Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der junge Caddles in London

I

Ohne eine Ahnung vom Strom der Ereignisse, ohne eine Ahnung von den Gesetzen, die sich um all die Brüder zusammengezogen, ja, ohne eine Ahnung davon, daß auf Erden ein Bruder für ihn lebte, wählte der junge Caddles diese Zeit, um seine Kreidegrube zu verlassen und sich die Welt anzusehen. Zu dem Schluß kam schließlich sein Brüten. In Cheasing Eyebright fand er auf all seine Fragen keine Antwort; der neue Vikar war noch weniger klar als selbst der alte, und das Rätsel seines ziellosen Arbeitens wuchs sich schließlich zu den Dimensionen der Erbitterung aus. »Warum soll ich Tag für Tag in dieser Grube arbeiten?« fragte er. »Warum soll ich innerhalb von Grenzen umhergehen und mir alle Wunder der Welt da draußen versagen lassen? Was habe ich getan, daß ich hierzu verurteilt werden sollte?«

Und eines Tages stand er auf, reckte den Rücken und sagte mit lauter Stimme: »Nein!«

»Ich will nicht,« sagte er, und dann verfluchte er die Grube mit großer Kraft.

Und da er wenig Worte hatte, so suchte er sein Denken in Taten auszudrücken. Er nahm einen halb mit Kalk gefüllten Karren, hob ihn auf und warf ihn, krach! gegen einen zweiten. Dann packte er eine ganze Reihe leerer Karren und stieß sie einen Damm hinunter. Er sandte ihnen einen riesigen Kalkblock nach, der unter ihnen barst, und riß dann mit einem gewaltigen Schwung seines Fußes ein Dutzend Meter Schienen auf. So begann er die gewissenhafte Zerstörung des Kalkwerks.

»All meine Tage arbeiten,« sagte er, »und daran!«

Es waren fünf erstaunliche Minuten für den kleinen Geologen, den er in seinem Eifer übersehen hatte. Dieses arme kleine Geschöpf floh, nachdem er sich um Haaresbreite an zwei Blöcken vorbeigeduckt hatte, an der westlichen Ecke hinaus und über den Hügel; der Rucksack tanzte ihm auf dem Rücken, die mit Knickerbockers bekleideten Beine wirbelten, und er ließ eine Fährte von Kreideechinodermen hinter sich zurück, während der junge Caddles zufrieden mit der Zerstörung, die er vollbracht hatte, herausgeschritten kam, um seinen Zweck in der Welt zu erfüllen.

»In dieser alten Grube arbeiten, bis ich sterbe und verfaule und stinke! ... Welcher Wurm, meinten sie, lebe in meinem Riesenleib? Zu Gott weiß was für einem albernen Zweck Kreide brechen! Ich nicht!«

Vielleicht brachte ihn die Richtung von Straße und Eisenbahn, vielleicht auch der bloße Zufall nach London, und dorthin kam er über die Dünen und quer durch die Wiesen, zur unendlichen Bestürzung der Welt an diesem heißen Nachmittag geschritten. Es bedeutete ihm nichts, daß von jeder Mauer und jedem Gerüst zerrissene Plakate in rot und weiß mit mancherlei Namen herniederflatterten; er wußte nichts von der Wahlrevolution, die Caterham, »Jack, der Riesentöter«, zur Macht erhoben hatte. Es bedeutete ihm nichts, daß jede Polizeistation an seinem Wege hin an diesem Nachmittag auf ihrem Bekanntmachungsschilde den Ukas Caterhams trug, daß sich kein Riese, niemand, der mehr als acht Fuß hoch war, ohne besondere Erlaubnis mehr als fünf Meilen aus seinem »Wohnort« entfernen durfte. Es bedeutete ihm nichts, daß in seinem Kielwasser verspätete Polizeibeamte – nicht wenig erleichtert, daß sie verspätet waren – seinem forteilenden Rücken warnende Bekanntmachungen nachschwangen. Er wollte sehen, was die Welt ihm zu zeigen hatte, der arme, ungläubige Dummkopf, und er dachte nicht daran, sich von gelegentlichen, beherzten Leuten, die ihm »He!« nachriefen, in seinem Lauf aufhalten zu lassen. Er kam, an Rochester und Greenwich vorbei, zu einer immer dichter werdenden Anhäufung von Häusern herab, und er ging jetzt ziemlich langsam und blickte sich um und schwang seine riesige Picke.

