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Zweites Buch
Der Nährstoff im Dorf

Der Nährstoff kommt auf

I

Unser Thema, das so kompakt in Mr. Bensingtons Laboratorium begann, hat sich schon verbreitert und verzweigt, bis es hierhin und dorthin zeigt, und von nun an ist unsere ganze Geschichte die einer Verzweigung. Der Nahrung der Götter weiter folgen, heißt, den Verästelungen eines sich beständig spaltenden Baumes nachspüren; in kurzer Zeit, im Viertel eines Lebensalters war der Nährstoff durchgesickert und hatte sich von seiner ersten Quelle aus, der kleinen Farm bei Hickleybrow, ergossen, bis er sich – er und der Ruhm und Schatten seiner Macht – durch die ganze Welt verbreitet hatte. Er verbreitete sich sehr schnell über England hinaus. Bald arbeitete er über den ganzen Kontinent von Europa hin, in Japan, in Australien, zuletzt in der ganzen Welt auf sein bestimmtes Ziel hin. Stets arbeitete er langsam, auf indirekten Wegen und gegen Widerstand. Es war das Wachstum im Aufruhr. Dem Vorurteil zum Trotz, dem Gesetz und Reglement zum Trotz, all jenem hartnäckigen Konservatismus zum Trotz, der der formalen Ordnung der Menschheit zugrunde liegt, verfolgte die Nahrung der Götter, als sie einmal in Bewegung gebracht war, ihren feinen, unbezwinglichen Gang.

Die Kinder des Nährstoffs wuchsen all diese Jahre hindurch unentwegt; das war die Kardinaltatsache der Zeit. Aber gerade, was durchsickert, macht die Geschichte. Die Kinder, die davon gegessen hatten, wuchsen, und bald wuchsen auch andere Kinder; und all die besten Absichten von der Welt konnten weiteres und immer weiteres Durchsickern nicht aufhalten. Der Nährstoff drang mit der Beharrlichkeit eines lebenden Wesens durch. Mehl, das man mit dem Stoff behandelt hatte, zerbröckelte in trockenem Wetter fast wie absichtlich zu einem unfaßbaren Pulver und erhob sich und flog vor dem leisesten Windhauch her. Bald gewann sich ein neues Insekt den Weg zu einer vorübergehenden neuen Entwicklung, bald kam ein neuer Ausbruch aus den Kanälen von Ratten und ähnlichem Gewürm. Einige Tage lang kämpfte das Dorf Pangbourne in Berkshire mit Riesenameisen. Drei Menschen wurden gebissen und starben. Es gab eine Panik, es gab einen Kampf, und das sich erhebende Übel wurde wieder niedergerungen und ließ stets in den dunkleren Wesen des Lebens – die auf ewig verwandelt waren – etwas zurück. Dann wieder ein neuer akuter und erschreckender Ausbruch, ein schnelles Aufwachsen von monströsen Krautdickichten, eine schwebende Aussaat über die Welt unheimlich wachsender Disteln, die Welt der Küchenschaben, die die Menschen mit Flinten bekämpften, oder eine Plage gewaltiger Fliegen.

Es fanden grausige und verzweifelte Kämpfe an dunklen Orten statt. Der Nährstoff erzeugte Helden für die Sache der Kleinheit ...

Und die Menschen nahmen solche Geschehnisse in ihr Leben auf und traten ihnen mit den Hilfsmitteln des Moments entgegen und sagten einander, »in der wesentlichen Ordnung der Dinge sei keine Änderung eingetreten«. Nach der ersten großen Panik wurde Caterham trotz der Gewalt seiner Beredsamkeit zu einer sekundären Figur in der politischen Welt, er blieb im Geist der Menschen als der Vertreter einer extremen Ansicht bestehen.

Nur langsam bahnte er sich den Weg zu einer zentralen Stellung in den Dingen. »Es war in der wesentlichen Ordnung der Dinge keine Änderung eingetreten« – darüber war sich jener hervorragende Führer modernen Denkens, Doktor Winkles, sehr klar – und die Vertreter dessen, was sich in jenen Tagen Fortschrittlerischer Liberalismus nannte, wurden über die wesentliche Unaufrichtigkeit ihres Fortschritts ganz sentimental. Ihre Träume, schien es, drehten sich völlig um kleine Nationen, kleine Sprachen, kleine Hausstände – jeder auf seiner kleinen Farm in sich gestützt. Eine Mode für das Kleine und Saubere begann. Groß sein hieß »ordinär« sein, und zierlich, sauber, niedlich, klein, »bis ins kleinste vollkommen« – das wurden die Schlagworte kritischen Beifalls ...

Unterdessen wuchsen die Kinder des Nährstoffs ruhig, ohne zu eilen, wie Kinder es müssen, in eine Welt hinein, die sich wandelte, um sie aufzunehmen, und sie sammelten Kraft und Statur und Wissen, wurden individuell und zielvoll, erhoben sich langsam zu den Dimensionen ihrer Bestimmung. Bald waren sie wie ein natürlicher Teil der Welt; all dies Sich-Rühren der Größe war wie ein natürlicher Teil der Welt und die Menschen fragten sich, wie die Dinge vor ihrer Zeit gewesen waren. Zu den Ohren der Menschen drangen Geschichten davon, wozu die Riesenjungen imstande waren, und sie sagten »Wunderbar!« – ohne sich im geringsten zu wundern. Die gelesensten Blätter erzählten von Cossars drei Söhnen, und wie diese erstaunlichen Kinder große Kanonen hoben, Eisenmassen Hunderte von Metern schleuderten und zweihundert Fuß hoch sprangen. Man sagte, sie grüben einen Brunnen, tiefer, als die Menschen je einen Brunnen oder eine Mine gegraben hatten, und sie suchten, sagte man, nach Schätzen, die in der Erde verborgen waren, seit die Erde stand.

