und sausend in die Klüfte niederfuhr – es war ein prachtvoller Anblick!«

»Sie haben heute eine Gletschertour unternommen?« fragte die Fremde, die sich jetzt doch zu einer Unterhaltung herbeiließ.

»Ja, heute morgen. Es fing eben erst an zu dämmern als wir ausbrachen, und dann kam allmählich der Tag. Unter uns wogte ein weißes, brandendes Nebelmeer und über und um uns glühte es auf, als sei die ganze Bergeswelt ein flammendes Zauberreich, bis die Sonne aufging und den Purpurschein in leuchtendes Gold wandelte. Das sind Stunden – da versinkt das ganze Alltagsdasein mit all seinen Fesseln, da spürt man etwas Gottähnliches in sich, da geht alles andere unter in einer einzigen Empfindung – dem Hochgefühl des Lebens!«

Die Erinnerung riß ihn fort, aber er brach plötzlich ab, als er sah, daß die dunklen Augen fest auf seinem Gesichte ruhten, und fügte mit leichtem Spott hinzu: »Das erlebt man freilich nicht, wenn man im Coupé der Bergbahn hinauffährt, sich im Hotel an die Table d'hote setzt und auf der Terrasse, von einer ganzen Touristenschar umgeben, die Aussicht genießt. Das fordert Einsamkeit.«

»Haben Sie schon oft solche Stunden erlebt?« Die Frage klang wie in erwachendem Interesse.

»Oft? Nein! Märchenstunden kommen nicht oft im Leben, aber man trinkt sich satt daran für Monden und Jahre. Wir haben das nötig in dem ewigen Lärm, dem rastlosen Getriebe der Großstadt. Auch mich wird es in wenigen Tagen wieder gefangen nehmen und festhalten – wer weiß auf wie lange!«

»Sie lieben also die Großstadt nicht?«

»Doch, ich liebe sie,« sagte Siegwart rasch. »Es ist der Kampfplatz für jeden, der auf die eigene Kraft angewiesen ist und sie erproben muß. Und es liegt doch schließlich etwas Mächtiges in diesem brausenden Strom des Lebens, der alles mit sich fortreißt. Er verschlingt ja so manchen, aber die Flut trägt den kühnen Schwimmer, der ihr vertraut – man muß eben vertrauen.«

Es lag eine energische Zuversicht in den Worten. Seine Brust hob sich und seine Augen blitzten in dem stolzen Kraftgefühl der Jugend, der noch die ganze Welt gehört. Die junge Dame sah ihn noch immer an, als sei ihr dies Aufflammen, dieser feurige Lebensmut eine unfaßbare Merkwürdigkeit. Da ließ sich in einiger Entfernung ein Ruf hören und aus dem Walde, der nach unten hin den Felsenkessel abschloß, tauchte die Gestalt eines Mannes aus, der ein Bergpferd am Zügel führte.

»Das ist vermutlich Ihr Führer!« sagte der Baumeister abbrechend. »Er will sich bemerkbar machen.«

»Ja, er sollte mich hier abholen,« der Ton verriet, daß die Unterbrechung nicht grade willkommen war. »Sie würden mir also den Rückweg durch das Enstal nicht anraten?«

»Auf keinen Fall, denn reiten können Sie da nicht. Ich nehme ja den Abstieg dort, aber in meinem Reisebuch wird er ausdrücklich nur für ›Geübte‹ empfohlen. Ohne Bergschuhe und Alpenstock kommen Sie schwerlich hinunter.«

»Das meinte der Führer auch. Ich werde also über die Alm zurück müssen.«

Sie zog das Jäckchen und die Handschuhe an und nahm einen Strauß Genzianen, die sie wohl vorhin gepflückt hatte. Der Führer war inzwischen herbeigekommen und führte sein Tier vor. Hermann trat heran, um der Dame beim Aussteigen zu helfen.

»Und Ihre Skizze?« fragte sie halblaut. »Soll ich dafür in Ihrer Schuld bleiben?«

Er verneigte sich leicht.

»Wenn Sie es so nennen wollen – ich bitte darum.«

»So nehmen Sie wenigstens dies als Dank dafür.« Sie reichte ihm das Sträußchen und neigte abschiednehmend das Haupt. Dann lenkte sie das Pferd abwärts, der Führer folgte, und schon nach wenigen Minuten verschwand der wehende blaue Schleier zwischen den Tannen.

Hermann stand allein und blickte auf die Genzianen nieder, die er in der Hand hielt.

»Das sah ja beinahe aus wie eine Abbitte!« sagte er spöttisch. »Es klang doch etwas anders als dies: Später! im Anfang. Die Lehre, die ich ihr gab, scheint verstanden worden zu sein. ›Wieder der richtige Bär!‹ würde Adalbert sagen. Der wäre natürlich mitgelaufen bis zur Alm. Was geht mich diese hochmütige Lady an! Schön war sie freilich, aber auch mehr als selbstbewußt.«

Er befestigte den Strauß an seinem Hute und umfaßte noch einmal mit einem langen Abschiedsblick die ganze Umgebung, die dunklen Tannen, die starren Schroffen der Felsen und den See, der in ihrem Schoße lag wie ein schimmerndes Kleinod, das sie hüteten und schützten in seiner weltfernen Einsamkeit. Dann nahm er Rucksack und Bergstock wieder auf und wandte sich seitwärts, wo der Weg ins Enstal hinabführte.


»Ist Mr. Morland schon zurückgekehrt?«

»Schon vor einer Stunde, Herr Kommerzienrat.«

»Und die gnädige Frau?«

»Soeben vorgefahren mit Miß Morland – und hier sind auch zwei Briefe eingelaufen.«

Der Kommerzienrat nahm die Briefe an sich und schritt durch die große Eingangshalle, die mit ihren Marmorsäulen, den Teppichen und Blumengruppen das Hotel als eines der ersten in Interlaken kennzeichneten. Der Portier machte noch nachträglich eine Verbeugung, denn es waren reiche Gäste, die seit vierzehn Tagen hier wohnten. Kommerzienrat von Berndt aus Berlin, nebst Gemahlin und Mr. Morland aus Neuyork mit Tochter. Sie bewohnten im ersten Stock eine ganze Reihe von Zimmern mit dem Hauptsalon und reisten mit eigener Bedienung.

Herr von Berndt trat in das Zimmer seiner Frau, die am Balkon stand und auf den »Höhenweg« hinausblickte, wo sich ein für die Frühjahrsaison schon recht reges Leben entfaltete.

»Du bist ausgefahren am Vormittag?« fragte er.

»Nur eine kurze Spazierfahrt mit Alice,« war die Antwort.

»Allein? Hat Euch Graf Ravensberg nicht begleitet?«

»Nein. Er ließ sich bei William melden und ist noch bei ihm. Ich glaube, wir tun besser, da nicht zu stören. Es wird sich wohl um die Entscheidung handeln.«

»Schon jetzt? Das wäre doch etwas früh. Er ist seit kaum acht Tagen hier.«

»Hat aber täglich mit Alice verkehrt. Man sieht sich ja hier bei jeder Mahlzeit und jedem Spaziergange in völliger Zwanglosigkeit. Deshalb grade brachte ich Interlaken in Vorschlag für die Zusammenkunft.«

Der Kommerzienrat hatte Hut und Handschuhe abgelegt und ließ sich nieder.

»Es war wohl auch das Beste,« bemerkte er. »Im Grunde ist dies ›Sichkennenlernen‹ ja eine bloße Form. Sehen mußten sie sich natürlich vorher.«

»Gewiß,« stimmte seine Frau bei. »Aber in dieser Hinsicht habe ich nie Bedenken gehabt. Der junge Ravensberg ist eine angenehme Persönlichkeit und Alice ist wie geboren für eine solche Stellung. Mein Bruder wird allerdings Opfer bringen müssen, aber darüber hast du ihn hinreichend aufgeklärt.«

»Allerdings. Du weißt ja, der alte Graf hatte sich auch an mich gewandt um finanzielle Hilfe. Ich versagte sie natürlich, da er nicht die geringste Sicherheit mehr bieten konnte. Aber ich habe dabei einen Einblick in die Verhältnisse erhalten, die wohl überhaupt kein Geheimnis mehr sind in der Umgegend. Die Ravensberger sind grade so weit wie mein Vorgänger in Grafenau. Ihre Herrschaft ist über und über verschuldet und der völlige Zusammenbruch kaum mehr länger aufzuhalten. Es wird viel kosten das alles zu ordnen, und dann handelt es sich noch um die Mitgift.«

»Die wohl sehr hoch sein muß?« warf Frau von Berndt ein. Ihr Gatte zuckte die Achseln.

»Es ist ein altes Grafengeschlecht, ehemals reichsunmittelbar und hat mehr als einmal eine Rolle gespielt in der Geschichte unseres Landes. Das will erkauft sein. Übrigens wird William schon dafür sorgen, daß er die Zügel in der Hand behält. Man muß vorsichtig sein mit Verwandten, die gewohnt sind als große Standesherrn zu leben, sonst gehen die Ansprüche ins Ungemessene. Alice wird überhaupt keinen leichten Stand haben, wenigstens mit dem alten Grafen nicht – ein eingefleischter Aristokrat!«

»Alice wird ihre Selbständigkeit zu behaupten wissen – daran zweifle ich nicht.«

»Ja, ihr Amerikanerinnen versteht das ausgezeichnet,« bemerkte scherzend der Kommerzienrat, der Erfahrung darin hatte. Er hatte als junger Mann bei einem längeren Aufenthalt in Neuyork seine Frau kennen gelernt und heimgeführt. »Aber die Erörterung da drüben scheint sich in die Länge zu ziehen. Ich denke, wir gehen noch etwas auf die Terrasse. Darf ich dich bitten, Ellen.«

Die betreffende Unterredung war in der Tat noch nicht beendet. Drüben im Salon, der mit der glänzenden und im Grunde doch nüchternen Pracht der großen Hotels eingerichtet war, saß William Morland und ihm gegenüber Graf Ravensberg. Aber es sah mehr aus wie eine geschäftliche Zusammenkunft als wie eine Werbung, denn der Amerikaner hatte ein Notizbuch in der Hand und machte dort verschiedene Eintragungen.

Es war ein Mann in vorgerückten Jahren, mit grauen Haaren und kalten, verschlossenen Zügen. Das Gesicht hatte etwas Undurchdringliches, aber der wachsame Blick der scharfen, grauen Augen verriet, daß ihnen nichts entging, was sie der Beachtung wert hielten.

Graf Bertold Ravensberg, ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, machte auf den ersten Blick einen ziemlich unbedeutenden Eindruck mit seiner schmächtigen, nur mittelgroßen Gestalt, aber das Gesicht hatte etwas Fesselndes. Es lag ein Zug von Schwermut darin und in den Augen. Sie waren wirklich schön, diese braunen Augen, mit ihrem träumerischen Ausdruck. Er schien erregt, wenn er sich auch Mühe gab, das zu verbergen, während Morlands Gesicht eine unbewegte Ruhe zeigte, als er jetzt sagte: »Das wären also die Hauptpunkte. Ich übernehme die sämtlichen Hypotheken von Ravensberg – sie werden selbstverständlich auf den Namen von Miß Morland eingetragen. Außerdem verpflichte ich mich zu der bereits besprochenen Mitgift, deren Zinsen zu Ihrer freien Verfügung stehen – das Kapital selbst bleibt gesichert. Mein Vermögen, dessen einzige Erbin meine Tochter ist, bleibt, wenn es dereinst an sie fällt, gleichfalls ihr persönliches Eigentum. Die Gütergemeinschaft wird ja überhaupt aufgehoben in diesem Ehevertrag.«

Der junge Graf hatte schweigend zugehört, jetzt aber fragte er langsam: »Und was bleibt meinem Vater und mir dann?«

»Ihnen? Nun, der Graf erhält die Verfügung über seine Herrschaft zurück, die alsdann schuldenfrei sein wird, und Sie eine Rente, die wohl ausreichen wird für ein standesmäßiges Leben.«

»Aber uns wäre damit jede selbständige Verfügung über das Vermögen meiner Frau genommen. Selbst Ravensberg bliebe ausschließlich in ihren Händen.«

»Jetzt ist es in den Händen Ihrer Gläubiger, das ist doch wohl ein Unterschied,« war die trockene Antwort. »Wenn, wie wir ja wohl annehmen dürfen, das Einvernehmen in dieser Ehe ungestört bleibt, ist es überhaupt eine bloße Form, die von gar keiner Bedeutung ist.«

»Die aber für uns etwas Verletzendes hat und die wir deshalb unmöglich annehmen können.«

»Ich bedauere,« sagte Morland gelassen. »Ich habe als Vater die Pflicht, die Zukunft meiner Tochter zu sichern, und nach dem Einblick, den ich in Ihre Verhältnisse erhalten habe, kann und werde ich größere Kapitalien nicht zur Disposition Ihres Herrn Vaters stellen.«

»Mr. Morland!« fuhr Bertold beleidigt auf.

»Herr Graf Ravensberg?«

Die kühle, scharfe Stimme erinnerte den jungen Grafen daran, daß er hier nichts zu wollen, sondern nur zu empfangen hatte. Er bezwang sich.

»Ich habe nicht geglaubt, daß uns solche Bedingungen gestellt werden, daß mir eine derartige Abhängigkeit von meiner künftigen Gemahlin zugemutet wird,« sagte er mit vollster Bitterkeit.

»Eben deshalb legte ich Wert darauf, zuerst das Geschäftliche zwischen uns zu erledigen. Einigen wir uns nicht, so betrachten wir einfach diese Verhandlungen als nicht geschehen. Meine Bedingungen stehen fest, eine Änderung ist da ausgeschlossen. Es hängt ganz von Ihnen ab, ob Sie annehmen oder ablehnen wollen.«

»Ablehnen? Ich werde Alice nicht aufgeben – niemals!«

Es war ein Klang verhaltener Leidenschaft in den Worten, der dem Amerikaner nicht entging. Er nahm aber keine Notiz davon.

»Nun so entscheiden Sie sich! Ich bin mit der Partie einverstanden und meine Tochter ist bereit, ihr Jawort zu geben. Aber erst muß volle Klarheit zwischen uns geschaffen werden. Das sehen Sie doch ein, Herr Graf.«

Ravensberg schwieg, er schien mit sich selbst zu kämpfen, endlich fragte er: »Kennt Miß Morland diese Verhandlungen und die Bedingungen, die mir gestellt werden?«

»Ja,« sagte Morland kurz.

»Und sie ist damit einverstanden?«

»Ja.«

Um die Lippen des jungen Grafen zuckte ein bitteres Lächeln. »Sie ist Amerikanerin – allerdings.«

»Allerdings. Bei uns wird eine junge Dame, um deren Vermählung es sich handelt, als durchaus mündig betrachtet. Bei Ihnen ist das vielfach anders, ich weiß es. Wo aber größere Interessen auf dem Spiele stehen, muß man ihnen nach allen Seiten hin Rechnung tragen.«

Morland erhob sich und gab damit das Zeichen zur Beendigung des Gespräches.

»Ich lasse Ihnen natürlich Bedenkzeit. Es sind noch einige Nebenpunkte zu erledigen, aber darin werden Sie mich entgegenkommend finden. Ich bin bereit, allen sonstigen Wünschen Rechnung zu tragen, sobald die Hauptsache geordnet ist. Ich erwarte demnächst Ihren Entschluß.«

Graf Bertold verneigte sich und ging. Er hatte sich den Ausgang seiner Werbung doch anders gedacht. In seinem Zimmer angelangt, das natürlich in dem gleichen Hotel lag, begann er unruhig auf und nieder zu schreiten. Jetzt, wo er allein war, sah man es, wie tief ihn diese Unterredung gedemütigt und gepeinigt hatte. Es war ja doch nur im Grunde ein Handelsgeschäft, bei dem man ihm die Bedingungen diktierte, die er anzunehmen hatte, und er empfand das in seiner ganzen Schwere.

Sein Stolz bäumte sich dagegen auf, daß man ihn in dieser Art bevormunden wollte. Ihn, der mit seiner Hand eine Grafenkrone zu vergeben hatte! Kaufen wollte der Emporkömmling diese Krone allerdings für seine Tochter, wie er ihr irgendeinen kostbaren Diamantschmuck kaufte, aber der gräfliche Schwiegersohn imponierte ihm offenbar nicht im geringsten. Dem stellte er im kühlen Geschäftston ein unwiderrufliches Entweder – Oder.

Eine Wahl gab es hier nicht für die Ravensberger. Sie wußten es nur zu gut, daß sie unmittelbar vor dem Ruin standen, daß der völlige Zusammenbruch nur noch eine Frage von Monaten war, wenn keine Hilfe kam. Dann teilten sie das Schicksal ihres früheren Gutsnachbarn, des Baron Helfenstein. Dann mußten auch sie herabsteigen zu Armut und Dunkelheit oder – ein Ende machen.