In London hatte man schon einmal von ihm gehört – er sei idiotisch aber sanftmütig und werde von Lady Wondershoots Agenten und dem Vikar wundervoll zahm gehalten; er verehre diese Autoritäten auf seine stumpfe Art und sei ihnen für ihre Sorge um ihn dankbar und so weiter. Als man also an diesem Nachmittag aus den Zeitungsplakaten erfuhr, daß er auch »streikte«, erschien es vielen als ein überlegter, abgekarteter Streich.

»Sie wollen unsere Kraft probieren,« sagten die Leute in den Zügen, die vom Geschäft nach Hause fuhren.

»Ein Glück, daß wir Caterham haben.«

»Das ist die Antwort auf seine Proklamation.«

Die Leute in den Klubs waren besser informiert. Sie drängten sich um die Anschläge, oder sie redeten in Gruppen in den Rauchzimmern.

»Er hat keine Waffen. Er wäre nach Sevenoaks gegangen, wenn er dazu angestiftet wäre.«

»Caterham wird ihn schon kriegen.«

Die Verkäufer erzählten es ihren Kunden. Die Kellner in den Restaurants erhaschten zwischen den Gängen einen Moment für das Abendblatt. Die Droschkenkutscher lasen es unmittelbar nach den Weltnachrichten ...

Die Plakate des wichtigsten Regierungsabendblattes leuchteten vor Sätzen wie: »Die Nessel packen.« Andere verließen sich auf die Wirkung des Satzes: »Riese Redwood fährt fort, sich mit der Prinzessin zu treffen.« Das Echo schlug eine eigene Richtung ein: »Gerücht von einer Empörung der Riesen im Norden Englands. Die Sonderlandriesen machen sich nach Schottland auf den Weg.« Die Westminster Gazette ließ ihre gewöhnliche warnende Note erklingen. »Nehmt euch vor den Riesen in acht,« sagte die Westminster Gazette und versuchte, etwas daraus zu machen, was vielleicht dazu dienen konnte, die Liberale Partei zu einigen – die damals unter sieben intensiv egoistische Führer zerrissen war. Die späteren Blätter verfielen in die gleiche Note: »Die Riesen auf der neuen Kentstraße,« meldeten sie.

»Was ich wissen möchte,« sagte der blasse junge Mann in der Teestube, »ist, warum wir gar keine neuen Nachrichten von den jungen Cossars erhalten. Man sollte meinen, die stäken am meisten darin ...«

»Hab' gehört, es ist wieder ein neuer von den jungen Riesen losgekommen,« sagte das Schenkmädchen, das ein Glas putzte. »Ich hab' immer gesagt, sie sind gefährlich, wenn man sie so um sich hat ... Dem müßte man ein Ende machen. Auf je'n Fall hoff ich, er wird nicht hier langkommen.«

»Ich möcht'n schon mal sehen,« sagte der junge Mann am Schanktisch verwegen und fügte hinzu: »Die Prinzessin hab' ich gesehen.«

»Meinen Sie, sie tun ihm was?« sagte das Schenkmädchen.

»Müssen vielleicht,« sagte der junge Mann am Schanktisch, indem er sein Glas austrank.

Unter zehn Millionen solcher Aussprüche kam der junge Caddles nach London ...

II

An den jungen Caddles denke ich immer, wie er auf dem New Kent Road gesehen wurde, mit dem Sonnenschein warm auf dem erstaunten und starrenden Gesicht. Die Straße war voll von ihrem mannigfaltigen Verkehr, von Omnibussen, Trams, Rollwagen, Karren, Kohlenwagen, Radfahrern, Automobilen; und eine staunende – Menge – Stromer, Frauen, Kindermädchen, die Einkäufe machten, Kinder, abenteuernde Burschen – sammelte sich hinter seinen vorsichtig auftretenden Füßen. Die Bretterverkleidungen waren überall mit den zerrissenen Wahlplakaten beklebt. Ein Stimmengewirr umbrandete ihn. Man sieht die Kunden und Verkäufer, die sich in den Ladentüren drängten, die Gesichter, die an den Fenstern kamen und gingen, die Polizisten, die alles ganz steif und ruhig nahmen, die kleinen Straßenjungen, die liefen und schrien, die Arbeiter, die auf den Gerüsten Schicht machten, das kochende Gemisch der kleinen Leute. Sie riefen ihm unbestimmte Ermunterungen, unbestimmte Schimpfworte, die blödsinnigen Schlagworte des Tages zu, und er starrte auf sie nieder, auf eine Menge lebender Geschöpfe, wie er sie sich noch nie in der Welt vorgestellt hatte.

