Elisabeth Werner
Adlerflug
Elisabeth Werner

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Neuntes Kapitel.

»Nun möchte ich aber doch wirklich wissen, was eigentlich an der Geschichte ist!« brach jetzt Professor Bertold aus. »Da liegt irgend etwas Besonderes zugrunde. Heraus damit, ihr Leute! Was ist das mit dem Tuchner und mit der Egidienwand?«

Die Leute schienen nicht recht zu wissen, ob sie reden oder schweigen sollten, sie sahen einander an, flüsterten und steckten die Köpfe zusammen, endlich sagte Wendlin zögernd: »Es ist nur – man spricht nur so –«

»Was spricht man?«

»Es ist eine schlimme Geschichte, die vor zwei Jahren passiert ist,« nahm der Wirt jetzt das Wort. »Die Herren haben wohl das Kreuz auf der Egidienwand gesehen?«

»Allerdings! Es soll jemand dort herabgestürzt sein, wie man uns sagte.«

»Gestürzt – ja wohl, das hat seine Richtigkeit.«

»Ein Wilddieb soll es gewesen sein,« fiel Siegbert ein. »So wenigstens habe ich von Adrian Tuchner gehört.«

»So?« sagte Wendlin mit einem ganz eigentümlichen Tone. »Der Adrian hat es Ihnen gesagt? Nun, der muß freilich wissen, wie es zugegangen ist.«

»So laßt doch endlich die Geheimniskrämerei!« fuhr der Professor dazwischen. »Gerade heraus – es ist da irgend etwas Schlimmes geschehen, und man mißt dem Tuchner die Schuld bei?«

Der Alte zuckte die Achseln. »Man kann den Leuten doch nicht verbieten zu glauben, was sie wollen, und sie glauben's nun einmal. Dabei gestanden hat freilich niemand, aber der Leonhard ist sein Lebtag kein Wilddieb gewesen, der hat auf der Alm da oben was ganz anderes gesucht als das Wild. Er war dem Adrian schon längst ins Gehege gekommen, und sie waren schon ein paarmal scharf zusammengeraten des Mädchens wegen. Adrian hatte ihm den Tod geschworen, wenn er ihn einmal da träfe, wo er bisher Herr und Meister gewesen war und es von Rechts wegen auch hätte bleiben sollen. Zuletzt wird es wohl so gekommen sein – genug, als der Leonhard eines Tages in der Egidienschlucht gefunden wurde, gerade unter dem Wege, der nach der Alm führt, da dachte sich jeder sein Teil. Es ist ja möglich, daß ein bloßes Unglück –«

»Es ist ein Unglück gewesen!« unterbrach ihn Siegbert mit aufflammender Heftigkeit. »Wie kann man auf eine bloße Möglichkeit, auf einen bloßen Verdacht hin eine so furchtbare Anklage aussprechen? Ich glaube nun und nimmermehr daran!«

»Nun, nun, du bist ja auf einmal Feuer und Flamme!« sagte Bertold, verwundert über diese leidenschaftliche Parteinahme des sonst so schüchternen jungen Mannes. »Ich muß gestehen, vertrauenerweckend sieht dieser Tuchner gerade nicht aus. Ich möchte nicht Auge in Auge mit ihm am Abgrunde stehen, wenn er zufällig mein Feind wäre. Aber man wird die Sache doch untersucht haben, wenn die allgemeine Stimme nun einmal einen solchen Argwohn aussprach.«

»Untersucht hat man schon,« meinte Wendlin, »aber es ist nichts dabei herausgekommen. Der Adrian mußte freilich vor Gericht, und da sind sie ihm scharf zu Leibe gegangen mit Kreuz- und Querfragen. Aber er blieb dabei, daß er in der Nacht die Egidienwand mit keinem Fuße betreten hätte. Gesehen hatte ihn keiner, da mußten sie ihn wohl wieder loslassen. Aber seitdem traut ihm keiner mehr, und wenn er sich auch noch so hochfahrend anstellt, er fühlt's doch, was ihm die Geschichte gekostet hat bei uns allen.«

Er trat in den Kreis der Umstehenden zurück, als wolle er ferneren Fragen ausweichen, der Professor bezeigte aber keine Lust dazu.