Diese Kinder, sagten die beliebten Magazine, werden Berge ebnen, Meere überbrücken, die Erde wie eine Honigscheibe mit Tunnels durchziehen. »Wunderbar!« sagten die kleinen Leute, »nicht? wie bequem wir's haben werden!« und sie gingen an ihr Geschäft, als gäbe es etwas wie die Nahrung der Götter gar nicht auf Erden. Und freilich waren diese Dinge nicht mehr als die ersten Andeutungen und Versprechungen der Kräfte dieser Kinder des Nährstoffs. Noch war es bei ihnen nicht mehr als Kinderspiel, nicht mehr als die erste Anwendung einer Kraft, in der noch kein Ziel aufgestiegen war. Sie kannten sich noch nicht als das, was sie waren. Sie waren Kinder, langsam wachsende Kinder einer neuen Rasse. Die Riesenkraft wuchs Tag für Tag – der Riesenwille sollte erst noch zu einem Zweck und Ziel aufwachsen.

Wenn man in der verkürzenden Perspektive der Zeit auf diese Jahre des Übergangs zurückblickt, sehen sie aus, wie ein einziges, zusammenhängendes Geschehnis; aber tatsächlich sah niemand, wie die Größe in die Welt kam, ebenso wie niemand in der ganzen Welt, ehe nicht Jahrhunderte vergangen waren, die Auflösung und den Fall Roms als etwas Geschehendes sah. Diejenigen, die in jenen Tagen lebten, staken zu sehr in diesen Entwicklungen drin, um sie im Zusammenhang als etwas Einzelnes zu sehen. Selbst klugen Leuten schien es, als gebe der Nährstoff der Welt nichts als eine Ernte unbändiger, unzusammenhängender Unerheblichkeiten, die wohl erschüttern und beunruhigen, aber der bestehenden Ordnung und dem Bau der Menschheit sonst nichts tun konnten.

Für Einen Beobachter wenigstens ist das Wunderbarste in jener ganzen Periode sich sammelnden Drucks die unbesiegliche Stumpfheit der großen Masse des Volks, ihr ruhiges Ausharren bei allem, was die ungeheuren Persönlichkeiten ignorierte und das Versprechen noch ungeheuerer Dinge, das unter ihnen wuchs. Genau wie mancher Strom am glattesten ist, am ruhigsten aussieht, wo er tief und stark gerade vor dem Rande eines Katarakts hinläuft, so schien sich während dieser Tage alles, was im Menschen am konservativsten ist, zu ruhiger Herrschaft festzusetzen. Die Reaktion wurde populär, man redete vom Bankerott der Wissenschaft, vom Tode des Fortschritts, von der Heraufkunft der Mandarinen, redete von solchen Dingen mitten unter den widerhallenden Schritten der Kinder des Nährstoffs. Die lärmenden, sinnlosen Revolutionen der alten Zeit, wo eine ungeheure Menge alberner, kleiner Menschen irgendeinen albernen, kleinen Monarchen und dergleichen verjagte – die waren freilich ausgestorben und entschwunden; aber der Wechsel war nicht ausgestorben. Nur hatte der Wechsel gewechselt. Das Neue kam auf seine eigene Art und es überstieg das gewöhnliche Verständnis der Welt.

Wollte man ausführlich von seinem Kommen erzählen, man müßte eine große Weltgeschichte schreiben, denn überall lief eine parallele Kette von Geschehnissen hin. Wenn man also von der Art seines Auftretens an einem Orte erzählt, so erzählt man etwas vom Ganzen. Es traf sich, daß ein verstreutes Samenkorn der Unermeßlichkeit in das hübsche, kleine Dorf Cheasing Eyebright in Kent fiel, und die Geschichte seines wunderlichen Keimens dort, und der tragischen Nichtigkeit, die folgte, kann man zu geben versuchen – indem man gleichsam einem Faden folgt, um die Richtung zu zeigen, in der das ganze verschlungene Gewebe der Sache vom Webstuhl der Zeit abrollte.

II

Cheasing Eyebright hatte natürlich einen Vikar. Es gibt Vikare und Vikare, und von allen Arten liebe ich einen neuerungssüchtigen, scheckigen, progressiven, professionellen Reaktionär am wenigsten. Aber der Vikar von Cheasing Eyebright war einer der am wenigsten neuerungssüchtigen Vikare, ein höchst würdiger, runder, reifer und konservativ gesinnter kleiner Mann. Es wird gut sein, wenn wir in unserer Erzählung ein wenig zurückgreifen, um von ihm zu berichten. Er paßte zu seinem Dorf, und man stellt sie sich am besten vor, vereinigt, wie sie zu sein pflegten, abends, beim Sonnenuntergang, als Mrs. Skinner – man wird sich ihrer Flucht entsinnen – ganz unvermutet den Nährstoff mit in diese ländliche Heiterkeit brachte.

Das Dorf zeigte sich unter dem westlichen Licht gerade von seiner besten Seite. Es lag das Tal entlang unter den Buchenwäldern des Hanges, eine Schnur von Häusern mit Dächern aus Stroh oder roten Ziegeln, Häusern mit gitterverzierten Toren und Fassaden, die von Mispelbäumen überzogen waren, und sie drängten sich immer enger, wo der Weg sich von den Buchsbäumen nach der Brücke zu senkte. Das Pfarrhaus spähte nicht zu ostentativ unter den Bäumen jenseits des Gasthofs hervor, eine von der Zeit gereifte frühgeorgianische Fassade, und der Kirchturm stieg in der Einsenkung, die das Tal im Umriß der Hügel machte, glücklich empor. Ein gewundener Bach, eine dünne Abwechslung von blauem Himmel und Schaum, glitzerte unter einem dichten Rand von Rohr und Pfennigkraut und überhängenden Weiden mitten durch einen Schlangenwimpel grüner Wiese. Der ganze Anblick zeigte unter der Sonnenuntergangswärme jenen merkwürdig englischen Ausdruck gereifter Bebauung, jenen Hauch stiller Vollständigkeit, der die Vollkommenheit nachäfft.

