Elisabeth Werner
Adlerflug
Elisabeth Werner

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Sechzehntes Kapitel.

Auf dem Wege, der von dem kleinen Bergorte nach dem Hotel führte, schritten der Professor und Siegbert dahin. Man hatte heute morgen die Leiche des Verunglückten von der Alm herunterbringen wollen, und die beiden Herren waren in dem Städtchen gewesen, um zu hören, ob dies in der Tat geschehen sei.

»Es ist und bleibt eine unheimliche Geschichte!« sagte Bertold, »und bei dem schlimmen Ausgang, den sie genommen hat, wird sie nun vollends zur Sage der ganzen Umgegend werden. Was war das gestern für ein Raunen und Flüstern unter den Leuten auf der Alm, und das Volk hier im Orte tut nun gar, als hätte sich ein Stück Weltgericht vor seinen Augen vollzogen! Als ob es ein Wunder ist, wenn jemand, der eigens darauf ausgeht, sich den Hals zu brechen, ihn schließlich bricht! Ein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Adrian Tuchner unversehrt davongekommen wäre. Was meinst du, Siegbert, hältst du ihn für schuldig?«

»Ich meine, daß man dem Unglücklichen die Ruhe in seinem Grabe gönnen soll«, entgegnete Siegbert in einem Tone, der seine tiefe Bewegung verriet. »Der Tod endigt und versöhnt alles! Wozu den Schleier heben, den er darüber gebreitet hat.«

»Ganz recht, lassen wir den Toten ruhen«, stimmte der Professor bei, der sich überhaupt nicht gern mit traurigen Ereignissen beschäftigte. »Was übrigens die Neigung betrifft, sich den Hals zu brechen, so hast du sie gleichfalls in sehr bedenklicher Weise kundgegeben. Mir und dem Führer standen die Haare zu Berge, als wir es drüben von der Egidienwand mit ansahen, wie du auf Leben und Tod in die Schlucht hinunterfuhrst, und Sir Conway riß seine wasserblauen Augen noch einmal so weit auf als gewöhnlich. Warum hast du denn nicht gewartet, bis die Leute von der Alm zur Hilfe herbeikamen? Du allein konntest doch den Gestürzten nicht aus der Schlucht heraufbringen.«

»Nein, aber ich konnte wenigstens bei ihm sein in seinem Todeskampfe. Es ist furchtbar, allein und verlassen zu sterben, in einer düsteren Felsschlucht, ohne ein Menschenantlitz zu sehen und eine Menschenstimme zu hören!«

»Deswegen riskiert man aber doch nicht das eigene Leben. Du warst gestern überhaupt in einer ganz merkwürdigen Stimmung. Was du dem Sir Conway an der Leiche des armen Burschen, den er allerdings auf dem Gewissen hat, sagtest, war von einer Schärfe, die ich dir gar nicht zugetraut hätte.«

»Und seine Erwiderung war eine Unverschämtheit!« rief Siegbert mit blitzenden Augen.

Der Professor zuckte die Achseln. »Mag sein! Ihr hattet nicht übel Lust, aneinander zu geraten. Es war ein Glück, daß ich dazwischen trat und euch noch zu rechter Zeit trennte.«

In dem Gesichte des jungen Mannes zeigte sich eine gewisse Verlegenheit bei der Bemerkung. Er schien etwas erwidern zu wollen, aber nicht die rechten Worte dafür zu finden, und vorläufig kam es auch nicht dazu, denn urplötzlich packte Bertold den Arm seines jungen Begleiters und zog ihn fast gewaltsam an sich.

Siegbert sah ihn erstaunt an, aber der Professor wußte, weshalb er ihn festhielt. Sie passierten gerade die Brücke, die an dieser Stelle über die Ache führte, und nach der Meinung des alten Herrn war jetzt entschieden ein Verzweiflungssprung zu besorgen. Die Katastrophe hatte gestern stattgefunden, das wußte er, aber Alexandrine zeigte sich ungemein einsilbig und zurückhaltend. Sie hatte nur erklärt, Siegbert habe versprochen, sich zu einem Entschluß aufzuraffen und sich frei zu machen, mehr konnte der Professor trotz all seines Forschens und Drängens nicht erfahren, und seinem Schüler wagte er nicht mit Fragen zu nahen. Er hatte sonst wenig Respekt vor der Seelenstimmung anderer, aber dem blassen Antlitz und den düsteren Augen seines Lieblings gegenüber fühlte er doch einige Gewissensbisse. Der arme Junge litt offenbar schwer unter der bitteren Arznei, mit der man ihn heilen wollte. Er hatte auch mit keiner Silbe die Rückgabe jenes Skizzenbuches erwähnt, vermutlich war Alexandrine sehr schonungslos gewesen, da fühlte sich der Professor verpflichtet, ihn um so mehr zu schonen, und vor allen Dingen festzuhalten, was denn auch geschah.

In Siegberts Antlitz lag in der Tat heute etwas Tiefernstes, sogar Düsteres. Vielleicht war es noch ein Nachhall des schrecklichen Ereignisses, vielleicht auch etwas anderes, denn nachdem sie einige Minuten schweigend weiter gegangen waren, begann der junge Mann plötzlich:

»Herr Professor – ich habe eine Bitte an Sie.«

»Nun, so sprich sie aus«, sagte Bertold, der ihn noch immer festhielt, denn der Weg führte noch eine Strecke am Rande der Ache entlang.