Bertold wußte es, sein Vater würde empört sein über die gestellten Bedingungen. Er setzte voraus, sein Sohn werde mit der Hand der reichen Erbin ein Vermögen empfangen, das auch ihm die vollste Freiheit und Unabhängigkeit zurückgab. Nun bot man ihnen eine allerdings glänzende Rente und nahm ihnen jede Verfügung über das Vermögen selbst. Es nützte nichts, sich erst mit dem Vater darüber ins Einvernehmen zu setzen, Morland blieb jedenfalls bei seinen Bestimmungen.

Für den jungen Grafen spielte noch etwas anderes mit, wenn er es nicht auf einen Bruch ankommen ließ. Er war nicht gleichgültig geblieben gegen das schöne Mädchen, das man ihm als seine künftige Braut zeigte. Sie verlieren, deren Hand allein ihm und Ravensberg die Rettung bringen konnte – nein! Der Vater würde sich ja schließlich beugen, mußte es tun, wie er selbst sich beugte. Es war der einzige Ausweg für sie beide.

Graf Bertold machte keinen Gebrauch von der ihm gewährten Bedenkzeit. Schon beim Lunch ersuchte er seinen künftigen Schwiegervater um eine nochmalige kurze Unterredung. Er erklärte sich bereit, die ihm gestellten Bedingungen anzunehmen, und bat um Erlaubnis, Miß Morland seinen Antrag machen zu dürfen, und das wurde bereitwillig zugestanden.

Es war am Spätnachmittag. Alice Morland stand in ihrem Zimmer vor dem großen Spiegel und musterte prüfend ihre Toilette. Sie war bereits für das Diner angekleidet, die blaßgrüne Seide mit den weißen Spitzen stand ihr vorzüglich und in dem mattblonden Haare schimmerte ein Diamantstern. Es war eine sehr vornehme, kühle Erscheinung, selbst in dieser Stunde, wo sie ihren künftigen Gemahl erwartete.

Das hatte freilich nichts besonderes Aufregendes für sie, die ja seit Wochen eingeweiht war in die Verhandlungen darüber. Ihr Onkel Berndt hatte im Verein mit seiner Frau diese Verbindung geplant und sie dem Schwager und der Nichte vorgeschlagen. Er fand bei ihnen bereitwilliges Entgegenkommen und der alte Graf Ravensberg hatte auch sofort begriffen, wo die Hilfe zu suchen sei, als man ihm die ersten Andeutungen machte.

Alice war ehrgeizig, und es gehörte jetzt zum Ton bei den jungen, reichen Amerikanerinnen in die europäische Aristokratie zu heiraten. Eine ihrer Jugendfreundinnen hatte sich mit einem englischen Lord vermählt, die andere mit einem italienischen Fürsten, da konnte sie es nicht unter einem deutschen Grafen tun. Als die beiden künftigen Gatten sich kennen lernten, war die Sache bereits abgemacht, und da auch die persönliche Bekanntschaft befriedigend ausfiel, stand der Verlobung nichts mehr im Wege.

Die junge Dame trat an ihren Schreibtisch, wo eine große Photographie stand, ein altertümliches Schloß, mit Türmen und Erkern, der Stammsitz der Ravensberger. Der Graf hatte es ihr gestern überreicht. Ein stattlicher, stolzer Bau, der sich malerisch von dem waldigen Hintergrunde abhob. Sie sah einige Minuten lang darauf nieder und begann dann zerstreut in ihrem Skizzenbuch zu blättern, das daneben lag.

Da war das Blatt mit der Skizze von der Hand des Unbekannten. Ein merkwürdiger Mensch! So zwanglos, ja nachlässig in den äußeren Formen und doch voll Feuer und Temperament, das sich in jedem seiner Worte verriet. Sie wußte nichts weiter von ihm, so wenig wie er von ihr – wozu auch? Sie begegneten sich ja doch nie wieder im Leben, aber er hatte die Ehre gehabt, Miß Morland eine Stunde lang zu interessieren, und das kam nicht mehr oft vor. Kein Wunder, wenn sie blasiert war. Das Schicksal hatte ihr, der Zwanzigjährigen, ja schon alles gegeben. Nun gab es ihr auch noch eine Grafenkrone und ein uraltes Adelswappen, das einzige, was sie noch nicht besaß.

Jetzt wurde Graf Ravensberg gemeldet und trat ein. Er hielt einen kostbaren Blumenstrauß in der Hand, den er der jungen Dame überreichte. Dabei fiel sein Blick auf das noch offen daliegende Buch und er schien überrascht.

»Ihr Skizzenbuch, Miß Morland?« fragte er. »Ich weiß, daß Sie zeichnen, aber das verrät ja ein ganz hervorragendes Talent!«

»Die Skizze ist nicht von meiner Hand,« erklärte Alice kurz, beinahe schroff, indem sie das Buch schloß und beiseite schob. Sie lud ihn mit einer Handbewegung zum Sitzen ein, schien aber doch zu fühlen, daß ihre Antwort wenig verbindlich war, denn sie lenkte ein.

»Ich habe Ihnen noch zu danken für das Bild Ihres Schlosses. Es sieht sehr malerisch aus.«

»Das ist es auch,« bestätigte der Graf. »Ein Stück Mittelalter, das sich noch in die Gegenwart hinüber gerettet hat. Ihr Vaterland ist noch jung, Miß Morland, es kennt nicht diese alten Rittersitze mit ihren historischen Erinnerungen. Für uns ruht dort die Geschichte von Jahrhunderten, die Vergangenheit eines ganzen Geschlechtes. Wir sind sehr stolz auf unseren Stammsitz, aber seit dem Tode meiner Mutter, seit mehr als zehn Jahren, ist er halb verwaist – mein Vater hat ihm keine neue Herrin gegeben.«

»Das stand doch nur bei dem Grafen,« warf Miß Morland ein.

»Damals – aber jetzt steht es bei Ihnen, Alice!«

Er erhob sich plötzlich und trat ihr ganz nahe.

»Wollen Sie mich anhören? Vielleicht habe ich noch kein Recht, zu werben nach so kurzer Zeit, aber wer wird zögern, wenn er sich ein Glück sichern will. Darf ich sprechen?«

Sie neigte leicht das Haupt. »Ich höre, Graf Ravensberg.«

Nun folgte der Antrag in jener ritterlich vornehmen Art, die Bertold Ravensberg nie verleugnete. Es war eine Werbung, keine Liebeserklärung, und doch wehte auch hier jener leidenschaftliche Klang hindurch, der sich schon vorhin im Gespräch mit Morland verraten hatte, aber das fand keinen Widerhall.

Alice hörte zu und sah dabei auf den Orchideenstrauß nieder, den sie in der Hand hielt. Kostbare Blüten, zart und bunt wie Schmetterlinge, und seltsamerweise kam ihr dabei die Erinnerung an die Genzianen, die sie vorgestern droben auf der Höhe gepflückt hatte. Einsame, wilde Bergblumen, aber sie waren so schön gewesen in ihrem tiefen, märchenhaften Blau! Und da tauchte auch das ganze Bild wieder vor ihr auf. Der leuchtende See, die starren Felsen, der schäumende Sturz des Gletscherbaches und die Gestalt des Mannes, der ihr dort begegnet war – tauchte auf und verschwand wie ein flüchtiges Traumbild, denn jetzt klang die Stimme Bertolds: »Und Ihre Antwort, Alice? Werde ich ein Ja von Ihren Lippen hören?«

Er hörte es. Sie gab ihr Jawort in aller Form und duldete es, daß er sie in die Arme schloß und küßte. Das war jetzt sein Bräutigamsrecht, das sie ihm bereitwillig zugestand, dann aber entzog sie sich ihm rasch.

»Genug, Bertold. Wir müssen uns jetzt wohl meinem Vater und den Verwandten als Verlobte vorstellen. Sie warten darauf.«

Bertold trat erkaltet zurück. Er hatte, als er sie in die Arme schloß, es auf Minuten vergessen, wie diese Verbindung zustande gekommen war, und es war die Braut, die ihn daran mahnte.

»Haben Sie nicht einmal Zeit für mich in dieser Stunde?« fragte er vorwurfsvoll. Da sie englisch sprachen, war das erste traute Du ausgeschlossen.

Alice lächelte. »Gern, wenn Sie es wünschen. Was wollten Sie mir noch sagen?«

Es war eine merkwürdige Frage in der Stunde der Verlobung. Aber für Miß Morland schien die Sache mit der Erklärung und dem Jawort völlig abgemacht zu sein. Sie ihrerseits hatte dem Bräutigam nichts mehr zu sagen.

»Sie werden künftig meinen Namen tragen,« hob er wieder an. »Sie werden in Umgebungen und Verhältnissen leben, die vielfach abweichen von denen Ihrer Heimat.«

»Das weiß ich,« entgegnete sie gelassen. »Ich kenne vollkommen meine künftige Stellung in der deutschen Gesellschaft und werde ihr Rechnung tragen.«

Bertold biß sich auf die Lippen. Es verletzte ihn doch, daß er für seine Braut nur der Träger der Grafenkrone war, die sie mit ihm teilen wollte.

»Daran zweifle ich durchaus nicht,« versetzte er. »Aber der Gemahl hat doch auch seine Rechte und wird sie fordern. Ich will Sie, Alice, Sie selbst, nicht nur Ihre Hand. Wir müssen uns doch verstehen und lieben lernen. Wenn ich nicht darauf hoffen dürfte – aber wir werden es lernen. Nicht wahr, Alice?«

Sie sah ihn mit ruhigem Erstaunen an.

»Aber gewiß. Sich verstehen und den gegenseitigen Wünschen Rechnung tragen, darauf beruht ja das Glück einer Ehe. Man erleichtert sich sehr das Leben damit.«

Das klang so vernünftig, so selbstverständlich und so nüchtern. Bertold schwieg, aber die Worte legten sich wie ein Eishauch auf seine warm ausbrechende Empfindung, und ein halb schmerzlicher Blick traf das schöne Mädchen, das in solcher Stunde davon sprach, daß man sich das Leben gegenseitig »erleichtern« müsse. Immerhin! Er mußte sich damit abfinden, wie mit so manchem in dieser Verbindung.

»Sie haben vollkommen recht,« sagte er, nun auch seinerseits kühler. Und nun müssen wir wohl in der Tat Ihren Vater aufsuchen – bitte!«

Er reichte ihr den Arm, um sie nach dem Salon zu führen. Es war doch ein Ausdruck höchster Genugtuung, mit der sie an seinem Arme hinausschritt. Gräfin Ravensberg! Ein schöner, stolzer Name! Ein Geschlecht, dessen Stammbaum weit in die Jahrhunderte zurückreichte, dessen Frauen schon zweimal eine Fürstenkrone in ihrem Wappen geführt hatten. Aber keine dieser Frauen war eine so stolze, königliche Erscheinung gewesen, hatte das Haupt so hoch und selbstbewußt getragen, wie Miß Alice Morland, die nun eintreten sollte in diesen erlauchten Kreis.


Die Wohnung des Baurat Guntram lag im Westen Berlins, in einer der vornehmsten Straßen, und die Einrichtung zeigte einen Luxus, der durch einen feinen Kunstgeschmack geläutert und gemildert war. Guntram führte überhaupt ein glänzendes, gastfreies Haus, wo alle Welt verkehrte. Er war einer der bekanntesten und beliebtesten Architekten Berlins, das zahlreiche Privatbauten nach seinen Entwürfen aufwies und, zumal in früheren Jahren, war er so mit Aufträgen überhäuft gewesen, daß er sie kaum bewältigen konnte.

Am Schreibtisch, in seinem Arbeitszimmer saß der Baurat, ein angehender Sechziger, aber früh gealtert, mit einem Ausdruck nervöser Überreizung in den Zügen. Neben ihm stand seine Gattin, bedeutend jünger als er, eine noch schöne, stattliche Frau, in sehr eleganter Toilette. Aber das Gespräch der beiden schien erregt gewesen zu sein. Die Dame sagte in gereiztem Tone: »Ich habe vorher gewußt, daß es wieder einen Sturm geben würde, aber darauf war ich nicht gefaßt. Du bist ja ganz außer dir und die Sache ist doch nicht von solcher Bedeutung.«

»Nicht von Bedeutung?« fuhr Guntram auf. »Wenn ich wieder Tausende zahlen soll, weil mein Herr Sohn das Geld mit vollen Händen wegwirft! Seit drei Jahren ist er hier auf der Kriegschule und ich habe ihn schon einmal losgemacht von den Schulden. Jetzt ist es wieder so weit! Da dampft er seelenruhig nach Metz und überläßt es dir, mir die erbauliche Eröffnung zu machen. Ich sage dir aber, Berta, jetzt reißt mir die Geduld. Ich kann nicht länger solche Opfer bringen, und werde es auch nicht.«

»Du wirst es doch müssen,« versetzte Frau Berta, mit einer Ruhe, die verriet, daß ihr solche Szenen nichts Neues waren. »Wenn Adalberts Oberst von der Sache erfährt, ist seine Karriere hin. Mein Gott, er ist jung und lebensfroh, vielleicht auch etwas leichtsinnig. Warum hast du ihn Offizier werden lassen?«

»Ich? Du wolltest deinen Sohn durchaus im bunten Rock sehen. Ich war von Anfang an dagegen, denn bei Adalberts Charakter ist das eine Gefahr. Er erhält eine überreiche Zulage, mehr als seine Kameraden. Er muß damit auskommen.«

»Nun, das wird er ja auch in Zukunft,« beschwichtigte die Mutter, die es doch geraten fand, diesmal nicht schärfer aufzutreten. »Er hat es mir versprochen, als er mir vor der Abreise die Beichte ablegte. Ganz zerknirscht war er, der arme Junge! Du baust ja grade jetzt die Villa für den Kommerzienrat Berndt und der Plan ist glänzend honoriert worden. Adalbert ist ja doch unser Einziger. Wozu denn da sparen?«

»Sparen?« Der Baurat lachte bitter auf. »Dazu müßtest du weniger brauchen und Adalbert müßte bescheidener sein in seinen Ansprüchen. Unser Haushalt verschlingt Unsummen, ihr beide ruiniert mich noch!«

Frau Berta zuckte kaltblütig die Achseln.

»Wir leben in der Berliner Gesellschaft und haben ein offenes Haus für unsere Freunde – das kostet Geld. Du solltest froh sein, daß ich dir die gesellschaftlichen Pflichten abnehme, die doch nun einmal eine Notwendigkeit sind in unserer Stellung. Du bist nie zu haben dafür. Du kommst immer erst im letzten Augenblick in den Salon.«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch. Der Diener trat ein und meldete Herrn Baumeister Siegwart, der den Herrn Baurat zu sprechen wünsche. Dieser zuckte nervös zusammen.

»Ich bin augenblicklich – doch ja – bitten Sie ihn, ein paar Minuten zu warten.«

»Siegwart?« fragte Frau Berta befremdet. »Es ist ja acht Uhr und das Bureau längst geschlossen. Was kann er denn wollen?«

Guntram beugte sich über die Papiere auf dem Schreibtisch und schob sie durcheinander.

»Ich weiß nicht, vermutlich etwas Geschäftliches.«

»So spät noch? Du wirst dich noch ganz aufreiben mit diesem Geschäftlichen! Aber die Sache mit Adalbert? Du weißt es, seine ganze Zukunft steht dabei auf dem Spiel.«

,,Ja – ja!« stieß der Baurat krampfhaft hervor. »Ich werde sie wohl ordnen müssen. Laß mich nur jetzt allein.«

Die Dame ging, sehr befriedigt. Das war der gewöhnliche Ausgang solcher Auseinandersetzungen, ihr Gatte gab, nach mehr oder weniger heftigen Protesten, immer nach. Sie sah es nicht, daß er sich in den Stuhl zurücklehnte und die Hand über die Augen legte, als überkomme ihn ein plötzlicher Schwindel. Doch das dauerte nur ein paar Minuten, dann richtete er sich mit einem Ruck empor. Es dämmerte schon in dem großen, tiefen Gemach, aber er schob den Stuhl noch weiter zurück, so daß sein Gesicht im Schatten blieb. Dann klingelte er und gab Weisung, den Baumeister eintreten zu lassen.