Jetzt, da er wirklich nach London hineingekommen war, mußte er seinen Schritt mehr und mehr verlangsamen, so drängten sich die kleinen Leute um ihn. Das Gewühl wurde mit jedem Schritt dichter, und schließlich mußte er an einer Ecke, wo zwei große Straßen zusammentrafen, stehen bleiben, und die Menge umfloß und umschloß ihn.

Dort stand er, die Füße ein wenig getrennt, den Rücken einem großen Fabrik-Eckpalast zugekehrt, der sich bis zu seiner doppelten Höhe auftürmte und mit einem Himmelszeichen endete, und er starrte auf die Pygmäen herab und wunderte sich und versuchte, wie ich nicht zweifle, das alles mit den anderen Dingen seines Lebens zusammenzuhalten, mit dem Tal im Dünenland, dem nächtlichen Liebespaar, dem Singen in der Kirche, der Kreide, die er täglich brach, und mit dem Instinkt und dem Tod und dem Himmel, und er versuchte, all das zusammenhängend und bedeutsam zu sehen. Seine Stirn war gerunzelt. Er hob seine riesige Tatze, um sich das grobe Haar zu kratzen, und stöhnte laut.

»Ich versteh's nicht,« sagte er.

Sein Akzent war ungewohnt. Ein großes Geschwirr ging über den offenen Platz, ein Stimmengeschwirr, in dem die Glocken der Trams, die sich ihren hartnäckigen Weg durch die Masse pflügten, wie roter Mohn im Korn aufragten. »Was hat er gesagt?« »Sagte, er versteh's nicht?« »Sagte, sieht die See nicht?« »Sagte, er will nicht stehen?« »Er will nicht stehen.« »Kann der verdammte Narr sich nich' auf 'n Haus oder sonstwo setzen?«

»Wozu seid ihr da, ihr wimmelnden kleinen Leute? Was tut ihr alle, wozu seid ihr alle da?

»Was tut ihr hier oben, ihr wimmelnden kleinen Leute, während ich Kalk für euch breche, da unten in den Kalkgruben?«

Seine wunderliche Stimme, die Stimme, die zu Cheasing Eyebright so schlimm auf die Schuldisziplin gewirkt hatte, brachte die Menge zum Schweigen, solange sie ertönte, und am Schluß peitschte sie sie zum Tumult empor. Ein Witzling ließ sich hören: »Reden! reden!« »Was sagt er?« das war der Hauptgedanke des Volks, und es lief die Meinung um, er sei betrunken. »Tüh–t, Tüh–t,« hupten die Omnibusse, die einen gefährlichen Weg zu verfolgen hatten. Ein betrunkener amerikanischer Matrose wanderte umher und fragte weinerlich: »Was will er eigentlich?« Ein ledergesichtiger Lumpensammler auf einem kleinen Ponywagen schwang sich kraft seiner Stimme über den Aufruhr empor: »Geh' nach Haus, du verdammter Riese!« schrie er, »geh' nach Haus! Du verdammter, großer, gefährlicher Kerl! Siehst du nicht, daß du Pferde scheu machst? Hat denn niemand den Verstand im Kopf gehabt, dir das Gesetz zu sagen?« Und über all diesen Aufruhr starrte der junge Caddles hin, verwirrt, abwartend, und er sagte nichts mehr.

Eine Seitenstraße herunter kam eine kleine Reihe feierlicher Polizisten und wand sich scharfsinnig in das Gedränge hinein. »Zurück,« sagten die kleinen Stimmen; »weitergehen, bitte.«

Der junge Caddles merkte, daß ihm eine kleine, dunkelblaue Gestalt gegen das Schienbein schlug. Er blickte nieder und sah zwei weiße Hände gestikulieren. » Was?« sagte er, indem er sich nach vorn beugte.

»Können hier nicht herumstehen,« schrie der Inspektor.

»Nein! Sie können hier nicht herumstehen,« wiederholte er.