Trotz dieser Ermutigung zögerte Siegbert und blickte vor sich nieder.

»Es ist mir sehr peinlich, daß ich gerade Sie damit behelligen muß, aber ich bin so ganz isoliert hier und kenne niemand, dem ich mich anvertrauen möchte. Es handelt sich um einen Freundesdienst.«

Der Professor wurde aufmerksam. »Das klingt ja ganz feierlich! Freundesdienst? Herzlich gern, aber was willst du denn eigentlich?«

»Ich wollte Sie bitten, mich morgen früh zu begleiten – nach der kleinen Waldwiese – ich habe dort ein Zusammentreffen verabredet.«

Bertold ließ den Arm des jungen Mannes los und blieb stehen.

»Was soll das heißen? Mit wem willst du dort zusammentreffen? – Willst du dich etwa schlagen?«

»Ja«, sagte Siegbert ruhig.

»Mit diesem verwünschten Engländer? Ich brachte euch ja gestern glücklich auseinander. Hat er dich etwa noch nachträglich gefordert?«

»Nein, – aber ich forderte ihn!«

Bertold prallte zurück. » Du hast ihn gefordert? Junge, hast du den Verstand verloren?«

»Soll ich mich etwa ungestraft beleidigen lassen?« fragte Siegbert mit zuckenden Lippen. »Soll ich mich hochmütig und verächtlich zurechtweisen lassen, wie ein Schulknabe, und das noch dazu vor den Augen des Fräulein von Landeck? Ich bin gestern einzig Ihrer Autorität gewichen, und an der Leiche Adrians war auch nicht der Ort, wo die Sache zum Austrag gebracht werden konnte. Heute morgen aber habe ich von Sir Conway die Zurücknahme jener Beleidigung verlangt. Er verweigerte sie, – also blieb nur eine Entscheidung übrig.«

Der Professor stand da und starrte seinen schüchternen, sanftmütigen Schüler an, der von dem Duell wie von einer selbstverständlichen Sache sprach. Er konnte sich das Ganze offenbar nicht erklären, plötzlich aber fiel ihm ein, es sei nur ein Verzweiflungsschritt des jungen Mannes, der dies Ende dem Sprunge in die Ache vorziehe, und, ganz erfüllt von dieser Vorstellung, sagte er diktatorisch:

»Daraus wird nichts!«

»Herr Professor!« fuhr Siegbert auf, aber der Herr Professor schnitt ihm das Wort ab.

»Denkst du, ich werde einen derartigen Unsinn zulassen und es ruhig mit ansehen, wie du dir das Vergnügen machst, dich von diesem Engländer totschießen zu lassen? Er ist ein ausgezeichneter Schütze, das weiß ich, und du hast noch nie eine Pistole in der Hand gehabt. Kurz und gut, ich verbiete dir dies lebensgefährliche Amüsement. Ich werde allerdings zu Sir Conway gehen, aber nicht als dein Sekundant, sondern um die Sache gütlich beizulegen.«

»Das werden Sie nicht tun!« sagte Siegbert, sich hoch und fest aufrichtend. »Ich allein kann beurteilen, was ich von einem Fremden hinnehmen darf und was nicht. Wenn ich mich für beleidigt erkläre, so ist das meine Sache, und wenn Sie versuchen sollten, das Duell zu verhindern, so werden wir uns zu einer anderen Zeit und an einem anderen Orte treffen. Verbieten lasse ich mir dergleichen nicht. Ich glaubte nicht, daß Sie mich der Tyrannei meines Pflegevaters nur deshalb entreißen wollen, um mich dafür unter Ihren Willen zu beugen.«

»Das ist ja eine förmliche Kriegserklärung!« brauste der Professor auf. »Wo hast du denn auf einmal das Rebellieren gelernt? Noch vorgestern, habe ich dich als geduldiges Opferlamm gepriesen, und heute benimmst du dich wie ein wütender Löwe und willst absolut Blut vergießen. Bist du verhext worden da oben auf der Egidienwand?«

Der junge Mann schien in der Tat, wenn auch nicht das Rebellieren, so doch den Widerstand gegen die ungerechte Hitze seines Lehrers gelernt zu haben, denn er antwortete mit ruhiger Festigkeit:

»Ich bin nur zur Selbständigkeit erwacht, und gerade Sie waren es, der mir fortwährend predigte, daß ich mich gegen Zwang und Bevormundung auflehnen müsse.«

»So? Und bei mir machst du den Anfang damit? Das ist ja recht freundschaftlich!«

Siegbert trat zu dem erzürnten Manne und legte die Hand auf seinen Arm, während er ihm ernst und bittend in das Auge sah.

»Herr Professor – habe ich unrecht?«

»Nein – du hast recht, Junge!« rief der Professor, der urplötzlich vom hellsten Zorn in den vollsten Enthusiasmus umschlug. »Du hast ganz recht! Laß dir nichts gefallen, auch von mir nicht. Es ist wahr, dieser Sir Conway ist unverschämt gegen dich gewesen, und wenn du dich mit ihm schlagen willst, so schlage dich, und wenn ich es dir zehnmal verbiete. Übrigens tue ich das jetzt nicht mehr, im Gegenteil, ich werde dein Sekundant sein. Ich denke, der Himmel wird doch ein Einsehen haben, und dich nicht gerade jetzt fallen lassen, wo du endlich anfängst, für die Erde brauchbar zu werden!«

Und den Arm um die Schulter des jungen Mannes legend, zog er ihn mit sich fort. –


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