»Was bringen Sie denn so spät noch, Siegwart?« empfing er ihn. »Sie sind ja erst um fünf Uhr aus dem Bureau fortgegangen. Ist irgend etwas vorgefallen?«

»Ja – etwas mir Unerklärliches.« Die Stimme Siegwarts, der sich kurz und hastig verbeugte, klang erregt und gepreßt und auf seinem Gesicht lag eine dunkle Röte. »Ein Rätsel, Herr Baurat, dessen Lösung ich mir bei Ihnen holen muß.«

»Das klingt ja merkwürdig! Nun?«

»Sie wissen, ich bin erst vor acht Tagen zurückgekehrt. Bei meiner Abreise ließ ich meine sämtlichen Mappen mit meinen Plänen und Studien hier in der Obhut Ihres Bureaus, denn meine Wohnung hatte ich selbstverständlich aufgegeben.«

»Jawohl, ich erinnere mich, wenigstens sprachen Sie davon. Sie haben die Mappen doch zurückerhalten?«

»Ich holte sie mir gleich nach der Ankunft, fand aber in den ersten Tagen keine Zeit, sie zu öffnen. Ich hatte so vieles aus Italien mitgebracht, das erst gesichtet und geordnet werden mußte.«

Guntram nickte. »Ja, das kenne ich aus Erfahrung. Solch ein Studienjahr in Italien bringt reiche Ausbeute und Sie sind jedenfalls sehr fleißig gewesen.«

»Darum handelt es sich nicht,« unterbrach ihn der junge Baumeister scharf und bestimmt, »sondern um eine Entdeckung, die ich soeben gemacht habe. Ich war heute abend im Tiergarten, in dem neuen Villenviertel, und da sah ich ein Bauwerk, schon zur Hälfte vollendet, das ich sehr genau kannte. Ich hielt sofort Nachfrage und hörte, daß Sie die Villa bauten – für den Herrn Kommerzienrat von Berndt.«

»Gewiß! Was fällt Ihnen denn auf dabei? Ich bin seit Jahren befreundet mit Herrn von Berndt und führe nun den Bau aus, den er längst schon plante.«

»Der Plan stammt aber aus meiner Mappe und ist mein Werk!« brach Siegwart jetzt mit vollster Heftigkeit aus. »Was soll das heißen? Ich bitte mir eine Erklärung darüber aus!«

Guntram schüttelte erstaunt den Kopf.

»Ihr Werk? Was meinen Sie denn damit? Ich verstehe Sie gar nicht.«

»Nun, ich habe es auch nicht verstanden!« rief der junge Mann mit steigender Gereiztheit. »Ich war wie vor den Kopf geschlagen! Ich stürzte nach Hause und riß die Mappe auf – die betreffenden Blätter fehlten. Wer hat sie entwendet? Wer hat sie ohne mein Wissen benutzt?«

Er trat dicht vor den Baurat hin, der seinen Stuhl noch weiter zurückschob.

»Was ist das für ein Ton? Sie vergessen sich, Siegwart! Haben Sie den Verstand verloren? Das ist ja unerhört!«

Das klang sehr entrüstet und doch lag ein Zittern in der Stimme, aber die Haltung des Baumeisters wurde noch drohender.

»Unerhört – jawohl! Ich hatte den Plan erst kurz vor meiner Abreise vollendet und bis in die Details ausgeführt. Es war mein Lieblingswerk, auf das ich allerlei Hoffnungen baute. Ich hatte es noch niemand gezeigt, und habe es wie ein Geheimnis gehütet.«

In den matten Augen Guntrams blitzte etwas aus bei den letzten Worten. Seine Haltung änderte sich auf einmal, sie wurde kühl und überlegen.

»Ich glaube, Sie haben einen Anfall von Größenwahn,« sagte er achselzuckend. »Was gehen mich denn Ihre Mappen und Studien an? Wenn da irgend etwas fehlt, so wenden Sie sich an den Bureauvorstand. Ich habe mehr zu tun, als mich darum zu kümmern. Wenn ich Sie nicht seit Jahren beschäftigte und wüßte, daß Sie ein exzentrischer Kopf sind, der, weil er vielleicht ein ähnliches Motiv behandelt hat, imstande ist, sich die tollsten Dinge einzubilden, ich würde Ihnen ganz anders antworten. Dergleichen beleidigende Andeutungen verbitte ich mir. Unser Gespräch ist zu Ende – gehen Sie!«

Siegwart stand wie erstarrt. Es kam ihm noch gar nicht zum Bewußtsein, was er mit jenen unvorsichtigen Worten getan hatte. Sie gestanden es ja zu, daß keine Zeugen und keine Beweise vorhanden waren. Dann aber flammte er auf in maßloser Empörung.

»Und Sie haben die Stirn, mir das zu sagen? Mir, den Sie betrogen und bestohlen haben? Ja, zucken Sie nur zusammen! Gestohlen ist der Plan zu der Berndtschen Villa. Das soll der Kommerzienrat, das wird alle Welt erfahren. Und jetzt werden Sie den schändlichen Streich eingestehen. Sie werden, sage ich, oder –«

Er vertrat dem Baurat, der sich wie zur Flucht erhoben hatte, den Weg, und den schmächtigen Mann bei der Schulter fassend, schüttelte er ihn mit vollster Gewalt. Guntram suchte sich los zu machen, und dabei gelang es ihm, die Klingel aus dem Schreibtische zu erreichen. Er läutete Sturm damit, während er zugleich laut und gellend um Hilfe schrie. Die Tür öffnete sich und der Diener stürzte herein, ihm folgte das Stubenmädchen, das draußen aus dem Korridor gleichfalls den Lärm gehört hatte. Von der anderen Seite kam die Frau Baurätin mit ihrer Jungfer. Sie sahen nun allerdings etwas, das wie ein Überfall aussah und eilten mit Ausrufen des Schreckens und der Entrüstung herbei, um den Hausherrn zu schützen. In der nächsten Minute war er von ihnen umgeben und sank, wie es schien, halb ohnmächtig in den Stuhl zurück.

»Um Gottes willen, was ist das!« rief Frau Berta ganz außer sich. »Sind Sie wahnsinnig geworden, Herr Baumeister?«

Siegwart hatte abgelassen, in seinem Antlitz zuckte eine bittere Verachtung, aber seine Augen blitzten drohend, als er antwortete: »Ich bin leider nur zu sehr bei Verstand, gnädige Frau, das werden Sie erfahren, aber vor Ihren Dienstboten können wir das nicht erörtern. Wir sprechen uns noch, Herr Baurat! Ich werde mein Recht verfechten – verlassen Sie sich daraus!«

Damit ging er und schmetterte mit voller Gewalt die Tür hinter sich zu.


Die Provinzialstadt Ebershofen lag im Osten des Reiches, ein kleines Nest, das noch nicht einmal den Anschluß an die Bahnlinien hatte, sondern auf Postverbindung angewiesen war. Die Umgebung war einförmig, ihr größter Reiz bestand in dem Waldreichtum, der in diesem Teile des Landes noch vorherrschte. Meilenweit zogen sich die tiefen, dunklen Forsten hin, die trotz ihrer Schönheit der Gegend etwas Abgeschiedenes gaben. Man lebte hier wie außerhalb der Welt.

Vor dem Tore des Städtchens lag eine kleine Besitzung, inmitten eines umfangreichen Gartens. Das Haus war einfach und altmodisch, machte aber mit seinen blitzblanken Fenstern und weißen Vorhängen einen freundlichen, behaglichen Eindruck. Vor dem Eingange unter einer großen Buche war mit Tisch und Stühlen ein Ruheplatz hergerichtet und aus dem kühlen Schatten des Laubdaches blickte man hinaus über grüne Wiesen, zu den Wäldern, die wie eine einzige dunkle Masse den Horizont säumten.

Unter der Buche saß eine ältere Dame und strickte an einem langen, grauwollenen Strumpfe. Sie hatte in Haltung und Sprache etwas Resolutes und sah mit ihrer weißen Haube, der schwarzseidenen Schürze und dem Schlüsselbund am Gürtel äußerst respektabel aus.

»Jetzt frage ich Sie, was soll aus der Geschichte werden?« sagte sie in einer Art von Kommandoton. »Wenn das so fortgeht, endigt sie doch noch mit einem Krach! Sie überwerfen sich ja mit dem Bürgermeister und der ganzen Stadt deswegen. Siegwart, Sie sind der ausgemachteste Starrkopf, der mir im Leben vorgekommen ist!«

Baumeister Siegwart, dem diese Worte galten, lehnte in sehr bequemer Haltung im Gartenstuhl und hörte die Standrede an, die ihm gehalten wurde. Jetzt versetzte er ruhig: »Das stimmt, Frau Gerold!«

»So, also sehen Sie das wenigstens ein,« eiferte Frau Gerold. »Warum richten Sie sich dann nicht ein mit den vorhandenen Mitteln und lassen die Sache gehen, wie sie eben geht?«

»Weil ich dafür verantwortlich bin, wenn die Geschichte eines Tages den Vätern der Stadt auf ihre weisen Köpfe fällt. Ich habe doch nun einmal den Aufsichtsposten dabei.«

»Aufsichtsposten? Sie sind ja doch –«

»Leitender Baumeister bei dem Rathausbau in Ebershofen,« ergänzte Siegwart mit vollster Bitterkeit. »Ja, so nennen sie es großartig! Ein höherer Aufseher bin ich, weiter nichts. Den Plan hat natürlich ein anderer gemacht. Ein unglaublicher Kasten, den wir da hinstellen, und ich muß mich daran halten, wie der Schuljunge an sein Pensum. Aber wenigstens will ich dafür sorgen, daß er stehen bleibt. Ich habe es dem Bürgermeister schon bei der Übernahme gesagt, daß der Kostenanschlag viel zu niedrig ist, daß die Stadt bedeutend mehr aufwenden muß, wenn sie solides Material haben will. Seit einem Jahre raufe ich mich deswegen herum mit den hochmögenden Herren. Geht das so fort, dann werfe ich ihnen doch noch einmal die ganze Geschichte vor die Füße.«

Frau Gerold schüttelte entrüstet den Kopf.

»Das sieht Ihnen ähnlich! Immer mit dem Kopf durch die Wand! Warum haben Sie denn die Stellung hier überhaupt angenommen?«

»Weil ich irgend eine Stellung brauchte, um zu leben,« sagte der Baumeister herb. »Eine, die mir außerdem Zeit läßt zu anderweitigen Arbeiten.«

»Nun, das haben Sie auch redlich benutzt. Den ganzen Winter lang haben Sie zu Haus gesessen, wie der Dachs im Bau. Nacht für Nacht hat das Licht in Ihrem Arbeitszimmer gebrannt, manchmal bis an den Morgen.«

»Ich hatte eine größere Arbeit vor, die fertig werden mußte.«

»Meinetwegen. Aber deshalb brauchten Sie nicht zu leben wie ein Menschenfeind. Jede Einladung haben Sie ausgeschlagen. Nie sind Sie beim Abendschoppen in der ›Sonne‹ gewesen, wo all die anderen Herren sich zusammenfinden. Aller Welt haben Sie vor den Kopf gestoßen damit. Aber stundenlang umherrennen in den Wäldern, mitten im Winter, im Schnee und Eis, dazu hatten Sie Zeit. Und jetzt sind Sie vollends draußen in jeder freien Stunde.«

Es lag trotz des derben Tones doch etwas Mütterliches in diesen Vorwürfen. Siegwart ließ sich auch ganz ruhig abkanzeln, er war das noch von seiner Knabenzeit her gewohnt. Da hatte Frau Gerold dem wilden Jungen des Oberförsters, der die Stadtschule besuchte und regelmäßig der Anführer der Stadtjugend war bei allen tollen Streichen, oft genug den Text gelesen. Sie war dieser freundlichen Gewohnheit treu geblieben, auch dem Manne gegenüber, der sich nur selten dagegen wehrte. Bei den letzten Worten aber richtete er sich mit einer raschen Bewegung empor.

»Frau Gerold – das verstehen Sie nicht! Irgend etwas muß der Mensch haben, wenn er nicht verkommen soll, und ich bin nahe genug daran, hier in Ebershofen. Wenn ich nicht diese stundenlangen, einsamen Waldspaziergange hätte, wo ich mich darauf besinne, daß ich doch eigentlich ein Mensch bin und eine gewisse Daseinsberechtigung habe – ich wäre längst auf und davon!«

Die alte Dame begann mit so grimmiger Energie zu stricken, daß die Nadeln klapperten.

»Natürlich, Ebershofen findet keine Gnade vor Ihren Augen, das wissen wir längst. Und unser Ebershofen ist eine Stadt –«

»Mit ganzen achttausend Einwohnern und allen möglichen sozialen, monumentalen und idealen Vorzügen – selbstverständlich!«

»Hören Sie auf!« rief Frau Gerold gereizt. »Ich lasse meine Vaterstadt nicht verunglimpfen in meinem eigenen Hause. Wenn Sie mich immer wieder ärgern mit diesen Spöttereien –«

»Dann setzen Sie mich hinaus,« ergänzte der Baumeister. »Dann muß ich mein Bündel schnüren und auswandern. Hinaus in die Welt, immer hinein ins Blaue! Vielleicht wäre es das Gescheiteste.«

»Das Dümmste wäre es, was Sie überhaupt tun könnten!« rief die alte Dame zornig. »Wenn Sie es in Ebershofen nicht aushalten, warum wenden Sie sich nicht an den Grafen Ravensberg? Der hat überall Einfluß und Verbindungen, dem kostet es nur ein Wort, Ihnen irgend eine Stellung zu öffnen. Aber daran denken Sie natürlich nicht.«

»Nein!« sagte Siegwart kurz und bestimmt.

»Warum nicht?«

»Ich will nicht!«

Frau Gerold strickte auf Tod und Leben, als wollte sie all ihren Arger in die Touren hineinstricken.

»Recht dankbar gegen den Mann, dessen Schützling Sie so lange gewesen sind! Was haben Sie gegen den Grafen? Sie verdanken ihm ja doch alles, Ihre ganze Erziehung, das Studium. Wie ein Vater hat er für Sie gesorgt nach dem Tode des Oberförsters.«

»Ich weiß, was ich dem Grafen schuldig bin,« unterbrach sie der Baumeister. »Eben deshalb will ich ihm mit keiner Bitte lästig fallen. Das ist ausgeschlossen – ein für allemal.«

Es lag eine eigentümliche Härte und Schroffheit in den Worten, die Frau Gerold vollends aus dem Häuschen brachten. Sie warf das Strickzeug auf den Tisch mit einer solchen Heftigkeit, daß der Knäuel zu Boden rollte.

»Punktum! Und nun kann sich die ganze Welt auf den Kopf stellen – es geschieht nicht! Nun, dann sehen Sie zu, wie Sie sich allein durchschlagen. Ich rede kein Wort mehr.«

Sie kehrte ihm den Rücken und steuerte in einem wahren Sturmschritt durch den Garten, dem Hause zu.

Siegwart blieb allein. Er hatte sich verändert in den beiden letzten Jahren. Auf seiner Stirn stand eine tiefe Falte und um den Mund lag ein Zug von Bitterkeit, der früher nicht dagewesen war. Es war noch die alte Erscheinung, voll trotziger Kraft, aber der noch nicht dreißigjährige Mann sah aus, als hätte er schon schwere Erfahrungen hinter sich.

Sie waren allerdings bitter gewesen, diese Erfahrungen. Fast ein Jahr hatte er gekämpft um sein Recht und war schließlich doch unterlegen, weil er keine Beweise dafür bringen konnte. Guntram hatte ihm gegenüber leichtes Spiel gehabt. Totzuschweigen war die Sache nicht mehr nach jener letzten, stürmischen Szene, also kam er zuvor und brachte sie selbst zur Sprache in seinen Kreisen. Er denunzierte seinen ehemaligen Schüler, der offenbar vom Größenwahn besessen war und Ansprüche auf das Werk seines Meisters erhob, weil er zufällig ein ähnliches Motiv behandelt hatte. Ihm glaubte man natürlich, dem anerkannten Architekten, dem ehrenwerten Manne mit den grauen Haaren traute niemand einen Betrug zu. Wer war Hermann Siegwart? Ein junger Mensch, den niemand kannte, der vielleicht Geld erpressen wollte mit seiner kecken Behauptung, für die er auch nicht den Schatten eines Beweises hatte.

Der junge Baumeister war gerichtet, ohne auch nur gehört zu werden. Er fand überall verschlossene Türen oder beleidigende Abweisung. Bis aufs Blut hatte er gekämpft. Er wollte nicht weichen, wollte sich sein Recht erzwingen, aber ihn zwang schließlich die Not. Seine Stellung war selbstverständlich verloren und Guntram sorgte dafür, daß sich keine andere fand. Wer nahm denn auch einen Menschen, der die Güte seines Lehrers mit so krassem Undank lohnte. Das verschloß ihm jede Tätigkeit in Berlin. Da hatte er endlich den Posten in Ebershofen genommen und leistete nun seit einem Jahre hier Frondienste – ums liebe Brot!