»Aber wohin soll ich gehen?«

»In Ihr Dorf zurück. Wohnort. Auf jeden Fall – Sie müssen jetzt weitergehen. Sie sperren den Verkehr.«

»Welchen Verkehr?«

»Die Straße entlang.«

»Aber wohin geht er? Woher kommt er? Was bedeutet er? Sie stehen ganz um mich herum. Was wollen sie? Was tun sie? Ich will es begreifen. Ich bin's müde, Kalk zu brechen und so allein zu sein. Was tun sie für mich, während ich Kalk breche? Ich kann's ebensogut hier und jetzt wie irgendwo erfahren.«

»Tut mir leid. Aber wir sind nicht hier, um solche Sachen zu erklären. Ich muß Sie bitten, weiterzugehen.«

»Wissen Sie's nicht?«

»Ich muß Sie bitten, weiterzugehen – wollen Sie so gut sein! ... Ich würde Ihnen stark raten, sich nach Hause zu machen. Wir haben noch keine speziellen Instruktionen – aber es ist gegen das Gesetz ... Machen Sie Platz da ... Machen Sie Platz da! Ma – chen – Sie – Platz!«

Das Pflaster links wurde einladend leer, und der junge Caddles ging langsam weiter. Aber jetzt war ihm die Zunge gelöst.

»Ich verstehe nicht,« murmelte er. »Ich verstehe nicht.« Er wandte sich gebrochen an die wechselnde Menge, die immer neben und hinter ihm herzog. »Ich hab' nicht gewußt, daß es solche Orte gab. Was fangt all ihr Leute mit euch an? Wozu ist das alles? Wozu ist das alles, und was habe ich damit zu tun?«

III

Was suchte er? Er wollte etwas, was die Pygmäenwelt nicht gab, ein Ziel, das zu erreichen die Pygmäenwelt ihn hinderte, das auch nur klar zu sehen, sie ihn hinderte, und das er nie klar sehen sollte. Die ganze riesenhafte, soziale Art dieses einsamen, stummen Ungeheuers schrie nach seiner Rasse, nach den ihm verwandten Wesen, nach etwas, was er lieben konnte, und nach etwas, dem er dienen konnte, nach einem Zweck, den er begreifen, und einem Befehl, dem er gehorchen konnte. Und man muß wissen, all das war stumm, raste stumm in ihm, hätte nicht einmal, wenn er einen Mitriesen gefunden hätte, in Worten Abstrom und Ausdruck finden können. Was er vom Leben kannte, war der blöde Kreislauf des Dorfes, was er von der Sprache kannte, war das Gerede des Kätnerhauses, und es versagte und brach bei dem bloßen Umriß des geringsten seiner Riesenbedürfnisse zusammen. Er wußte nichts vom Gelde, dieser ungeheure Tropf, nichts vom Handel, nichts von den komplizierten Ansprüchen, auf denen der soziale Bau des kleinen Volkes erbaut war. Er suchte, er suchte – – Was er auch suchte, er fand nie, was er suchte.

Den ganzen Tag lang und die ganze Sommernacht wanderte er umher; er wurde hungrig, aber noch nicht müde, und er beobachtete den wechselnden Verkehr der verschiedenen Straßen, die unerklärlichen Geschäfte dieser unendlich kleinen Wesen. Als Gesamtheit zeigte ihm all das nur die Farbe der Verwirrung ...

In Kensington soll er eine Dame aus ihrem Wagen gerissen haben, eine Dame in elegantester Abendtoilette, soll sie sich genau angesehen haben, Schleppe und Schulterblätter, und soll sie dann – ein wenig unvorsichtig – mit dem tiefsten Seufzer wieder hingesetzt haben. Dafür kann ich nicht bürgen. Eine Stunde oder so beobachtete er die Leute, die am Ende von Piccadilly um Plätze in den Omnibussen kämpften. Nachmittags sah man ihn einige Augenblicke über Kennington Oval aufragen, als er aber sah, daß diese dichten Tausende mit dem Mysterium des Krickets beschäftigt waren und ihn gar nicht beachteten, ging er mit einem Seufzer seines Weges.