Und auch der Vikar sah weich aus. Er sah gewohnheitsmäßig und wesentlich weich aus, als sei er ein weiches Baby gewesen, geboren in einer weichen Klasse, ein reifer und saftiger kleiner Junge. Man konnte ihm, noch ehe er es erwähnte, ansehen, daß er in eine epheubekleidete Schule mit großartigen Traditionen, mit aristokratischen Verbindungen und ohne chemisches Laboratorium gegangen, und von dort in ein ehrwürdiges College von reifster Gothik gezogen war. Er hatte nur wenig Bücher, die unter tausend Jahr alt waren; unter ihnen machten Jarrow und Ellis und gute prämethodistische Predigten die große Masse aus. Er war ein Mann von mäßiger Höhe, im Aussehn ein wenig verkürzt durch seine Äquatorialdimensionen, und ein Gesicht, das von allem Anfang an weich gewesen war, war jetzt tropisch reif. Der Bart eines David verbarg seine Kinnfülle; er trug aus Eleganz keine Uhrkette, und seine bescheidenen geistlichen Gewänder waren von einem Westend-Schneider gemacht ... Und er saß da, eine Hand an jedem Schienbein und blinzelte sein Dorf mit seligem Beifall an. Er winkte mit runder Hand darüber hin. Sein Refrain erklang. Was konnte man mehr wünschen?

»Wir sind glücklich gelegen,« sagte er, indem er es zahm ausdrückte.

»Wir wohnen in einer Festung der Hügel,« erweiterte er seinen Satz.

Er erklärte sich ausführlich. »Wir sind dem allem fern.«

Denn sie, sein Freund und er, hatten von den Greueln der Zeit gesprochen, von Demokratie und Weltlicher Erziehung und Himmelskratzern und Automobilen, und vom Amerikanischen Einfall, der brockenweisen Belesenheit des Publikums und dem völligen Verschwinden des Geschmacks.

»Wir sind dem allen fern,« wiederholte er, und während er noch sprach, trafen die Schritte einer Nahenden sein Ohr und er wälzte sich herum und sah sie an.

Man stellt sich der alten Frau stetig zittriges Anrücken vor, das Bündel gepackt mit der knochigen, dürren Hand, die Nase (und sie war ihr Gesicht) gerunzelt vor atemloser Entschlossenheit. Man sieht die Mohnköpfe schicksalsschwer auf ihrem Hute nicken, und die staubweißen Gummizugstiefel unter ihren dürftigen Röcken, die mit unwiderruflichem, langsamem Wechsel nach Osten und Westen wiesen. Unter ihrem Arm zitterte und rutschte – ein widerspenstiger Gefangener – ein kaum sehr wertvoller Schirm. Was konnte dem Vikar sagen, daß diese groteske, alte Gestalt – jedenfalls, soweit sein Dorf in Betracht kam – niemand Geringeres war als der furchtbare Zufall und das Unvorhergesehene – die Unholdin, die schwache Menschen das Schicksal nennen. Aber für uns war es, wie man versteht, nur Mrs. Skinner.

Da sie für einen Knix zu sehr beladen war, tat sie, als sehe sie ihn und seinen Freund überhaupt nicht und ging so, klipp, klapp, keine drei Meter weit von ihnen entfernt, zum Dorf hinab. Der Vikar beobachtete ihren langsamen Gang mit Schweigen und bei ihm reifte derweilen eine Bemerkung ...

Der Zwischenfall schien ihm ohne jede Bedeutung. Die alte Frau, aëre perennius, hat Bündel getragen, seit die Welt begann. Was ist anders geworden?

»Wir sind all dem fern,« sagte der Vikar. »Wir leben in einer Atmosphäre einfacher und dauernder Dinge: Geburt und Arbeit, einfache Saatzeit und einfacher Herbst. Der Aufruhr geht an uns vorüber.« Er war immer groß, wenn er über die Dinge redete, die er die dauernden nannte. »Die Dinge wechseln,« sagte er, »aber die Menschheit aëre perennius

So der Vikar. Er liebte ein klassisches Zitat, wenn es auf feine Art falsch angewendet war. Unten hatte sich Mrs. Skinner, unelegant aber entschlossen, mit Wilmerdings Gatter eingelassen.

III

Niemand weiß, was der Vikar aus den Riesenpustern machte.

Ohne Zweifel war er unter den ersten, die sie entdeckten. Sie standen in Zwischenräumen den Pfad zwischen den Dünen und dem Dorfende hinauf und herab verstreut, einen Pfad, den er täglich auf seinem Verdauungsspaziergang ging. Im ganzen waren von diesen abnormen Pilzen reichlich dreißig vorhanden. Der Vikar scheint sie alle einzeln angestarrt und die meisten ein- oder zweimal mit seinem Stock gestochen zu haben. Einmal versuchte er, einen mit seinen Armen zu messen, aber er barst bei seiner Ixionsumarmung.

Er sprach mit mehreren Leuten davon und sagte, sie seien »wunderbar!«, und er erzählte mindestens sieben verschiedenen Leuten die wohlbekannte Geschichte von dem Fliesenstein, der durch Pilzgewächse darunter aus dem Kellerboden emporgehoben wurde. Er schlug seinen Sowerby nach, um zu sehen, ob es Lycoperdon coelatum gewesen war oder giganteum. Er hegte eine Theorie, daß giganteum zu unrecht so benannt sei.