Es lebte noch immer ein dumpfer Groll in dem Manne. Er bäumte sich noch immer auf gegen das Unrecht, das ihm geschehen war. Und dazu war er hier wie lebendig begraben! Seit seiner Studienzeit hatte er in Berlin gelebt, hatte mitten in dem Leben und Schaffen gestanden, das die volle Kraft fordert, aber auch die Kraft stählt. Jetzt saß er hier, im fernsten Winkel der Provinz. Jetzt mußte er dies Ebershofen über sich ergehen lassen mit seinem Spießbürgertum, das nichts kannte als die ödeste Kleinkrämerei und den Klatsch über den lieben Nächsten. Manchmal war es ihm, als müßte er all das Gelichter abschütteln wie der Hirsch die Meute und dann fort – fort, so weit ihn die Füße trugen!

Er hatte trotzdem ausgehalten bis jetzt. Hermann Siegwart war keiner von denen, die es dem Schicksal leicht machten, sie unterzukriegen. Erst schlug er sich noch mit ihm herum, auf Leben und Tod. Das Herumschlagen wäre freilich nicht schlimm gewesen für eine Natur wie die seinige. Aber stillhalten, geduldig ausharren in einem solchen Dasein, bis sich, Gott weiß wann, irgend etwas fand, das ihm die Rückkehr in das Leben ermöglichte – das war ein hartes Ding!

In finsteres Sinnen verloren, blickte er vor sich hin, da wurde die kleine Heckentür geöffnet, die nach den Wiesen hinausführte, und dort erschien jemand, bei dessen Anblick der Baumeister verwundert aussah.

»Was soll das?« murmelte er. »Die hochweise Magnifizenz von Ebershofen in eigener Person? Nun – das muß ausgehalten werden.«

Die Magnifizenz, Herr Bürgermeister Claudius, der soeben den Gang heraufkam, war ein kleines, wohlbeleibtes Männchen, dessen Äußeres eigentlich nur von Zufriedenheit und Behaglichkeit sprach, das aber stets eine ungemein wichtige und gedankenschwere Miene zeigte. Das Stadtoberhaupt von Ebershofen war sich seiner Würde und Bedeutung vollkommen bewußt.

»Herr Baumeister, guten Abend!« nickte er. »Ich wollte mir meine Wiesen da draußen ansehen und spreche nun auch einmal bei Ihnen ein. Wie geht's?«

Der Baumeister konnte sich den Besuch noch immer nicht erklären. Er stand durchaus nicht freundschaftlich mit dem Bürgermeister, die Bauangelegenheit hatte bereits Veranlassung zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen ihnen gegeben, aber Herr Claudius schien heute sehr friedlich gestimmt zu sein. Er nahm den angebotenen Platz unter der Buche ein und eröffnete das Gespräch mit der Frage: »Sie sind heute schon zeitig fortgegangen von Ihrem Bau?«

»Jawohl, es ist Sonnabend. Da wird eine Stunde früher Feierabend gemacht.«

»Schade, Sie haben etwas versäumt. Es ist nämlich ein Fremder angekommen – mit der Extrapost.«

»Welch ein Ereignis für Ebershofen!«

»Mit der Extrapost!« wiederholte Claudius mit Nachdruck. »Es ist ein Amerikaner, Mr. William aus Neuyork.«

»Das wissen Sie schon? Haben Sie den Yankee steckbrieflich aufnehmen lassen, gleich in der ersten Stunde?«

Der Bürgermeister runzelte die Stirn. Er fand den Ausdruck Yankee sehr unpassend für jemand, der mit der Extrapost ankam.

»Ich habe ihn gesprochen,« erklärte er. »Er spricht nämlich deutsch. Ich trank gerade meinen Nachmittagschoppen in der ›Sonne‹, als er vorfuhr. Ein merkwürdiger Mensch! Wissen Sie, was er zuerst getan hat? Nach dem neuen Rathaus ist er gegangen, hat es sich beschaut von allen Seiten und dann den Kopf geschüttelt – Tomas hat es gesehen.«

»Ja was sähe und hörte Tomas nicht!« sagte Siegwart ärgerlich. »Wenn auf meinem Bau jemand niest oder einer den anderen einen Dummkopf nennt, läuft er hin und meldet es amtlich. Ein Prachtexemplar von einem Polizeidiener!«

»Tomas tut nur seine Pflicht. Er ist die Polizei, er hat auf Ordnung zu sehen. Ich habe ihm übrigens Auftrag gegeben, den Fremden zu beobachten – ganz unauffällig.«

»Und da wird er wieder natürlich eine Dummheit machen. Halten Sie diesen Yankee etwa für staatsgefährlich?«

Claudius überhörte die ironische Frage. Er legte bedeutsam den Finger an die Nase: »Ich frage Sie – was will dieser Mann in Ebershofen?«

»Das hätten Sie ihn doch fragen sollen.«

»Ich werde mich hüten. Er ist sehr reserviert, sehr abweisend, gewissermaßen hochmütig. Freilich, das sind die Amerikaner alle. – Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Ich?« Siegwart lachte. »Wie soll ich denn diesen Fremden kennen, der, Gott weiß woher, nach Ebershofen geschneit ist?«

»Merkwürdig! Er hat sich doch eigens nach Ihrer Wohnung erkundigt.«

Jetzt begann dem Baumeister ein Licht auszugehen über diesen unerwarteten Besuch des Herrn Bürgermeisters, zu dessen Eigentümlichkeiten eine hervorragende Neugierde gehörte. Jene Erkundigung war wie eine Bombe in den Honoratiorentisch gefallen, und da hatte sich das Stadtoberhaupt in eigener Person aufgemacht, um der Sache auf den Grund zu kommen.

»Bedaure!« sagte er kurz. »Ich habe in Berlin ja bisweilen mit Amerikanern verkehrt, aber William – nein, der Name ist mir fremd. Vielleicht steigt er hier nur ab und hat Beziehungen zu Ravensberg. Die Gräfin stammt ja aus Neuyork.«

»Richtig, so wird es sein!« fiel Herr Claudius ein, dem das noch gar nicht eingefallen war. »Die Ravensberger Herrschaften sind ja wieder da. Vor drei Tagen sind sie angekommen. Der alte Graf und das junge gräfliche Paar, mit einem ganzen Hofstaat – Dienerschaft – Equipagen – das große Schloß hat kaum Raum dafür. Ja, die großen Herren verstehen zu leben.«

Siegwart gab keine Antwort, er schien auf dieses Gespräch nicht eingehen zu wollen, aber das störte den anderen nicht. Er schwatzte unaufhörlich weiter: »Und man weiß doch noch ganz genau, wie es stand vor zwei Jahren. Das war ein offenes Geheimnis. Hätte der junge Graf nicht die Millionärin geheiratet, dann war es gerade so weit wie in Grafenau. Schön soll sie ja sein, aber maßlos hochmütig. Nun, das waren die Ravensberger auch und dabei ahnenstolz! Was nicht sechzehn Ahnen hatte, existierte gar nicht für sie – und nun nimmt der letzte Sproß des alten Hauses eine Miß Morland.«

Der Baumeister zuckte die Achseln.

»Der Stammbaum allein gilt heutzutage nicht mehr allzuviel. Er kapituliert vor dem Golde. Auf der einen Seite die Million, auf der anderen die Grafenkrone – eine höchst moderne Verbindung!«

Es sprach eine kaum verhehlte Verachtung aus den Worten. Claudius aber schien die Sache ganz in der Ordnung zu finden, denn er nickte zustimmend.

»Ja, ja, der Lauf der Welt hat sich geändert,« bemerkte er und setzte eben zu einem neuen Redestrom an, da wurde die Haustür geöffnet und in den Garten trat ein Herr, bei dessen Anblick der Bürgermeister urplötzlich in die Höhe fuhr. Der Fremde grüßte und sagte kurz: »Ich suche Mr. Siegwart.«

»Der bin ich,« versetzte der Baumeister, indem er sich erhob. Weiter kam er nicht, denn Herr Claudius schoß förmlich auf den Ankömmling los und begrüßte ihn in zuvorkommendster Weise.

»Ah, Mr. William! Ich hatte vorhin schon die Ehre. Unseren Baumeister suchen Sie? Erlauben Sie, daß ich die gegenseitige Bekanntschaft –«

»Mein Name ist William,« wandte sich der Amerikaner an Siegwart, ohne die mindeste Notiz von dieser Einmischung zu nehmen. Claudius aber ließ keinen der beiden zu Worte kommen, sondern behielt das Wort ausschließlich.

»Wenn Sie mich vorhin nur verständigt hätten von Ihren Wünschen. Ich hätte ja mit Vergnügen – aber ich ahnte nicht, daß Sie Herrn Siegwart sprechen wollten.«

»Ja – allein!« sagte William sehr bestimmt. Das war deutlich und das verstand denn auch endlich der Herr Bürgermeister. Er lächelte etwas gezwungen.

»O, ich will nicht stören,« versicherte er, blieb aber trotzdem, bis Siegwart der Sache ein Ende machte. Er ersuchte den Fremden, in seine Wohnung einzutreten, und entschuldigte sich flüchtig bei Claudius. Dieser schaute den beiden mit dem Ausdruck krampfhafter Neugierde nach, konnte aber doch nach der eben empfangenen Zurechtweisung füglich nicht mitgehen.

»Dieser Herr spricht sehr viel,« bemerkte der Amerikaner, während sie in das Haus traten. Der Baumeister zuckte die Achseln.

»Ja, das ist leider chronisch bei ihm. Bitte, Mr. William, hier rechts, die Treppe hinauf.«

Er führte den Fremden in seine Wohnung, die beiden Giebelzimmer, von denen eins, sein Arbeitszimmer, nach dem Garten hinaus lag. Es war ein ziemlich großes Gemach, niedrig, aber behaglich, mit der altmodischen Einrichtung der Frau Gerold. An der Hauptwand stand ein Sofa mit Tisch und Stühlen, gegenüber zwei offene Schränke, mit Büchern und Mappen, die offenbar Zeichnungen enthielten, und am Fenster ein großer Schreib- und Zeichentisch.

Der Amerikaner hatte den angebotenen Platz aus dem Sofa angenommen und sah sich prüfend um. Es war ein älterer Mann im einfachen, aber vornehmen Reiseanzug. Er eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung: »Man scheint sehr neugierig zu sein in dieser Stadt. Sind denn Fremde hier eine solche Seltenheit? Da ist ein langer Mann mit einem großen Säbel, der ging immer hinter mir her, bis zu Ihrem Hause. Jetzt steht er draußen wie eine Schildwache.«

Er sprach das Deutsche durchaus geläufig, aber mit einer Betonung und gelegentlichen Wendungen, die den Ausländer verrieten. Siegwart unterdrückte ein Lachen, er wußte Bescheid.

»Bitte, das war ein Ehrengeleit für Sie – die ganze bewaffnete Macht von Ebershofen!«

»Was war es?« fragte William befremdet.

»Unser Polizeidiener, der Tomas. Er geht immer mit dem großen Sarraß herum, aber er hat noch keinem Menschen etwas damit zuleide getan.«

»Ist hier wohl auch nicht nötig,« meinte der Amerikaner geringschätzig. »Eine kleine Stadt dies Ebershofen – sehr klein!«

»Ja, mit Neuyork kann es sich allerdings nicht messen,« sagte der Baumeister boshaft. »Aber wir haben wenigstens eine Sehenswürdigkeit – das neue Rathaus!«

Der Fremde nickte. »Ich habe es gesehen.«

»Und den Kopf dazu geschüttelt. Meine Hochachtung, Mr. William – Sie haben ein Urteil.«

»Der Plan ist also nicht von Ihnen?«

»Nein, die Ehre darf ich leider nicht beanspruchen. Er stammt von einem der großen Herren im Baufach, Geheimer Regierungsrat und so weiter. Die Stadt hat es sich etwas kosten lassen. Ich bin nur Leiter der Ausführung, aber die Geschichte kommt nicht vom Fleck. Wir bauen nun schon im zweiten Jahre daran.«

»An diesem kleinen Werk?« William zuckte verächtlich die Achseln. »Bei uns ist das in drei Monaten fertig.«

»Das glaube ich! Bei Ihnen geht ja alles mit Dampf. Aber bei uns, da heißt es, immer hübsch langsam, hübsch bedächtig. Da hat die Sache erst so und so viel Instanzen durchzumachen und dann ist sie noch lange nicht fertig. Erst schreibt sich noch ein halbes Dutzend Schreiber die Finger wund. Jeder Arbeiter muß erst bewilligt, jeder Mauerstein erst gebucht werden. Fängt man dann endlich an, dann reicht wieder das Geld nicht, dann heißt es sparen und nochmals sparen. Überall Bedenken – Schikanen – Kleinlichkeitskrämerei – man möchte aus der Haut fahren!«

Der Amerikaner hörte aufmerksam zu, aber er verstand die letzte Wendung offenbar nicht ganz, denn er fragte ernsthaft: »Warum fahren Sie nicht aus der Haut?«

»Weil das eine sehr unangenehme Prozedur ist!« rief Hermann ärgerlich. »Haben Sie es schon einmal probiert?«

»Nein. Ich meine – warum bleiben Sie bei diesem kleinen Werk? Sie waren doch früher in Berlin.«

Siegwart stutzte, er wunderte, sich, daß der Fremde davon wußte, aber er versetzte abweisend: »Ja, früher! Aber ich bin schon vor einem Jahre fortgegangen.«

»Warum sind Sie fortgegangen?«

»Das ist meine Sache, das geht keinen anderen an!«

Die Antwort klang ebenso unhöflich als ungeduldig, aber der Amerikaner ließ sich nicht abschrecken. Seine scharfen grauen Augen richteten sich fest auf den Baumeister, als er ruhig sagte: »Ich wünsche es zu wissen.«

»Und ich wünsche nicht, es mit Ihnen zu erörtern!« rief Siegwart, gereizt durch diese Zähigkeit. »Was verschafft mir denn überhaupt die Ehre Ihres Besuches? Wir kennen uns ja gar nicht. Darf ich fragen, was Sie eigentlich zu mir führt?«

Der Fremde deutete auf den offenen Schrank, in dem die Mappen lagen.

»Das sind vermutlich Ihre Studien, sehr zahlreiche, wie es scheint. Ich wünsche, sie kennen zu lernen.«

Der Baumeister war so verblüfft über dies Verlangen, daß er im ersten Augenblick gar keine Antwort fand, dann aber lachte er spöttisch aus.

»Ich bedaure! Meine Studien sind nicht für den ersten besten da.«

»Ich bin nicht der erste beste,« sagte William gelassen.

»Gleichviel, ich gebe sie keinem Fremden preis. Ich habe einmal damit eine unangenehme Erfahrung gemacht, seitdem bin ich vorsichtig geworden. Was gehen Sie denn überhaupt meine Studien und Pläne an, Mr. William? Wollen Sie sich vielleicht hier in Ebershofen niederlassen und sich eine Villa bauen?«

Die Frage wurde im Spott gestellt, aber der Amerikaner schien sie ernsthaft zu nehmen. Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin nur vorübergehend in Europa. Für uns ist das nichts. Enge, kleine Verhältnisse, gar kein Boden für große Unternehmungen! Wir sind ihm weit voraus, diesem kleinen Deutschland – sehr weit!«

»Oho!« fuhr der Baumeister mit vollster Heftigkeit aus. »Schimpfen Sie gefälligst nicht über Deutschland – das verbitte ich mir in meinem Hause!«

Der Fremde sah ihn ganz erstaunt an.

»Das haben Sie ja vorhin auch getan!«

»Das kann ich auch, dafür bin ich ein Deutscher!« rief Siegwart, der immer hitziger wurde. »Ich und mein Vaterland, wir wissen doch, wie wir miteinander stehen. Aber wenn sich ein anderer untersteht, ein Wort dagegen zu sagen, dann soll ihn ein Kreuzhimmeldonnerwetter –«

»Mr. Siegwart, Sie werden sehr grob,« unterbrach ihn William ruhig.

»Freut mich, wenn Sie das merken!« rief Hermann, auf das äußerste gereizt.

Er war aufgesprungen und erwartete nun selbstverständlich eine entrüstete Verabschiedung des Gastes, aber dessen scharfer, kühl beobachtender Blick ruhte noch immer auf seinem Gesichte. Dann erhob er sich ohne alle Hast und sagte mit derselben unzerstörbaren Ruhe, die er während des ganzen Gesprächs gezeigt hatte: »Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Mr. Siegwart. Sie interessieren mich – ich werde wiederkommen!«

Damit nahm er seinen Hut vom Tische und ging mit voller Gelassenheit zur Tür hinaus.


