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31

Die ganze Szene hat eine Viertelstunde gedauert. Erik geht zur Post und will an Helene telegraphieren. »Blütner, Leopoldsteiner See.« Nein, »Gasthof zum Leopoldsteiner See«. Der Ort muß doch einen Namen haben, aber welchen? Hoffentlich kommt das Telegramm an.

»Schwere Erkrankung der Hand. Operation. Komm! Erik.«

Er zählt die Worte ab, indem er mit der Feder unter jedes Wort einen Punkt setzt.

Der Beamte am Schalter zählt ebenfalls die Worte, setzt gleichfalls unter jedes Wort einen Punkt und addiert die Punkte. Jetzt sind unter jedem Wort zwei Punkte...

Weshalb bemerkt er das? Weshalb denkt er darüber nach? Er will nicht zum Bewußtsein seiner fürchterlichen Lage kommen. Er fürchtet sich vor der Klarheit; er verzweifelt, will sich aber nicht zugeben, daß er verzweifelt. Es ist nicht ganz so, wie damals an dem Abend – oh, wie weit das ist – dem Abend, an dem seine Mutter die Morphiumspritze, das Veronal und die andern Schlafmittel gefunden hat. Er ist aus dem Haus gejagt worden; er ist zu Helene gegangen. Helene hat ihm geholfen, sie wird auch jetzt helfen. Sie allein kann es. Sie muß.

Er hat seit jener ersten Nacht und auch nachher immer gut geschlafen. Jetzt vor der Operation und später wird er aber Schlafmittel brauchen. Er geht in die nächste Apotheke und schreibt sich selbst ein Rezept auf eine starke Morphiumlösung und auf zehn Gramm Veronal.

Der Provisor packt alles sorgfältig ein.

Ich habe jetzt vier Stunden Zeit; mit dem Achtuhrzug wird Helene kommen, demselben Zug, den damals Dina benützt hat. Ich hätte nach London fahren können. Dann wäre Dina nicht zugrunde gegangen. Ich hatte aber keine Wahl. Bin ich wirklich schuld daran...? Ist es denn so fürchterlich bei den andern?

Ich könnte nach Hause, meine Sachen ordnen und einpacken – oder in den Prater? – Nein, lieber nach Hause. Im Wagen überlegt er weiter.

Was ist denn meine Schuld?

Eine exaltierte Russin ist um hundertsechzigtausend Kronen gekommen, hat ihre Ehre verloren und wird ein uneheliches Kind haben. Um den Mann ist es nicht schade. Es gibt immer noch genug Janoupulos auf der Welt. –

Und Helene wird eben ein Jahr später anfangen, Medizin zu studieren, oder überhaupt nicht.

Und Edith wird keine Guarnerigeige bekommen und wird die Mittelmäßigkeit bleiben, die sie immer war.

Das alles ist nebensächlich. Große Worte für kleine Schicksale.

Aber ich selbst werde nie mehr arbeiten, ich werde vielleicht an der Operation sterben – ob sie wohl auch an der Achsel herumoperieren wollen? – und werde nie mehr einen physikalischen Versuch machen, nie Schüler haben. Mein Leben ist fertig mit siebenundzwanzig Jahren.

Wenn er sich nicht operieren läßt, hat er ein Jahr zu leben – seine Tante mit dem Magenkrebs lebte nur ein halbes Jahr, aber sie war schwach, und er ist jung und kräftig.

Er packt seine Koffer. Inzwischen wird es spät. Das Zimmer sieht ganz verändert aus; vielleicht ziehe ich doch wieder zu Mama, denkt er. Die Pflege wird dort besser sein. Aber für all das wird Helene sorgen.

Er baut fest darauf, daß sie kommen und daß ihre unerschöpfliche Güte ihm verzeihen wird. –

Er nimmt einen Wagen. Der Abend ist schön, der Himmel tiefblau, die Bogenlampen flackern und zischen.

Wie süß doch das Leben ist! denkt er.

Ein Vorortzug von Rekawinkel kommt an. Liebespaare. Dann ein Haufen kleiner Mädchen in weißen Kleidern, die Lehrerin hinter ihnen. Alle tragen Blumen oder wenigstens Laub. Eines der Mädchen beginnt ein Lied, hoch, zwitschernd: Der Mai ist gekommen, – Die Bäume schlagen aus. – Der Mai...

Die Lehrerin lacht – sie selbst ist noch berauscht von der Sonne und der Luft des Tages – und gebietet mit einer gütig beschwichtigenden Handbewegung Schweigen.

Die weißen Kleidchen verschwinden in dem Portal nach und nach, immer noch lachend, zwitschernd und kichernd. Erik lächelt.