Man weiß nicht, ob ihm auffiel, daß diese weißen Kugeln genau auf der Spur lagen, der gestern jene alte Frau gefolgt war, oder ob er bemerkte, daß die letzten der Reihe keine zwanzig Meter weit von dem Tor zum Hause der Caddles schwollen. Wenn er diese Dinge beobachtete, so machte er keinen Versuch, seine Beobachtung zu Protokoll zu geben. Seine Beobachtung in botanischen Dingen war das, was die geringere Art von Wissenschaftern »geübte Beobachtung« nennt – man achtet auf bestimmte Dinge und vernachlässigt alles andere. Und er tat nichts, um dieses Phänomen mit der merkwürdigen Expansion des Babys der Caddles in Verbindung zu bringen, die nun schon seit Wochen im Gange war, seitdem nämlich Caddles vor einem Monat oder mehr eines Sonntagnachmittags über die Dünen gezogen war, um seine Schwiegermutter zu besuchen und Mr. Skinner (seither verstorben) über seine Behandlung von Hennen aufschneiden zu hören.

IV

Das Wachstum der Puster, das dem Wachstum des Babys der Caddles folgte, hätte dem Vikar eigentlich die Augen öffnen sollen. Die letztere Tatsache hatte ihm bei der Taufe – beinahe überwältigend – schon geradezu in den Armen gelegen ...

Der Junge schrie mit betäubender Heftigkeit, als ihm das kalte Wasser, das sein göttliches Erbe und sein Recht an den Namen »Albert Edward Caddles« besiegelte, auf die Stirne fiel. Er war bereits so weit, daß die Mutter ihn nicht mehr tragen konnte, und Caddles, der freilich stolperte, aber doch triumphierend über die Eltern quantitativ geringerer Kinder grinste, trug ihn zu der Bank zurück, die seine Verwandtschaft einnahm.

»So ein Kind habe ich noch nie gesehen!« sagte der Vikar.

Dies war der erste öffentliche Fingerzeig, daß der Caddles-Junge, der seine irdische Karriere ein wenig unter sieben Pfund begonnen hatte, schließlich seinen Eltern doch Ehre machen wollte. Sehr bald war es klar, daß er nicht nur eine Ehre, sondern ein Ruhm für sie zu werden gedachte. Und nach einem Monat leuchtete ihr Ruhm so hell, daß er bei Leuten in Caddles' Stellung ungehörig war.

Der Fleischer wog das Kind elfmal. Er war ein Mann von wenig Worten, und er war bald mit ihnen fertig. Das erste Mal sagte er: »Der is tüchtig«; das nächste Mal sagte er: »Auf mein Wort!«, das dritte Mal sagte er: » Na!« und danach blies er nur noch jedesmal enorm, kratzte sich den Kopf und sah seine Wage mit nie dagewesenem Mißtrauen an. Alles kam, um das Große Baby zu sehen – so nannte man es nach allgemeiner Übereinkunft – und die meisten sagten: »Das is 'n Kerl!«

Lady Wondershoot, die Dorftyrannin, kam am Tage nach der dritten Wägung und sah sich das Phänomen durch eine Brille genau an, die es mit heulender Angst erfüllte. »Das ist ein ungewöhnlich großes Kind,« sagte sie mit lauter, belehrender Stimme zu seiner Mutter. »Sie sollten es mit ungewöhnlicher Sorgfalt behandeln, Caddles. Natürlich wird es bei der Flaschennährung nicht so weiter gehen, aber wir müssen tun, was wir können. Ich werde Ihnen noch etwas Flanell herunterschicken.«

Der Doktor kam und maß das Kind mit einem Bandmaß und schrieb die Ziffern in ein Notizbuch, und der alte Mr. Drifthassock, der bei Up Marden eine Farm hatte, brachte einen Dungreisenden zwei Meilen Umwegs weit mit, um sich das Kind anzusehen. Der Reisende fragte dreimal nach dem Alter des Kindes und sagte schließlich, er wolle verdammt sein. Er sagte auch, man müßte es auf eine Baby-Ausstellung bringen. Und den ganzen Tag hindurch kamen außerhalb der Schulstunden kleine Kinder und sagten: »Bitte, Mrs. Caddles, können wir Ihr Baby mal ansehen, bitte, Mrs. Caddles?« bis Mrs. Caddles dem ein Ende machen mußte. Und mitten unter all diesen Szenen der Verwunderung kam Mrs. Skinner und stellte sich hin und lächelte; sie stellte sich etwas in den Hintergrund, die beiden scharfen Ellbogen in den hageren, knochigen Händen, und sie lächelte, lächelte unter und um ihre Nase mit einem Lächeln unendlicher Unergründlichkeit.

»Sogar diese alte Hexe von einer Großmutter wird ganz angenehm aussehen,« sagte Lady Wondershoot. »Obgleich's mir leid tut, daß sie wieder ins Dorf gekommen ist.«

Natürlich war wie bei fast allen Bauernbabys auch bei diesem schon das Wohltätigkeitselement aufgetreten, aber das Kind machte bald durch kolossales Schreien klar, daß es noch nicht entfernt genug aufgetreten war.

Das Baby war zu einer Verwunderung von neun Tagen berechtigt, und alles wunderte sich über sein erstaunliches Wachstum glücklich zweimal so lange und länger. Und dann, muß man wissen, wuchs es, statt in den Hintergrund zurückzutreten und anderen Wundern Platz zu machen, mehr als jemals weiter!

Lady Wondershoot hörte Mrs. Greenfield, ihre Haushälterin, mit unendlichem Erstaunen.

