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30

Erik ist auf dem Weg zu Edith. Ihr muß ich es sagen – aber erschrecken darf sie nicht. Man muß sie ganz sanft darauf vorbereiten. Ist es wirklich so schrecklich? Eigentlich gehe ich an dem zugrunde, was mich groß gemacht hat. Groß? Was liegt daran, daß mein Name in »Valentins Physik für Mittelschulen« stehen wird! Die Gymnasiasten werden sich damit abplagen, mein Phänomen zu verstehen, und werden sich die Formeln, an denen ich drei Jahre lang gearbeitet habe, vom Nachbar einsagen lassen, wie sie sich das Ohmsche Gesetz einsagen lassen.

Was liegt an all dem? Ist meine Arbeit das wert gewesen? Gestern, heute früh noch war ich überzeugt davon, jetzt glaube ich nicht mehr daran.

Ich muß mich operieren lassen; Schluß mit der Physik, Schluß damit. Wie sagte Dina? Solange der Strom durch die Röhre geht, solange ist alles gut. Wenn die aber einmal versagt, dann wird es schrecklich sein. Du bist einer ohne Mitgefühl, ohne Mitleid, ohne Mitfreude. Du wirst einsam sein, ein absolut leerer Raum mit einem Mantel von Glas. Überflüssig. Wer hat das gesagt, überflüssig? Ja, Mama meinte, das seien alles dumme Faxen.

Das war alles, bevor ich Edith kannte. Jetzt ist alles anders. Sie ist ja so schön! Was liegt an der Hand, die ich mir abnehmen lassen muß! Küsse ich Edith mit meiner Hand? Das Leben, das wartet auf mich.

Wie lange kann es dauern, bis die Wunde geheilt ist? Vierzehn Tage vielleicht. Dann gehe ich mit ihr an die Riviera, oder ich mache eine Reise nach Ceylon. Sie wird gut zu mir sein. Aber sie darf nicht erschrecken.

Er klopft an ihre Tür.

»Herein!« ruft Edith. Sie hat ein weißes Kleid an, das ganz lose an ihrer graziösen Gestalt herabflattert. Die Arme sind bis an die Achsel frei, weil sie im Spiel nicht gestört sein will. Sie übt das Mendelssohnsche Konzert in E-moll.

»Bitte, laß dich nicht stören«, sagt Erik.

»Nur eine halbe Stunde«, sagte sie mitten in der endlosen, trillernden Kadenz des ersten, düster feurigen Satzes. Er hört zu. Gedanken, Wünsche, Hoffnungen steigen in ihm auf wie Luftblasen in siedendem Wasser. Beängstigend; er ist jetzt so arm und sie so reich; sie ist schön, talentiert, und ihre Bewegungen haben den wehenden Schwung der athenischen Nike.

Er ist aber voller Angst und zittert. Die Kadenz ist zu Ende. Sie läßt die Geige sinken und sieht ihn an.

»Jetzt setzt das Orchester ein«, sagt sie. »Die Stretta. Wie nett es wäre, wenn du mich am Klavier begleiten könntest! Was ist denn das mit deiner Hand? Wird denn die dumme Geschichte niemals gesund?« Edith wartet nicht auf Antwort, sondern spielt das Finale des ersten Satzes, das immer schneller wird, in dem die Töne sich hetzen und hintereinander her jagen wie die bunten, schnellgliedrigen Leoparden in dem Zuge des Dionysos. Sie stampft mit dem Fuß den Takt, nicht ihre Hand allein spielt, auch ihr Kopf, ihre Schultern, ihre Hüften. Jetzt hat das schön herabfallende Kleid dieselben Falten wie das Peplon der athenischen Nike. Der erste Satz ist zu Ende. Edith ist müde, abgespannt. Ihr fehlt der Applaus. Sonst würde sie sich verbeugen, ihre Augen würden strahlen, ihr Mund müßte beglückt lächeln. So aber ist alles öde.