Schloß Ravensberg und die Herrschaft gleichen Namens, die aus mehreren zusammenhängenden Gütern und einem ausgedehnten Forst- und Jagdrevier bestand, lag nur eine Stunde von Ebershofen entfernt. Sie gehörte dem alten Grafengeschlecht, das einst weit verzweigt und reich begütert, jetzt nahe am Erlöschen war. Auch mit dem Reichtum war es bergab gegangen. Leichtsinnige Wirtschaft und Verschwendung, die Gewohnheit, auf großem Fuße zu leben, als die Mittel längst nicht mehr vorhanden waren, hatten das einst so große Vermögen verschlungen. Der jetzige Herr von Ravensberg hatte es schon verschuldet von seinem Vater übernommen und dann das Seinige getan, um es vollends zu belasten.

Graf Bertold hatte eine etwas stürmische Vergangenheit hinter sich und hieß in seiner Jugend nicht umsonst »der tolle Ravensberg«. Er machte dem Namen Ehre. Mit einer glänzenden Persönlichkeit, einem leidenschaftlich rücksichtslosen Temperament begabt, siegte er überall, zumal bei den Frauen. Und er nahm das hin mit dem ganzen Übermut eines vom Glück Verwöhnten, ohne danach zu fragen, daß er oft genug fremdes Glück dabei vernichtete.

Nur einmal war es ernst geworden, so ernst, daß die ganze Familie darüber in Besorgnis geriet. Graf Bertold verliebte sich in die junge Gesellschafterin seiner Mutter, eine arme bürgerliche Waise, die – von befreundeter Seite empfohlen – in das Haus gekommen war. Er, der sonst eine nur allzu hohe Meinung von seinen Standesvorrechten hatte, war diesmal drauf und dran, sie sämtlich über den Haufen zu werfen. Er wollte seiner Familie Trotz bieten, sich heimlich mit der Geliebten trauen lassen und was der tollen Ideen mehr waren. Zum Glück kam man noch rechtzeitig dahinter und griff mit vollster Energie ein.

Der junge Graf wurde zur Vernunft gebracht und auf Reisen geschickt, und die Gesellschafterin verschwand aus dem Schlosse. Der Liebesroman endete, wie so viele andere, mit dem Auseinandergehen. Bertold übernahm nach dem Tode seines Vaters Ravensberg und vermählte sich bald daraus standesmäßig, mit einer Dame aus altadeligem Hause, die ihm denn auch den ersehnten Erben und Stammhalter schenkte. –

Das alles lag freilich weit zurück. Die Gräfin war seit zehn Jahren tot, der Sohn herangewachsen, und der Graf hatte sich in späteren Jahren der Politik zugewendet. Er galt als eine der festesten Stützen der konservativen Partei, als ihr energischster Vertreter im Herrenhause, dessen erbliches Mitglied er war. Der Verfall seines Vermögens schritt dabei allerdings immer weiter fort. Er war längst nur noch dem Namen nach Herr auf seinen Gütern, deren Schuldenlast sich immer mehr häufte. Aber sich einschränken, den Verhältnissen Rechnung tragen und die Rolle des großen Standesherrn aufgeben, die er sein Leben lang gespielt hatte, das gab es nicht für den Grafen Ravensberg. Er behauptete sich in dieser Rolle, bis das drohende Gespenst des Ruins unmittelbar vor ihm stand. Da hatte er nach der Hilfe gegriffen, die sich ihm bot, und zum erstenmal seinen Stolz gebeugt. Er hatte seinen einzigen Sohn mit Alice Morland vermählt und damit sich und seine Herrschaft gerettet.

Wenige Monate nach der Verlobung hatte die Hochzeit in Neuyork stattgefunden, und dann traten die Neuvermählten ihre Hochzeitsreise an – eine Weltreise natürlich, die über ein Jahr dauerte. Sie gingen nach China und Japan, nach Indien und Ägypten und kehrten über Italien und Frankreich nach Berlin zurück. Dort war die junge Gräfin bei Hofe vorgestellt worden und hatte mit ihrem Reichtum und ihrer Schönheit eine erste Rolle gespielt in der Gesellschaft. Dort hatten sie auch den Winter zugebracht und kamen jetzt erst nach Ravensberg, das von der gräflichen Familie nur als Sommersitz benutzt wurde. Sie pflegte dann stets bis zur Jagdzeit zu bleiben, die regelmäßig eine größere Anzahl Jagdgäste dort vereinigte.

Das Schloß war einer jener alten feudalen Herrensitze, wie sie sich nur noch ganz vereinzelt in diesem Teile des Landes fanden. Ein weitläufiger Bau, durchaus nicht künstlerisch schön, aber imposant in seiner trotzigen Eigenart. Es bewahrte im Innern mit seinen getäfelten Zimmern, gewölbten Gängen und gewundenen Treppen in der Tat noch ein Stück Mittelalter. Von der breiten steinernen Terrasse, die sich an der Rückseite hinzog, hatte man den Ausblick über den etwas verwilderten, aber sehr umfangreichen Park, und fast unmittelbar dahinter begannen die Forsten, in denen die eigentliche Schönheit und der Reichtum der Herrschaft lag.

Auf der Terrasse saßen Graf Ravensberg und sein Sohn. Der alte Graf stand bereits in der Mitte der Fünfzig, war aber immer noch eine prächtige Erscheinung. Eine hohe Gestalt mit festen, stolzen Zügen, die einmal sehr schön gewesen sein mußten. Das ergraute Haar war noch dicht und voll, und in den blauen Augen blitzte ein beinahe noch jugendliches Feuer. Die Jahre hatten dem Manne nichts anhaben können. Er machte noch den Eindruck vollster Lebenskraft.

Um so unbedeutender erschien sein Sohn neben ihm, mit den weichen, müden Zügen. Er sah blaß und abgespannt aus, obgleich er in diesem Augenblick lebhaft sprach. Ein Bericht aus Neuyork in der Zeitung, die auf dem Tische lag, hatte den Anlaß zu dem Gespräch gegeben. Bertold hatte die Stadt kennen gelernt, als er hinüberfuhr, um seine Braut zu holen, und sagte eben: »Es ist eine ganz andere Welt da drüben, ich versichere es dir, Papa. Unser gewohnter Maßstab läßt sich gar nicht anlegen an diese Verhältnisse, die immer ins Riesenhafte gehen. Ich habe mir auch Morlands Tätigkeit nicht so großartig vorgestellt. In seinen Bureaus kreuzen sich Hunderte von Fäden, begegnen sich alle möglichen Interessen. Da gründeten sie eben wieder eine Ortschaft an einer Station der neuen westlichen Bahn. Die Terrainkäufe waren eben erst abgeschlossen, und schon stand ein ganzer Stab von Architekten bereit mit Plänen und Entwürfen. Ich bin überzeugt, in zehn Jahren haben sie eine ganze Stadt da hervorgestampft aus dem Boden. Und Morland steht in der Mitte, hält alles in seiner Hand, leitet und überwacht alles. Es schwindelt einem förmlich bei dieser unglaublichen Arbeitskraft.«

Ravensberg hörte schweigend zu. Er hatte der Hochzeit seines Sohnes nicht beigewohnt. Die politischen Verhältnisse – es fanden gerade Neuwahlen statt – hatten ihm den Vorwand gegeben, fernzubleiben. Jetzt erwiderte er kühl: »Ja, im Ringen um den Erwerb sind sie groß da drüben. Mich wundert nur, daß Morland trotzdem Zeit findet, nach Europa zu kommen.«

»Er wollte Alice wiedersehen, und schließlich braucht er auch einmal Ruhe und Erholung von dieser Hetzjagd. In der letzten Zeit war er ja immer auf dem Wege zwischen Neuyork und Hilltown – so heißt die neue Gründung – und scheint sich dabei doch etwas zu viel zugemutet zu haben. Deshalb hat er sich frei gemacht auf einige Monate – was er so nennt. Seine Unternehmungen lassen ihn ja nie ganz los.«

»Das scheint so. Sein Sekretär, der ihm voranging, hat sich häuslich eingerichtet und auch Schreibmaschinen und Schreiber mitgebracht. Es sieht aus in den Zimmern da oben, als sollte Ravensberg eine Filiale des Neuyorker Geschäftshauses werden.«

»Papa!« mahnte Bertold mit leisem Vorwurf.

»Willst du vielleicht, daß ich das als eine besondere Ehre betrachten soll?«

»Wir verdanken es doch diesem ›Geschäftshause‹, daß Ravensberg jetzt schuldenfrei ist und die sämtlichen Einkünfte zu deiner Verfügung stehen.«

»Und die Hypotheken lauten sämtlich auf den Namen deiner Frau,« ergänzte der Graf mit vollster Schärfe. »Die Rente, die du außerdem beziehst, gibt dir die Freiheit, standesmäßig zu leben – gewiß, aber die Mitgift selbst ist festgestellt, so niet- und nagelfest, daß es gar nicht möglich ist, an das Kapital zu kommen. Du hättest auf diese Bedingungen nicht eingehen dürfen – niemals!«

»Dann hätte Morland sein Wort zurückgezogen – und wir?«

Ravensberg machte eine ungeduldige Bewegung.

»Nun gut, wenn du dich fügen mußtest, im Drange des Augenblickes, so mußten diese geradezu entwürdigenden Bedingungen später aufgehoben werden. Was die Frau besitzt, gehört dem Manne. Mit einem Federzug konnte Alice es dir übertragen. Aber du verstehst es eben nicht, sie zu beeinflussen.«

»Alice läßt sich nicht beeinflussen,« sagte Bertold leise. »Sie hat die ganze Selbständigkeit der Frauen ihres Landes.«

»Und kennt sehr genau die Macht, die dieser Ehevertrag in ihre Hände legt. Sie ist eben die Tochter ihres Vaters, und diese Emporkömmlinge wissen zu rechnen.«

»Papa – Alice ist meine Frau!«

Der Vater runzelte die Stirn bei dieser halb bittenden Mahnung.

»Das weiß ich, daran brauchst du mich nicht erst zu erinnern. Sie trägt unseren Namen und ist eine Gräfin Ravensberg, aber sie fühlt sich immer noch als Alice Morland. Sie hat kein Verständnis für unsere Lebensinteressen, will es auch gar nicht haben. Was ist ihr ein altes, historisches Geschlecht, ein Name, der seit Jahrhunderten geglänzt hat – ein Schmuck, mit dem sie gelegentlich prahlt, nach dem sie gegriffen hat aus Eitelkeit, um nicht zurückzustehen hinter den anderen. Sie und ihr Vater fühlen sich uns vollkommen ebenbürtig mit ihren Millionen.«

»Und in den Augen der Welt sind sie es ja auch,« versetzte Bertold mit aufwallender Bitterkeit. »Du willst es noch immer nicht einsehen, daß das Geld in unserer Zeit eine Macht geworden ist, der sich alles beugt. Haben wir es doch auch tun müssen.

»Beugen?« Graf Ravensberg richtete sich wie beleidigt empor. »Du botest ihr doch mehr mit deiner Hand, als sie dir geben konnte. Ich habe dich zu dieser Heirat bestimmt, denn es war die einzige Rettung für uns. Doch jetzt bist du der Gatte, der Herr in deinem Hause – solltest es wenigstens sein. Aber diese kluge, kühle Amerikanerin hat es verstanden, dich zum gehorsamen Ehemann zu machen. Du warst eben verliebt in sie, bist es noch, und sie hat nie geruht, das zu erwidern.«

»Weil sie überhaupt nicht empfinden kann.«

»Wenigstens nicht für dich.«

»Da tust du ihr unrecht,« sagte Bertold erregt. »Was ist ihr nicht alles genaht auf unseren Reisen, in der Gesellschaft, überall wurde ihr gehuldigt – sie bleibt immer kühl und gleichgültig. Die Kälte liegt nun einmal in ihrer Natur.«

Ravensberg zuckte die Achseln.

»Möglich! Es liegt nur etwas in ihren Augen, was zu dieser Kälte und Gleichgültigkeit nicht passen will. Sie hat es eben noch nicht der Mühe wert gehalten, sich für irgend etwas tiefer zu interessieren, und du warst nicht der Mann, sie das zu lehren. Wenn sie einmal aufwacht – nimm dich in acht!«

Der junge Graf war bleich geworden bei dieser rücksichtslosen Bemerkung, aber er erwiderte nichts. Was da ausgesprochen wurde, das lag ja längst wie eine dunkle Furcht in seinem Innern. Er sah überhaupt mit geheimer Sorge diesem Zusammensein von Vater und Schwiegervater entgegen. Damals, nach der Verlobung, war Morland mit seiner Tochter nur einige Wochen lang in Grafenau gewesen bei den Verwandten, um Ravensberg kennen zu lernen und die sehr verwickelten Verhältnisse dort zu ordnen. Der alte Graf wußte zu gut, was für ihn und seinen Sohn auf dem Spiele stand, um dem Amerikaner nicht die vollste Rücksicht zu erweisen, und dieser, in dessen Wünschen die Heirat ebenfalls lag, erwiderte das. Jetzt, wo alles endgültig geordnet und festgestellt war, wo man monatelang unter einem Dache wohnen sollte, gestaltete sich die Sache vielleicht ganz anders.

Das Schweigen hatte einige Minuten gewährt, da trat die junge Gräfin aus der geöffneten Glastür, die auf die Terrasse führte. Sie war im Reitkleid und hielt die Reitgerte noch in der Hand.

Alice Ravensberg hatte sich nicht verändert. Es war noch dieselbe vornehm kühle Erscheinung, mit dem Ausdruck des vollsten Selbstbewußtseins, aber die Frau war vielleicht noch schöner als das zwanzigjährige Mädchen. Sie trat zu den beiden Herren, und wie das Verhältnis zwischen ihr und dem Schwiegervater auch sein mochte, die äußeren Formen wurden streng gewahrt. Der Graf erhob sich ritterlich, um sie zu begrüßen, und sie ließ die Rücksicht der Tochter nicht vermissen ihm gegenüber.

»Wir werden wohl Gäste zu Tisch haben!« sagte sie. »Mein Vater ist nach Grafenau gefahren und hofft unsere Verwandten mitzubringen.«

»Ich weiß, Bertold hat es mir bereits gesagt,« versetzte Ravensberg flüchtig. »Du bist ausgeritten?«

»Jawohl, Papa. Ich war am ›Waldblick‹, bei dem Jagdhause.«

Bertold biß sich auf die Lippen. Er hatte heute morgen seiner Frau diesen Spazierritt vorgeschlagen, aber es war ihr zu heiß gewesen. Jetzt, am frühen Nachmittag, war es sicher nicht kühler, sie wünschte eben allein zu reiten und der Gemahl war bereits hinreichend vertraut mit solchen Launen.

Die junge Frau hatte zwischen den beiden Herren Platz genommen und spielte mit der Reitgerte, während sie bemerkte: »Ich lerne jetzt erst Ravensberg kennen. Schön ist es ja, aber so einförmig! Wälder und nichts als Wälder! Man ist wie eingemauert in diesen endlosen Forsten, wie losgelöst von der Welt da draußen.«

»Ich dächte, wir hätten alle genug von der Welt gehabt in diesem Winter,« warf der Graf ein. »Ich sehnte mich längst schon nach meinem stillen Ravensburg. Es ließ sich ja nicht vermeiden, da Alice bei Hofe vorgestellt wurde und überhaupt erst in unsere Gesellschaft eintrat, aber das war ja ein förmlicher Wirbel, in dem man gar nicht zur Besinnung kam.«

»Ja, und man wird so müde dabei,« sagte Bertold, indem er den Kopf in die Hand stützte. Seine Frau streifte ihn mit einem mitleidigen Blick, aber es war sehr kühl, dies Mitleid.

»Armer Bertold! Du mit deiner nervösen Anlage bist freilich nicht geschaffen dafür. Schon auf unserer Hochzeitsreise warst du fortwährend ermüdet und abgespannt und wärest am liebsten nach drei Monaten schon wieder heimgekehrt.«

»Nun, für mich wäre das auch nichts gewesen,« erklärte Ravensburg. »Ich bin ja früher, ehe ich mich der Politik ergeben hatte, oft und viel gereist, aber da lernte man wenigstens das Land kennen, das man sich zum Zielpunkt nahm. Ihr habt in einem Jahre die ganze Welt durchhetzt. Immer neue Länder und Menschen, immer neue Bilder und Eindrücke – das muß ja etwas Betäubendes haben.«

Alice lächelte, ihre elastische Natur kannte weder Ermüdung noch Betäubung.

»Man gewöhnt sich bald an diesen bunten Wechsel, aber schließlich wirkt er auch ermüdend, denn es ist immer dasselbe, Überall neue Dekorationen und Kostüme – die Menschen bleiben sich gleich. Wenn man wirklich glaubt, einmal etwas Interessantes, Außergewöhnliches gefunden zu haben – es hält ja nie stand. Sobald man versucht, ihm näher zu treten, zeigt es ein nüchternes, alltägliches Gesicht.«

»Eine etwas reife Weisheit für eine Frau von zweiundzwanzig Jahren,« bemerkte der Graf kalt.