Er kam zwischen elf und zwölf Uhr abends zum Piccadilly Zirkus zurück und fand neue, andere Menschen. Offenbar waren sie sehr beschäftigt: voll von Dingen, die sie, aus unfaßbaren Gründen, tun könnten, und von anderen, die sie nicht tun könnten. Sie starrten ihn an, verhöhnten ihn und gingen ihres Weges. Die Automobile folgten einander und brausten ohne Unterbrechung am Rande des wimmelnden Pflasters hin. Leute tauchten aus den Restaurants auf oder gingen hinein, ernst, beschäftigt, würdig, leicht und angenehm erregt, oder scharf und wachsam – dem Betrug des gewandtesten Kellners unzugänglich. Der große Riese stand an seiner Ecke und sah sie alle an. »Wozu ist das alles?« murmelte er in trauervollem, weichem Flüsterton. »Wozu ist das alles? Sie sind alle so ernst. Was ist das, was ich nicht verstehe?«

Und keiner von ihnen allen schien so, wie er es konnte, das betrunkene Elend der gemalten Frauen an der Ecke zu sehen, die zerlumpte Armseligkeit, die die Gossen entlang schlich, die unendliche Nichtigkeit all dieser Geschäftigkeit. Die unendliche Nichtigkeit! Keiner von ihnen schien auch nur den Schatten von jenes Riesen Bedürfnis zu empfinden, den Schatten der Zukunft, der quer über ihre Pfade lag ...

Jenseits der Straße flammten hoch oben geheimnisvolle Buchstaben auf und verschwanden wieder; und hätte er sie lesen können, sie hätten ihm vielleicht die Dimensionen menschlichen Interesses verraten, hätten ihm von den fundamentalen Bedürfnissen und Zügen des Lebens gesprochen, wie es das kleine Volk auffaßte. Erst kam ein flammendes

T;

Dann folgte U,

TU;

Dann P,

TUP;

Bis schließlich folgende frohe Botschaft an alle, die die Last vom Ernst des Lebens spürten, quer über den Himmel vollständig dastand:

TUPPERS
MAGENWEIN ZUR KRÄFTIGUNG.

Schnapp! und sie war in die Nacht verschwunden, und ihr folgte in derselben langsamen Entwicklung eine zweite allgemeine Sorge:

SCHÖNHEITSSEIFE.

Nicht, wie man merkt, bloß reinigende Chemikalien, sondern etwas, wie man sagt, »Ideales«; und dann wurde der Dreifuß des kleinen Lebens vollständig:

YANKRES GELBE PILLEN.

Dann folgte nichts Neues, sondern wieder flammte Tupper, schnapp, schnapp, in roten Lettern über die Leere.

TUPP ...

In den ersten Stunden nach Mitternacht, scheint es, kam der junge Caddles in die schattige Ruhe von Regents Park, trat über das Gitter und legte sich auf einen Grashang hin, dicht neben der Stelle, wo man zur Winterszeit Schlittschuh läuft, und dort schlief er eine Stunde oder so. Und gegen sechs Uhr morgens sprach er mit einer schmutzigen Frau, die er in einem Graben bei Hampstead Heath schlafend gefunden hatte, und er fragte sie mit großem Ernst, wozu sie meine, daß sie da sei ...

IV

Caddles Wanderung in London kam am zweiten Tage morgens zu einer Krise. Denn da überwältigte ihn sein Hunger. Er zögerte, wo die heißduftenden Brote in einen Wagen geworfen wurden, und dann kniete er sehr langsam nieder und begann den Diebstahl. Er leerte den Wagen, während der Bäckerknecht zur Polizei floh, und dann griff seine große Hand in den Laden und leerte Ladentisch und Kästen. Dann ging er, noch essend, mit einem Armvoll weiter und schaute nach einem zweiten Laden aus, um sein Mahl fortzusetzen. Es war gerade eine jener Zeiten, wo die Arbeit selten ist, und die Nahrungsmittel teuer, und die Volksmenge in jenem Quartier sympathisierte selbst noch mit einem Riesen, der das Brot nahm, nach dem sie alle verlangten. Sie applaudierten der zweiten Phase seiner Mahlzeit und lachte über seine blöde Grimasse gegen den Polizisten.

»Ich hatte Hunger,« sagte er mit vollem Munde.

»Bravo!« rief die Menge. »Bravo!«

Als er dann aber seinen dritten Bäckerladen in Angriff nahm, wurde er von einem halben Dutzend Polizisten unterbrochen, die ihm mit Knütteln gegen die Schienbeine hämmerten.