»Caddles schon wieder unten! Nichts zu essen für das Kind! Meine liebe Greenfield, das ist ja unmöglich: Das Geschöpf ißt wie ein Nilpferd! Es kann nicht wahr sein.«

»Ich hoffe jedenfalls, man betrügt Sie nicht, Mylady,« sagte Mrs. Greenfield.

»Es ist schwer zu sagen bei solchen Leuten,« sagte Lady Wondershoot. »Nun möchte ich, meine gute Greenfield, Sie gehen heut' nachmittag einmal selbst hinunter und sehen sich's an – sehen sich's an – sehen sich's an, wenn er seine Flasche bekommt. So groß er ist, ich kann mir nicht vorstellen, daß er mehr als sechs Kannen am Tage braucht.«

»Mehr hat er nicht zu brauchen, Mylady,« sagte Mrs. Greenfield.

Lady Wondershoots Hand zitterte vor jener Erregung, jener argwöhnischen Wut, die sich in allen echten Aristokraten regt, wenn sie denken, möglicherweise seien die niedrigeren Klassen im Grunde – ebenso niedrig wie die höheren und – da liegt der Stachel – die Gewinner im Spiel.

Aber Mrs. Greenfield konnte kein Anzeichen der Veruntreuung beobachten, und es erging der Befehl, täglich eine vermehrte Menge in die Kinderstube der Caddles zu liefern. Kaum war die erste Lieferung fort, so stand Caddles schon wieder in demütig entschuldigender Verfassung in dem großen Hause.

»Wir hab'n sie so in ach genommen, Mrs. Greenfield, ich versichere Sie, aber er hat sie richtig gespreng! Sie flogen mit solche Gewalt, daß ein Knopf eine Fensterscheibe zerschlagen hat, Mrs. Greenfield, und einer hat mir 'n richtigen Klapps gegeben, hier, sehen Sie.«

Als Lady Wondershoot hörte, daß dieses erstaunliche Kind tatsächlich seine schönen Wohltätigkeitskleider gesprengt hatte, entschied sie, sie müsse selber mit Caddles reden. Er erschien vor ihr, nachdem er sich hastig das Haar naß gemacht und mit der Hand geglättet hatte, und er klammerte sich atemlos an seinen Hutrand, als wäre er ein Rettungsgürtel, und er stolperte aus bloßer Geistesbekümmernis über den Teppichrand.

Lady Wondershoot liebte es, Caddles grob zu behandeln. Caddles war ihr Ideal der unteren Klasse: unehrlich, treu, demütig, fleißig und der Verantwortung unfaßbar unfähig. Sie sagte ihm, es sei eine ernste Sache mit seinem Kind.

»Das is sein Appetit, Mylady,« sagte Caddles in steigendem Ton.

»Ihn bännigen, Mylady, kann mer nich,« sagte Caddles. »Da lieg er, Mylady, und strampel und heul so furchtbar! Wir haben nich's Herz, Mylady. Und wenn wir's hätten – da würd'n sich die Nachbarn ins Mittel legen ...«

Lady Wondershoot zog den Doktor der Pfarre zu Rate.

»Was ich wissen möchte«, sagte Lady Wondershoot, »ist, ob es recht ist, wenn dieses Kind eine so ungewöhnliche Menge Milch bekommt?«

»Die richtige Menge für ein Kind dieses Alters,« sagte der Gemeindedoktor, »ist anderthalb bis zwei Kannen in vierundzwanzig Stunden. Ich sehe nicht ein, warum Sie ihm mehr liefern sollten. Wenn Sie es tun, so ist das Ihre eigene Großmut. Natürlich könnten wir es ein paar Tage lang mit der berechtigten Menge versuchen. Aber ich muß zugeben, das Kind scheint aus irgend einem Grunde psychologisch anders geartet zu sein. Ein Fall allgemeiner Hypertrophie.«

»Es ist ungerecht gegen die anderen Dorfkinder,« sagte Lady Wondershoot. »Wir werden sicher Klagen hören, wenn das weitergeht.«

»Ich sehe nicht ein, wie man von irgend jemandem erwarten kann, daß er mehr als die anerkannte Menge gibt. Wir könnten darauf bestehen, daß er damit auskommt, und wenn er nicht will, könnten wir ihn als einen Fall ins Hospital schicken.«

»Mir scheint,« sagte Lady Wondershoot nachdenklich, »abgesehen von der Größe und dem Appetit finden Sie nichts Abnormes – nichts Monströses?«

»Nein. Nein. Aber wenn dies Wachstum so weitergeht, werden wir ohne Zweifel ernste, moralische und intellektuelle Mängel finden. Das könnte man nach Max Nordaus Gesetz fast prophezeien. Ein höchst begabter und sehr berühmter Philosoph, Lady Wondershoot. Er hat entdeckt, daß das Abnorme – abnorm ist, eine sehr wertvolle Entdeckung, die es wert ist, daß man sie nie vergißt. Ich finde, sie ist mir in der Praxis von großen Diensten. Wenn ich auf etwas Abnormes stoße, sage ich sofort: »Dies ist abnorm.« Seine Augen wurden unergründlich, seine Stimme senkte sich, sein Wesen grenzte an intime Vertraulichkeit. Er hob steif eine Hand. »Und in dem Sinne behandle ich es,« sagte er.

V

»Nanu!« sagte der Vikar am Tage nach Mrs. Skinners Ankunft bei seinem Frühstück. »Nanu! was ist dies?« und er richtete seine Brille mit dem Ausdruck des Protestes auf die Zeitung.