»Was ist denn mit meiner Geige?« fragt sie. »Hast du mir sie gekauft? Hat der Mann etwas vom Preis nachgelassen? Morgen abend soll ich bei der Agentur Gutmann spielen. Da soll die Violine eingeweiht werden. Deine Violine. Das gibt vielleicht dann einen Vertrag für das nächste Jahr.«

»Nein, ich habe noch nicht daran gedacht, Edith«, sagt er. »Das Geld dafür habe ich für etwas anderes verwenden müssen, aber du bekommst deine Violine.«

»Ja«, sagt sie eigensinnig, »du weißt ja, daß auch andern Leuten solch eine Guarneri gefällt.«

»Ich kann nichts dafür.«

»Du kannst nie etwas dafür, natürlich«, sagt sie verdrossen. Eine Pause ... Sie zupft an den Saiten.

»Heute war ich wieder bei Hofrat Braun«, fängt er an, ganz leise und behutsam.

»Ja«, sagt sie gelangweilt.

Dieses gedehnte, gelangweilte, herzlose Ja empört ihn.

»Die rechte Hand ist verloren!« schreit er.

Sie wird ganz blaß, der Bogen fällt ihr aus der Hand.

»Das kann nicht sein«, sagt sie leise.

»Es ist doch so«, sagt er.

Sie beginnt zu weinen. Draußen auf der Straße wird das Pflaster ausgebessert. Die Arbeiter schlagen mit großen eisernen Klöppeln die Steine in die Erde hinein.

Edith hebt den Bogen auf und überzeugt sich, daß er nicht zerbrochen ist. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Aber er weiß es. Er hat sie lieb. Sie ist traurig, und so tröstet er sie. »Nimm es nicht so schwer. Die Operation ist nicht gefährlich. In vierzehn Tagen bin ich gesund, und dann habe ich Zeit nur für dich, für nichts andres auf der Welt. Wir machen eine Reise nach der Riviera...«

»Nach Monte Carlo«, lächelt sie durch Tränen.

»Auch nach Monte Carlo, und dann weiter, immer weiter – und immer bist du bei mir, und ich bin bei dir, dir ganz allein.«

Eine Pause...

»Ich bin mit dir?« fragt sie jetzt nachdenklich.

»Wird das nicht herrlich?« sagt er. »Der außerordentliche Professor Erik Gyldendal und Fräulein Edith Blütner machen eine Reise um die ganze Welt.«

Edith antwortet nicht; sie geht zum Fenster und sieht den Arbeitern zu, die zu zweien einen schweren Klöppel handhaben. Sie kommt wieder zu ihm.

»Mein lieber Erik«, sagt sie, »ich tu alles für dich, aber nur als deine Frau. Sieh nur, wenn ich jetzt von hier weggehe, dann ist meine Karriere als Virtuosin aus. Und wer soll mich dann heiraten, wenn ich mich einmal so bloßgestellt habe... Siehst du das ein? Schon jetzt reden die Leute schreckliche Sachen über uns.«

»Ja, ich sehe das ein«, sagt er in einem Ton, der ausdrückt, wie empört er ist. Es ist der Ton eines geduckten, gezüchtigten, feigen, durch die Gefangenschaft geschwächten Raubtieres.

Sie fürchtet, daß sie ihre Partie verlieren würde, sie will ihn zu sich ziehen – aber das einfachste fällt ihr nicht ein; irgendeine dumme Liebkosung, ein schmeichelndes Liebeswort, ein kindischer Trostversuch, das würde ihn unendlich glücklich machen, ihn aussöhnen mit dem schrecklichen Schicksal, das er deutlich vor sich sieht und mit jeder Minute deutlicher.

Aber das junge Mädchen ist dumm; wie alle dummen Menschen ist sie gefährlich, sie schadet sich und den andern mehr, als es der böseste Mensch könnte. Sie glaubt, sie müsse dem jungen Millionärssohn das Eheversprechen erpressen, jetzt, wo er auf sie angewiesen ist, wo er nicht leben kann ohne sie.