»Hören Sie, mein feiner Riese,« sagte der kommandierende Beamte, »Sie kommen jetzt mit. Das ist nicht erlaubt hier so weit von zu Hause. Sie kommen jetzt mit nach Hause.« Sie taten ihr Bestes, ihn zu arretieren. Ich höre, ein Rollwagen jagte um die Zeit die Straßen auf und ab, um Ketten und Schiffskabelrollen zu holen, die bei dieser großen Verhaftung als Handfesseln dienen sollten. Niemand hatte die Absicht, ihn zu töten. »Er hat mit der Verschwörung nichts zu tun,« hatte Caterham gesagt. »Ich will kein unschuldiges Blut auf den Händen haben,« – und fügte hinzu: – »bis nicht alles andere versucht ist.«

Erst verstand Caddles die Bedeutung dieser Aufmerksamkeit nicht. Dann aber sagte er zu den Polizisten, sie sollten sich nicht zu Narren machen, und sprang in großen Sätzen davon, die sie alle weit zurückließen. Der Bäckerladen war auf dem Harrow Road gewesen, und er lief durch Canal London nach St. Johns Wood und setzte sich dort in einem Privatgarten hin, um sich die Zähne zu stochern und bald von einer neuen Schar Polizisten angegriffen zu werden.

»Lassen Sie mich in Ruhe,« knurrte er und stieg durch die Gärten – er ruinierte mehrere Rasen und stieß einen Zaun oder so etwas um, während ihm die energischen kleinen Polizisten folgten, zum Teil durch die Gärten, zum Teil die Straße vor den Häusern entlang. Hier liefen ein paar mit Flinten, aber sie machten keinen Gebrauch von ihnen. Als er auf den Edgware Road hinauskam, fand er in der Menge eine neue Note und eine neue Bewegung, und ein berittener Polizist ritt ihm über den Fuß und wurde für seine Mühe umgeworfen.

»Laßt mich in Ruhe,« schrie Caddles, indem er sich der atemlosen Menge zuwandte. »Ich hab' euch nichts getan.«

Jetzt war er waffenlos, denn seine Kreidehacke hatte er in Regents Park gelassen. Aber der arme Kerl schien mittlerweile die Notwendigkeit einer Waffe empfunden zu haben. Er wandte sich rückwärts nach dem Güterhof der Great Western Railway, riß den Träger eines großen Bogenlichtes aus – eine furchtbare Keule für ihn – und warf ihn sich über die Schulter. Und als er sah, daß die Polizei immer noch wieder herankam, um ihn zu plagen, ging er den Edgware Road entlang zurück, auf Cricklewood zu, und bog finster nach Norden ab.

Er wanderte bis Waltham und wandte sich dann nach Westen zurück und dann wieder auf London zu, und über die Kirchhöfe und den Hügel von Highgate kam er gegen Mittag der Riesenstadt wieder in Sicht. Er wandte sich seitwärts und setzte sich mit dem Rücken gegen das Haus in einem Garten nieder, der ganz London überschaute. Er war atemlos, und sein Gesicht war drohend, und jetzt drängen sich die Leute nicht mehr um ihn, wie sie getan hatten, als er gerade nach London gekommen war, sondern sie lagen im Nachbargarten im Hinterhalt und spähten aus vorsichtiger Deckung hervor. Sie wußten mittlerweile, die Sache war grimmiger als sie gedacht hatten. »Warum können sie mich nicht in Ruhe lassen,« knurrte der junge Caddles »Ich muß essen. Warum können sie mich nicht allein lassen.«

Er saß mit dunklem Gesicht da, nagte an seinen Knöcheln und blickte über London hinab. Die ganze Ermüdung, die Plagerei, Verwirrung und ohnmächtige Wut seiner Wanderungen kam in ihm zu einer Krise. »Sie sind nichts,« flüsterte er. »Sie sind nichts. Und sie wollen mich nicht in Ruh lassen, und sie wollen mir durchaus in den Weg kommen.«

»Uh! das kleine Volk!«

Er biß sich schärfer auf die Knöchel, und sein Knurren wurde tiefer. »Kreide für sie brechen,« flüsterte er. »Und die ganze Welt gehört ihnen! Ich hab' keinen Platz drin – nirgends.«

Dann sah er mit einem Krampf ohnmächtiger Wut die jetzt vertraute Gestalt eines Polizisten rittlings auf der Gartenmauer.

»Laßt mich in Ruh,« knurrte der Riese. »Laßt mich in Ruh.«

»Ich hab' meine Pflicht zu tun,« sagte der kleine Polizist mit weißem und entschlossenem Gesicht.