»Bei uns tritt man früh in die Welt ein, Papa, und weiß Bescheid mit dem Leben in einem Alter, wo die jungen Mädchen bei euch noch in vollster Abhängigkeit gehalten werden. Ich habe schon sehr viel gesehen und erfahren – erlebt eigentlich noch nichts!«

»Ich dächte, Alice, du hättest dich vermählt!«

Die scharfe Mahnung aus dem Munde ihres Schwiegervaters rief den Trotz der jungen Frau wach. Sie versetzte mit absichtlicher Nachlässigkeit: »Gewiß, das tut jede Frau, wenn sie überhaupt zu wählen hat, und es ist ja auch ein gewisser Abschnitt in unserem Leben – ein wirkliches Erlebnis denke ich mir anders.«

Bertold wollte vermittelnd eingreifen, denn er sah eine Wetterwolke aufsteigen auf der Stirn seines Vaters. Zum Glück kam diesmal die Ablenkung von einer anderen Seite. Ein Diener erschien aus der Terrasse und meldete, Herr Baumeister Siegwart wünsche den Herrn Grafen zu sprechen. Dieser fuhr lebhaft auf.

»Siegwart? Ja, richtig! Ich hatte ihm diese Zeit bestimmt. Du weißt es ja, Bertold, daß er jetzt in Ebershofen ist, seit etwa einem Jahre.«

Er erhob sich und ging. Alice hatte kaum Notiz genommen von der Meldung. Baumeister Siegwart? Der Name war ihr völlig fremd, sie fragte nur gleichgültig: »Wollt ihr bauen, hier im Schloß?«

»Nein, es handelt sich nur um einen Schützling meines Vaters,« erklärte Bertold, »den Sohn unseres einstigen Oberförsters. Papa hat sich des verwaisten Knaben angenommen, ihn erziehen und studieren lassen. Er steht in großer Gunst bei ihm.«

»So?« Die Sache interessierte die junge Frau nicht im mindesten und sie äußerte abbrechend: »Ich werde mich jetzt wohl umkleiden müssen zu Tische. Ich bin ja noch im Reitanzuge und unsere Gäste können bald hier sein.«

Bertold sah ihr nach, als sie über die Terrasse schritt, schlank und stolz – die Herrin von Ravensberg. Sie hatte ja doch das alte wankende Grafenhaus gestützt und hielt es aufrecht mit ihrem Gelde, und der Sohn empfand das vielleicht noch tiefer und schwerer als der Vater.

Sich verstehen und lieben lernen! Er hatte vergebens darauf gehofft. Sie waren sich fremd geblieben in den nunmehr zwei Jahren ihrer Ehe und immer fremder geworden. Hätte er die energische Natur seines Vaters besessen, vielleicht hätte Alice dann etwas anderes für ihn gehabt, als diese mitleidige Schonung, in der immer etwas von Verachtung lag. Der arme Bertold! Das mußte er oft genug hören, und doch liebte er diese schöne, kalte Frau, die bei ihrem Eintritt in seine Kreise überall Triumphe gefeiert hatte, deren Besitz ihm von allen Seiten beneidet wurde. Sie war sein – gewiß, und sie hatte seinem Vater und ihm den Besitz von Ravensberg gerettet – und doch, als er sich jetzt zurücklehnte und mit dem Ausdruck tiefster Bitterkeit die Lippen zusammenpreßte, da sah man es, daß der Erbe von Ravensberg nichts weniger als glücklich war.

Das Arbeitszimmer des Grafen befand sich in dem großen Eckturm. Ein hohes, düsteres Gemach, mit tief in der Mauer liegenden Fenstern. Ein paar seltene Geweihe am Wandgetäfel und ein Gewehrschrank mit kostbaren Jagdwaffen verrieten den leidenschaftlichen Jäger. Die Möbel stammten zum Teil noch aus der historischen Zeit des Schlosses, der Schreibtisch besonders war ein Meisterstück alter Schnitzkunst.

Am Fenster stand Hermann Siegwart und wandte sich rasch um, als der Schloßherr eintrat. Er ging ihm einige Schritte entgegen und verneigte sich.

»Willkommen, Hermann,« sagte Ravensberg, ihm die Hand reichend. »Wir haben uns lange nicht gesehen, nur allzulange nicht. In Berlin bekam ich dich selten genug zu Gesichte und in Ebershofen warst du wie verschollen für mich. Du weißt es doch, daß ich nur im Sommer hier bin und hast dich nicht einmal persönlich verabschiedet, als du fortgingst.«

»Ich war ja bei Ihnen, Herr Graf,« verteidigte sich der Baumeister. »Aber ich traf Sie nicht an.«

»So hättest du wiederkommen müssen, aber du zogst eine höchst korrekte, schriftliche Abmeldung vor.«

»Ich wollte Sie nicht belästigen. Sie sind ja in Berlin von so vielen Seiten in Anspruch genommen.«

»Belästigen – Unsinn! Du weißt doch, daß ich für dich immer Zeit habe. Nun komm, laß uns niedersitzen und plaudern, damit ich endlich einmal wieder Näheres höre von dir.«

Es lag ein warmer, herzlicher Klang in den Worten, so gar nichts von der Art, wie ein hoher Gönner mit seinem Schützling spricht, überhaupt nichts von der sonstigen Art des Grafen. Er wußte sich jedem unnahbar zu machen, der ihm nicht für ebenbürtig galt. Siegwart schien aber diese Auszeichnung nicht recht zu würdigen, er verneigte sich nur, als er dem Schloßherrn gegenüber Platz nahm.

»Nun, wie steht es mit deinen Arbeiten?« fuhr dieser fort. »Hat die italienische Reise dir schon Früchte getragen? Du warst immerhin ein Jahr dort und sechs Monate in Rom. Ich fand das aber zu wenig für ein ernstliches Studium und eigentlich hättest du noch nach Paris gehen müssen.«

»Der Preis, dem ich das Stipendium verdankte, war nur auf ein Jahr bemessen,« warf der Baumeister ein. »Ich mußte mich damit einrichten.«

»Du mußtest? Das heißt, du warst wieder einmal eigensinnig, wie stets in diesem Punkte. Ich bot dir ja an, die Summe zu verdoppeln, wollte dir überhaupt die Mittel zu der ganzen Reise zur Verfügung stellen, aber du weigertest dich mit vollster Entschiedenheit. Und aufzwingen konnte ich es dir doch nicht.«

Der Ton verriet, daß die damalige Ablehnung den Grafen verletzt hatte, aber Siegwart schien das nicht zu fühlen, denn er antwortete ruhig: »Für mich war es vollkommen ausreichend und ich wollte Ihre Güte nicht mißbrauchen. Sie haben schon Opfer genug für mich gebracht.«

»Torheit! Du solltest doch wissen, daß das für mich keine Opfer sind, und ein längerer Aufenthalt im Auslande wäre dir sehr nützlich gewesen. Nun, jetzt stehst du ja auf eigenen Füßen, du baust den Ebershofenern ihr neues Rathaus. Es wird allerdings nicht viel gesehen und bemerkt werden in dem kleinen Nest, und die Mittel werden wohl auch nur knapp bemessen sein, aber es ist immerhin ein Anfang. Hast du mir den Plan mitgebracht? Es interessiert mich natürlich, dein erstes selbständiges Werk kennen zu lernen.«

Um die Lippen Siegwarts zuckte es bei dieser ganz selbstverständlich klingenden Frage, und es vergingen einige Sekunden, ehe er antwortete: »Sie sind im Irrtum, Herr Graf. Der Plan stammt nicht von mir, sondern von dem geheimen Regierungsrat Berger. Er hat als Staatsbeamter keine Zeit, den Bau persönlich zu leiten, und da habe ich es übernommen.«

Ravensberg sah ihn mit dem äußersten Erstaunen an.

»Nicht einmal dein eigenes Werk? Und deshalb hast du ein volles Jahr hier in dem kleinen Landstädtchen gesessen? Hermann, ich begreife dich wirklich nicht!«

»Es fand sich grade keine andere Stellung. Als Anfänger hat man keine Wahl und muß sich bescheiden.«

Der Graf schien die Sache immer noch nicht zu begreifen.

»Warum bist du denn nicht in Berlin geblieben?« fragte er. »Du hattest ja die Stellung bei Guntram und damit Anregung und Förderung von allen Seiten. Und wenn du sie aufgeben wolltest, so stand dir seine Empfehlung überall zur Seite.«

»Darauf konnte ich leider nicht rechnen,« sagte Hermann mit erzwungener Ruhe. »Ich hatte mich überworfen mit dem Baurat.«

Ravensberg zog unwillig die Brauen zusammen.

»Überworfen? Der Schüler mit dem Lehrer? Du warst noch jung, du standest erst im Anfang deiner Laufbahn – da beugt man sich der höheren Einsicht des Meisters in künstlerischen Dingen.«

Er nahm offenbar nur eine derartige Meinungsverschiedenheit an. Siegwart blieb die Antwort schuldig. Es kam kein Wort der Verteidigung von seinen Lippen – wozu? Er wußte ja, seiner Erklärung würde nicht geglaubt werden; er hatte das oft genug erprobt. Sollte er auch hier wieder jenes ungläubige Achselzucken erleben, das er nur zu gut kannte, hier, wo man ihm sagte, daß er sich der höheren Einsicht des »Meisters« hätte beugen müssen? Um keinen Preis! Er schwieg, aber seine Hand krampfte sich in die Polster des Lehnsessels, als stehe er eine Folter aus bei diesem Examen.

»Du scheinst deine Kräfte doch einigermaßen überschätzt zu haben, als du durchaus allein vorwärts wolltest,« hob der Graf wieder an. »Doch das ist ein häufiger Fehler der Jugend, den du bereits gebüßt hast, wie es scheint. Du hast die Stellung in Ebershofen wohl nur aus Trotz angenommen und darfst auf keinen Fall hier bleiben. Das ist ja kein bloßer Stillstand, das ist ein Rückschritt. Geh nach Berlin zurück oder, besser noch, geh nach Paris und hole das damals Versäumte nach. Ich stelle dir die Mittel zur Verfügung, solange du willst. Und wenn du dich nach der Rückkehr in irgendeiner Weise selbständig machen willst, so wird sich auch darüber reden lassen.«

Das Anerbieten war großmütig genug, die Nachsicht eines gütigen Wohltäters, der selbst den Starrsinn seines Schützlings verzeiht, aber der Baumeister war offenbar nicht empfänglich dafür, denn seine Haltung wurde nur noch starrer und abweisender, als er erwiderte: »Ich danke Ihnen, Herr Graf, aber Sie müssen es schon verzeihen, wenn ich auch diesmal keinen Gebrauch mache von Ihrer Güte. Meine Stellung ist bescheiden, aber sie genügt mir einstweilen, denn sie läßt mir Zeit zu anderweitigen Studien. Ich bin vollkommen zufrieden.«

Ravensberg sprang auf und jetzt sprühten seine Augen im hellen Zorn.

»Nun so bleib und verschütte dir deine ganze Zukunft, aus Trotz, aus Eigensinn, denn weiter ist es ja doch nichts. Ich bin es nachgerade müde, immer und immer wieder ein Nein von dir zu hören! Ich hatte mehr von dir erwartet, Hermann! Aber wenn du mit einer derartigen untergeordneten Stellung zufrieden bist, wenn dein Ehrgeiz keinen höheren Flug nimmt, dann taugst du in der Tat nicht für die größere Laufbahn, die ich dir öffnen wollte. Wer am Boden bleiben will, der wird nie emporsteigen. So geh und bleib – in Ebershofen.«

Es war eine Entlassung in vollster Ungnade, aber Siegwart tat nicht das Geringste, um sie zu mildern. Er verbeugte sich stumm, aber sehr tief und förmlich und ging. Als die Tür sich hinter ihm schloß, wandte der Graf sich um, mit einer halb unwillkürlichen Bewegung, als wolle er ihn zurückrufen.

»Hermann!« Er unterbrach sich plötzlich und stampfte mit dem Fuße. »Nein! Das fehlte noch, daß ich dem Starrkopf wieder nachgebe, wie so oft schon! Er soll und muß diesmal zur Vernunft kommen.«

Wer den Grafen Ravensberg kannte, mit seiner reizbaren, herrischen Natur, die selbst von dem eigenen Sohne nie den geringsten Widerspruch duldete, der mußte sich wundern, wie schnell sein Zorn jetzt verflog.

»Eisenkopf!« murmelte er noch einmal, aber es legte sich dabei wie ein Lächeln auf seine Züge, während er zum Schreibtisch trat und die dort liegenden Postsachen durchzusehen begann.

Hermann Siegwart hatte rasch das anstoßende Gemach durchschritten. Im Vorzimmer blieb er stehen und atmete auf, als sei eine Last von ihm genommen. Diese Audienzen, zu denen er nie ungerufen kam und doch kommen mußte, wenn er gerufen wurde, waren ein fast unerträglicher Zwang für ihn. Er machte sich oft genug Vorwürfe über seine Undankbarkeit gegen den Mann, dem er seine ganze Erziehung verdankte, der ihn mit Güte und Wohltaten überschüttet hatte, aber er konnte hier nicht dankbar sein. Sobald er es versuchte, bäumte sich etwas in ihm auf, wie ein dunkler, feindseliger Instinkt, und je mehr er versuchte, darüber Herr zu werden, desto lauter sprach diese rätselhafte Empfindung. Schon seit seinen Knabenjahren kämpfte er vergebens damit. Er wäre vorhin eher gestorben, ehe er den wahren Grund seines Zerwürfnisses mit Guntram bekannt hätte. Und nun wieder annehmen, wieder neue Wohltaten empfangen – nein! Mochte es gehen, wie es eben ging. Er wollte seine Selbständigkeit wahren, um jeden Preis.

Der Baumeister war auf dem Rückwege, als ihm dicht beim Schlosse, am Torwärterhäuschen, ein herrschaftlicher Wagen begegnete. Sein Blick streifte flüchtig die Insassen, zwei Herren und eine Dame. Auf einmal aber stutzte er und wandte sich an den Torwart, der vor der Tür seines Häuschens stand und dem im raschen Trabe vorüberrollenden Wagen eine tiefe Verbeugung gemacht hatte, mit der Frage: »Wer waren die Herrschaften?«

»Die Besitzer von Grafenau, Herr und Frau von Berndt,« lautete die Antwort.

»Und der andere Herr, auf dem Vordersitz, neben der Dame?«

»Das war der Vater unserer jungen Gräfin, Mr. William Morland,« sagte der Mann wichtig. »Er ist gestern angekommen.«

Um Siegwarts Lippen zuckte ein unterdrücktes Lachen. Er grüßte kurz und ging.

William Morland also, der amerikanische Millionär! Und den hatte er gestern in so drastischer Weise verabschiedet. Aber was in aller Welt veranlaßte denn diesen Amerikaner, sich mit seinem Vornamen einzuführen und sein Inkognito so hartnäckig zu wahren? Der Geburtsname der Gräfin war doch bekannt genug in Ebershofen, um ihm überall die nötige Rücksicht zu sichern.

Anfangs sah Hermann nur die komische Seite des Vorfalls, dann aber kam der Ärger über die dumme Geschichte. Da saß er nun seit einem Jahre in der weltfernen Einsamkeit, mußte eine Art Fronarbeit leisten und grollte mit dem Schicksal, das ihm keinen Ausweg zeigte. Und diesen Mann, der ihn unbegreiflicherweise in dieser Einsamkeit aufsuchte, der in seiner Hand vielleicht Hunderte von Fäden hielt, die in die Welt, in das Leben zurückführten, den warf er mit aller nur möglichen Grobheit zur Tür hinaus. Der kam gewiß nicht wieder!

»Nun ja, es war eine Dummheit,« sagte er endlich, wie zur Antwort auf den stummen Vorwurf in seinem Innern. »Ist nicht die erste, die ich gemacht habe, und wird auch nicht die letzte sein. Und übrigens war ich im Recht. Wenn irgendeiner sich untersteht, in meinem Hause auf mein Vaterland zu schimpfen, so wird er hinausgeworfen und wenn er zehnmal Millionär ist.«

Damit warf er trotzig den Kopf zurück und schlug den Weg nach Ebershofen ein.