»Riesenwespen! Wohin kommt die Welt! ... Amerikanische Journalisten vermutlich! Zum Henker mit diesen Neuen Dingen! Riesenstachelbeeren sind gut genug für mich.«

»Unsinn!« sagte der Vikar und trank seinen Kaffee in einem Zuge aus, die Augen fest auf die Zeitung gerichtet; und er schnalzte mit den Lippen.

»Quatsch!« sagte der Vikar und warf die Anspielung völlig beiseite.

Aber am nächsten Tage fand er mehr darüber, und das Licht kam.

Aber noch nicht ganz auf einmal. Als er an diesem Tage seinen Verdauungsspaziergang machte, kicherte er noch immer über die absurde Geschichte, die diese Zeitung ihn glauben machen wollte. Wespen, wahrhaftig! – einen Hund töten! Als er an der Stelle jener ersten Ernte von Staubpilzen vorüberkam, bemerkte er beiläufig, daß das Gras dort sehr üppig wuchs, aber er brachte es keineswegs mit dem Gegenstand seiner Heiterkeit in Verbindung. »Wir hätten sicher etwas davon gehört,« sagte er; »Whistable kann keine zwanzig Meilen von hier entfernt sein.«

Weiterhin fand er einen zweiten Staubpilz, einen von der zweiten Ernte, der sich wie ein Ei des Vogels Rock aus der abnorm rauhen Wiese erhob.

Die Sache ging ihm in einem Blitz auf.

Seine gewohnte Runde machte er an diesem Morgen nicht. Statt dessen wandte er sich beim zweiten Gatter seitwärts und ging zum Haus der Caddles hinüber. »Wo ist das Baby?« fragte er, und bei seinem Anblick: »Meine Güte!«

Er ging das Dorf hinauf und begegnete dem Doktor, der in voller Hast herunterkam. Er faßte ihn am Arm.

»Was bedeutet dies?« sagte er. »Haben Sie die letzten Tage die Zeitung gelesen?«

Der Doktor sagte: »Ja.«

»Und was ist mit dem Kind los? Was ist mit dem allen los, mit Wespen, Staubpilzen, Babys, eh? Wodurch wachsen sie so? Das ist ganz unerwartet. Und in Kent! Wenn es noch Amerika wäre – –«

»Es ist etwas schwer zu sagen, was es eigentlich ist,« sagte der Doktor. »Soweit ich die Symptome erkennen kann – –«

»Ja?«

»Ist es Hypertrophie – Allgemeine Hypertrophie.«

»Hypertrophie?«

»Ja. Allgemeine Hypertrophie – die alle Körperstrukturen beeinflußt – den ganzen Organismus. Ich kann wohl sagen, unter uns, in meinem Innern bin ich so ziemlich überzeugt, daß es das ist ... Aber man muß vorsichtig sein.«

»Ah,« sagte der Vikar, sehr erleichtert, daß er den Doktor auf der Höhe der Situation fand. »Aber wie kommt es, daß sie auf diese Art ausbricht, sich über ein ganzes Land verbreitet?«

»Das«, sagte der Doktor, »ist wiederum schwer zu sagen.«

»Urshot. Hier. Es ist ein ziemlich klarer Fall von Ausbreitung.«

»Ja,« sagte der Doktor. »Ja. Es scheint so. Auf jeden Fall hat es starke Ähnlichkeit mit einer Art Epidemie. Wahrscheinlich wird man mit ›Epidemischer Hypertrophie‹ das Richtige treffen.«

»Epidemisch!« sagte der Vikar. »Sie meinen doch nicht, daß es ansteckt?«

Der Doktor lächelte milde und rieb die Hände aneinander. »Darüber könnte ich nichts sagen,« sagte er.

»Aber – –!« rief der Vikar mit runden Augen. »Wenn es ansteckend ist – dann – dann kann es uns fassen!«

Er tat einen Schritt die Straße hinauf und machte kehrt.

»Ich bin gerade dagewesen,« rief er. »Soll ich nicht lieber – –? Ich geh' sofort nach Haus und nehme ein Bad und lasse meine Kleider ausräuchern.«

Der Doktor sah einen Moment seinem verschwindenden Rücken nach, machte dann kehrt und ging auf sein eigenes Haus zu ...

Aber unterwegs überlegte er sich, daß ein Fall einen Monat lang im Dorf gewesen war, ohne daß jemand von der Krankheit angesteckt war, und nach einer Pause des Zögerns beschloß er, so tapfer zu sein, wie es ein Doktor sein sollte, und die Gefahren wie ein Mann auf sich zu nehmen.

Und freilich war er in seiner Überlegung gut beraten. Das Wachstum war das letzte, was ihm je noch einmal passieren konnte. Er hätte – und der Vikar hätte – Herakleophorbia in Wagenladungen essen können. Denn mit dem Wachstum war es bei ihnen vorbei. Mit dem Wachstum war es bei diesen beiden Herren für alle Ewigkeit vorbei.

VI

Es war ein Tag oder so nach dieser Unterredung, das heißt, ein Tag oder so nach der Verbrennung der Experimentalfarm, da kam Winkles zu Redwood und zeigte ihm einen beleidigenden Brief.

Es war ein anonymer Brief, und ein Autor sollte die Geheimnisse seiner Charaktere wahren. »Sie machen sich nur ein natürliches Phänomen zunutze,« sagte der Brief, »und Sie versuchen durch Ihren Brief an die ›Times‹ für sich Reklame zu machen. Für sich und Ihre Herakleophorbia! Lassen Sie mich Ihnen sagen, dieser Ihr Nährstoff mit dem absurden Namen, steht mit den großen Wespen und Ratten nur in der zufälligsten Verbindung. Es handelt sich ganz einfach um eine epidemische Hypertrophie – um eine ansteckende Hypertrophie – die Sie ungefähr so gut beherrschen, wie Sie das Sonnensystem beherrschen. Die Sache ist so alt wie die Berge. Schon in der Familie von Enak kam Hypertrophie vor. Ganz außerhalb Ihres Wirkungsbereiches, zu Cheasing Eyebright, lebt gegenwärtig ein Baby – –«

»Zittrige Schrift von oben bis unten. Offenbar alter Herr,« sagte Redwood. »Aber es ist sonderbar, daß ein Baby – –«

Er las ein paar Zeilen weiter und hatte eine Inspiration.