»Laß mich in Ruh. Ich muß leben, so gut wie ihr. Ich muß denken. Ich muß essen. Ihr, laßt mich in Ruh.«

»Es ist das Gesetz,« sagte der kleine Polizist, ohne näher heranzukommen. »Wir haben das Gesetz nicht gemacht.«

»Ich auch nicht,« sagte der junge Caddles. »Ihr kleinen Leute habt all das gemacht, eh' ich geboren war. Ihr mit eurem Gesetz! Was ich darf! und nicht darf! Nichts zu essen für mich, wenn ich nicht als Sklave arbeite, keine Ruh, kein Obdach, nichts, und ihr sagt mir – –«

»Das geht mich nichts an,« sagte der Polizist. »Ich bin nicht zum Streiten da. Was ich zu tun habe, ist, das Gesetz zu vollstrecken.« Und er brachte sein zweites Bein über die Mauer und schien herabkommen zu wollen. Hinter ihm erschienen weitere Polizisten.

»Ich hab' nichts gegen Sie – merken Sie sich das,« sagte der junge Caddles mit bleichem Gesicht, den Griff fest geschlossen um seine riesige Eisenkeule, und einen großen Finger erklärend auf den Polizisten gerichtet. »Ich hab' nichts gegen Sie. Aber – lassen Sie mich in Ruh

Der Polizist versuchte, obgleich er eine monströse Tragödie klar vor Augen hatte, ruhig und alltäglich zu bleiben. »Geben Sie mir die Proklamation,« sagte er zu einem unsichtbar Folgenden, und ihm wurde ein kleines weißes Papier gereicht.

»Laßt mich in Ruh,« sagte Caddles knurrend, angespannt und zusammengezogen.

»Dies heißt,« sagte der Polizist, ehe er las, »gehen Sie nach Hause. Gehen Sie nach Hause in Ihre Kalkgrube. Wenn nicht, so geht es Ihnen schlecht.«

Caddles ließ ein unartikuliertes Knurren hören.

Als dann die Proklamation verlesen war, gab der Polizist ein Zeichen. Vier Leute mit Gewehren kamen in Sicht und nahmen die Mauer entlang affektiert unbekümmerte Stellungen ein. Sie trugen die Uniform der Rattenpolizei. Beim Anblick der Gewehre flammte der junge Caddles zur Wut auf. Er entsann sich des Stichs der Jagdflinten der Farmer von Wreckstone. »Ihr wollt die da auf mich abschießen?« sagte er mit ausgestrecktem Finger, und dem Offizier schien, er müsse Angst haben.

»Wenn Sie nicht in Ihre Grube zurückgehen – –«

Dann hatte sich der Offizier im Nu über die Mauer zurückgeschwungen, und sechzig Fuß über ihm wirbelte der große elektrische Mast zu seinem Tode herab. Bumm, bumm, bumm machten die schweren Gewehre, und krach! flog die zerschmetterte Mauer, der Boden und die Fundamentierung des Gartens empor. Etwas flog mit, was auf den Händen eines der Schützen rote Tropfen zurückließ. Die Schützen duckten sich hierhin und dorthin und wendeten tapfer, um von neuem zu feuern. Aber der junge Caddles, der schon zweimal durch den Leib geschossen war, hatte sich umgedreht, um zu sehen, wer ihn so schwer im Rücken getroffen hatte. Bumm! Bumm! Er hatte eine Vision von Häusern und Gewächshäusern und Gärten, von Leuten, die sich an Fenstern duckten, und das Ganze schwankte furchtbar und geheimnisvoll. Er schien drei stolpernde Schritte getan, seine ungeheure Keule gehoben und wieder fallengelassen und seine Brust gepackt zu haben. Er wurde vom Schmerz gestachelt und verzerrt.

Was war dies Warme und Feuchte auf seiner Hand? ...

Ein Mensch, der aus einem Schlafzimmerfenster herausspähte, sah ihn, wie er mit einem Gesicht weinenden Entsetzens das Blut auf seiner Hand anstarrte, und dann bogen sich die Knie unter ihm, und er stürzte krachend zu Boden, die erste der Riesennesseln, die unter Caterhams entschlossenem Griff fiel, die letzte, die ihm nach seiner Berechnung in die Hand fallen würde.


 << zurück weiter >>