»Ich habe Ihnen die Sache eigentlich nur im Scherze vorgeschlagen,« sagte er halblaut zu Conway, »sie scheint aber ziemlich ernsthaft zu sein. Wer konnte denn auch ahnen, daß so etwas dahintersteckt! Ich glaube, Sie täten am besten, Ihr Versprechen zurückzunehmen und das dem Tuchner mitzuteilen. Wie sein Wagestück auch ausfallen mag, es gibt nur unnützes Gerede und unnütze Aufregung darüber unter den Leuten, und wenn er es wirklich versucht, so geht die Gefahr dabei so auf Leben und Tod, daß Sie es wirklich nicht verantworten können, ihn da hinaufzuschicken.«

»Ich schicke niemand,« erwiderte Sir Conway in kühlem Tone. »Ich habe einfach einen Preis geboten; wer ihn verdienen will, mag sich darum bemühen. Wenn die Sache sich als unmöglich erweist, so wird der Mann schon selbst davon abstehen, unternimmt er sie aber, so ist es seine Sache, sich mit der Gefahr abzufinden, die er ja hinreichend kennt.«

Er war offenbar nicht geneigt, auf seinen Lieblingswunsch zu verzichten, und schien die Gefahr für ein anderes Leben sehr gering anzuschlagen. Der Professor murmelte etwas von verwünschtem Egoismus und verdammter englischer Hartnäckigkeit, was zum Glück nicht gehört wurde, denn Sir Conway hatte sich zu dem Wirte gewandt und beauftragte diesen, ihn über Tag und Stunde des Unternehmens genau zu unterrichten, dann wandte er sich ebenso gleichmütig wieder zu Professor Bertold und schlug ihm vor, aufzubrechen.

»Ja, wir wollen gehen,« sagte der Professor unmutig. »Da denkt man ein harmloses Volksfest mitzumachen und bekommt solche Mordgeschichten zu hören, die einem die ganze Stimmung verderben. Komm, Siegbert! Aber wo ist er denn geblieben? Siegbert!«

Siegbert war nicht mehr da; alles Fragen und Rufen nach ihm blieb vergeblich, zum großen Ärger des Professors, der sich nun entschließen mußte, den Rückweg mit Sir Conway allein anzutreten.

»Der Junge gewöhnt sich wahrhaftig das Durchgehen an!« brummte er vor sich hin. »Jetzt spielt er mir denselben Streich, wie vorhin seinem Pflegevater; es war gar nicht nötig, daß ich ihn deswegen lobte. Aber er fängt doch jetzt wenigstens an, einen eignen Willen zu haben. Was war das für ein leidenschaftliches Aufflammen, mit dem er vorhin die Partei des Menschen nahm, den alle Welt anklagte und angriff! Wir wollen doch einmal sehen, ob wir ihn nicht zur offenen Rebellion gegen Wiesenheim anstiften können!«

Siegbert war in der Tat gegangen, ohne daran zu denken, daß man sein Verschwinden übelnehmen könnte. Es drängte ihn, den seiner Überzeugung nach so schwer verleumdeten Adrian aufzusuchen. Er war ihm gefolgt, holte ihn aber erst am Ausgang des Ortes ein.

Hier war es still und einsam, das lärmende Treiben vom Kirchplatz her drang nur gedämpft, wie aus weiter Ferne, herüber, und hier, wo die Häuser den Blick nicht mehr beschränkten, tat sich auch die ganze Berglandschaft auf, von dem roten Lichte des Sonnenunterganges überflutet.

Adrian stand auf der Brücke, die an dieser Stelle über die Ache führte; an die hölzerne Brüstung gelehnt, blickte er unbeweglich hinab in das wildschäumende Wasser. Er wandte sich nicht nach dem Kommenden um, hörte vielleicht nicht einmal dessen Schritte; erst als Siegbert die Hand auf seine Schulter legte, fuhr er auf, und mitten durch die Düsterheit seiner Züge brach es wie ein heller Freudenstrahl.