»Bei Gott!« sagte er. »Das ist meine vermißte Mrs. Skinner!«

Am Nachmittag des folgenden Tages kam er plötzlich über sie.

Sie war damit beschäftigt, in dem kleinen Garten vor dem Haus ihrer Tochter Zwiebeln auszuziehen, als sie ihn durchs Gartentor kommen sah. Sie stand einen Augenblick erschrocken da, faltete dann die Arme und erwartete ihn, indem sie das kleine Bündel Zwiebel verteidigend unter dem linken Ellbogen hielt. Ihr Mund öffnete und schloß sich mehrere Male; sie kaute mit ihrem noch übrigen Zahn und ganz plötzlich, wie ein Bogenlicht blinzelt, knixte sie.

»Ich dachte mir, daß ich Sie finden würde,« sagte Redwood.

»Ich dachte mir, Sie könnten es vielleicht,« sagte sie ohne Freude.

»Wo ist Skinner?«

»Mir hat er nich geschrieben, Herr, nich einmal, un is mir auch nich nachgekommen, seit ich hierher gegangen bin, Herr.«

»Wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist?«

»Da er nich geschrieben hat, nein, Herr,« und sie drückte sich mit dem unklaren Gedanken, Redwood von der Scheunentür abzuschneiden, einen Schritt nach links.

»Niemand weiß, was aus ihm geworden ist,« sagte Redwood.

»Ich denk' mir, er weiß es,« sagte Mrs. Skinner.

»Er sagt's nicht.«

»Er is immer groß drin gewesen, für sich selbst zu sorgen un die, die ihm nah un teuer war'n, in der Not zu verlass'n, Skinner! Freilich, so klug, wie einer sein konnte,« sagte Mrs. Skinner ...

»Wo ist das Kind?« fragte Redwood unvermittelt.

Sie bat um Verzeihung.

»Das Kind, von dem ich höre, das Kind, dem Sie unsern Stoff gegeben haben – das Kind, das zwei Stein wiegt.«

Mrs. Skinners Hände arbeiteten, und sie ließ die Zwiebeln fallen. »Wahrraftig, Herr,« protestierte sie, »ich weiß kaum, was Sie mei'n, Herr. Meine Tochter, Herr, Mrs. Caddles, hat 'n Baby, Herr.« Und sie machte einen aufgeregten Knix und versuchte, unschuldig fragend auszusehen, indem sie die Nase auf eine Seite kippte.

»Sie täten besser, mir das Baby zu zeigen, Mrs. Skinner,« sagte Redwood.

Mrs. Skinner demaskierte ein Auge gegen ihn, als sie ihn zur Scheune führte. »Natürlich, Herr, vielleicht hab' ich sein'm Vater 'n bißchen gegeb'n, in 'ner kleinen Kanne, die sein Vater von der Farm mitgenomm'n hat, oder 'n bißchen, was ich selber mitgebrach' hab', sozusag'n. Ich hab' so in der Eile gepack und allens ...«

»Hm!« sagte Redwood, nachdem er das Kind eine Weile besehen hatte. »O, hm!«

Er sagte Mrs. Caddles, das Baby sei in der Tat ein schöner Junge – was sie vollauf verstand – und danach ignorierte er sie völlig. Bald darauf verließ sie die Scheune – aus reiner Bedeutungslosigkeit.

»Da Sie einmal damit angefangen haben, werden Sie es fortsetzen müssen, wissen Sie,« sagte er zu Mrs. Skinner.

Er wandte sich ihr unvermittelt zu. »Schütten Sie's diesmal nicht wieder umher,« sagte er.

»Es umherschütten, Herr?«

»O! Sie wissen schon.«

Sie gab ihr Wissen durch konvulsive Gesten zu.

»Sie haben den Leuten hier nichts gesagt? Den Eltern, dem Squire und so weiter in dem großen Haus, dem Doktor, niemandem?«

Mrs. Skinner schüttelte den Kopf.

»Ich tät's nicht,« sagte Redwood.

Er trat an die Scheunentür und warf einen Blick auf die Welt um ihn. Die Tür der Scheune blickte zwischen der Mauer des Hauses und einem außer Gebrauch befindlichen Schweinestall durch ein Gattertor auf die Chaussee. Dahinter stand eine reich mit Epheu und Mauerblumen und Nabelkraut bewachsene rote Ziegelmauer, deren Kamm mit Glasscherben besetzt war. Jenseits der Mauerecke erhob sich ein sonnenbeleuchtetes Schild zwischen grünen und gelben Zweigen über den reichen Tönen der ersten gefallenen Blätter und verkündete: »Das Betreten dieser Waldungen ist bei Strafe verboten.« Der dunkle Schatten einer Lücke in der Hecke gab einem Stück Stacheldraht Relief.

»Hm,« sagte Redwood, und dann mit tieferem Ton: »O hm!«

Dann kam Pferdegetrappel und Räderlärm, und Lady Wondershoots Graue kamen in Sicht. Er beobachtete die Gesichter von Kutscher und Lakai, als die Equipage heranrollte. Der Kutscher war ein schönes Exemplar, voll und fruchtfarbig, und er fuhr mit einer Art sakramentaler Würde. Andere konnten an ihrem Beruf und ihrer Stellung in der Welt zweifeln, er wenigstens war gewiß – er fuhr Mylady. Der Lakai saß mit gekreuzten Armen und einem Gesicht unbeugsamer Gewißheiten neben ihm. Dann wurde die große Dame selber sichtbar. Hut und Mantel waren verächtlich unelegant, und sie blickte durch ihr Lorgnett. Zwei junge Damen reckten die Hälse und spähten gleichfalls.