Die Gäste waren inzwischen angelangt und von dem jungen gräflichen Ehepaar empfangen worden. Man plauderte noch eine Weile im Gartensalon. Aus einmal wandte Morland sich an seinen Schwiegersohn mit der Frage: »Sie haben vorhin den Baumeister Siegwart empfangen, Bertold?«

»Mein Vater hat ihn empfangen,« versetzte der junge Graf. »Er ist der Sohn eines unserer früheren Beamten. Sie kennen ihn? Wohl von Berlin her?«

»Nein, ich sah ihn gestern in Ebershofen.«

»Hast du denn in dem kleinen Orte angehalten, Papa?« fragte Alice. »Wir waren ganz überrascht, als du mit der Extrapost kamst, statt den Wagen einfach nach der Station zu beordern.«

»Ich hatte meine Gründe,« war die lakonische Antwort.

Der Kommerzienrat war aufmerksam geworden bei dem Namen.

»Baumeister Siegwart?« wiederholte er. »Ist der jetzt in Ebershofen? Freilich, in Berlin hatte er sich ja unmöglich gemacht.«

»Unmöglich – wieso?« fragte Bertold betroffen.

Herr von Berndt zögerte einige Sekunden mit der Antwort, dann sagte er: »Vielleicht sollte ich schweigen, aber da dieser Siegwart Beziehungen zu Ravensberg zu haben scheint, so ist es wohl besser, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Solche Elemente drängen sich nur zu gern an vornehme Bekanntschaften, um sie auszunützen. Es sind da ärgerliche Dinge vorgekommen. Sie bewundern ja auch meine Villa in Berlin.«

»Gewiß, da hat Baurat Guntram ein Meisterstück geschaffen.«

»Das ist auch meine Ansicht und so ziemlich die von ganz Berlin. Aber Herr Siegwart nahm den Plan als den seinigen in Anspruch.«

Bertold sah den Sprechenden an, als glaube er nicht recht gehört zu haben.

»Siegwart? Er ist doch der Schüler Guntrams gewesen, soviel ich weiß.«

»Eben deshalb. Er behauptete, den fertigen Plan in seinen Mappen gehabt und bei seinem Lehrer zurückgelassen zu haben, als er nach Italien ging. Es gehört allerdings eine kecke Stirn dazu, wenn ein junger Mensch, der noch nichts ist und nichts kann, in solcher Weise versucht, einen hervorragenden Architekten anzugreifen. Gleichviel, er hat es getan.«

»Unmöglich!« fuhr der junge Graf auf. »Und was sagte Guntram dazu?«

»Der sah die Sache viel zu milde an. Er lachte nur und meinte, man könne einem Manne von seiner Stellung doch nicht zumuten, dergleichen ernst zu nehmen. Siegwart sei von jeher ein exzentrischer Kopf gewesen. Er habe vielleicht wirklich ein ähnliches Motiv gehabt und sich daraufhin die Geschichte eingebildet – eine Art Größenwahn! Ich faßte es anders auf, als eine Art Erpressungsversuch, den man energisch hätte verfolgen müssen – aber dazu war der Baurat nicht zu bewegen.«

»Ein Erpressungsversuch gegen den eigenen Lehrer – erbärmlich!« sagte Alice mit der tiefsten Verachtung.

Ihr Vater hatte bisher kein Wort gesprochen, jetzt wandte er sich an seinen Schwager und bemerkte kühl: »Du nimmst natürlich Partei für Guntram, du bist ja seit Jahren befreundet mit ihm.«

»Aber William, hier kann doch von einer Parteinahme überhaupt nicht die Rede sein,« fiel Frau von Berndt ein. »Jeder Versuch, die Sache ernst zu nehmen, wäre eine Beleidigung für den Baurat. Du hast ihn ja bei uns kennen gelernt und kennst seine Stellung in Berlin. Was hat er dort nicht schon alles geschaffen!«

»Ja, viel zu viel! Er war einmal sehr in der Mode, das ist längst vorbei. Eure Villa ist ein geniales Werk, fällt aber ganz und gar aus seiner Art, denn was er sonst geschaffen hat, ist – Dutzendware.«

»Das ist denn doch ein sehr rücksichtsloses Urteil!« rief der Kommerzienrat verletzt.

Jetzt aber unterbrach ihn Bertold in erregtem Tone: »Die Sache scheint mir ganz unglaublich! Hermann Siegwart? Grade er! Ich kenne ihn ja doch seit seiner Knabenzeit, seine ganze Persönlichkeit widerspricht einer solchen Beschuldigung.«

Berndt zuckte die Achseln.

»Mein Gewährsmann ist Guntram selbst, also wohl eine unanfechtbare Quelle. Wir haben damals ausführlich darüber gesprochen. Er war übrigens schonend genug, die Sache nur in den Fachkreisen zu erörtern, und dort hat man den Herrn Baumeister selbstverständlich fallen lassen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als Berlin zu verlassen.«

Der Eintritt des alten Grafen machte dem Gespräch ein Ende. Er begrüßte die Verwandten seines Sohnes mit seiner gewohnten vornehmen Artigkeit, die in diesem Falle allerdings etwas Zurückhaltendes hatte. Man ging bald darauf zu Tische, vermied aber, wie auf stillschweigende Übereinkunft, die Berührung eines Themas, das nach allen Seiten hin Verstimmung zu erregen schien.


Grafenau konnte sich mit dem stolzen Ravensberg nicht messen. Es war ein Rittergut von mittlerer Größe, aber schön gelegen, denn die Gegend war hier viel freier und offener. Das Schloß, aus dem vorigen Jahrhundert stammend und ziemlich geschmacklos, lag auf einer Anhöhe, und von den Fenstern hatte man einen schönen Blick auf den Fluß, der breit und still dahinzog, auf das Dorf Grafenau, das wie eingebettet lag in Wiesen und Obstgärten, und weiter hinaus auf die Ravensberger Forsten, die wie eine einzige dunkle Masse den Horizont säumten.

Grafenau selbst hatte keinen großen Waldbestand. Während in Ravensberg eine Oberförsterei, verschiedene Unterförster und ein zahlreiches Jagdpersonal notwendig waren, genügte hier ein einziger Förster, der in Uhlenhorst wohnte und den der jetzige Gutsherr von seinem Vorgänger übernommen hatte.

Das kleine Jagdschlößchen lag mitten im Walde, ein alter Rokokobau, der wohl einmal sehr zierlich und graziös gewesen war. Jetzt stand er verwahrlost und dem gänzlichen Verfall nahe, wie ein verschollenes Andenken der Vergangenheit, mitten in der grünen Waldeinsamkeit. Baron Helfenstein, der jahrelang mit dem Ruin kämpfte, hatte kaum die dringendsten Ausgaben bestreiten können und kein Geld zur Erhaltung des Waldschlößchens, aus dem seine Vorfahren so oft zum fröhlichen Jagen hinausgezogen waren.

Jetzt hatte er selbst eine Zuflucht dort gefunden durch die Großmut des gegenwärtigen Besitzers von Grafenau. Ein Dach über dem Kopfe für den von Haus und Hof vertriebenen Mann und die Pension von seiner Dienstzeit in der Armee schützte ihn wenigstens vor dem Mangel. Mit seiner jungen Enkelin und einer alten Magd, die den Haushalt führte, verlebte er hier seine letzten Tage. Sonst wohnte nur der alte Forstmann mit seinem Jägerburschen in dem Schlößchen.

Das große Mittelzimmer, dessen Fenstertüren sich auf die Terrasse öffneten, zeigte noch überall die Spuren der einstigen Pracht. Die verblichenen Malereien an der Decke – geflügelte Amoretten, die irgend eine Göttin umschwebten –, die halb erblindeten in die Wand eingelassenen Spiegel mit ihren breiten, gleichfalls blind gewordenen Goldrahmen, der große Marmorkamin, dessen Bekleidung überall Risse und Sprünge zeigte – gehörten noch der früheren Glanzzeit an. Die vom Schloß herübergebrachten Möbel nahmen sich in dieser Umgebung freilich wunderlich aus. Sie waren auch schon alt und verblichen, denn die bessere Schloßeinrichtung war gleichfalls dem Konkurs zum Opfer gefallen. Überdies waren sie ganz wahllos hier- und dorthin gestellt. Man sah es überall, daß die ordnende Hand einer Frau fehlte.

In seinem großen Lehnstuhl am Fenster saß Baron Helfenstein. Er stand erst in der Mitte der Sechzig, machte aber mit seinem weißen Haar und den tief eingefallenen Zügen schon völlig den Eindruck eines müden, gebrochenen Greises. Ihm gegenüber saßen Graf Bertold und Gräfin Alice. Die Ravensberger hatten stets freundschaftlich mit ihren Gutsnachbarn verkehrt, die in viel bescheideneren Verhältnissen lebten, deren Geschlecht aber fast ebenso alt war wie das ihrige. Jetzt fühlten sie sich vollends verpflichtet, dem ins Unglück geratenen Standesgenossen alle nur möglichen Rücksichten zu erweisen. Der alte Graf war gleich nach seiner Ankunft in Uhlenhorst gewesen und heut war Bertold gekommen, um seine junge Frau vorzustellen.

Alice hatte nichts gegen den Besuch eingewendet. Sie kannte ja das Schicksal des einstigen Schloßherrn von Grafenau, dessen Stelle jetzt ihr Onkel einnahm, und fand die Rücksicht gleichfalls geboten. Aber diese Umgebung, wo die Spuren des einstigen Glanzes in so grellem Gegensatz standen zu der jetzigen Dürftigkeit, machte ihr einen beklemmenden Eindruck. Und der Anblick des alten Mannes, dessen Antlitz so deutlich die Spuren seelischen und körperlichen Leidens trug, peinigte sie förmlich. Es war das erste Mal, daß ihr, der im Glanz und Reichtum Erzogenen, ein solches Schicksal nahetrat.

Sie suchte eben nach einem Vorwande, um den Besuch abzukürzen, da wurde die Mitteltür geöffnet oder vielmehr aufgerissen. Mit lautem Jubel und wehenden Locken stürmte etwas herein und geradeswegs auf den alten Baron zu.

»Großpapa – Großpapa – da habe ich ihn! Den Fuchs, den Räuber, der uns die Hühner würgte – da ist er!«

Dabei wurde die Beute triumphierend geschwenkt und zu den Füßen des alten Herrn geworfen, der sich vergebens bemühte, den ungestümen Jubel zu mäßigen.

»Aber Traudl – siehst du denn nicht – wir haben Besuch.«

Traudl sah sich jetzt erst um. Sie gewahrte die Fremden und stieß einen Freudenschrei aus.

»Bertolt! Bist du endlich wieder da?«

»Ja, ich bin wieder da,« versetzte er lächelnd. »Und nicht allein, wie du siehst. Ich werde wohl die Vorstellung übernehmen müssen. Alice – das ist Baroneß Gertraud Helfenstein. Für uns ist sie ›die Traudl'‹ auch ›Klein-Rottraud‹ genannt. Wenn ich auch volle zehn Jahre älter bin, wir sind doch gute Spielkameraden gewesen in früheren Zeiten, nicht wahr, Traudl? Nun sieh dir meine Frau an. Gefällt sie dir?«

Er sprach so lebhaft und heiter, wie es sonst gar nicht seine Art war. Traudl blickte mit großen Augen zu der jungen Frau empor, die ihrerseits ebenso überrascht war.

Das sollte eine Baroneß Helfenstein sein? Dies junge Ding, das da wie ein wilder Knabe hereinstürmte – und wie sah sie aus! Das dunkelgraue Lodenkleidchen, das in seiner grenzenlosen Einfachheit fast dürftig erschien, war überall zu eng und zu kurz geworden, die kleinen Füße steckten in derben Lederschuhen und auch das schwarze Filzhütchen war nichts weniger als neu, aber es trug den grünen Buschen, mit dem der Jäger nach einem glücklichen Schuß seinen Hut ziert. Die schlanke, zarte Gestalt des jungen Mädchens hatte sich augenscheinlich noch nicht zu ihrer vollen Höhe entwickelt und auch die Züge waren noch ganz kindlich. Aber aus diesem kindlichen Gesicht blickten ein Paar große, tiefgraue Augen, die einen eigentümlich fragenden Ausdruck hatten. Das rötlich schimmernde Haar, hatte sich gelöst in dem stürmischen Jagdeifer und fiel über den Rücken. Es war jenes leuchtende, goldige Rot, das man so oft auf alten Bildern und so selten in der Wirklichkeit sieht. Das kleine Freifräulein von Helfenstein war trotz seiner sechzehn oder siebzehn Jahre offenbar noch ein völliges Kind, das sich auch noch alle Freiheiten des Kindes herausnahm.

Alice sagte einige passende Worte, kühl und korrekt, wie sie das stets war, aber die Augen Traudls hingen wie gebannt an ihrem Gesichte und plötzlich brach sie aus: »O Gräfin – wie schön Sie sind!«

Die junge Frau lächelte. Sie wußte es sehr genau, daß sie schön war, und nahm die Triumphe, die ihre Schönheit überall feierte, als selbstverständlich hin, aber diese naive, leidenschaftliche Bewunderung schmeichelte ihr wie keiner dieser Triumphe. Sie streckte dem jungen Mädchen die Hand hin.

»Wir werden wohl nähere Bekanntschaft machen müssen, Baroneß Traudl. Wollen wir gute Freunde sein?«

»Ja, o ja!« rief Traudl mit aufleuchtendem Gesicht. »Ich bin ja auch immer gut Freund mit Bertold gewesen. Sieh dir den Fuchs an, Bertold! Hofstetter hat mir den Schuß gelassen und er sagt, es wäre ein Kapitalschuß. Ich hab' ihn gut getroffen, den Rotbart – gelt?«

Sie raffte ihn wieder vom Boden auf und zeigte ihn triumphierend, aber der Großvater sagte tadelnd: »Du vergißt noch ganz und gar, daß du ein Mädchen bist. Was soll die Gräfin denken! Sie müssen Nachsicht mit ihr haben, Gräfin. Den ganzen Tag steckt sie mit dem Förster zusammen und seit Graf Ravensberg ihr nun vollends den Pony geschenkt hat – es war unrecht von deinem Vater, Bertold. Sie wird nur noch wilder dadurch.«

»Nun, Papa wird seinem Patenkinde doch ein Geschenk machen dürfen,« warf Bertold ein, aber Traudl unterbrach ihn stürmisch: »O mein Pony – das süße, reizende Tierchen! Hast du es schon gesehen, Bertold? Nein? Da muß ich es dir zeigen, dir und deiner Frau. Kommt mit!«

Sie wollte ihn ohne weiteres fortziehen, aber der alte Baron wehrte ihr.

»Nein, den Bertold laß mir wenigstens. Ich habe ihn so lange nicht gesehen. Wenn Sie diese Vorstellung über sich ergehen lassen wollen, Gräfin –«

»O gewiß, kommen Sie, Baroneß!« Alice erhob sich rasch, froh, den gewünschten Vorwand gefunden zu haben, und Traudl, glückselig darüber, daß jemand den heißgeliebten Pony sehen wollte, bemächtigte sich schleunigst der jungen Frau und zog sie mit sich fort.

»Noch immer der alte Wildfang!« sagte Bertold, ihr nachblickend. »Unser Klein-Rottraud ist nicht anders geworden in den letzten zwei Jahren.«

»Und wird auch nicht anders werden,« ergänzte Helfenstein trübe. »Das hat Heinz angerichtet mit seiner Erziehung. Du weißt es ja, Bertold, er konnte es nie verwinden, daß ihm der heißersehnte Sohn und Erbe versagt blieb, und da hat er das Mädel wie einen Jungen erzogen. Mit zwölf Jahren war sie schon auf dem Pferd; wenn der Vater zur Jagd ging, lief sie immer mit, war überhaupt den ganzen Tag draußen mit ihm in Wald und Feld, und je mehr sie den Buben herauskehrte, je mehr freute er sich. Eine Mutter hatte sie ja längst nicht mehr.«

»Nein, die starb allzu früh – auch für Heinz!«

»Mein armer Heinz!« Die Lippen des Vaters zuckten schmerzlich. »Er wollte nie an das Unglück glauben, das ich jahrelang kommen und wachsen sah. Er hoffte immer, wir würden uns durchringen, irgend ein Glücksfall würde und müsse uns zu Hilfe kommen. Ich fand es damals so grausam von dem Schicksal, daß es mir die letzte Stütze nahm – als er nach jenem unglücklichen Sturz mit dem Pferde mir sterbend in das Haus getragen wurde. Jetzt sage ich – es ist gut gewesen! Er hätte dies Schicksal nicht ertragen, das ich bis auf den letzten Tropfen auskosten mußte. Das ist ihm erspart geblieben.«

Der junge Graf widersprach nicht. Er hatte ja auch den wilden, lebensfrohen Heinz Helfenstein gekannt. Der konnte nicht herabsteigen zu Armut und Elend, der hätte zur Kugel gegriffen, wenn kein anderer Ausweg blieb. Ein schneller Tod hatte ihn bewahrt davor.