»Sie sind es, Herr Siegbert?« sagte er, ihn starr ansehend. »Sie kommen zu mir – auch jetzt noch – ich hätte es nicht geglaubt.«

»Weshalb nicht?« fragte Siegbert warm und herzlich. »Ich glaube nicht an Verleumdungen. Ich komme nur, um Sie zu warnen, Adrian. Ich wollte Sie bitten, von dem unsinnigen Wagnis abzustehen. Geben Sie es auf.«

»Nein,« erklärte Adrian mit Entschiedenheit. »Das kann ich nicht, auch wenn ich's wollte. Ich habe mein Wort gegeben, Sie hörten es, Sie standen ja dabei.«

»Wem haben Sie es gegeben? Dem Engländer, diesem herzlosen Egoisten, der sich nicht bedenkt, Ihr Leben auf das Spiel zu setzen, um eine seiner Launen zu befriedigen. Mit seinem Gelds will er Ihnen die Todesgefahr gut bezahlen. Es mag ja sein, daß er Ihnen den jungen Adler mit Gold aufwiegt, aber ein Menschenleben steht doch noch höher im Preise.«

Um Adrians Lippen zuckte ein Ausdruck bitterer Verachtung bei den letzten Worten. »Was Preis! Um das Geld ist's mir nicht zu tun, das mag er behalten. Ich tu' es, um den anderen allen zu zeigen, daß ich die Egidienwand nicht scheue, wie sie meinen. Denen hab' ich das Wort gegeben – und denen werd' ich's halten, werde daraus, was da wolle. Ich will endlich Ruhe haben vor ihnen.«

»Die werden Sie schwerlich haben,« sagte Siegbert leise. »Wenn Sie das Wagstück ausführen, so bewundert man Sie vielleicht deswegen, wie heute, wo sie bei dem Schießen den Preis davontrugen. Was man sonst noch gegen Sie hat, das – bleibt wohl bestehen.«

Adrian lachte laut und höhnisch auf. »Da kennen Sie die Leute schlecht, das bleibt nicht bestehen! Sie wissen nicht, wie fest das Volk hier an seinem Aberglauben hängt, das schwört auf solche Proben! Komme ich von der Egidienwand herunter, ohne den Hals zu brechen, so kommt mir keiner wieder mit einem Wort zu nahe. Ich kenne sie!«

»Und wenn Sie stürzen?« fragte Siegbert mit tiefem Ernste.

»Nun, dann ist eben alles zu Ende, und ein Ende muß es doch einmal nehmen, so oder so. Sie wissen es freilich nicht, Herr Siegbert, wie das tut, ausgestoßen zu sein von seinesgleichen, verfemt zu sein auf Tritt und Schritt. Ich hab' das gekostet! Damit kann man einen Menschen zum Ärgsten bringen, und mich haben sie so weit gebracht. Zwei Jahre lang hab' ich's ausgehalten, jetzt ist's genug. Und wenn da oben die leibhaftige Hölle wäre – ich ging' doch hinauf!«

Es sprach eine wilde, verzweifelte Entschlossenheit aus diesen Worten, die vor nichts mehr zurückschreckt. Der Mann war augenscheinlich auf das Äußerste gebracht und auf das Äußerste gefaßt. Siegbert sah, daß hier jeder Einspruch vergebens sein würde und schwieg. Sein Blick suchte die Egidienwand, die dort drüben in ihrer ganzen mächtigen Größe emporstieg, voll und glühend beleuchtet von den letzten Strahlen der sinkenden Sonne. Die riesigen Schroffen standen wie geisterhaft belebt da in dem roten Lichte, und klar und deutlich erkennbar gegen den flammenden Abendhimmel erhob sich das Kreuz auf seiner felsigen Höhe, hinter der die Sonne jetzt langsam verschwand. Die Glut erlosch, schwere, kalte Schatten legten sich auf die Berge, und schwer und kalt legte sich auch Adrians Hand auf die des jungen Malers, der neben ihm stand.

»Leben Sie wohl, Herr Siegbert!« sagte er mit einem tiefen Atemzuge. »In drei Tagen bring' ich den Adler oder – Sie müssen mich selbst suchen – da drunten in der Egidienschlucht!«


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