Der Vikar ging drüben vorbei und riß unbeachtet den Hut von der Davidsstirn ...

Redwood blieb noch lange, nachdem der Wagen vorüber war, in der Tür stehen, die Hände hinter sich gekreuzt. Seine Augen wanderten auf das grüngraue Oberland der Dünen und zum wolkengekräuselten Himmel empor, und dann schweiften sie auf die glasbesetzte Mauer zurück. Er wandte sich zu den Schatten drinnen und sah unter Farbflecken und Streifen das Riesenkind in dem Rembrandtdunkel an: es saß, abgesehen von einer Flanellbinde, nackt auf einem riesigen Strohbündel und spielte mit seinen Zehen.

»Ich fange an, einzusehen, was wir getan haben,« sagte er.

Er sann nach, und in seinem Sinnen mischte sich sein eigenes Kind mit Cossars Brut.

Er lachte unvermittelt. »Guter Gott!« sagte er bei einem flüchtigen Gedanken.

Dann raffte er sich zusammen und redete Mrs. Skinner an. »Auf jeden Fall darf er nicht durch eine Unterbrechung in seiner Nahrung gequält werden. Das wenigstens können wir verhindern. Ich werde Ihnen alle sechs Monate eine Dose schicken. Das sollte für ihn genügen.«

Mrs. Skinner murmelte etwas wie: »Wenn Sie meinen, Herr,« und: »wahrscheinlich aus Versehen eingepack ... Dachte nichs Schlimmes, als ich'm 'n bißchen gab,« und so gab sie mit Hilfe von mancherlei Espengesten zu erkennen, daß sie verstehe.

So wuchs das Kind weiter.

Und wuchs.

»Er hat tatsächlich,« sagte Lady Wondershoot, »jedes Kalb im Dorf aufgegessen. Wenn mir dieser Caddles noch mehr solche Sachen macht –«

VII

Aber selbst ein so abgeschlossener Ort wie Cheasing Eyebright konnte sich angesichts des wachsenden Lärms um den Nährstoff nicht lange bei der Theorie einer Hypertrophie – ob ansteckend oder nicht – beruhigen. Nach kurzer Zeit gab es peinliche Auseinandersetzungen für Mrs. Skinner – Auseinandersetzungen, die sie zu sprachlosem Kauen ihres noch übrigen Zahnes zwangen – Auseinandersetzungen, die sie sondierten, durchwühlten, bloßstellten – bis sie schließlich so weit kam, daß sie vor einem allgemeinen Zusammenstrom des Tadels in der Würde untröstlichen Wittums Zuflucht suchte. Sie wandte ihr Auge, das sie preßte, damit es wässerte – auf die zornige Dame vom Herrensitz und wischte sich Seifenlauge von den Händen.

»Sie vergessen, Mylady, was ich zu tragen habe.«

Und dieser warnenden Note ließ sie eine leicht herausfordernde folgen:

»Ich denk' an ihn, Mylady, Tag und Nacht.«

Und nachdem sie sich auf solchen Grund und Boden gestellt hatte, wiederholte sie die Behauptung, die Mylady schon einmal zurückgewiesen hatte. »Ich hatte nicht mehr Ahnung, was ich dem Kind gab, als irgendeiner haben konnte ...«

Mylady wandte ihren Geist hoffnungsvolleren Richtungen zu: freilich schalt sie nebenher natürlich ganz gehörig auf Caddles. Voll von diplomatischen Drohungen drangen nun Abgesandte in Redwoods und Bensingtons Leben. Sie stellten sich als Gemeinderatsmitglieder vor und klammerten sich stumpfsinnig und phonographisch an eingelernte Behauptungen. »Wir machen Sie, Mr. Bensington, für den unserer Gemeinde zugefügten Schaden verantwortlich, Herr. Wir machen Sie verantwortlich.«

Eine Anwaltsfirma mit einem Schlangennamen (Banghurst, Brown, Flapp, Codlin, Brown, Tedder und Snoxton nannte sie sich, und sie erschien unabänderlich in der Gestalt eines kleinen rothaarigen, listig aussehenden Herren mit spitzer Nase) sagte unbestimmte Dinge über Schadenersatz, und eines Tages kam plötzlich eine geschniegelte Persönlichkeit, Myladys Agent, zu Redwood herein und fragte: »Nun, Herr, und was gedenken Sie zu tun?«

Worauf Redwood antwortete, er gedenke dem Kind keinen Nährstoff mehr zu geben, wenn er oder Bensington noch weiter mit der Sache belästigt würde. »Ich gebe ihn so schon umsonst,« sagte er, »und das Kind wird Ihr Dorf zu Trümmern zerschreien, ehe es stirbt, wenn Sie ihm das Zeug nicht geben. Das Kind geht Sie an und Sie haben es zu behalten. Lady Wondershoot kann nicht immer Lady Gnadenreich und Irdische Vorsehung ihrer Gemeinde sein, ohne bisweilen auf eine Verantwortung zu stoßen, wissen Sie.«

»Das Unheil ist geschehen,« entschied Lady Wondershoot, als man ihr – mit Ausmerzungen – erzählte, was Redwood gesagt hatte.

»Das Unheil ist geschehen,« echote der Vikar.

Freilich in Wirklichkeit begann das Unheil erst grade.


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