»Sein Kind hat er mir zurückgelassen,« hob der alte Herr wieder an. »Armes Kind! Das ist frei und lustig aufgewachsen, hat noch keine Ahnung vom Leben und muß doch einmal hinaus in dies Leben mit seiner grausamen Härte, mit seinen erbarmungslosen Forderungen. Was wird aus meiner Traudl, wenn ich die Augen schließe!«

»Aber Onkel Helfenstein!« sagte Bertold vorwurfsvoll. »Wie kannst du dir darüber Sorge machen! Du hast ja längst meinen Vater zum Vormund Traudls ernannt und weißt, daß sie künftig bei uns ihre Heimat finden wird. Das ist doch selbstverständlich.«

»Ich weiß, Ravensberg hat es mir versprochen. Aber es ist doch ein bitterer Gedanke, daß das einzige Kind meines Sohnes zeitlebens das Gnadenbrot essen soll in eurem Hause.«

»Zeitlebens? Traudl ist siebzehn Jahr. Wie lange wird es dauern, dann heiratet sie.«

»Ein blutarmes Mädchen, das Kind einer ruinierten Familie – das heiratet nicht. Das solltest du doch wissen, Bertold. Wir kämpfen ja alle, alle gegen diese andrängende neue Zeit und unterliegen ihr schließlich doch. Dein Vater freilich stemmt sich dagegen mit seiner gewohnten Energie. Der hat einen festen Wall ausgeführt um sich und sein Haus – aber er hat auch seinen Sohn dafür geopfert!«

»Ich bin nicht geopfert worden,« sagte der junge Mann erregt. »Ich habe freiwillig getan, was ich mußte, was ich dem Namen und der Ehre unseres Hauses schuldig war. Sie durften nicht zugrunde gehen. In unseren Kreisen sind die romantischen Ehen ja seltene Ausnahmen, die Familien und ihre Interessen entscheiden darüber. So ist es bei meinem Vater gewesen und Heinz folgte auch deinem Wunsch und Willen bei seiner Heirat. – Und die Ehen sind glücklich geworden!«

»Ja, denn da gesellte sich gleich zu gleich. Du hast dir deine Frau aus einer fremden Welt geholt – glaubst du, daß sie sich je der unsrigen anbequemen wird? Diese schöne, stolze Frau, die es so gut weiß, daß alles in ihren Händen liegt! Und du Bertold, bist du denn glücklich als – Prinzgemahl?«

In dem Gesicht Bertolds schlug eine flammende Röte auf.

»Onkel Helfenstein!« Dieser machte eine beschwichtigende Bewegung.

»Wenn ich dir das sage, so ist es keine Beleidigung. Du taugst am wenigsten für eine solche Rolle, du mit deinem tiefen reizbaren Empfinden. Aber es hilft nun einmal nichts. Wir sind unter dem Rade – alle – und müssen es über uns ergehen lassen. Wohl denen, die jetzt oben sind – wir sind es auch einmal gewesen!«

Es lag eine dumpfe Ergebung in den Worten. Der junge Graf erhob sich, offenbar gepeinigt von der Wendung, die das Gespräch genommen hatte.

»Du bist krank und verbittert, Onkel, und siehst jetzt alles im düsteren Lichte. Ein Glück, daß du die Traudl bei dir hast mit ihrem sonnigen Gesicht und ihrem frohen Lachen. Du erlaubst wohl, daß ich jetzt nach meiner Frau sehe. Wir müssen aufbrechen.«

Unter den alten Buchen, die mit ihren mächtigen Kronen das ganze Schlößchen überschatteten, saßen Gräfin Alice und Fräulein von Helfenstein. Der Pony war vorgeführt und besichtigt worden, aber Alice, die über einen ganzen Marstall gebot, konnte es nicht begreifen, wie man über den Besitz eines einzigen, kleinen Pferdchens so grenzenlos glücklich sein konnte und noch weniger begriff sie, daß die kleine Baroneß mit siebzehn Jahren noch so völlig Kind war. Sie selbst war in diesem Alter ja schon fertig, als junge Dame in die Gesellschaft eingetreten. Aber die Bekanntschaft hatte den Reiz der Neuheit für sie. Das war endlich einmal etwas Ungewohntes, Ursprüngliches, es interessierte sie und mit nachsichtigem Lächeln hörte sie dem Geplauder Traudls zu, die sich mit der schnellen Vertraulichkeit und Unbefangenheit des Kindes an sie anschloß. Bertolds Frau war ja keine Fremde für sie.

Sie hatte in aller Eile Toilette gemacht, das heißt, sie hatte ihr Haar zusammengerafft und in einen dicken Knoten geschlungen, der fast zu schwer erschien für das zarte Köpfchen. Jetzt sagte sie, eine Frage der Gräfin beantwortend: »Ja, einsam ist es hier freilich, zumal im Winter, wenn wir ganz eingeschneit sind. Da sehe ich niemand als Großpapa, den Hofstetter und unsere alte Lene. Großpapa ist immer krank und so traurig. Hofstetter sagt, er kann es nicht verwinden, daß wir so ganz verkracht sind.«

»Verkracht – was ist das?« fragte Alice, die trotz ihrer vollkommenen Beherrschung der deutschen Sprache doch diesen merkwürdigen Ausdruck nicht kannte.

»Das ist – ja, so nennen es hier die Leute, wenn alles außer Rand und Band geht,« erklärte Traudl naiv. »Hofstetter hat es vorausgesagt. Er sagte immer, der Teufel holt doch noch einmal die ganze Geschichte, und er hat sie geholt! Ja, Hofstetter hat immer recht.«

Die junge Frau hörte mit wachsendem Erstaunen zu. Diese Ausdrücke befremdeten sie ebensosehr als die Offenheit, mit der hier die intimsten Dinge ausgeplaudert wurden. Dies kleine Fräulein von Helfenstein war ja unmöglich für die Gesellschaft.

»Sie scheinen in einer beneidenswerten Freiheit aufgewachsen zu sein,« sagte sie mit hörbarem Spott. »Sie werden noch viel lernen müssen, Baroneß Traudl, wenn Sie später in die Welt eintreten und sich verheiraten.«

Traudl lehnte den Kopf an den Stamm der Buche, unter der sie saß, und schlenkerte mit den Füßen.

»Heiraten – das gibt's nicht für mich.«

»Warum nicht? Haben Sie eine Abneigung dagegen?«

»O nein. Mein Papa hat ja auch geheiratet und Bertold auch. Aber Hofstetter sagt, ein armes Edelfräulein, das gar nix hat, das nimmt heutzutage keiner. Die Männer wollen alle Geld haben und ich hab doch nix, aber rein gar nix.«

Das kam so drollig und dabei so unbekümmert heraus, daß die junge Gräfin ein Lachen nicht unterdrücken konnte.

»Wer ist denn eigentlich dieser Hofstetter, den Sie immer als Autorität anführen? Er scheint für Sie eine Art Orakel zu sein.«

»Hofstetter – das ist unser Förster. Das heißt, jetzt steht er im Dienst bei Herrn von Berndt. Aber er sagt, die Geschichte machte ihm keinen Spaß mehr und er bliebe nur hier, solange Großpapa lebte. Er gehörte zum Hause Helfenstein und fragte den Kuckuck nach den anderen. – Da ist er ja! Hofstetter, komm her!«

Der Gerufene, der eben seitwärts auftauchte, kam heran. Es war ein echter Forstmann, noch vom alten Schlage. Eine kraftvolle, kernige Erscheinung mit braunrotem Gesicht, dem der struppige, schon grau gesprenkelte Bart und die dichten, buschigen Brauen etwas Grimmiges gaben. Er trug einen ziemlich abgeschabten Jagdanzug und die Büchse über der Schulter, aber seine Haltung hatte etwas Strammes, Militärisches. Das trat noch deutlicher hervor, als er grüßte und sich vor der Gräfin aufstellte. Diese fragte herablassend: »Sie sind der Förster des Herrn Kommerzienrats von Berndt?«

»Ja,« war die kurze und bündige Antwort. Sie hatte so gar nichts Unterwürfiges oder auch nur Höfliches. Alice wurde noch um einige Grad kühler und vornehmer, als sie fortfuhr: »Und Sie wohnen hier in Uhlenhorst?«

Diesmal nickte der Förster nur und brummte etwas Unverständliches, aber da sprang Traudl auf und lief zu ihm.

»Hofstetter – alter Brummbär – wirst du wohl manierlich sein! Das ist ja die Gräfin Ravensberg! Gleich sei manierlich oder ich zause dich!«

Sie ließ der Drohung die Tat folgen und griff mit ihrer kleinen Hand energisch in den struppigen Bart des Försters. Dieser wehrte sich nicht, in sein braunes Gesicht trat ein Schmunzeln, das verriet, wie behaglich ihm bei dieser »Strafe« zumute war, die er offenbar nicht zum erstenmal erlitt. Er brummte nur mit einem halb grimmigen, halb zärtlichen Ausdruck.

»So sein Sie doch vernünftig, Baroneßchen!«

Baroneßchen! Gräfin Ravensberg fand das unerhört. Sie, die Amerikanerin, hatte in ihrem Vaterhause nur eine geschulte Dienerschaft gekannt, bei der von irgendeiner Vertraulichkeit nicht die Rede war. Und seit sie nun vollends in die deutsche Aristokratie eingetreten war, hielt sie strenger auf Etikette, als das in den meisten Adelshäusern geschah.

»Aber Fräulein von Helfenstein,« sagte sie halblaut auf französisch, »Sie verkehren ja in einer ganz merkwürdigen Art mit Ihrer Dienerschaft.«

Traudl verstand sehr gut Französisch. Sie hatte bis zu ihrem zwölften Jahre eine Genfer Bonne gehabt und plauderte noch oft mit dem Großvater in dieser Sprache, sie antwortete auch darin.

»O, Hofstetter gehört nicht zur Dienerschaft, der gehört zur Familie. Er ist ein Grafenauer Kind. Schon als kleiner Bube ist er in das Schloß gekommen, dann ist er Jägerbursch geworden, dann Förster, und den Krieg hat er auch unter meinem Vater mitgemacht. Nicht wahr, Hofstetter, du gehörst zu uns?«

Der Förster verstand natürlich nur die letzten, wieder deutsch gesprochenen Worte, aber er schien den Sinn der andern zu erraten. Ein feindseliger Blick traf die schöne Frau, die so unendlich vornehm auf ihn herabblickte. Er zog sein »Baroneßchen« an sich und versetzte mit einem Nachdruck, der beinahe etwas Drohendes hatte: »Ja, da gehör' ich hin und da bleib' ich! Ihnen kommt keiner zu nahe, Baroneßchen, und dem Herrn Baron auch nicht – dafür sorg' ich schon!«

»Das weiß ich ja, mein lieber alter Hofstetter, und Großpapa weiß es auch!« Traudl schmiegte sich an ihn und legte ihr junges, rosiges Gesichtchen dicht an den rauhen Bart.

Jetzt wurde es Alice zuviel, sie erhob sich. Ein Glück, daß in diesem Augenblick Bertold kam, um sie zu holen. Aber auch er begrüßte den Förster mit einer ganz merkwürdigen, unpassenden Vertraulichkeit. Dieser Hofstetter schien hier eine Art Privileg zu haben.

Man ging noch einmal hinauf, um sich von dem alten Herrn zu verabschieden, und dann fuhr das gräfliche Ehepaar davon. Traudl stand vor dem Schlößchen und blickte dem Wagen nach, noch ganz Bewunderung. Die glänzende Erscheinung der jungen Frau war förmlich blendend in ihre stille Einsamkeit gefallen. Da kam Hofstetter, der sich bei der Abfahrt ferngehalten hatte, wieder zum Vorschein und gesellte sich zu ihr.

»Nun sind sie fort,« sagte das junge Mädchen halb traurig. »Großpapa freute sich so, daß Bertold kam. Wie gefällt dir seine Frau?«

»Gar nicht,« erklärte der Förster, noch brummiger als vorhin. Traudl machte große Augen.

»O, warum nicht? Sie ist doch so schön!«

»Und weiß sich nicht zu lassen vor Hochmut. Schaut herab auf unsereins, als ob wir gar keine Menschen wären! Ihre Tante in Grafenau macht es ebenso. Freilich, die ist ja auch von da drüben und hat auch Geld gehabt – das verfluchte Geld!«

Über Traudls Gesicht flog ein Schatten.

»Schimpfe nicht auf das Geld. Wenn Großpapa es gehabt hätte, dann hätten wir nicht fortgehen müssen von unserem schönen Grafenau.«

»Das sag' ich ja,« rief Hofstetter wütend. »Das verfluchte Geld – wenn man es nämlich nicht hat! Die da in Grafenau haben es und der Herr Kommerzienrat ist ja auch jetzt ›von‹. Vor ein paar Jahren ist er geadelt worden. Pah – Börsenadel! Aber das muß nun schleunigst ein Rittergut haben, unser Grafenau, wo die Helfenstein seit dreihundert Jahren gesessen haben, und jetzt sitzt mein alter Herr in Uhlenhorst. Und der junge Graf Ravensberg hat nun auch so eine Geldprinzessin geheiratet – wohl bekomm's! Ich glaube, es bekommt ihm nicht.«

»Sei still, Hofstetter!« rief das junge Mädchen entrüstet. »Sage kein Wort gegen Bertold. Das leide ich nicht, Bertold ist so gut.«

Der Förster nickte bestätigend.

»Ja, gut ist er, aber weiter auch gar nichts. Und damit kommt man nicht mehr durch im Leben, am wenigsten mit der Frau. Die regiert ihn und ganz Ravensberg und regiert überhaupt alles. Bis sie einmal einen findet, der sie regiert, aber gründlich. Ich wollt', sie fände einen!«

Traudl war an diese grimmigen Ausbrüche ihres alten Freundes längst gewöhnt. Er konnte es so wenig verwinden wie der alte Herr selbst, daß dieser von Haus und Hof fortmußte, und haßte alles, was mit diesem Unglück zusammenhing. Er wollte es schlechterdings nicht begreifen, daß der Kommerzienrat nur sein Recht gebraucht hatte, als er sich seine Hypotheken rettete und das für den Besitzer ohnehin verlorene Gut für sich erstand.

»Und ich halte das auch nicht mehr lange aus!« grollte er weiter. »Wenn der Herr Baron die Augen zumacht – na, Baroneßchen, nicht so traurig aussehen! Sterben müssen wir alle und der Großpapa ist so krank und hat gar keine Freude mehr am Leben – dann packe ich meine Siebensachen und gehe davon. Weit fort, übers Meer.«

»Nach Amerika willst du?« fragte Traudl.

Hofstetter nickte.

»Ja – unter die Wilden!«

Die grauen, fragenden Augen blickten ihn ganz entsetzt an.

»Unter die Wilden? Das sind ja Menschenfresser!«

Der Förster lachte laut auf und hob seine nervige Faust.

»Mir soll einer kommen damit! Dem werde ich den Appetit verderben! Es ist ja aber gar nicht wahr, Baroneßchen. Da drüben geht es ganz manierlich zu und die Indianer sind auch gar nicht so schlimm, wie sie aussehen. Der Sohn von unserem Inspektor Winkler ist ja drüben, schon seit sechs Jahren. Er ist bei der neuen Bahnlinie, die sie da nach dem Westen bauen, und er schreibt, mit etwas Geld in der Hand ließe sich viel machen. Ich hab' schon oft mit dem Vater darüber gesprochen. Geld habe ich ja, mein Erspartes, und ein Paar kräftige Arme auch und reiten und schießen kann ich wie nur einer. Das ist genug, sagte der Winkler. Ich gehe unter die Wilden!«

Traudl ließ betrübt das Köpfchen hängen.

»Und ich soll dann mutterseelenallein hier bleiben? Was fange ich denn an, wenn ich dich nicht mehr habe und den Großpapa auch nicht mehr?«

»Dann kommen Sie mit,« sagte Hofstetter diktatorisch. »Dann gehen wir da drüben auf die Jagd, aber nicht auf den Fuchs, wie hier, oder auf Hasen und Rehe. Da gibt es allerhand wildes Getier, Raubzeug an allen Ecken und Enden, und darauf loszuknallen, das wird eine wahre Wonne sein!«

»Ja, Hofstetter, ja!« jauchzte Traudl, so freudig, als habe man ihr etwas sehr Schönes versprochen. Und dann setzten sie sich gemeinsam unter die Buchen und begannen die amerikanischen Zukunftspläne ausführlich zu erörtern. Weder dem Förster noch seinem Baroneßchen fiel es ein, daß man diesen Plänen doch einige Hindernisse in den Weg legen würde. Sie waren beide Feuer und Flamme dafür.



 << zurück weiter >>