Der Perron ist leer. Eine riesige Maschine gleitet in die Halle, trag und doch elegant. Der Lokomotivführer beugt sich heraus und trocknet sich mit einem roten Taschentuch das berußte Gesicht.

Plötzlich steht Helene neben ihm.

Sie hat das weiße Leinenkleid an, das durch die lange Bahnfahrt etwas zerdrückt ist. Licht, üppig und golden strömt ihr volles Haar wie eine Flamme unter dem weißen Hut hervor.

»Guten Abend, Erik!« sagt sie.

»Guten Abend, Helene!« Er versucht ihren Arm zu nehmen. Sie wehrt ab.

»Wohin gehen wir?« sagt er.

»Wohin Sie wollen«, sagt sie leise. »Ich habe aber nicht länger Zeit als bis zehn Uhr. Edith weiß ja nicht, daß ich komme.«

»Du warst wohl sehr überrascht über mein Telegramm?«

»Ja; aber Egon hat vor einiger Zeit schon Andeutungen gemacht – daß – daß solche Dinge vorkommen.«

»Woher weiß Doktor Sänger davon?«

»Ach Gott, die Welt ist so klein.«

»Willst du – oder wollen Sie in das Westbahnrestaurant? Es gibt zwar Erinnerungen...«

»Ach, lassen wir das Vergangene vergangen sein.«

Der Kellner kommt; es ist derselbe, der sie vor drei Monaten bedient hat. Helene hat damals ein reichliches Trinkgeld gegeben; der Mann erinnert sich daran, lächelt und sagt: »Ich küss' die Hand, gnädige Frau.«

Er hält sie für Hochzeitsreisende, die eben zurückgekommen sind.

»Was möchten Sie?« fragt Erik und blickt nach alter Gewohnheit mit ihr in die Speisekarte. Seine Stirn streift ihr Haar. Sie wirft den Kopf zurück. Um ihren Mund ist etwas Wildes, Empörtes, etwas, das ans Licht will und nicht kann. Aber Helene weiß sich zu beherrschen.

»Ich habe keinen Appetit. Edith kann mir abends eine Kleinigkeit aus dem Restaurant holen lassen – jetzt will ich nichts – aber Sie – Herr Professor? Ich muß Ihnen zu dem neuen Titel gratulieren?«

»Ich Ihnen auch. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer Verlobung«, sagt er.

»Danke«, sagt sie hart.

Der Kellner sieht sie von der Seite an und denkt: Die zwei haben schon Streitigkeiten miteinander und sind erst seit drei Monaten verheiratet!

Eine Pause. – Erik schließt die Augen, er ist todmüde.

Eine Pause. – Ein Zug donnert herein. Gelbe Laternen werfen ihre Reflexe auf Helenes lichtes Kleid. Die geschliffenen Gläser zittern und klingen. Violette Astern, Zyklamen und allerhand Grashalme mit grauer, samtweicher Krone, die auf dem leuchtendweißen Tischtuch in einer blauen Vase stehen, erbeben leise, wie von einem fernen Wind bewegt. – Erik streicht mit seiner gesunden Hand ganz leicht über die Blüten. Dann schließt er die Augen; er ist müde bis in den Tod.

Helene sieht ihn an, mit großen Augen. Sie sieht den Weg von Hieflau zu dem Bahnhof vor sich, die regenfeuchte, weißglitzernde Straße, die lichte Birke, die sich im Wind schüttelt, sieht sich und Erik wieder jenen Weg zurückgehen, langsam, still, Hand in Hand, die Wiesen entlang, die vom Regen halb erdrückt sind, die sich enge in die Falten und Furchen der Erde schmiegen, entlang das gelbe, weithin wogende Feld. Und das goldene Haar der Gerste gleitet durch seine Finger im Vorübergehen. –

Einen Augenblick lang vergißt sie alles, was nachher gekommen ist, Wien, Edith, Eriks dumpfes Zimmer mit den herabgelassenen Rolläden, in dem am Boden Dinas Zigarettendose golden im Dämmer schimmert, – vergißt die grauenhaft böse Stunde vor ihrem Haus, vor den unerbittlich dunklen Fenstern ihres Zimmers – vergißt die Kärntner Straße und Doktor Sänger, alles,– – – und sieht nur ihn und sich, tief und wortlos vereint, regenfeuchte Wege gehen, an goldenen Getreidefeldern vorbei.

Da schlägt er die Augen auf.

»Sei doch froh, Helene, das hast du dir ja gewünscht, daß ich am Boden liegen soll – ich habe es nicht besser verdient«, sagt er leise, fast zischend.

Sie steht auf; der Kellner hat sich abgewendet.

»Nicht so!« sagt er demütig, »wir können ja von andern Dingen reden.« »Wie Sie wollen.« Sie setzt sich ihm gegenüber und sieht ihn lange an.