»Versteh mich recht«, sagt sie, »was liegt mir an dem goldenen Ring! Aber ich möchte nicht einmal dastehen wie die arme Helene. Erinnerst du dich daran, wie wir uns zum erstenmal geküßt haben? Wir waren alle drei im Zimmer – da hab' ich dich angesehen, du hast natürlich gleich verstanden und hast gesagt: ›Du Heli, sei so gut und koch uns Tee; eine halbe Minute soll er sieden und vier Minuten ziehen; genau nach der Uhr; so macht man bei uns zu Hause den Tee.‹ Erinnerst du dich? Und sie ist hinausgegangen, und wir haben gewußt, daß wir fünf Minuten Ruhe vor ihr haben. Du hast mich geküßt, erst ins Ohr und dann auf die Stirn, und dann, als die Helene zurückkam, da sind wir wieder ruhig nebeneinander dagesessen und haben uns von Ysaye und seinem Sohn erzählt. – Das will ich nun nicht. Ich nicht. Nein. Kein Mann auf der Erde wäre mir das wert, daß ich seinetwegen hinausgehen sollte, damit er inzwischen eine andre küßt! Nein, das nie, nie, nie! Helene ist doch auch verlobt. Weshalb soll ich ledig bleiben?«

Er ist voll Wut. Sie hat kein Wort des Mitleids für ihn gehabt, sie ist so unverschämt, ihm Infamien vorzuwerfen, dieselben Infamien, die er ihretwegen an Helene begangen hat. Sie hat es gewagt, ihn vor ein brutales Entweder-Oder zu stellen – das alles ist nichts anderes, als was er selbst an andern getan hat.

Er liebt Edith, er liebt sie immer noch. Ihre herrliche Gestalt, den wehenden Schwung ihrer Bewegungen, den süßen Klang ihrer Stimme, die so harte Worte hat, die so dumme, brutale Gedanken ausspricht. Was liegt ihm an der Ehe? Selbstverständlich würde er sie heiraten und ihr den Rest seines Lebens widmen, ihr allein. Was sollte er denn sonst damit anfangen? Aber er weiß, wenn er jetzt nachgibt, wenn er ihr Opfer bringt – dann ist alles nutzlos, so wie die Opfer nutzlos waren, die ihm Bronislawa, Dina, Helene gebracht haben.

Er nimmt ihr den Bogen aus der Hand. Ihre rechte Hand legte er in seine gesunde linke. Sie glaubt, daß er jetzt das tun wird, was sie will, und sagt: »Nicht wahr, ich hab' doch recht?« Er biegt ihren kleinen Finger, streckt ihn gerade. »Nein, du tust mir weh!« schreit sie; »laß mich!« Ich könnte ihr den Finger verrenken, dann könnte sie nie mehr Geige spielen, dann wäre sie gebrochen wie ich, Sklave, nicht mehr Herr. Was könnte mir geschehen, wenn ich das täte, ich, der einen Krebs hat an der Hand, was kann mir noch geschehen?

Er biegt ihren Finger nieder, streckt ihn im Gelenk, sie will ihm die Hand wegziehen, ihre Augen sind weit aufgerissen, aus Wut und Verzweiflung. Da ist sie immer noch schön; aber schön wie die Meduse.

Er denkt: Sind wir uns dann wirklich näher? Wozu? Die Last meines Lebens wird nicht um einen Hauch leichter. Er läßt ihre Hand los. Sie läuft in die Ecke, verbirgt ihre Hände hinter dem Rücken, aber in ihren Augen ist etwas Neues: die Furcht, die Bewunderung vor ihm, dem Großen, Überstarken, die Dankbarkeit – und die Liebe. »Ich gehe doch mit dir«, sagt sie leise, »wenn du mich noch willst.«

Er steht langsam, schwerfällig auf.

»Nein«, sagt er, »adieu!«


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