»Ich habe Ihnen telegraphiert«, sagt er, Wort für Wort monoton, wie wenn er das alles von einem Papier ablesen könnte, »weil... meine Lage ist sehr einfach. Entweder wird mir die Hand amputiert und die Achselhöhle aufgeschnitten, wo auch schon etwas Böses sein soll, und ich sterbe daran. Ganz gut, aber dann ist die Operation unnötig. Oder zweitens: Die Operation gelingt, nachher aber kann ich auf keinen Fall arbeiten und bin für immer ein Krüppel. Oder, Eventualität Nummer drei, ich lasse gar nichts machen und habe noch ein Jahr zu leben. Was soll ich wählen?«

»Ich kann das nicht beurteilen. Ihre Familie wird die zweite Möglichkeit vorziehen, denke ich.«

»Ich habe mit meiner Mutter noch nicht gesprochen.«

»Damit hat es angefangen«, sagt sie. »Übrigens müssen wir etwas bestellen. Hören Sie, Erik, wir haben noch nie Champagner miteinander getrunken – was halten Sie davon?«

Der Kellner lächelt über das ganze Gesicht; er denkt, solche Szenen enden immer mit einer Flasche Pommery.

»Ja, damit hat es angefangen«, fährt sie fort, »daß Sie sich von Ihrer Mutter losgesagt haben und zu mir gekommen sind. Und ich habe mir eingebildet, ich könnte Ihnen das sein, was eine Mutter ihrem Sohn ist. Das war Übermut. Wir alle sind mittelmäßige Menschen, Dina Ossonskaja, Ihre Mutter und ich. Wir sind nicht mehr und können nicht mehr als alle andern; ja, aber sehen Sie, ich habe mir eingebildet, ich könnte einen Menschen so unendlich lieben, daß ich ihm alles sein könnte; nein, noch mehr, daß ich ihm alles verzeihen könnte, alles Böse, alles Schlechte und Gemeine, selbst die häßlichen Gewohnheiten, die Sie in der letzten Zeit hatten...« Sie erinnert sich der Szene im dunklen Zimmer und wird rot, leise angehaucht wie eine Pfirsichblüte. Auf ihren Lippen liegt die Erinnerung an ein sanftes, mädchenhaftes Lächeln, das einmal da war; jetzt ist nur noch die Erinnerung da.

Der Kellner bringt den Champagner und schenkt ein.

»Und Sie können das nicht, Helene?«

»Ach, laß das dumme Sie; wir können ja doch nie voneinander. Aber was uns zusammenhält, das ist keine Liebe. Nein, Erik, das war es schon in der letzten Zeit nicht mehr. Du, ich bin dir böse, ich hasse dich, so wie ein schwacher Mensch hassen kann.«

Leiser setzt sie fort: »Dieser Haß gegen dich ist stärker, tausendmal stärker als die Liebe zu dem andern. Deshalb, nur deshalb bin ich vom Leopoldsteiner See zu dir gekommen. Ich wollte dich ja auch nicht warten lassen, das mußte ich dir sagen, daß...«

»Sag's nicht noch einmal«, meinte er.

»Ach Gott, es wird sich schon eine finden, die dich pflegt. Ist es nicht Edith, so ist es eine andre.«

»Ich brauche niemanden«, sagt er. »Für Geld und gute Worte kann man eine Rotekreuzschwester haben, die einem die Verbände macht. Du kannst ja wieder gehen. Du kannst ja wieder gehen, es ist gerade Zeit. Wenn du einen Wagen nimmst, bist du noch vor zehn Uhr bei deiner Schwester.«

»Erlaube mir noch ein Wort, Erik. Du weißt, ich bin mit Egon Sänger verlobt; ich werde ihn in drei Monaten heiraten und ihm eine so brave Frau sein wie jede andre. Aber wenn du mich brauchst, aus Mitleid komm ich zu dir und will dich pflegen. Das ist alles, was ich tun kann. Du kannst auf mich rechnen. Wenn du eine Rotekreuzschwester nötig hast, so weißt du die Adresse: Sonnenfelsgasse 73, und ich tu's ohne Geld und ohne gute Worte. Adieu, auf Wiedersehen!«

»Leb wohl, Helene!«

Sie geht und kommt nach drei Schritten wieder zurück. Sie nimmt seine Hand und sagt mit einer sonderbaren tiefen Stimme:

»Ich soll dich grüßen lassen...« – sie hält seine kranke Hand leise schonend empor, fast bis zu ihren Lippen, wie wenn sie die Hand küssen wollte – und dann hastig, kalt mit der gewohnten Stimme: »Ja, die Frau Ahorner vom Leopoldsteiner See läßt dich grüßen, Erik!«


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